Prolog Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht? 1. Johannes 4,20
In diesen Fluren atmete man die Zeit. Heinrich mochte diesen Geruch: Das Aroma des Kamelienöls, das die Brüder regelmäßig zur Pflege der dunklen Holztäfelungen auftrugen, mischte sich mit dem Duft alter Akten. Dazu eine Note von Lavendel, ein Hauch Jasmin. Und trotz aller Mühe der dienstbaren Geister lag ewig eine Spur von Staub in der Luft. Der Staub von Jahrhunderten, dachte Heinrich. Hier konnte man die Arbeit von Generationen riechen. Der Diener war noch für einen Moment in der Bibliothek gewesen, bevor er sich auf den Weg in das Zimmer des Subpriors machte. Aber nicht, um zu lesen. Heinrich nutzte diesen Ort mehr, um zur Ruhe zu kommen. Gerade vor einem neuen Auftrag. Trotzdem legte er dabei meist einen der alten, schweren Folianten in seinen Schoß. Ohne ihn aufzuschlagen. Er liebte es einfach, das Gewicht der Weisheit mit eigenen Händen spüren zu können. Draußen tobte eine Welt, die Wissen in Terabyte maß, es sekundenschnell über Ozeane funkte und ihm jede Schwere genommen zu haben schien. Doch hier war es von Gewicht. In diesen Mauern wurden Gedanken noch zu Papier, Papier zu Akten und Akten zu Ordnern. Und das Wichtigste wurde zu Büchern gebunden. Das, was überdauern sollte. Sodass man etwas in der Hand hatte. Für die Zeit danach, hatte ein Mitbruder gesagt, wenn die Welt nicht mehr in Einsen und Nullen zerlegt wird oder in An und Aus, 5
sondern wieder in Richtig und Falsch. Heinrich hatte nur leicht den Kopf geschüttelt. Er glaubte nicht, dass all die Technik eines Tages wieder verschwinden würde. Dafür war er zu lange draußen gewesen. Er war ein Diener. Kein Schreibbruder oder Bibliothekar. Und erst recht kein Bruder Oberer. Er wusste, dass sich die Technik in die Welt fraß und ihren Orden fast überflüssig erscheinen ließ. Was nicht hieß, dass er seinen Frieden damit gemacht hätte. Er war sich nur darüber im Klaren, dass er zu einer anderen Zeit gehörte. Die langsam verschwand. Vielleicht wie alles hier. Der Diener sah sich um. SERVUS SERVORUM – das Motto der Bruderschaft prangte in großen Lettern an der Wand des Flures. Statt des offiziellen DIENER DER DIENER übersetzte es Heinrich lieber fröhlich mit „Hallo, ihr Sklaven!“. Seit mehr als 200 Jahren gab es ihre Gemeinschaft. Sie waren keine Mönche, auch wenn vieles hier an einen geistlichen Orden erinnerte. Der Gründer hatte es so in seinen Regeln verfügt, Heinrich hatte wie jeder Bruder seine Biografie gelesen: ein adeliger Nichtsnutz, der plötzlich aus seinen Tagträumen erwacht war. Vielleicht waren es die Schrecken der napoleonischen Kriege, die ihn weckten, vielleicht die Schwermut in den Gedichten der Romantiker. Vielleicht auch der Wunsch, nach Jahren vergeudeter Oberflächlichkeit dem Leben Gewicht zu geben. Vielleicht wollte der Graf aber auch Gott selbst bestechen. Wahrscheinlich jedoch fiel dies alles zusammen, als Konrad Graf von Hoffnungsthal 1807 erstaunt feststellte, dass nicht jeder Mensch das hatte, was er für die schönste Nebensache der Welt hielt: DIENER. Dass Männer allein ihr Nachtgeschirr polierten, Frauen ohne eine helfende Hand in ihre Kleider finden mussten. Und sogar wieder hinaus! Heinrich lächelte bei diesem Gedanken: dass die Selbstverständlichkeit, mit der am Morgen die Betten aufgeschlagen oder dem jungen Grafen eine heiße Schokolade serviert wurde, eben keine Selbstverständlichkeit war. 6
