9783865913661 Jakobs Liste

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Stephanie Grace Whitson

Jakobs Liste Roman


Über die Autorin Stephanie Grace Whitson ist durch ihre hervorragenden und vielfach ausgezeichneten Romane bekannt geworden. Ihr erfolgreichstes Buch war „Die durchs Feuer geht“. Sie ist Jahrgang 1952 und hat vier inzwischen erwachsene Kinder. Nach dem Tod ihres ersten Mannes hat sie sich noch einmal getraut und lebt heute mit ihrem zweiten Mann in einer fröhlichen Patchworkfamilie in Nebraska. Wenn sie nicht schreibt, fährt sie Motorrad oder befasst sich mit historischen Themen und anderen Sprachen und Kulturen.


Stephanie Grace Whitson

Jakobs Liste 

Roman

Aus dem Amerikanischen Ăźbersetzt von Silvia Lutz


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Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag

Bethany House Publishers, ������������������

11400 Hampshire Avenue South, Bloomington, Minnesota, USA, unter dem Titel „Jacob’s List“. © 2007 by Stephanie Grace Whitson © 2009 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Die Bibelzitate wurden der folgenden Bibelübersetzung entnommen: Hoffnung für alle, © 1986, 1996, 2002 International Bible Society, Übersetzung, Herausgeber und Verlag: Brunnen Verlag, Basel und Gießen 1. Auflage 2009 Bestell-Nr. 816 366 ISBN 978-3-86591-366-1 ������������

��������������������������������������� �������������������������������������������������������������������� Umschlaggestaltung: Hanni Plato ��������������������������������������������

Satz: Nicole Schol Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages


Eins „Ich kann nicht glauben, dass ich das tatsächlich mache!“

Pamela Lindberg bedeutete dem schwarzen Hund an ihrer Seite, auf den Rücksitz des blauen Kabrioletts zu springen, und stieg neben ihrer besten Freundin ein. Christina lugte über den Rand ihrer Sonnenbrille. „Was gibt es da zu glauben?“, spottete sie. „Wir gehen am Vatertag immer gemütlich essen. Das ist unser traditionelles Gegengift gegen den Papa-zum-Abgewöhnen.“ Pam steckte ihre Haare unter ihre Baseballkappe, während Christina das Auto rückwärts auf die Straße lenkte. „Ich habe nicht vom Essen gesprochen, und das weißt du ganz genau. Ich habe vom Rest des Vormittags gesprochen.“ „Du meinst Zuschauen, wie dein kleiner Junge sich aus einem Flugzeug stürzt?“ Christina legte den ersten Gang ein und fuhr die von Bäumen gesäumte Straße entlang. „Ja. Genau das meine ich.“ Pam schwieg einen Moment. „Er war so enttäuscht, als ich gesagt habe, dass ich es einfach nicht ertragen könnte, ihm dabei zuzuschauen. Es ist bestimmt lustig, wenn wir ihn jetzt überraschen, aber …“ Sie räusperte sich und legte die Hände auf ihren Bauch. „Am besten fahren wir direkt da hin. Jetzt, wo ich mich dazu entschieden habe, will ich es hinter mich bringen. Und ich glaube, ich bringe sowieso keinen Bissen hinunter.“ „Vergiss es.“ Christina warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Du hast gesagt, sie fangen erst um neun Uhr an. Jetzt ist es gerade mal halb acht. Ich kann mir richtig vorstellen, wie du nervös dort auf dem Feld stehst und deine Nägel abkaust, während du dir alle möglichen Dinge ausmalst, die schief gehen könnten.“ Sie blieb an einer roten Ampel stehen. „Hör zu, Süße. Du hast mir selbst erzählt, 5


