Monika Dockter Amy in der Hand der Piraten
Über die Autorin Monika Dockter ist gelernte Arzthelferin, auch wenn sie seit einigen Jahren nicht mehr in dem Beruf tätig ist. Sie liebt romantische, altmodische Filme, außerdem arbeitet und entspannt sie gerne im Garten. Mit ihrem Mann und ihren vier Kindern lebt sie in „Bayerisch-Schwaben“.
Monika Dockter
Amy in der Hand der Piraten
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© 2008 Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 1. Auflage 2009 Bestell-Nr. 816 377 ISBN 978-3-86591-377-7 Illustrationen im Innenteil: Thomas Gamper Umschlaggestaltung: Immanuel Grapentin Umschlagillustration: Thomas Gamper Satz: Mirjam Kocherscheidt; Gerth Medien GmbH Druck und Verarbeitung: CPI Moravia
Inhalt Was bisher geschah . . . . . . . . . . . . . . Bobbys Flucht . . . . . . . . . . . . . Amy geht an Bord . . . . . . . . . . Die Suche beginnt . . . . . . . . . . Eine erste Spur . . . . . . . . . . . . Das belauschte Gespr채ch . . . . . . . . In den H채nden des Wikingers . . . . . Chocolate und die Piratenflagge . . . . Amy in Lebensgefahr . . . . . . . . . Der Sturm . . . . . . . . . . . . . . Eine unerwartete Begegnung . . . . . Amys Entdeckung . . . . . . . . . . . Der Untergang der Hurricane . . . . . Die Geschichte des Schiffszimmermanns Das Versprechen . . . . . . . . . . . . Ein unbekanntes Schiff . . . . . . . . Tr채nen der Freude . . . . . . . . . . Der Hinterhalt . . . . . . . . . . . . Zur체ck nach Hause . . . . . . . . . .
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Was bisher geschah Wir befinden uns in England im Jahr 1860. Im Mittelpunkt des Geschehens steht die elfjährige Amelia Ravenhurst. Amy, wie sie von den meisten genannt wird, hat grüne, lebhaft funkelnde Augen, eine sommersprossige kleine Himmelfahrtsnase und lange rotblonde Locken, die laut ihrer ehemaligen Gouvernante ebenso schwer zu bändigen sind wie ihr unermüdliches „Plappermaul“. Gemeinsam mit ihren Eltern Sir Arthur und Lady Cecilia Ravenhurst bewohnte sie ein großes Landgut im Südwesten Englands, aber als sie acht Jahre alt war, begaben sich die Eltern auf eine lange Auslandsreise und Amy musste zu Verwandten in die Hauptstadt London ziehen. Das eintönige Leben bei den ältlichen Verwandten langweilte sie aufs Äußerste, sodass sie eines Tages ausriss, um mit einem kleinen Zirkus durchs Land zu ziehen. Hier, beim Zirkus Magnifico, lernte sie einen Jungen namens Jim kennen. Der nur wenig ältere Waisenjunge Jim hatte die strahlendsten blauen Augen der Welt und außerdem 7
ein schlaues kleines Kapuzineräffchen, Chocolate. Die beiden wurden bald ihre besten Freunde und waren auch die einzigen Mitglieder des Zirkus, denen Amy die Bedeutung des kostbaren silbernen Medaillons anvertraute, eines Schmuckstücks mit dem Wappen ihrer Familie, das sie zur Erinnerung an ihre Mutter, die sie seit nahezu drei Jahren nicht mehr gesehen hatte, stets an einer Kette um den Hals trug. Die Kinder ahnten nichts davon, dass der geheimnisumwitterte Artist Mr Who genau dasselbe Medaillon im Innern seines Zirkuswagens verborgen hielt. Mr Who, Inhaber der berühmten Pferdedressur, lebte bereits seit zehn Jahren beim Zirkus, aber niemand kannte seinen wahren Namen oder wusste etwas über seine Vergangenheit. Erst Amy, die mit ihm und seinen Pferden in der Zirkusvorstellung auftreten durfte, brachte ihn allmählich dazu, sich seiner Vergangenheit zu stellen; und als sie von dem Feuerschlucker Paolo entführt wurde (dieser war durch Zufall auf das Geheimnis des silbernen Medaillons und ihrer reichen Familie gestoßen und forderte ein hohes Lösegeld für Amy), gab er sich als der Ehemann von Amys verstorbener älterer Schwester zu erkennen. Seinem mutigen Eingreifen war es letztendlich zu verdanken, dass Amy den Händen ihres Entführers unversehrt entkam. Nach ihrer Rettung entschloss sich Robert Campbell, so war sein richtiger Name, dem Zirkus den 8
R端cken zu kehren und gemeinsam mit seiner jungen Schw辰gerin und Jim auf dem Landgut der Familie Ravenhurst zu leben, bis Amys Eltern endlich von der Reise zur端ckkehrten. Anstelle der sehns端chtig erwarteten Eltern jedoch erreichte Amy ein Telegramm: Das Schiff, an dessen Bord ihre Eltern sich befunden hatten, war im Indischen Ozean verschollen! Gemeinsam machen sich Robert Campbell, Jim und Amy nun auf die Suche nach den verschollenen Eltern. Dabei begegnen sie einem Jungen namens Bobby ...!