Andere hätten vielleicht das Büßergewand übergestreift und dem Luxus entsagt, doch der Gründer liebte das schöne Leben zu sehr. Mehr noch, er hielt es für die einzig lebenswerte Variante des Seins. Und so mischte er sich nicht Asketen gleich unter die Armen oder zog als Bettelmönch durch das Land, sondern versuchte, anderen das zu geben, was er selbst hatte: helfende Hände. Am Anfang schickte er nur ein paar seiner Lakaien zu weniger solventen Freunden, damit sie ihre Feste standesgemäß feiern konnten. Doch bald merkte er, dass sein Herz lauter klopfte, wenn er völlig Unbekannten ein paar Dienstboten ins Haus schickte. Und als er begann, auch die niederen Stände mit seinen Aufmerksamkeiten zu bedenken, war der Effekt gewaltig: Oft reichte nur ein einziger Mann, ein Diener allein – man stelle sich das vor! –, um ein Leben, das im Unglück zu versinken drohte, ins Licht zurückzuführen. Es war eine Offenbarung. Für Konrad gab es nun kein Halten mehr. Und als er sich nach dem Tod seines Vaters als alleiniger Besitzer eines gewaltigen Vermögens und zudem ohne Erben wiederfand, beschloss er, alles in den Dienst der Sache zu stellen. Er stiftete seinen Reichtum, der sich, als sei es gottgefällig, was er tat, von nun an wie von selbst mehrte, und gründete ihre Bruderschaft. Natürlich als geheimen Orden, denn schon nach den ersten Aufmerksamkeiten, die der Graf seinen Freunden erwiesen hatte, häuften sich die Bittbriefe. Und als sich das Gerücht seiner Großzügigkeit wie ein Waldbrand durch das Unterholz menschlichen Eigennutzes fraß, blieb ihm auch kaum eine andere Wahl. Bald darauf tauchte der Wohltäter selbst ab, im wahrsten Sinne des Wortes, und täuschte seinen Tod vor, indem er vor den Augen einer Jagdgesellschaft spektakulär ertrank. In den Chroniken kann man lesen, dass Konrad von Hoffnungsthal im Alter von nur 47 Jahren aus dem Leben schied, doch Heinrich wusste, dass der Gründer in Wirklichkeit 102 Jahre alt wurde, ehe er als zufriedener Mann starb. In seinen letzten Lebensjahren – der alte Graf nahm kaum mehr zu sich als ein 7
Bettler – schien es, als ernährte er sich ausschließlich vom Glück, das er anderen brachte, wenn er die Berichte seiner Diener las. Und seit der Zeit operierten die Brüder im Verborgenen und gingen als geheime Diener in die Welt hinaus. Nur als Märchen lebte ihre Legende bis heute weiter. Heinrich sog den Duft der Jahrhunderte, der in diesen Fluren atmete, in sich hinein. Vielleicht, wenn die Menschen um ihre Existenz wüssten, vielleicht wären ihre Anstrengungen kleiner, für jede erdenkliche Tätigkeit eine Maschine zu erfinden. Das zumindest hatte der Mitbruder geäußert, der die Welt wieder in Richtig und Falsch eingeteilt sehen wollte und nicht in An und Aus: Möglicherweise wären all die Spülmaschinen, Bügeleisen und Wäschetrockner nie zum Leben erweckt worden. Wie diese unsäglichen Computer, die den Leuten inzwischen sogar das Denken besorgten! Heinrich hatte ihm nicht widersprochen. Doch für sich war er ganz froh, dass er für seine jeweiligen Herren nur noch selten Wäsche zu waschen hatte, sondern sich ganz ihrem geistigen Wohl widmen konnte. Selbst wenn die Maschinen ihn eines Tages vielleicht gänzlich überflüssig machen könnten. Ihn, wie die gesamte Dienerschaft, ebenso wie ihre geheime Idee vom Glück. Aber noch war sie da, er war da, auch wenn seine 70 Jahre ihm langsam in die Knochen krochen. Heinrich drückte die verschnörkelte Messingklinke und schob die schwere Eichentür zum Büro des Subpriors auf. Er tat es mit der Kraft der Gewohnheit – zwei Männer seiner Größe übereinander könnten durch diese Tür gehen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Wie üblich winkte ihn der Subprior wortlos herein und wies ihm den Stuhl zu, der auf der anderen Seite seines Biedermeierschreibtischs stand. Heinrich lächelte in sich hinein, als er über dem Kopf seines Vorgesetzten das Porträt ihres Ordensgründers sah. Nicht weil ihn die ernste Würde erheiterte, die aus dem Bild strahlte, sondern weil der Subprior mit allen Mitteln versuchte, dem Gründer immer ähnlicher zu werden. Zumindest äußerlich: Ein beeindruckender Bart versilberte seine Wangen 8
