Judith Kubitscheck 路 Judith K眉hl Maggie Gobran
Judith Kubitscheck 路 Judith K眉hl
Maggie Gobran Die Mutter Teresa von Kairo
Mit Fotos von Christoph Jorda
Inhaltsverzeichnis Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Die Professorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Begegnungen mit Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zabbalin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Anfänge und Hausbesuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstes Camp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Schatten der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Es ist nicht alles Gold, was glänzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meine Eltern können auch nicht lesen . . . . . . . . . . . . . . Samira und ihr Kindergarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umm Banat – Mutter von Töchtern . . . . . . . . . . . . . . . . Die Träumerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer teilen kann, ist reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mokattam – zwischen Hoffnung und Enttäuschung . . Die große Schlachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „15.-Mai“-Slum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg mit den Armen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7 9 14 29 37 50 61 77 89 100 119 130 152 164 181 192 200 220 237
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Nachwort von Volker Kauder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
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Prolog „In die Müllstadt Mokattam zu gehen, ist, wie in eine riesige Mülltonne zu steigen. Eine riesige Mülltonne, in der sich vergammeltes Essen mit Medizinabfällen, Dosen, Plastiktüten und Babywindeln mischt. Kleine Kinder spielen mit dem Müll zwischen Ratten und Ungeziefer in den Ausdünstungen des Kairoer Großstadtabfalls. Überall sind dicke schwarze Fliegen, die sich im Unrat nähren und auf den Gesichtern der Babys krabbeln. Als ich zum ersten Mal hier war, wurde mir von dem üblen Geruch süßlicher Verwesung und Fäkalien flau und schwindelig. Obwohl ich ein Tuch schützend vor mein Gesicht hielt, drang der Gestank in meine Nase, selbst meine Kleidung und meine Haare saugten ihn auf. Seit meiner Kindheit bin ich den Duft von Desinfektionsmitteln gewöhnt. In einer Arztfamilie aufgewachsen, lebte ich in einer Welt der Sauberkeit und Ordnung. Bevor ich mit meiner Puppe spielte, musste ich mir die Hände waschen. Danach natürlich auch. Hier in Mokattam suchte ich vergeblich nach etwas, das sauber war. Ich weigerte mich, irgendetwas anzufassen, und hielt mich von den Menschen fern. Ich war geschockt. Wie kann man nur so leben? 7
Doch der Gestank war nicht das Schlimmste. Schlimmer als aller Ekel, den ich empfand, war das unendliche Elend der Kinder, die im Müll aufwachsen und hier sterben. Das hässliche Hamsterrad der Armut, das nicht aufhört, sich über Generationen weiterzudrehen. Ich fragte Gott: ‚Warum lässt du das zu, dieses Leiden, diesen Schmerz, diesen Hunger?‘ Und ich bekam eine Antwort. Aber eine andere, als ich erwartet hatte.“
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1 Die Professorin Verschwende nicht dein Leben damit, andere beeindrucken zu wollen. Dein Leben sollte nicht voll Arbeit, sondern deine Arbeit voller Leben sein. Maggie Gobran