dass Jakob dich davon überzeugt hat, dass Fallschirmspringen total ungefährlich ist. Statistisch gesehen ist es sicherer als Autofahren, wenn ich mich recht erinnere. Genau das waren deine Worte. Also lehn dich zurück und überlass das Winseln ihm.“ Sie deutete zu dem Hund auf dem Rücksitz. Als er sich aufsetzte und leise jaulte, lachte Christina. „Entschuldige, Rambo. Tante Christina weiß, dass du kein Jammerlappen bist.“ „Tante Christina?“, spottete Pam. „Was würde Cicero sagen, wenn er wüsste, dass du dich mit einem Königspudel verschwisterst?“ „Lass dir eines gesagt sein, liebe Freundin“, erklärte Christina, während die Ampel auf Grün schaltete und sie den ersten Gang einlegte. „Das hier sieht vielleicht aus wie ein Hund, und es riecht manchmal eindeutig wie ein Hund, aber das ist nur eine schlaue Verkleidung.“ Sie schaute in den Rückspiegel. „Ich kenne die Wahrheit, Pelzgesicht. Unter diesem zotteligen, schwarzen Fell versteckt sich in Wirklichkeit eine sehr große Katze.“ Rambo jaulte wieder und schüttelte den Kopf. Pam lachte. „Mit dem zottelig hast du recht. Es wird höchste Zeit, dass er zum Hundefriseur kommt.“ Sie schaute nach hinten. „Obwohl er mir so eigentlich ganz gut gefällt.“ „Mir auch“, stimmte ihr Christina zu. „Frisierte Pudel haben mir noch nie gefallen.“ Sie bog auf einen freien Parkplatz vor dem Restaurant. Pam stieg aus. Als Rambo ihr folgen wollte, hielt sie eine Hand hoch und sagte leise: „Nein. Du bleibst hier.“ Eine zweite Handbewegung, und der Hund setzte sich. Pam hob ihre Handtasche auf. „Gehen wir“, sagte sie zu Christina und marschierte zur Eingangstür. „Was war das denn?“ „Jakob hat mir ein paar Sachen gezeigt, als er in den Frühlingsferien zu Hause war“, erwiderte Pam. „Ich habe Rambo 6


nur mitgeteilt, dass er hier sitzen bleiben soll.“ Als Christina zögerte, winkte sie ihr. „Komm schon. Er bleibt da sitzen. Glaub mir.“ „Soll das ein Scherz sein?“ Christina warf einen zweifelnden Blick zum Auto. „Sollten wir nicht wenigstens eine Leine an den Türgriff binden oder so etwas? Was ist, wenn eine süße kleine Hündin vorbeikommt?“ Pam zuckte die Achseln. „Jakob sagt, Rambo sei absolut gehorsam und vertrauenswürdig.“ Sie bedeutete Christina, ihr zu folgen. „Also, komm schon.“ „Ist Jakob den ganzen Sommer zu Hause?“ „Wenigstens so lange, bis er und Andy losziehen, um den nächsten Punkt auf ihrer Liste in Angriff zu nehmen.“ Sie verzog das Gesicht. „Klettern glaube ich. Irgendwo im Westen. Irgendwelche glatten, schwierigen Feldwände hinaufkrabbeln.“ Sie erschauderte. Christina lachte, während sie das Restaurant betraten und sich an einen Tisch setzten. „Dann werde ich ihn mal fragen, ob er sich ein wenig mit Cicero befassen kann. Der hat sich angewöhnt, mitten in der Nacht durch die Wohnung zu rennen. Neulich abends landete er plötzlich neben mir auf dem Kissen. Ich war schon halb eingeschlafen und habe mich zu Tode erschreckt.“ Pam schaute zweifelnd. „Ich glaube nicht, dass Cicero von Trainingsmethoden für Hunde begeistert wäre.“ „Oh, doch“, witzelte Christina. „Er würde wahrscheinlich sofort versuchen, mich so zu schulen, dass ich ihm gehorche.“ Sie schmunzelte und warf einen Blick aus dem Fenster auf Rambo. „Wirklich ein perfekter Gentleman. Wenn nur auch die anderen Männer in unserem Leben seinem Beispiel folgen würden.“ „Amen dazu.“ Pam überflog die Speisekarte und legte sie dann mit einem lauten Seufzen weg. „Ehrlich, ich glaube, ich kann jetzt nichts essen.“ 7