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Bobbys Flucht Eine steife Brise jagte unförmige bleigraue Wolken über den Himmel, tief unter ihnen rollten die mit weißem Schaum gekrönten Wogen des Pazifischen Ozeans rastlos der Küste entgegen. Auch im Hafen von Sydney, Australien, war der Wind deutlich zu spüren. Er blähte die Segel eines Schiffes, das halb aufgetakelt auf seine Abfahrt wartete, spielte mit den losen Tauenden der ankernden Segler und wirbelte allerhand Unrat und Abfälle, die auf den Kais zurückgelassen worden waren, durch die Luft. Dessen ungeachtet waren die Hafenanlagen beherrscht von dem hektischen Treiben, das beim Be- und Entladen von Schiffen unvermeidlich ist: Kräftige Männer luden schwere Säcke und Kisten auf ihre Schultern und eilten geschäftig die Laufplanken hinauf und wieder hinunter oder bedienten Hebekräne, welche riesige Warenballen über die Köpfe der Arbeiter hinwegschwenkten; raue Stimmen erteilten lautstarke Kommandos und derbe Ausdrücke erfüllten die Luft. 11
Etwas am Rande des Geschehens stand ein kleiner Junge mit zerzausten dunklen Locken. Er rieb fröstelnd die schmalen Hände gegeneinander und seine Zähne klapperten vor Kälte, während der böige Seewind durch seine verschlissene Jacke und sein fadenscheiniges altes Hemd pfiff. Sein Blick glitt ratlos über den Wald der stolzen, zum Himmel ragenden Schiffsmasten, als plötzlich eine laute Stimme neben ihm ertönte: „He, Kleiner, pass gefälligst auf, wo du hintrittst! Ich hab heute schon mal so ’ne halbe Portion wie dich überrollt!“ Erschrocken machte der Junge einen Satz zur Seite. Es war nicht so sehr der raue Ton des Dockarbeiters, der ihn erschreckte (den war er von seinem Vater her gewohnt), sondern vielmehr die Tatsache, dass die beiden riesigen Fässer, die der breit gebaute Mann vor sich herrollte, seine Füße nur um Haaresbreite verpasst hatten. Grinsend über seinen Scherz setzte der Arbeiter seinen Weg fort, rollte die Fässer über mehrere Planken an Deck eines mittelgroßen Dreimasters und verschwand schließlich im Inneren desselben. Wahrscheinlich brachte er die Fässer dort in einem Lagerraum unter, denn gleich darauf tauchte er wieder auf, eilte zu dem hoch aufgestapelten Berg von Kisten und Fässern, die noch auf dem Kai warteten, und wiederholte die ganze Prozedur. 12
Nachdem der schmächtige Junge ihn eine ganze Weile dabei beobachtet hatte, musterte er das Schiff, an dessen Heck eine kleine englische Flagge wehte, und allmählich formte sich in seinen Gedanken ein Plan: Mit diesem Schiff würde er sicherlich nach England kommen, und da er kein Geld hatte und kein Kapitän ihn jemals als Schiffsjungen anheuern würde, weil er trotz seiner bald zehn Jahre ausgesprochen klein und etwas schwächlich wirkte, musste er heimlich an Bord gelangen. Er hatte sich lange genug unter all den Schiffen, die eine englische Flagge gesetzt hatten, umgesehen, und dieses hier erschien ihm für seine Zwecke geeignet; vor allem, da der Arbeiter mit den Fässern ihm die Möglichkeit bot, ungesehen an Bord zu kommen. Kurz entschlossen machte Bobby sich an die Ausführung seines Planes. Als der Arbeiter das nächste Mal schwer beladen die Planken beschritt, die an Deck führten, huschte er zu den Fässern und Kisten auf dem Kai, hob einige Deckel an, um festzustellen, wo er sich am Besten verstecken konnte, fand ein Fass, das nur bis zur Hälfte gefüllt war, und kroch hinein. Glücklicherweise konnte er den Deckel auch von innen halbwegs verschließen, sodass niemand etwas Auffälliges an diesem Fass bemerken würde. Zunächst schien auch alles gut zu gehen, doch als das Fass an Bord gerollt wurde und über die Rampe nach unten in den Schiffsbauch polterte, geschah es: Der Deckel, den Bobby bisher mit 13