wie Raureif, und als der Blick des Subpriors Heinrich erfasste, sah der Diener darin den gleichen strengen Ausdruck wie im Porträt des Grafen. Sein Gegenüber musste eine ganze Zeit daran gefeilt haben! Aber Heinrich hatte die Menschen schon immer eher für ihre Schwächen als für ihre Stärken geliebt. Und anders konnte man als Diener wohl auch nicht sein. Also verkniff er sich jede Bemerkung und nickte nur leicht über den Schreibtisch hinüber. Er war bereit. Eine neue Aufgabe. Er mochte diesen Moment, in dem er noch nichts von seinem neuen Herrn wusste. Es war fast ein Geschenk für ihn, wenn aus den Notizen, den Akten und Dossiers, die die Brüder über die Hilfsempfänger zusammentrugen, ein Mensch trat wie aus dem Nebel. Wer würde es diesmal sein? Der Subprior legte einen Umschlag auf den Tisch, aus dem Heinrich langsam einen kleinen Stapel Fotos zog. Er schloss dabei die Augen, um die Bilder nicht nach und nach ausschnitthaft, sondern gleich in einem Stück zu sehen. Dann atmete er tief und wagte einen Blick. Was er sah, verschlug ihm fast die Sprache: Ein Kind? Auf diesem Foto war ein Kind! Ein Kind würde sein nächster Herr sein? Und er der Diener eines Kindes? Na, halleluja: Wenn man ihn fragen würde, dient man den Kindern von heute am besten damit, wenn man sie einmal etwas alleine machen lässt. Was brauchen die einen Diener? Doch schon, als er sich die nächsten Bilder ansah, schämte er sich seiner Gedanken und verstand. „Das ist das Ziel?“, fragte er. Der Subprior zwirbelte sich den Graubart. „Das ist das Ziel.“ Dann bedeutete er dem Diener jedoch, die Fotos zurück in den Umschlag zu stecken, und nahm ihn zu Heinrichs Verwunderung wieder an sich. „Leider müssen wir diesmal ein wenig über Bande spielen.“ Er stand auf und reichte Heinrich eine weitere Akte. „Ist das die Bande?“, fragte der Diener. Drei Bilder einer Familie fanden 9
sich in der Mappe, ihre Namen, ein Foto des Wohnhauses der Zielpersonen, dazu wie üblich die genaue Adresse, Anschriften von Arbeitsstellen und so weiter, Telefonnummern und E-Mail-Adressen. „Das ist die Bande“, murmelte der Vorgesetzte bestätigend in seinen Bart. „Sozusagen eine Familienbande“, meinte Heinrich fröhlich. Aber sein Witz kam nicht an. „Alle?“, fragte er deshalb sachlicher: „Bin ich für alle da, oder gibt es Prioritäten, Prior?“ Der wieder keine Miene ob des Wortspiels verzog, auch wenn Heinrich ihn gerade befördert hatte. „Sie folgen in allem den Weisungen des Mannes. Doch wenn er es wünscht, kümmern Sie sich selbstverständlich auch um seine Familie.“ „Selbstverständlich.“ Dein Befehl ist mir ein Wunsch. „Und wie komme ich rein?“ Früher war es einfacher, bei den Menschen Einlass zu finden, dachte Heinrich. Wenn er sich heute als irgendjemandes Diener vorstellte, zeigte man ihm meist zuerst einen Vogel. Ja, die Zeiten waren andere geworden. Doch statt einer Antwort legte der Prior ein versiegeltes Schreiben auf den Tisch. „Meine Referenzen?“, fragte der Diener. „Das ist alles? Wissen Sie, Sie waren vielleicht schon eine ganze Weile nicht mehr draußen. Nicht dass ich Ihre Autorität infrage stellen wollte. Aber heutzutage ist es nicht mehr besonders wirkungsvoll, jemanden Referenzschreiben unter die Nase zu halten. Selbst wenn sie auf schwerem Büttenpapier mit einem roten, nostalgischen Siegel daherkommen.“ „Nostalgisch?“, knarrte der Subprior. „Nostalgisch“, nickte Heinrich. „Was denn sonst? Wenn sich die Ordensführung dazu durchringen könnte, wenigstens für die Außendienstbrüder einen Internetauftritt zu erstellen, würde das unsere Glaubwürdigkeit bei den Menschen gewaltig erhöhen. Ohne ein Facebook-Profil stellt man ja heutzutage fast jede Existenz infrage.“ Er hörte, wie sein Vorgesetzter bei dem Wort Facebook wütend schnaubte. „Wir haben zu dem Thema dieselbe Meinung, Bruder Oberer. Das ist eine widerwärtige Mode. Trotzdem“, 10
fügte Heinrich nach eine Pause hinzu, denn selbst das Wort Mode wirkte in diesem Raum mit seinen weinroten Stofftapeten wie ein Fremdkörper, „trotzdem würde uns das in der Welt, wie sie inzwischen nun einmal ist, enorm weiterhelfen.“ „Die Welt, wie sie nun einmal ist!“ Der Subprior legte die Stirn in Falten. „Natürlich“, sagte er sarkastisch. „Wir könnten uns natürlich gewöhnlich machen. Und wenn wir einmal dabei sind, stellen wir auch gleich unseren Orden, unsere Traditionen, unsere Regeln sowie unsere Grundsätze infrage. Und natürlich die Dienstuniformen, nicht wahr?