Sammel-Leseprobe Herbst 2013 - P5228

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Chris Fabry & Gary Chapman

Zwei Herzen im Winter In kleinen Entscheidungen liegt eine groĂ&#x;e Kraft Aus dem Englischen Ăźbersetzt von Silvia Lutz


Verlagsgruppe Random House FSC® N001967 Das für dieses Buch verwendetet FSC®-zertifizierte Papier EOS liefert Salzer, St. Pölten. Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Moody Publishers, USA, unter dem Titel „A Marriage Carol“. All rights reserved. © 2011 by Chris Fabry and Gary Chapman © der deutschen Ausgabe 2013 by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Die Bibelstellen sind der Übersetzung „Hoffnung für alle“ entnommen. Durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1986, 1996, 2002 by International Bible Society, USA. Übersetzt und herausgegeben durch: Brunnen Verlag Basel, Schweiz. Bestell-Nr. 816905 ISBN 978-3-86591-905-2 Lektorat: Verena Keil Umschlaggestaltung: Julia Ryan; DesignByJulia.com / Michael Wenserit Umschlagfotos: iStockphoto.com Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Verarbeitung: CPI Moravia


1. Akt Die Abkürzung

W

ann sagen wir es den Kindern?“ Er stellte diese Frage ohne Gefühlsre­gung, ohne Emotionen, ohne diese Worte besonders zu betonen. Er sagte es, als frage er nach dem aktuellen Aktienkurs von Microsoft. Es waren seine ersten Worte nach fast zwanzig Minuten, die wir gemeinsam im Auto saßen. An unserem Hochzeitstag. „Nach Weihnachten“, sagte ich genauso nüchtern und kalt wie er. „Heute Abend und morgen noch nicht.“ „Glaubst du nicht, dass sie es inzwischen wissen? Dass sie wenigstens ahnen, dass etwas im Gange ist?“ „David nicht, er ist noch zu jung. Justin stellt Fragen und schaut mich manchmal seltsam an; er wird es verkraften. Wirklich Sorgen mache ich mir um Becca.“ „Kinder sind widerstandsfähig. Wenn sie es noch 11


nicht wissen, werden sie es verstehen. So ist es das Beste. Für uns alle.“ Ich hoffte, er hatte recht. „Jetzt können sie jedes Jahr zweimal Weihnachten feiern“, sagte er. Die Scheibenwischer bewegten sich in ihrem eigenen Rhythmus, während der Schnee in dicken Flocken vom Himmel fiel. Die Landschaft war aufgrund der Schneefälle in den vergangenen Tagen unter einer weißen Decke verschwunden. Die Straße – besser gesagt, die wenigen Stellen, an denen man die Straße sehen konnte – glänzte aufgrund der Feuchtigkeit und der sinkenden Temperaturen heimtückisch. Die Autos fuhren vor uns im Schneckentempo eine Steigung hinauf. Jacob gab Gas, fuhr zu dicht hinter dem Auto vor uns auf und suchte eine Gelegenheit, um zu überholen. „Bist du sicher, dass er in seiner Kanzlei ist?“, fragte ich, während ich ängstlich aus dem Fenster schaute und mich gegen einen Auffahrunfall wappnete. „Bei diesem Wetter? An Heiligabend?“ „Er ist noch da. Ich habe angerufen, bevor wir losgefahren sind. Die Papiere sind fertig.“ „Hat er eine Familie?“, fragte ich. 12