Christina hielt ihr die Speisekarte erneut hin. „Du isst jetzt ein richtiges Frühstück wie jede vernünftige Frau.“ Sie lächelte. „Ich lasse nicht zu, dass du zu den guten alten ‚Albino-Bohnenstangen‘-Tagen zurückkehrst.“ „Entspann dich.“ Pam zwang sich zu einem Lächeln. „Es besteht keine Chance, dass die Albino-Bohnenstange jemals wieder aufersteht.“ Sie seufzte. „Trotz aller Bemühungen ist mir kein einziges Kleidungsstück in meinem Schrank zu groß … und ich komme auf dem Trimmrad einfach nicht über Stufe vier hinaus.“ Sie schüttelte den Kopf. „Kaum zu glauben, dass wir beide früher dreimal in der Woche zehn Kilometer gejoggt sind.“ „Ja, wenigstens haben wir mit diesem Unsinn zur gleichen Zeit aufgehört. Ich könnte es wahrscheinlich nicht aushalten, dich beim Cocktailschlürfen von deinem x-ten Marathon erzählen zu hören.“ Sie schmunzelte. „Wir bewegen uns ohnehin schon auf sehr dünnem Eis, da du so reich bist und ich so normal.“ „Oh ja“, spottete Pam. „Du musst wirklich knausern, um über die Runden zu kommen.“ Sie deutete durch das Fenster auf Christinas Auto. „Das Schnäppchen des Jahrhunderts bei eBay. Ich konnte einfach nicht widerstehen.“ Christina drückte ihrer Freundin die Speisekarte in die Hand. „Komm schon. Ich kenne dich. Wenn du etwas im Magen hast, fühlst du dich besser.“ „Also gut, Frau Anwältin. Du hast gewonnen.“ „Ich gewinne meistens.“ „Aber wenn diese ganzen versteckten Fette sich an den Stellen festsetzen, die ich mühsam kleiner bekommen will, gebe ich dir die Schuld.“ „Ich dachte, du wolltest im Fitnessstudio kündigen“, bemerkte Christina. Pam schüttelte den Kopf. „Ich habe nur angefangen, nachmittags zu gehen, damit ich nicht zuschauen muss, wie 8


mein attraktiver Mann mit seiner kleinen Schar weiblicher Fans in hautenger Sportkleidung auftaucht.“ Sie klimperte mit den Wimpern und nahm eine gezierte Pose ein. „Oh, Dr. Lindberg, könnten Sie mir bitte noch einmal zeigen, wie das geht? Mike, könntest du mir helfen, diese Gewichte aufzulegen?“, ahmte Pam die flirtenden Frauen nach, die sie beobachtet hatte, drückte die Brust heraus und zog den Bauch ein, während sie mit der Handfläche über ihren Brustkorb und ihren Bauch strich. Christina prustete los, verschluckte sich und hustete kräftig. „Mach das nie wieder, wenn ich den Mund voll habe – es sei denn, du willst eine kostenlose Dusche.“ Sie wischte sich den Mund an der Serviette ab. „Also …“ Sie senkte die Stimme. „Hat der Doc mit dem Waschbrettbauch es bemerkt?“ „Ob er was bemerkt hat? Dass ich seine Flirterei mitbekomme? Dass ich nicht mehr zur selben Zeit ins Fitnessstudio gehe wie er? Oder dass ich fünf Pfund abgenommen habe?“ „Irgendwas. Alles.“ Pam zuckte die Achseln. „Ich habe ein paar lahme Ausreden erfunden, warum ich nicht mehr so früh am Morgen gehen will. Er hat nicht widersprochen. Und dass ich abgenommen habe, würde er nur merken, wenn wir tatsächlich …“ Sie brach ab. „Da wir gerade davon sprechen“, sagte sie. „Was macht denn Malcolm?“ „Er verbarrikadiert sein Herz, als wäre es das Nationalarchiv. Ich kann ihn nicht aus der Reserve locken. Wir trinken zweimal in der Woche miteinander Kaffee. Abgesehen davon beschränkt sich unsere Beziehung auf sehnsüchtige Blicke über den Tisch in der Bibliothek.“ „Also alles ganz anständig?“ „Viel zu anständig“, antwortete Christina mit einem deutlich hörbaren Bedauern in der Stimme. „Vielleicht solltest du bei ihm mal die Diva-Chris rauslas9