“, fügte er schneidend hinzu. „Unsere Grundsätze nicht“, sagte Heinrich etwas kleinlauter in das Donnern hinein. Er wusste, worauf der Vorgesetzte anspielte, und wollte den Disput um ihre Dienstkleidung besser auf sich beruhen lassen. Auch wenn ihm bei dem Gedanken, sich wieder in den schwarzen Dreireiher zwängen zu müssen, nicht ganz wohl war: das Butlerkostüm. Am schlimmsten waren die weißen Handschuhe! „Sprechen Sie es ruhig aus“, meinte der Subprior. „Sie meinen also, wir könnten unsere Grundsätze bewahren, auch wenn wir in Jeans und T-Shirt zu den Leuten gehen. Ich habe Ihren Antrag gelesen. Wie Sie wissen, ist der vom Hohen Rat einstimmig abgelehnt worden.“ „Von Jeans war nie die Rede.“ Heinrich kratzte sich am Kopf. Natürlich hatte er sich mit seinem Vorschlag weit aus dem Fenster gelehnt, ihre Arbeitskleidung ein wenig der Zeit anzupassen. Aber er kam sich in seinem Anzug oft vor wie beim Karneval. Draußen zumindest, auf der Straße. Manchmal fragte er sich, ob die Ordensleitung überhaupt noch wusste, wie es außerhalb ihrer heiligen Mauern aussah. Die igeln sich ein! Heinrich war froh, dass er sich trotz seines Alters nicht in den Innendienst hatte versetzen lassen. Der Subprior maß ihn mit einem strengen Blick. „Und um Ihre Befürchtungen zu zerstreuen: Natürlich haben wir für den Notfall an einer Legende für Sie gebastelt.“ 11
Das Wort „gebastelt“ klang aus seinem Mund, als hätte die Königin von England statt I’m not amused „Das geht mir auf den Keks!“ gesagt. Doch der Subprior fuhr unbeirrt fort: „Und zwar die Geschenk-Legende.“ Was immer das bedeuten sollte! „Ich werde verschenkt?“ Zumindest bekommt das Butler-Kostüm dadurch einen gewissen Sinn, dachte Heinrich: ein Diener in der passenden Geschenkverpackung. Er schaute noch einmal in die Gesichter auf den Fotos: Vater, Mutter, zwei Kinder, alles so, wie es sein sollte. Die sahen eigentlich ganz zufrieden aus. Nicht als ob sie Hilfe brauchten. Aber er stellte keine weiteren Fragen. Erstens, weil er wusste, dass sich die Brüder noch nie geirrt hatten: In den ganzen 200 Jahren hatte sich jedes Mal ein triftiger Grund gefunden, der ihren Beistand unabdingbar machte. Kein einziger Fehler war dem Rat je unterlaufen, es schien, als ob der Himmel das Bestechungsgeld des Gründers akzeptiert hatte. Oder es brauchte einfach jeder Hilfe. Und zweitens war dies eine weitere goldene Regel für die Diener: vorher so wenig wie möglich über ihre neuen Herren zu wissen und sich erst vor Ort ein Bild zu machen. Das hatte sich bewährt: Unvoreingenommener konnte man einem Menschen nicht begegnen. Und drittens war da ja noch die Sache mit der Bande, über die er spielen sollte. Was Heinrich noch nicht ganz verstand. Doch wie schon der alte Graf selbst erging sich der Subprior, der dem Gründer in allem nacheiferte, lieber in Geheimnissen, als sein Wissen vorbehaltlos mit seinen Untergebenen zu teilen. Irgendetwas musste er schließlich tun, um seinem Schreibtischalltag ein wenig Spannung zu verleihen: Geheimniskrämerte er eben! Wenn Heinrich erst draußen war, würde er das alles schon verstehen. Noch einmal öffnete der Bruder Oberer die Schublade seines Schreibtischs. Heinrich wäre beinah vor Freude von seinem Stuhl gesprungen, als er sah, was der Subprior von dort zu Tage beförderte: Es war der Schlüssel des 1959er-Bentley S1 aus dem 12
Fuhrpark des Ordens! Halleluja, den hatte er noch nie fahren dürfen! Als sein Vorgesetzter das Strahlen in Heinrichs Gesicht bemerkte, zögerte er einen Augenblick, ehe er ihm den Autoschlüssel aushändigte. „Missverstehen Sie das nur nicht. Keinesfalls ist dies als Auszeichnung Ihrer Verdienste gedacht, es geht einzig und allein um die Verstärkung Ihrer Legende. Wir denken, so wird es leichter für Sie, die Türen zu öffnen.“ „Natürlich!“, nickte Heinrich. Dann nahm er den Wagenschlüssel an sich und packte die Unterlagen in seinen Aktenkoffer. Und trotz des schneidenden Blickes seines Chefs war er guter Dinge: Er hatte einen neuen Auftrag und dazu dieses unglaubliche Auto. Was wollte man mehr?