aller Kraft von innen festgehalten hatte, löste sich und für einen Augenblick hatte Bobby die abgetragenen schwarzen Stiefel des Arbeiters ganz dicht vor seinen Augen. Fieberhaft versuchte er, den Deckel wieder zu schließen, aber es wollte ihm nicht recht gelingen - ein kleiner Spalt blieb offen stehen. In Gedanken malte Bobby sich bereits aus, was der Mann mit ihm anstellen würde, wenn er ihn erst einmal entdeckt hatte, als er plötzlich feststellte, dass sein Fass nicht mehr weiterrollte. Es gab nurmehr einen kräftigen Ruck, als der Arbeiter das Fass aufrecht stellte, dann hörte Bobby die sich entfernenden Schritte. Unendlich erleichtert atmete er auf. Das Halbdunkel, das hier unten im Lagerraum herrschte, hatte seine Entdeckung verhindert. Bis sich das stürmische Hämmern in seiner Brust vollkommen beruhigte, sollte allerdings eine geraume Zeit verstreichen, denn der Seemann hatte noch etliche Säcke und Kisten zu verladen. Weitere Männer gesellten sich zu ihm und gingen pausenlos in dem Laderaum aus und ein, sodass Bobby, aus Furcht gehört zu werden, nicht wagte auch nur seinen kleinen Zeh zu bewegen. Gerade als er glaubte, es keine weitere Sekunde mehr in seiner unbequemen Lage auszuhalten, hörte er einen der Seemänner sagen: „So, das war’s mal wieder! Diese Vorräte sollten für eine Weile reichen!“ 14
„Nun“, antwortete ein zweiter (Wenn Bobby sich nicht irrte, gehörte diese heisere Stimme dem Arbeiter, der ihn vorher als „halbe Portion“ betitelt hatte), „wollen wir hoffen, dass unser Smutje damit auch etwas halbwegs Essbares zustande bringt!“ Die Männer lachten, die Ladeluke schlug zu – dann herrschte Stille. Langsam hob Bobby den Deckel und sah sich um, aber da die Luke nun geschlossenen war, war es fast völlig dunkel hier unten. Außer einigen schemenhaften Umrissen konnte er nichts erkennen. Eines stand jedoch fest: Er war endlich allein! Ehe das Schiff den Hafen verließ, würde vermutlich niemand mehr den Lagerraum betreten, und waren sie erst einmal auf See, konnte man ihn getrost entdecken, denn seinetwegen würde man sicherlich nicht mehr umkehren. Beruhigt kroch Bobby aus seinem Fass und suchte im hinteren Teil des Lagerraumes eine Stelle, an der er es sich ein wenig gemütlicher machen konnte. Da saß er nun, und während er ungeduldig auf den Beginn der Reise wartete, zogen vor seinem inneren Auge die Ereignisse vorüber, die ihn zu guter Letzt hierhergeführt hatten. Vor nur zwei Tagen war er noch zu Hause gewesen, falls man die heruntergekommene kleine Farm im Hinterland Sydneys überhaupt als richtiges Zuhause bezeichnen konnte. Wie an jedem Morgen, seit er sich erinnern konnte, war er bei Sonnenaufgang 15