sen“, spottete Pam. „Sie bekommt doch normalerweise jeden Mann, den sie will.“ Christina schüttelte den Kopf. „Ich habe genug von den Männern, die Diva-Chris bekommen kann.“ Sie schaute zur Küche. „Wo bleibt denn die Bedienung?“ Sie rief einer Kellnerin, die mit einem Tablett, das mit schmutzigem Geschirr beladen war, zur Küche unterwegs war. „Würden Sie bitte unserem Kellner sagen, dass er seinen Hintern schleunigst hierher bewegen soll?“ Als der Kellner auftauchte, bestellte Pam ein Frühstück, dann lehnte sie sich zurück, um einem weiteren Auftritt von einem der vielen Alter Egos ihrer Freundin beizuwohnen. Wie erwartet verwandelte Christina sich in die Frau, die Pam Diva-Chris nannte – eine Frau, die unnachahmlich flirtete und die erstaunliche Fähigkeit besaß, alles zu bekommen, was sie wollte. Christina konnte Menschen unglaublich gut beurteilen und hatte schon vor langer Zeit das Talent entwickelt, sich jeweils in die Person zu verwandeln, die am besten geeignet war, um ihre Ziele zu erreichen. Das kam ihr im Leben und auch im Gerichtssaal immer wieder zugute. Im Laufe der Jahre hatte Pam ihre Freundin großzügig, laut, kultiviert, bodenständig, charmant, fordernd und noch auf tausend andere Weisen erlebt. Heute Morgen bestand Christinas Ziel darin, den Ober dazu zu bringen, ihr Sahne für ihren Kaffee, Tabascosoße zu ihren Rösti-Ecken und Butter für die Pfannkuchen zu bringen und dafür zu sorgen, dass ihre Spiegeleier nach ihrer eigenen, sehr konkreten Definition von „gewendet“ zubereitet wurden. DivaChris ließ grüßen. „Du bist wirklich faszinierend“, grinste Pam, als der Kellner wieder gegangen war. „Moi?“ Christina breitete die Finger aus und deutete in gespielter Überraschung mit allen zehn elegant manikürten Fingernägeln auf sich. 10


Pam schüttelte lachend den Kopf. „Es wäre vermutlich eine jahrelange Therapie nötig, um diese ganzen Persönlichkeiten in deinem Kopf zu einer einzigen Person zu verschmelzen.“ „Was meinst du mit ‚diese ganzen Persönlichkeiten‘?“ Christina tat, als wäre sie beleidigt. „Also, fangen wir an.“ Pam zählte an den Fingern ab. „Da ist Diva-Chris, die Göttin, die immer alles bekommt, was sie will. Dann ist da Chrissie, das Partymädchen, Tina, die Unschuldige, und meine persönliche Lieblingsfigur, die taffe Afro-Queen.“ „Wann hast du mich je als taffe Afro-Queen erlebt?“ Christina verstummte. „Oh, alles klar. Aber das war noch an der Schule. Und du weißt, dass in der Situation die knallharte Schiene angebracht war.“ Pam nickte. Christina Washington war neu an eine Schule gekommen, auf die fast nur weiße Schüler gingen, und war hoch erhobenen Hauptes durch die Gänge geschritten und hatte ihr wahres Selbst hinter einer harten Schale versteckt. Christina ließ niemanden hinter ihre Fassade schauen. Es dauerte lange, bis Pam bewusst wurde, wie sehr die angeblich „spaßigen“ Witze über ihre Hautfarbe und ihren AfroLook sie verletzten und wie sehr Christina die Mädchen verabscheute, die diese Witze machten. „Außerdem“, sagte Christina und beugte sich mit einem Lächeln vor, „war ich damals vielleicht die taffe Afro-Queen, aber du hast dich an der Schule auch verstellt.“ „Wie recht du hast! Diese Schule hätte Darwins Labor für seine Theorie sein können, dass nur die Stärksten überleben.“ „Apropos überleben.“ Christina drehte sich um und warf einen Blick zur Küche. „Dauert das mit dem Frühstück heute länger als sonst?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, rutschte sie aus ihrer Nische und machte sich auf die Suche 11