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1 Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes. 1. Thessalonicher 5,5
Armin wollte nur ein Lachen. Oder wenigstens ein Lächeln, deshalb ließ er die Puppen tanzen: der Wolf und die sieben Geißlein. Der Arzt verbarg sich hinter dem Fußende des Krankenhausbettes, das ihm als Bühne diente. Neben ihm war seine Kollegin Lisa in Deckung gegangen. Die junge Frau spielte die alte Geiß, Armin mit einer Hand den Wolf und mit den Fingern der anderen die sieben Jungen. Wodurch deren Zahl eben leider nicht der magischen Vollkommenheit des Märchens entsprach, sondern nur den schnöden Gesetzen der Anatomie. Zumindest etwas, womit Armin als Chirurg sich auskannte: Der böse Wolf würde sich am Ende trotzdem den Bauch vollschlagen können. Lisa hatte gerade wenig zu tun. Die alte Geiß war eben unter Ermahnungen, niemandem die Tür zu öffnen, von der Bühne gegangen, und so lehnte die junge Ärztin mit dem Rücken am Bett. Ihren Blick voll auf Armin gerichtet. „Guck mich nicht immer so an!“, flüsterte der. Er wusste für einen Moment nicht, für wen er eigentlich spielte: den kleinen Patienten, der unter seiner Decke hervorlugte, oder für Lisa? Doch dann ließ er den bösen Wolf grollen und klopfte auf Holz. „Ihr lieben Geißlein, lasst mich ein, ich habe euch etwas Schönes mitgebracht.“ Er wartete auf eine Reaktion aus dem Bett. Aber nichts. Der Junge könnte doch wenigstens den Text der Geißlein sprechen! Oder etwa nicht, war er schon zu alt für Märchen? Armin hatte 15
seine Wolfsstimme extra klingen lassen wie das staubige Rumpeln eines Kohlenkellers. Doch das erhoffte Lachen blieb aus. Was denn? Er fand es komisch. Lisa zuckte auf seinen Fragezeichenblick hin nur mit den Schultern. „Du bist nicht unsere Mutter“, meckerte Armin eben selbst, zwei Oktaven höher als das Raubtier gerade eben: „Unsere Mutter hat nicht so eine raue Stimme. Du bist der böse Wolf.“ Er zwitscherte wie ein kleines Mädchen, doch der Junge rührte sich immer noch nicht. Und gerade, als Armin vorsichtig unter der verchromten Stange des Krankenhausbettes nach oben lugte, klingelte auch noch das Handy, das neben seinen Knien auf dem Boden lag. Oder vielmehr: Es sang: All you need is love … Der eingestellte Vibrationsalarm ließ das Smartphone dazu über das Linoleum tanzen. So ein Mist. Armin brummte wütend, halb Wolf, halb Arzt. Auf dem Display sah er, dass seine Station dran war. Verdammt, ich habe seit einer halben Stunde Feierabend! Aber ohne ihn ging es natürlich nie. Wir sind eben nicht im Märchen! Der Zauber war jedenfalls dahin. Doch genau das schien den kleinen Patienten zu amüsieren. „Ja, genau – du bist nicht unsere Mutter“, lachte der plötzlich fröhlich und meckerte jetzt in der Rolle der Geißlein. „Du hast dich verraten: Unsere Mama hat einen ganz anderen Klingelton.“ Dann sang er lauthals das Motiv aus Beethovens Schicksalssymphonie. „Ba. Ba. Ba. Bah. So geht Mamas Handy. Du bist der böse Wolf.“ „Was? Ich?“, ließ Armin die Kohlen rumpeln. „Der Wolf? Wie kommt ihr Geißlein denn darauf?“ Er schnappte empört nach Luft. Dann fiel ihm etwas ein, auch wenn dies vom Original des Märchens abwich: „Aber nein. Ich bin nicht der böse Wolf – ich bin euer lieber Papa.“ Lisa neben ihm guckte genau so erstaunt wie Lucius in seinem Bett. „Was denn für ein Papa?“, fragten beide wie aus einem Mund. 16