aufgestanden, um die Tiere zu füttern und die einzige Kuh zu melken. Der Farmhund Dusty, eine originelle Mischung zwischen einem englischen Jagdhund und einem Dingo*, hatte sich im Stalleingang niedergelassen, um sich die Morgensonne auf den Pelz scheinen zu lassen, und Bobby hatte mit einem Mal die Lust verspürt, den gutmütigen alten Hund ein wenig zu necken. So hatte er mit dem feinen Milchstrahl, den seine geübten Finger aus dem Euter der Kuh pressten, auf das Fell des Hundes gezielt statt auf den zerbeulten Eimer, der die frische Milch üblicherweise auffing. Er hatte Dusty auch tatsächlich getroffen; der hatte sich zuerst verdutzt umgesehen, dann geschüttelt und schließlich begonnen, die unverhoffte Erfrischung mit seiner langen roten Zunge aus dem Fell zu lecken. Erfreut über seinen Erfolg hatte Bobby die Milch immer weiter in Richtung des Hundes gespritzt, ohne zu merken, wie dieser davontrottete, um seinem Herrn, dem Farmer, Platz zu machen. Erst als eine große Faust ihn derbe am Kragen packte und auf die Füße zerrte, sah Bobby, was er angestellt hatte: Er hatte die schwarzen Lederstiefel seines Vaters mit der Milch bespritzt. Stumm zog Bobby den Kopf zwischen die Schultern und wartete auf die Prügel, die nun unweigerlich folgen würden. Die geröteten Augen und der schwere Atem seines Vaters verrieten ihm nur zu deutlich, dass *
Ein australischer Wildhund
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dieser, wie so oft, betrunken war, und in diesem Zustand kannte er keine Gnade mit seinem Sohn. Der nichtigste Anlass genügte, dass Bobby unbarmherzige Prügel bezog. Als es endlich vorüber war, schleppte der Junge sich mühsam zum Haus hinüber. Wie immer in solchen Fällen hatte seine Mutter schweigend und mit Tränen in den Augen seine Wunden verarztet, nachdem sie die jüngeren Geschwister, die ihn mitleidig ansahen, aus dem Raum geschickt hatte. Doch diesmal hatte sie ihr Schweigen unvermutet gebrochen. Sie hatte behutsam das Blut von seinen aufgeplatzten Lippen getupft, ein feuchtes Tuch auf die Schwellung über seinem linken Auge gelegt und gesagt: „So kann es nicht länger weitergehen, mein armer Junge. Ich glaube, es wäre besser für dich, von hier fortzugehen, als diese ständigen Prügel noch länger zu erdulden.“ „Aber Mutter!“, hatte er protestiert, wobei ihm das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand, „ich kann doch nicht einfach mein Zuhause verlassen, meine Geschwister, dich ...!“ „Doch, Bobby“, hatte sie sanft erwidert, „das kannst du, und ich werde dir auch erklären, weshalb ...“ Selbst jetzt noch, zwei Tage später, konnte er kaum fassen, was sie ihm erzählt hatte: Er war nicht – wie er bislang selbstverständlich angenommen hatte – Bobby Baker, der Sohn von Greg und Rose Baker aus Syd17
ney, sondern der Sohn einer armen englischen Einwanderin, die bei seiner Geburt gestorben war, und ihres Mannes, der sich nach ihrem Tod aus dem Staub gemacht und seinen neugeborenen Sohn alleine zurückgelassen hatte. „Du warst so klein und schwach, Bobby, du konntest kaum atmen, deshalb ließ die Hebamme deinen Vater zunächst in dem Glauben, du seist ebenfalls tot. Sie konnte schließlich nicht ahnen, dass dein Vater daraufhin so schnell und spurlos verschwinden würde! Da deine Eltern soeben erst mit dem Schiff aus England eingetroffen waren, hatten sie außer der Hebamme, die mit ihnen an Bord gewesen war, und mir als Vermieterin ihres bescheidenen Zimmers keine Bekannten, und so nahm ich dich nach dem Verschwinden deines Vaters zu mir. Wenig später heiratete ich Greg. Ich wollte dich aufziehen wie meinen eigenen Sohn – und ich liebe dich auch wie meinen eigenen Sohn, das musst du mir glauben, Bobby. Ich würde dich niemals bitten fortzugehen, wenn mein Mann dich anständig behandeln würde, aber ...