Kurz vor acht fährt Maggie Gobran mit ihrem schwarzen Mercedes SL vor die Amerikanische Schule in Kairo. Gerade noch rechtzeitig. Ruckartig kommt der Wagen zum Stehen. „Beeil dich!“, ruft sie ihrer Tochter Ann zu, die auf dem Rücksitz ihre Stifte zusammensucht. Dann öffnet Maggie Gobran schwungvoll die Fahrertür. Zwei schwarze Lederpumps auf hohen Trichterabsätzen, gefolgt von schlanken Beinen, die in einem engen schwarz-weißen Pepitarock stecken, schieben sich auf den Bordstein. Egal, wo Maggie Gobran hinkommt, zieht sie die Blicke auf sich. Die achtjährige Ann ist stolz auf ihre charmante, modebewusste Mutter, die mit ihrer Kleidung ganz im Trend der 80er-Jahre liegt. „Bitte bring mich zur Schule“, hat sie deshalb morgens gebettelt, und ihre Mutter ließ sich tatsächlich überreden, obwohl sie vor Weihnachten genug zu tun hat. Maggie 9
öffnet den Kofferraum und drückt Ann ihre Schultasche in die Hand. „Ist das deine Mama?“, fragt Anns Klassenkameradin Zain, die ihr auf dem Weg ins Schulgebäude entgegenkommt. „Die sieht ja schön aus!“ Ann nickt triumphierend. Nicht nur Zain ist sichtlich von ihrer Mutter beeindruckt, sondern auch die Jungen aus der Klasse über ihr. Sie stehen vor dem Schuleingang, bewundern den Mercedes und die Frau, die sich gerade wieder ans Steuer setzt. Ann schaut ihrer Mutter gedankenverloren hinterher. Jetzt gongt es zum zweiten Mal. Mit schnellen Schritten geht Ann zur Schultür. Zain folgt ihr und fragt: „Willst du heute neben mir sitzen?“ Ann schaut sie erstaunt an. Bisher hat ihre Klassenkameradin sie kaum beachtet. Zain gehört zu den beliebten Mädchen in der Klasse. Ann ist schüchtern und fällt normalerweise nicht besonders auf. Die älteren Jungen stehen immer noch an der Schultür. Freiwillig treten sie einen Schritt zur Seite, als Ann sich ihnen nähert. Gestern haben sie sich ihr in den Weg gestellt und gelacht, als sie sich deshalb an ihnen vorbeidrücken musste. Kerzengerade und betont langsam geht Ann jetzt an ihnen vorbei. Ihr Plan ist aufgegangen. Der Auftritt ihrer Mutter hat gewirkt. Der Verkehr auf der Qasr-al-Aini-Straße ist wie jeden Morgen chaotisch. Ein Eselskarren kommt Maggie Gobran entgegen. Sie hupt. Beinahe stößt sie mit dem Karren zusammen, auf dem sich meterhoch Müllsäcke stapeln. „Warum ist der so spät überhaupt noch unterwegs?“, denkt sie genervt. Wahrscheinlich wird sie wieder nicht pünktlich zu ihren Studenten kommen. Im Zentrum der Stadt fährt sie am „Platz der Befreiung“, dem Tahrirplatz, vorbei. Die Amerikanische Universität liegt mitten im Herzen von Kairo. Mit einem Einzugsgebiet von über 10
20 Millionen Einwohnern ist die Megametropole eine der drei größten Städte Afrikas und des Nahen Ostens. Jeder, der etwas auf sich hält und die Mittel hat, studiert hier. Selbst die Präsidentengattin Suzan Mubarak ist Absolventin dieser Universität. Maggie Gobrans Vater bezahlte damals viel Geld, damit seine Tochter an der Eliteuniversität studieren konnte. Die Investition hat sich gelohnt: Mittlerweile arbeitet sie dort als Informatikprofessorin. Tastaturgeklapper und Modefragen Außer Tastaturgeklapper und leisem Murmeln ist im Computerraum der Universität nichts zu hören. 14 Studenten sitzen an klobigen Computern, starren auf grüne Zahlen und Buchstaben, die auf den kleinen Bildschirmen zu sehen sind. Die jungen Frauen und Männer kommen aus den besten Häusern Ägyptens. Dies zeigen ihre Markenklamotten, ihre Nachnamen und ihre Umgangsformen. Und die Beschäftigung mit dem Gerät vor ihnen: Nur wohlhabende Studenten können sich Mitte der 80er-Jahre einen eigenen Heimcomputer leisten. „Habt ihr eure Programme auf Diskette gespeichert?