Armin hob den Kopf über den Bettrand. „Ja, wer denn sonst? Habt ihr euch nie gefragt, wo der Ziegenbock eigentlich steckt? Gerade, wenn seine Kinder in Gefahr sind.“ Dann schaute er den Jungen direkt an. „Als ich in deinem Alter war, wollte ich das wissen.“ Lisa knuffte ihn unter dem Bett und das All you need … der Beatles sang weiter im Hintergrund. Armin ließ es laufen, es passte eigentlich ganz gut. Ein bisschen wie Filmmusik. „Vielleicht hat der Wolf den Ziegenbock ja gefressen. Schon bevor das Märchen losgeht. Kann doch sein.“ Lucius’ Antwort konnte man auch als Frage verstehen. „Gefressen? Na gut. Das wäre zumindest besser als die Möglichkeit, dass sich der alte Bock irgendwo in der Weltgeschichte rumtreibt. Oder?“ Und weil ein alter Bock natürlich nichts für Kinderohren war, boxte ihn Lisa wieder. Was trotzdem eher eine fast zärtliche Zurechtweisung war, fand Armin. Er war sich nicht sicher, was die junge Frau von ihm wollte. Doch darüber nachzudenken blieb keine Zeit. „Ja“, sagte Lucius. „So wie bei Paul. Das ist mein bester Freund. Seine Mama sagt auch, dass sich Pauls Vater in der Weltgeschichte herumtreibt. Ich habe immer gedacht, der besucht Cäsar oder Kleopatra.“ Armin musste lachen. Kinder haben’s gut, die können gar nicht böse denken. Lucius verstand das falsch und verdrehte die Augen. „Ich weiß inzwischen, dass der keine toten Könige trifft, Mann! Pauls Papa ist einfach nur weg. Das ist der größte Mist, oder? Ohne Papa, das ist noch schlimmer als Leukämie. Stimmt’s?“ Der Arzt sah aus dem Augenwinkel, wie seine Kollegin unter das Bett rutschte. Lisas Herz setzte einen Schlag aus. Und Armin, der nichts zu sagen wusste, duckte sich in seinen Theaterschützengraben und reckte nur die Wolfshand nach oben. „Das ist doch schlimmer?“ Der Chirurg spürte, wie Lisa nach seiner freien Hand tastete. Was war das denn? Er zog sie weg. Und was ging ihn das eigentlich an? Er war nicht auf seiner Station und der Junge nicht 17
sein Patient! Sondern Lisas. Doch gleich als ihm seine Kollegin von dem sterbenden Kind erzählt hatte, ließ es Armin nicht mehr los. Wie unprofessionell, dachte er. Und suchte nach dem Grund. Doro, Dorothea, seine große Tochter war fast genauso alt wie Lucius. Vielleicht war es das. Der Junge erinnerte ihn sogar ein bisschen an sie. Wenn Doro so etwas zustoßen würde, würde es ihn zerreißen. Armin war sich sicher. Mittendurch. Er würde mit ihr sterben, selbst wenn er am Leben blieb. Außerdem kotzte ihn diese Ohnmacht an! Dass man nichts für den Jungen tun konnte, ging ihm gegen die Berufsehre. Nichts, als auf einen Spender zu warten, der das Leben des Jungen doch noch retten könnte. Was angesichts der Zeit, die Lucius noch blieb, einem Wunder gleichkäme. All you need is love. Von wegen! Armin drückte den Anrufer weg. Für Wunder war er nicht zuständig. Dafür war er nicht Arzt geworden. Wieso hatte er sich nur von Lisa überreden lassen, mit ihr nach noch mal dem Jungen zu sehen? Er musste nach Hause! Um dann auch noch ein Märchen aufzuführen. Hatte er nicht genug zu tun? Sein lärmendes Handy war doch Beweis genug. Alle Hände voll. Und nicht nur im Job. Er hatte auch noch ein Leben neben der Klinik, anders als viele Kollegen. Lisa eingeschlossen. „Morgen ist Doros Geburtstag“, hatte er abzulehnen versucht. „Sie wird zwölf und ich habe noch einen Haufen vorzubereiten.“ „Und Lucius wird wahrscheinlich niemals zwölf werden. Er hat schon Glück, wenn er das Wochenende überlebt. Bitte sieh ihn dir noch mal an. Ich schwöre dir, Armin, der Junge hat irgendetwas.“ „Na klar hat der was: Leukämie.“ So bitter hatte er eigentlich nicht klingen wollen. Doch Lisa war hartnäckig geblieben. „Es ist etwas anderes. Etwas – als ob er von innen leuchtet.“ Armin hatte ihr einen Vogel gezeigt. Doch schon als er zum ersten Mal durch die Tür dieses Zimmers getreten war, glaubte er 18