“ Sie hatte abgrundtief geseufzt und hinzugefügt: „Er ist nun mal ein Trunkenbold und wird seinen Zorn immer an dir auslassen, weil du nicht sein eigener Sohn bist. Es ist wirklich besser für dich zu gehen. Du solltest versuchen, irgendwie nach England zu gelangen, denn ich bin sicher, dass dein Vater dorthin zurückgekehrt ist. An den Familiennamen deiner Eltern kann ich mich leider nicht mehr erinnern – ich 18
weiß nur, dass dein Vorname auch der deines Vaters ist. Vielleicht wird dies dir die Suche nach ihm erleichtern!“ Damit hatte sie ein kunstvoll gerahmtes Bild von der Wand genommen, das eine junge, dunkelhaarige Frau mit einem strahlenden Lächeln zeigte. „Dies ist ein Bild deiner Mutter, das ich nach ihrem Tod als Andenken behalten habe. Wenn du irgendjemandem begegnest, der diese Frau kannte, könntest du auch deinen Vater finden!“ Bobby hatte sich schon immer gewundert, was ein solch eindrucksvolles kleines Gemälde in ihrem ärmlichen Farmhaus zu suchen hatte – nun wusste er es. Aber ehe er etwas erwidern konnte, war Greg Baker, sein bisheriger Vater, in die Küche gepoltert und hatte mit dröhnender Stimme nach seinem Frühstück verlangt; Bobby hatte das Bild hinter seinem Rücken versteckt und sich zurückgezogen, um nachzudenken. Die Vorstellung, seine vertraute Umgebung, die Geschwister und vor allem seine geliebte Mutter zu verlassen und sich auf den Weg ins Ungewisse zu begeben, machte ihm Angst, und dennoch spürte er, dass seine Mutter recht hatte: Selbst eine ungewisse Zukunft und die vage Hoffnung auf einen Vater, der ihn anständig behandeln würde, waren besser als sein jetziges Leben, das hauptsächlich aus Arbeit und Prügel bestand. Noch am selben Abend, als der Vater tief und fest schlief, hatte er sich unter Tränen von ihr verabschiedet und auf den Weg zum Hafen gemacht. 19
Von seinem Zuhause war ihm nichts weiter geblieben als Erinnerungen an das liebevolle Gesicht der Mutter, die ihn großgezogen hatte, und das Bild der lächelnden jungen Frau, die seine eigentliche Mutter war, da sie ihn geboren hatte – das Bild, das ihn am Ziel seiner gefährlichen Reise zu einem unbekannten Vater führen sollte. Alleine in dem dunklen Lagerraum presste der Junge das kostbare Bild fest an sein pochendes Herz. Konnte es ihm tatsächlich helfen, einen Vater zu finden, der wahrscheinlich nicht einmal wusste, dass es ihn, Bobby, überhaupt gab? Wie lange würde es überhaupt dauern, bis sie England erreichten, und welche Gefahren würden ihn auf seiner Reise erwarten? Diese Gedanken beschäftigten Bobby, während über ihm an Deck der Befehl zur Abfahrt ertönte, der Anker gelichtet wurde und der Schoner sich langsam in Bewegung setzte. Wie sollte er auch ahnen, dass die Besatzung dieses Schiffes nicht im Geringsten die Absicht hegte, irgendeinen englischen Hafen anzusteuern, und dass er sich bereits jetzt in allergrößter Gefahr befand? Die kleine englische Flagge war nämlich nur gesetzt worden, um die Seeleute im Hafen von Sydney zu täuschen. Sobald der Dreimaster sich draußen auf hoher See befand, wurde eine andere kleine Flagge ganz oben an der Mastspitze gehisst: der Jolly Roger, eine schwarze Flagge mit weißem Totenschädel und gekreuzten Säbeln darunter. 20