“ Maggie Gobran schaut von ihrem Lehrbuch auf und blickt in den Raum. „Am Anfang ist der Heimcomputer etwas verwirrend, aber ihr werdet euch schnell daran gewöhnen“, sagt sie auf Englisch mit ihrer charakteristischen, ruhigen, aber ausdrucksstarken Stimme. Sie weiß, dass die meisten ihrer Schüler bislang nur mit einer Schreibmaschine gearbeitet haben und dies alles Neuland für sie ist. Die 1,60 Meter große Frau streicht durch ihre schulterlangen, aschblond gefärbten Haare. Dezentes Make-up betont ihre dunklen Augen. An den Ohren hängen große, kreisrunde weiße 11
Ohrclips. Seit etwa vier Jahren lehrt die 36-Jährige das Fach Informatik an der Amerikanischen Universität. Nach einem Blick auf ihre goldene Armbanduhr klappt sie das Lehrbuch zu. „So, uns bleiben noch fünf Minuten. Gibt es Fragen?“ Eine junge Frau hebt den Finger. „Ja, bitte, Rania“, sagt Maggie Gobran und erteilt ihr das Wort. „Ich habe keine Frage zum Thema, aber ich wollte fragen, woher Sie Ihr neues Kostüm haben.“ Maggie spricht gerne mit den Studentinnen über die neuesten internationalen Modetrends, denn sie liebt es, schick und teuer einzukaufen, und trägt Designerstücke aus aller Welt. Bei den männlichen Studenten punktet sie mit ihren Kontakten zu prominenten ägyptischen Sportlern, Künstlern und Managern, die sie durch ihren früheren Job besitzt. Wann immer jemand das Gespräch mit ihr sucht, nimmt sie sich Zeit, hört zu und gibt Ratschläge – fachlich und persönlich. Sie pflegt bewusst einen guten und engen Kontakt mit den Studenten. Jetzt erzählt Maggie Gobran also, dass sie ihr neues Kostüm vor einigen Wochen aus London mitgebracht hat. Ein schlaksiger junger Mann unterbricht sie: „Ich reise nächste Woche auch dorthin“, sagt er. „Wissen Sie, wie diese Straße heißt, wo die Juweliere ihre Läden haben? Ich möchte meiner Freundin ein Collier schenken.“ Seine Kommilitoninnen sehen ihn bewundernd an: Luxusgeschenke! Von so einem Mann träumt hier jede! Seine Haare sind mit Gel nach hinten gekämmt. Der Kragen an seinem Poloshirt ist hochgeklappt. Mit seinem neuen BMW fährt er jeden Tag zum Campus, damit alle wissen, dass er zu einer der reichsten Familien im Land gehört. Damit gibt er gern an. 12
Die anderen Studenten stört das nicht. Ihr Ziel ist es, später selbst so viel Geld zu verdienen und sich jeden Luxus leisten zu können. Während Maggie die Studenten untereinander reden lässt, fällt ihr auf, wie sehr sie alle nach Geld, Erfolg und Status streben. Sie kann ihre Studenten verstehen. Auch für sie ist das wichtig. Doch sie zweifelt, ob Glück allein davon abhängt. Was macht ihr Leben eigentlich glücklich? Eine Frage, die sie sich schon oft gestellt hat, aber auf die sie, wenn sie ehrlich ist, für sich noch keine letztendliche Antwort gefunden hat. In Gedanken versunken, schaut sie auf die Uhr und unterbricht die Unterhaltungen: „Wir machen Schluss für heute. Allen, die Weihnachten feiern, wünsche ich ein frohes Fest.“
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2 Erste Begegnungen mit Armut Wer teilt, dessen Herz fängt zu singen an. Schwester Emmanuelle, 1908–2008