zu sehen, was Lisa meinte. Was ihn nur noch wütender machte: Wie kommt denn das Schicksal oder Gott, die Natur oder was auch immer dazu, ausgerechnet in diesem zerbrechlichen Körper ein Licht anzuzünden? Auch wenn das alles natürlich nur Einbildung war. Wie Lisas Stimme in seinem Kopf: „Vielleicht können wir es ja gerade deswegen sehen: das Lebenslicht. Weil die Hülle so schwach ist.“ Na, klar! Das Licht des Lebens! Unter dem machte sie es wahrscheinlich nicht. So unterschiedlich Frauen auch sein mochten, an irgendetwas Übersinnliches glaubten sie alle. Armin glaubte nur an eines: Kontrolle. „Ich analysiere ein Problem, stelle eine Diagnose, lege einen Weg fest und schneide das Problem raus.“ Das war sein Credo als Chirurg. Im Beruf und, soweit sich das nur irgendwie machen ließ, auch im Leben. „Und wenn ich mich für einen Weg entschieden habe, folge ich ihm bis zum Ziel. Punkt.“ Aber hier gab es keinen Weg. Hier gab es nur warten und sterben. Und das war nicht sein Ding! Von wegen All you need is love. Wie zum Hohn begann sein Telefon wieder zu singen. „Aber ohne Papa ist doch schlimmer als Leukämie, oder nicht?“ Lucius’ Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Armin schnappte mit der Wolfshand nach dem Telefon. Ein Knopfdruck und die Behauptung, dass man außer Liebe nichts braucht, wurde zum Schweigen gebracht. „Entschuldigt, ich muss da jetzt rangehen.“ „Und ich brauche eine Antwort.“ Der Junge sah ihn an. Armin zögerte einen Moment. Dann sagte er nein. „Nein, das ist nicht schlimmer. Nichts ist schlimmer als die Krankheit, die du hast. Es tut mir leid, Lucius.“
Auch am anderen Ende der Stadt klingelte ein Handy. „Danke, dass du zurückrufst.“ Die Frau zögerte eine Sekunde, ehe sie weitersprach. Und die Stimme am anderen Ende nutzte die Pause, um zu sagen, dass das doch selbstverständlich wäre. 19
„Was gibt’s denn?“ „Ich werde es ihm sagen.“ Entschlossen wiederholte die Frau den Satz. „Oh Gott. Das hatten wir doch schon tausendmal.“ Ein Schluchzen. „Ich weiß.“ „Na, also. Was soll das bringen?“ „Aber ich halte es nicht mehr aus. Ich habe keine Kraft mehr.“ „Conny, jetzt sei doch mal vernünftig“, insistierte die Stimme. „Aufrichtigkeit nützt keinem was. Und für Geständnisse ist es echt zu spät. Viel zu spät, glaub mir. Früher hättest du vielleicht etwas sagen können, aber jetzt? Nein. Dafür geht es einfach zu lange.“ „Ich weiß“, flüsterte die Frau. „Aber ich kann nicht mehr.“ „Du wirst können müssen, wie immer.“ Die Stimme wurde sanft. „Ich weiß, dass das jedes Jahr hochkocht. Aber wie jedes Mal wird es vorbeigehen. Verlass dich drauf.“ „Ich weiß nicht …“ „Doch, du weißt es. Sei ein tapferes Mädchen. Sonst geht alles kaputt. Euer Leben. Unser Leben. Denk an die Kinder.“ Conny wusste, dass sie keinen anderen Rat bekommen würde, es war immer das Gleiche. Die Stimme fragte noch: „Okay?“ Gar nichts war okay! „Ja, bis bald.“ Armins Frau legte auf.