Eigentlich war die Zeit, zu der Piraten auf allen Meeren der Welt ihr Unwesen trieben und Namen wie Henry Morgan oder Kapitän Blackbeard jeden ehrlichen Kapitän eines Handelsschoners erzittern ließen, längst vorüber, aber vereinzelt gab es sie eben doch noch, jene Räuber zur See, die sich nicht um Recht und Gesetz scherten und sich stattdessen auf Kosten anderer Menschen bereicherten. Und ausgerechnet solch ein Piratenschiff, dessen Kapitän die Kühnheit hatte, mitten in dem belebten Hafen zu ankern und Proviant zu laden, hatte Bobby sich für seine Reise nach England erkoren.
Nach drei Tagen und Nächten auf hoher See entdeckten die Piraten ihren ungebetenen Mitfahrer. Es war eine dunkle, wolkenverhangene Nacht, in der außer dem leisen Plätschern der Wellen und einem leichten Knarren in der Takelage nichts zu hören war, und das hatte Bobby dazu verleitet, sein enges Versteck zu verlassen, um an Deck ein wenig frische Luft zu schöpfen. Kaum hatte er jedoch drei Atemzüge getan, als die aufmerksame Steuerwache ihn bereits am Kragen packte und vor den Kapitän zerrte. Der dabei entstandene Tumult brachte fast die gesamte Mannschaft der Hurricane auf die Beine, und jeder der Piraten hatte eine eigene Meinung darüber, was mit Bobby zu geschehen hatte. Nachdem sie sich 21
schließlich darauf geeinigt hatten, ihn „über die Planke gehen“ zu lassen (was nichts anderes bedeutete, als dass sie Bobby mit verbundenen Augen ins nächtlichdunkle Meer stoßen und jämmerlich ertrinken lassen würden), schritt der Kapitän ein. Der Wikinger (So nannte die Mannschaft ihren Kapitän, und wer den hünenhaften Mann mit der langen blonden Mähne und den eiskalten blauen Augen jemals im Kampf beobachtet hatte, wusste auch, weshalb.) entschied, dass Bobby an Bord bleiben sollte, um dem Smutje*, der aufgrund seiner rundlichen Figur nicht gerade der Flinkste war, bei seiner Arbeit zu helfen. „Vielleicht“, so äußerte sich der Wikinger achselzuckend, „kriegen wir dann ab und zu was mal was Anständiges zu essen. Und falls sich herausstellt, dass der Junge nichts taugt, können wir ihn immer noch an die Fische verfüttern.“ Die Männer brummten zustimmend, und fortan verbrachte Bobby seine Tage damit, Botengänge für den übellaunigen Smutje zu verrichten, angebrannte Speisereste aus den Pfannen zu entfernen oder die salzverkrusteten Planken des Oberdecks zu schrubben, wenn es in der Kombüse nichts zu tun gab. An den Tagen, an denen die Piraten ihre Überfälle auf andere Schiffe verübten, sperrten sie den Jungen kurzerhand im Bauch des Schiffes ein, damit er ihnen *
So nennt man den Koch auf einem Schiff.
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nicht im Weg war, aber selbst hier hörte er das Kampfgetümmel, die Schüsse und die Schreie der Verwundeten. Jeden Abend lag er stundenlang wach in seiner Hängematte und schmiedete Pläne, wie er dieser Bande von Übeltätern wieder entkommen könnte, aber keiner davon erwies sich als brauchbar. Bobbys Ziel – England, sein Vater – lag in weiterer Ferne als je zuvor.
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