nach dem Kellner. Sobald sie ihn ausfindig gemacht hatte, hob sie in Pams Richtung einen Daumen und zählte schweigend mit jedem Finger ihrer rechten Hand bis fünf. In fünf Minuten wollten sie ihr Frühstück. Mit einem Grinsen warf sich Christina in Diva-Chris-Pose und stolzierte in Richtung Damentoilette davon. Während sie auf Christina und das Frühstück wartete, verlor sich Pam in Erinnerungen. Christina hatte an der Highschool wegen ihrer Hautfarbe Probleme gehabt. Pams Barrieren hingegen waren ihre Schüchternheit, ihre sportlichen Fähigkeiten und ihre Intelligenz gewesen. Als wäre das noch nicht genug gewesen, hatte Pam niemanden an sich herangelassen, weil keiner die Wahrheit über die Alkoholsucht ihrer Mutter erfahren sollte. Die 15-jährige Pamela Fletcher gehörte nicht dazu, und sie versuchte sich einzureden, dass ihr das nichts ausmachte. Sie brachte an der Schule Höchstleistungen, spielte Tennis wie ein künftiger Weltmeister und war 10 Zentimeter größer als alle anderen Mädchen in ihrer Klasse … bis Christina Washington auftauchte. Als Pam und Christina sich auf dem Gang begegneten, beäugten sie sich mit einer Vorsicht, die aus ihrer Konkurrenz auf dem Tennisplatz und ihrem generellen Argwohn entsprang. Im Speisesaal saß jede von ihnen allein. Doch eines Tages schob Pam aus keinem bestimmten Grund – obwohl sie später dachte, dass eine verzweifelte Einsamkeit sie dazu motiviert haben musste – ihr Tablett ans andere Ende von Christinas Tisch. „Was willst du denn hier?“, fragte Christina. „Essen“, antwortete Pam. „Dieser Tisch ist besetzt.“ Pam schaute sich um. Zuckte die Achseln. „Sieht nicht so aus, als würde heute noch jemand kommen.“ Sie schwieg einen Moment. „Und selbst wenn jemand kommt, was willst 12