Gegen Nachmittag fahren Maggie und Ann zurück nach Heliopolis, einem wohlhabenden Stadtteil in Kairo. Dort leben Maggies Eltern, ihre Tante und ihre eigene Familie in einem Mehrfamilienhaus. Ann stürmt die Treppen im Flur hinauf und klingelt Sturm bei ihrer Großtante Matilda, die ein Stockwerk über ihnen wohnt. Maggie folgt ihr, so schnell es auf ihren hohen Pumps möglich ist. „Ahlan wa sahlan – schön, dass ihr kommt“, begrüßt sie Tante Matilda, die von allen nur kurz Tedda genannt wird. Sie küsst Ann und Maggie rechts und links auf ihre Wangen. Im Wohnzimmer sitzen zwei einfach gekleidete Frauen am Tisch und trinken schai ahmar, roten Tee. Tedda hat fast jeden Tag Gäste. Es ist ihre größte Freude, armen und einsamen Menschen ein Zuhause zu geben. Sie kocht für sie und betet mit ihnen. Zwischen den beiden Frauen, die heute bei ihr sind, hat 14
es sich Maggies neunjähriger Sohn Amir bequem gemacht und bedient sich von den Keksen, die auf dem Tisch in einem ovalen Porzellanteller liegen. Tante Tedda ist für Maggie wie eine zweite Mutter. Fast jeden Tag war Maggie als Kind bei ihr, weil sie auch damals schon im selben Haus gewohnt haben. Tedda konnte wunderbar Geschichten erzählen, am liebsten aus der Bibel. Inzwischen ist die Tante über 80 Jahre alt, und jetzt lieben es Amir und Ann, ihren Geschichten zu lauschen. Sie betet auch mit den Kindern – genauso, wie sie mit Maggie früher gebetet hat. Zusammen knieten sie täglich auf dem Boden vor dem Sofa im Wohnzimmer. „Mit Gott kannst du ganz unbefangen sprechen. Sag ihm, was du gerade denkst, was du dir wünschst oder was dich traurig macht“, hat Tedda Maggie und ihren Geschwistern erklärt. Tedda ist ihr in vielem ein Vorbild. Gerade jetzt, vor Weihnachten, wenn Maggie selbst viele Geschenke für ihre Familie kauft, hat sie das Gefühl, sie sollte sich auch um Bedürftige kümmern. Auch sie engagiert sich und bittet deshalb ihre Tante, morgen zusammen mit ihrer Mutter auf ihre Kinder aufzupassen. „Ich möchte einige Weihnachtsgeschenke an arme Menschen verteilen.“ Wie erwartet, ist ihre Tante gern dazu bereit. Das Mädchen ohne Schuhe Am nächsten Tag zieht Maggie ihren dicken Mantel und die schwarzen Lederstiefel an. Die wird sie heute brauchen können, denkt sie sich, während sie die Haustür hinter sich zuzieht und den Müll vor die Tür stellt. Dieser Tag im Januar kurz vor dem koptischen Weihnachtsfest ist außergewöhnlich kalt. Nur selten 15
fallen die Temperaturen im subtropischen Kairo auf zwei, drei Grad Celsius. Ein weißer Mitsubishi-Bus hält vor ihrem Haus. Maggie steigt zu fünf anderen Frauen in den Wagen und fährt mit ihnen in das Stadtviertel Shubra el Kheima, einem Industriegebiet, an dessen Rand die Armen des Viertels leben. Vor Kurzem hörte Maggie von den fünf Frauen, die aus verschiedenen Kirchengemeinden kommen und sich zusammengetan haben, um an Weihnachten und zu Ostern Lebensmittel an Arme zu verteilen. Heute schließt sich Maggie ihnen zum ersten Mal an. Sie sieht darin eine schöne Möglichkeit, wenigstens ein paarmal im Jahr etwas Gutes zu tun. In der Familie Gobran gilt es als selbstverständlich, dass man sich um Menschen sorgt, die weniger haben. Die Zeit in Shubra el Kheima vergeht wie im Flug: In der Eingangshalle einer katholischen Kirche warten Mütter, Kinder und ältere Menschen. Der Priester hat ihnen angekündigt, dass sie hier zu Weihnachten Lebensmittel bekommen. Schnell sind die Essenspakete und Geschenke für die Kinder verteilt. Als alle Kisten leer sind, geht Maggie los, um den Fahrer zu suchen, der mit dem Auto irgendwo in den Straßen nahe der Kirche wartet. An der Hauptstraße fällt ihr Blick auf eine Frau, die auf dem schmalen Streifen zwischen den Fahrbahnen sitzt. Der chaotische Verkehr zieht an ihr vorbei. Teilnahmslos blickt sie den Autos und Mopeds hinterher. Nur bekleidet mit einem einfachen Hemd, das ihr bis zu den Füßen reicht, reibt sie ihre Handflächen aneinander. Trotz der Kälte ist sie barfuß. Auch einen Mantel hat sie nicht. Sie zittert. Das kleine Feuer vor ihr reicht nicht, um sie zu wärmen. Vor ihr liegen kleine Stücke Kohle, die sie für wenig Geld verkauft. Maggie überquert die Fahrbahn und geht zu ihr. 16