„Wie kannst du nur so etwas sagen?“ Lisa rannte ihm wütend hinterher und machte ihrem Ärger Luft. „Mistkerl!“ Ohne auch nur im Geringsten darauf zu achten, dass die Krankenschwestern und Patienten auf den Gängen große Augen machten. Von außen gesehen sehen wir bestimmt aus wie ein Liebespaar, das sich streitet, dachte Armin. Aber was soll’s: Das halbe Krankenhaus glaubt sowieso, dass ich etwas mit ihr angefangen habe. Lisa stammte aus irgendeinem Nest bei Prag und war vor gut einem Jahr an die Klinik gekommen. Ohne erkennbaren Anhang. Und 20
außerdem sah sie viel zu gut aus – nicht wie die Spezialistin, die sie war. Eher wie das blonde Klischee aus einem Arztroman. Völlig klar, dass die Gerüchteküche kochte. Man kann den Leuten ihre Gedanken nicht verbieten, dachte Armin, erst recht nicht die dummen. Er lief einfach weiter. „Wie kannst du nur?“, rief sie ihm nach. „Weil es die Wahrheit ist.“ „Ach, scheiß auf die Wahrheit.“ Armin schluckte, doch Lisas Akzent nahm ihren Worten jede Grobheit. „Ja, scheiß drauf. Was soll denn der Junge mit der Wahrheit? Der braucht ganz andere Sachen.“ Armins Augen wurden schmal. „Ach, und was?“ „Liebe zum Beispiel. Oder Hoffnung. Oder irgendetwas, woran er glauben kann“, sagte Lisa. „Du weißt genauso gut wie ich, dass Kranke manchmal plötzlich wieder gesund werden, ohne dass es dafür einen erklärbaren Grund gibt.“ Armin sah das goldene Kettchen um ihren Hals. Das kleine Kreuz daran. „Glaube, Liebe, Hoffnung – das ist wohl eher, was du brauchst.“ „Und du glaubst natürlich an gar nichts, was?“ Sie hatte ihn wieder eingeholt und zog ihn am Ärmel. Doch Armin blieb nicht stehen. „Woran ich glaube, weißt du doch.“ „Ja, ja. Kontrolle, schon klar. Aber Lovesongs als Klingelton haben. Heuchler.“ Abrupt bremste er. „Das hat meine Tochter so eingestellt, klar?! Aber wenn du mir hier schon die Gretchenfrage stellst: Wenn ich sonntags mit meiner Familie aufwache und wir alle im Bett kuscheln und ich die Gesichter der Menschen sehe, die ich liebe – doch, dann glaube ich manchmal, dass es das Paradies gibt, dass Wunder möglich sind und wir alle unsterblich sein könnten.“ Er holte Luft. „Aber spätestens am Montag, wenn ich mit dem Bus zur Arbeit fahre und in die müden, leeren Augen der Leute schaue, die wie ferngesteuert irgendwo hinrasen – dann weiß ich, dass wir alle in die Kiste kommen. Für immer. Und dass das gut so ist.“ 21
Wenn er gedacht hatte, dass seine Rede Lisa zum Verstummen bringen würde, irrte er sich. „Trotzdem hast du kein Recht, deinen Zynismus an dem Jungen auszulassen.“ „Was du Zynismus nennst, nenne ich Aufrichtigkeit. Ich habe ihm nur die Wahrheit gesagt. Denkst du, das fällt mir leicht? Wenn ich heucheln könnte, würde ich es tun.“ Statt einer Antwort stampfte Lisa nur mit dem Fuß auf. „Das nützt auch nichts – aber trample ruhig. Ich verstehe ja, dass du deine Hilflosigkeit an irgendwem auslassen musst. Es ist zum Heulen, aber so ist es nun mal. Mach dir keine Vorwürfe, du bist trotzdem das Beste, was dem Jungen passieren konnte.“ „Es sei denn, ich schleppe irgendeinen Idioten an, der ihn mit seinem Sarkasmus k. o. schlägt.“ Sie hatte ja recht! Armin warf das Handtuch: „Ich gehe noch mal zu ihm.“ Mit einem Blick zur Uhr, die Zeit raste. Seinen Plan konnte er vergessen. Verdammt! Schon wollte er losstürmen. „Sehen wir uns nachher noch?“ Lisas Frage hielt ihn auf. Er lächelte nur kurz. „Nein. Keine Chance.“ Seine Familie wartete. „Frühestens Montag. Bis dahin feiern wir Geburtstag. Ich hab drei Tage hintereinander frei, kannst du dir das vorstellen?“ Armin konnte es ja selbst kaum. „Vorstellen schon, aber was soll ich mit drei freien Tagen?“ „Ach, Lisa.“
Eine halbe Minute später stand Armin wieder in Lucius’ Zimmer. „Ich habe es nicht so gemeint.“ Aber der Junge schüttelte heftig Kopf. „Doch. Ich denke, Sie haben es genau so gemeint. Es ist schon okay.“ Er schniefte. „Die anderen glauben nur alle, dass ich die Wahrheit nicht aushalten kann. Mama und Papa sowieso und die Frau Doktor auch. Wahrscheinlich weil ich noch zu klein bin oder so.“ Als Armin sich endlich traute, dem Jungen direkt in die Augen zu schauen, bildete er sich wieder ein, dieses Leuchten zu sehen, 22