du dagegen unternehmen, dass ich hier sitze? Wir leben in einem freien Land, so viel ich weiß.“ Christina zuckte die Achseln. „Wer hat gesagt, dass ich etwas dagegen unternehmen will? Ich sehe keinen Grund, warum ich mich mit einer Bohnenstange wie dir anlegen sollte.“ Pam spießte ein Stück Wackelpudding mit der Gabel auf und sagte nichts. „Denn genau das bist du, weißt du?“, ließ Christina nicht locker. „Eine Albino-Bohnenstange.“ Als Pam nichts sagte, schob Christina ihr Tablett näher heran und setzte ihren Monolog mit Beleidigungen fort. Pam hörte sich die Beschimpfungen an und bedauerte es, dass sie einen ersten Schritt unternommen und gehofft hatte, sie würden vielleicht … was? Freundinnen? „Ich finde, du könntest endlich deine große Klappe halten“, sagte sie schließlich und schleuderte ein Stück grünen Wackelpudding in Christinas Richtung. Der Pudding landete in Christinas Haaren. Pam verkniff sich ein Grinsen und schaute weg. Der Wackelpudding kam zurück, gefolgt von einer grünen Bohne. Pam antwortete mit einer Pommes. Irgendwann fiel Pam auf, dass es im Speisesaal sehr ruhig geworden war und alle sie und Christina anstarrten. Sie legte die Hand auf die Milchtüte, die auf ihrem Tablett stand. Christina wartete nicht ab, was Pam vorhatte, sondern kam ihr zuvor. Keine zwei Minuten später war der ganze Speisesaal ein einziges Chaos. Als schließlich wieder Ruhe einkehrte, wurden ein halbes Dutzend Schüler zur Rektorin geschickt und ein weiteres Dutzend wurde dazu verdonnert, alles wieder sauber zu machen. Pam und Christina saßen nebeneinander vor dem Büro der Rektorin, während Mrs Jeffers ihre Eltern anrief. „Damit erreicht sie gar nichts“, murmelte Christina leise. 13


„Meine Pflegeeltern interessiert es nicht im Geringsten, was ich mache, solange ich rechtzeitig nach Hause komme, um das Geschirr zu spülen, die Wäsche zu waschen und auf die Kleinen aufzupassen.“ Pam lehnte sich lässig zurück. „Den Anruf bei mir können sie sich auch sparen.“ „Wieso denn, Bohnenstange?“, ätzte Christina. „Ist dein Papi im Country Club unabkömmlich und kann nicht ans Telefon gehen?“ „Das zeigt nur, wie wenig du weißt.“ „Ich weiß, was ich weiß.“ Christina hob das Kinn und schaute sie von oben herab an. „Mein Vater ist tot“, platzte Pam heraus. Christinas dunkle Augen verrieten ihre Überraschung. „Und falls meine Mutter zu Hause ist“, sagte Pam so leise, dass nur Christina sie hören konnte, „ist sie wahrscheinlich betrunken.“ Sie schaute das Mädchen, das neben ihr saß, aus dem Augenwinkel an. „Erzähl mir also keine Jammergeschichten. Ich hab nämlich selbst eine. Außerdem bist du kein bisschen anders als die Mädchen, die du hasst, weil sie diesen Quatsch mit der African Queen erzählen. Du schaust jemanden an und glaubst, du wüsstest, was und wer er ist. Soll ich dir was sagen? Über mich weißt du überhaupt nichts.“ Christina rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne. Nach einer Minute sagte sie: „Ich weiß, dass du eine gute Vorhand hast. Für eine Bohnenstange.“ Pam schaute Christina an, die die Hand an ihr Gesicht gelegt hatte und sich langsam das Kinn rieb. Ihr Mund lächelte nicht, aber ihre dunklen Augen. Sie zwinkerte. Pam stieß sie mit dem Ellbogen an. „Für dich immer noch Albino-Bohnenstange.“ So begann die Freundschaft, die Pam ihre restliche Schulzeit und weit darüber hinaus begleitet hatte. Christina war diejenige, die Pam angerufen hatte, als ihre Mutter schließ14


lich ins Krankenhaus kam und die Ärzte sagten, sie würde an einer Leberzirrhose sterben; Christina hatte bei der Beerdigung ihrer Mutter neben ihr gestanden und sie danach ans College zurückgezerrt und darauf bestanden, dass sie ihr Krankenpflegeexamen machte; Christina war diejenige gewesen, die sie mit einem attraktiven Medizinstudenten namens Michael Lindberg bekannt gemacht hatte; Christina war ihre Trauzeugin gewesen, als sie diesen Medizinstudenten später heiratete; Christina war Jakobs Patentante. Und heute war Christina diejenige, die ihr helfen würde, Punkt 6 auf Jakobs „Todesliste“ zu überstehen.

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