Schweigend bleibt sie neben ihr stehen. Sie sucht nach Worten, überlegt eine Weile und fragt die Frau plötzlich und direkt: „Masah el-kheir, anti kwayesa?“ Irritiert sieht sie die Kohleverkäuferin an, deutet auf die Kohlen, wartend, dass Maggie ihr sagt, wie viel sie kaufen möchte. Doch Maggie fragt erneut: „Guten Abend, geht es Ihnen gut?“ Die Frau schaut ihr in die Augen. Sie überlegt einen Moment, dann platzt es aus ihr heraus: „Seit dem Tod meines Mannes vor vier Jahren hat mich niemand mehr gefragt, wie es mir geht. Weder meine Verwandten noch meine Nachbarn haben sich darum gekümmert, was ich und meine vier Kinder machen.“ Sie erzählt, dass sie täglich auf der Straße sitzt, Kohle verkauft und hofft, dass das Geld abends reicht, um den Kindern wenigstens eine Mahlzeit am Tag zu geben. Sie weint. Wahrscheinlich, weil ihr jetzt noch bewusster wird, wie mühsam und bitter es für sie war, in den letzten Jahren allein um das Überleben ihrer Familie kämpfen zu müssen. Auch Maggie ist sehr bewegt und nimmt die Frau in den Arm. Es ist kurz vor sieben Uhr abends. Die älteste Tochter der Witwe kommt gerade von der Schule. Weil die staatlichen Schulen in den ärmeren Vierteln der Stadt mit der Schüleranzahl überlastet sind, bieten sie dreimal am Tag je drei Stunden Unterricht an. Das achtjährige Mädchen geht immer erst von 15 bis um 18 Uhr zur Schule. Statt sich danach an die Hausaufgaben zu setzen oder mit ihren Freundinnen zu spielen, läuft das Mädchen direkt zu seiner Mutter. Es löst sie ab und verkauft bis in die späten Abendstunden die Kohle, damit die Mutter die Geschwister ins Bett bringen kann. Während die Kohleverkäuferin schnell nach Hause geht, bleibt Maggie bei dem Mädchen, das sich barfuß auf den Boden 17
zu den Kohlen setzt. Es drückt seine dünnen, angewinkelten Beine an den Oberkörper, doch die Kälte frisst sich in Windeseile durch ihren gesamten Körper. „Wie heißt du?“, fragt Maggie und versucht, ein Gespräch zu beginnen. „Sherine.“ „Warum hast du denn mitten im Winter keine Schuhe an, Sherine?“ Das Mädchen sagt nichts. Maggie ahnt: Es besitzt einfach keine Schuhe. Spontan sagt sie: „Komm, wir kaufen dir jetzt warme Schuhe.“ Sherine nickt, löscht das Feuer, scharrt die Kohle zusammen und steckt sie in einen dreckigen Plastiksack. Schüchtern folgt sie Maggie in das nächste Schuhgeschäft ein paar Meter weiter an der Hauptstraße. „Such dir aus, was dir am besten gefällt“, fordert Maggie sie auf. Sherine braucht nicht lange, bis sie ein passendes Paar schöner Lederschuhe in den Händen hält. Als Maggie die Schuhe bezahlen möchte, fragt das Mädchen leise: „Kann ich diese Schuhe auch in einer anderen Größe nehmen? Ich brauche sie ein paar Nummern größer.“ Maggie fragt verwundert: „Warum? Diese Größe passt dir wie angegossen!“ Sherine schüttelt den Kopf. „Nein, ich brauche sie nicht für mich.“ Sie macht eine Pause und flüstert, damit die anderen im Laden es nicht hören: „Meine Mutter hat auch keine Schuhe. Sie braucht sie dringender als ich, denn sie schämt sich so sehr, barfuß gehen zu müssen.“ Maggie kann nicht glauben, was sie hört. Sie hätte mit vielem gerechnet: Dass das Mädchen vor Freude durch den Laden 18