„Was?“ Er sagte das mit einer kräftigen Portion Herablassung in der Stimme und setzte einen Blick auf, den ich nicht ertragen konnte. Auf diesen Blick konnte ich für den Rest meines Lebens verzichten. „Hat er eine Familie? Eine Frau? Kinder?“ „Keine Ahnung.“ Es klang noch herablassender. „Ich wusste nicht, dass das eine Vorbedingung für dich ist.“ „Ist es auch nicht. Mich hätte es nur interessiert. An Heiligabend arbeiten … Kein Wunder, dass er Scheidungsanwalt ist.“ Das Schweigen wurde ihm jetzt zu viel und er schaltete das Autoradio ein. Es überraschte mich, dass er das nicht schon früher getan hatte. Die Uhr zeigte 15:18 an. Der Rundfunksprecher beendete gerade seine Ansage. Es folgten ein Werbespot über ein verstellbares Bett, Verkehrsmeldungen und der Wetterbericht. Stau auf den Hauptstraßen und weiterhin kaltes Wetter wurden gemeldet und ein noch weißeres Weihnachten angekündigt. Zehn bis zwanzig Zentimeter Neuschnee in den nächsten Stunden. Vielleicht noch mehr. Eine Kaltfront würde heranziehen und noch stärkere Niederschläge in den höheren Lagen mit sich bringen. „Können wir einen anderen Sender hören?“, fragte ich. 13


Er unterdrückte ein Schnauben und drückte die UKW-Taste. Es war sein Auto; unter der UKW-Taste war also kein Sender gespeichert. Er drückte auf „Sendersuchlauf “. Er runzelte die Stirn. „Drück auf die Taste, wenn dir etwas gefällt.“ Gene Autrys Stimme ertönte mit dem Song Rudolph the Red-Nosed Reindeer. Dieses Lied weckte in mir eine schmerzliche Sehnsucht nach unseren Kindern. Besonders nach David, der immer noch an den Weihnachtsmann und Rentiere glaubte. Auf dem nächsten Sender sang José Feliciano Feliz Navidad. Dann erschien auf dem Display der Name eines christlichen Radiosenders, der gerade eine Version von „Stille Nacht“ spielte. Diesen Sender konnte ich nicht hören, weil ich mich wegen unserer Pläne schuldig fühlte. Paul McCartney sang, dass die Stimmung passe und alle gut gelaunt seien und einfach ein wunderbares Weihnachten hätten. Ich wünschte, das könnte ich auch sagen. Die Band „Journey“ sang: „Hör nicht auf zu glauben“, aber damit hatte ich vor langer Zeit aufgehört, zumindest, was unsere Ehe betraf. So ­hatten wir das vor zwanzig Jahren nicht geplant, auch wenn der Schneesturm damals ähnlich war. Auf den Tag 14


genau zwanzig Jahre, nachdem ich in einem Kleid, das meine Mutter und ich ausgesucht hatten, zum Altar geschritten war, trug ich jetzt eine Jeans, ein altes ­T-Shirt und einen Mantel und fuhr über eine schneeglatte Straße auf eine Scheidung in beiderseitigem Einvernehmen zu. Die drei Kinder und der Vogel würden bei mir wohnen (ein Hund machte zu viel Unordnung und Jacob hat eine Allergie gegen Katzen). Er würde nach Neujahr in eine eigene Wohnung ziehen. Jacob versprach, dass er sich weiterhin mit um die Kinder kümmern würde. Es gab keine andere Frau, soweit ich wusste. Das war nicht unser Problem. Die Probleme reichten viel tiefer als nur Untreue. Als ich den Sänger Imogen Heap hörte, drückte ich auf die Taste. Endlich überhaupt nichts Weihnachtliches. Eine eigenwillige Musik und eine künstliche Stimme erklangen, die meine Gedanken von der Gegenwart ablenkten. Das soll angeblich ein Geschenk sein, habe ich gehört. „Ich habe von dieser Straße genug“, sagte Jacob. „Ich nehme die Abkürzung.“ „Über den Bergpass? Bei diesem Wetter?“ Zwei kritische Fragen auf seine kurze sachliche Aussage. 15


Elisabeth B端chle

Sturmwolken am Horizont Die Meindorff-Saga, Band 2


Prolog 1916 An den Zweigen der Bäume glitzerten unzählige Eiskristalle ge­ ­ spens­­tisch im Mondlicht, und auf der gefrorenen Wasseroberfläche schimmerte der silbrige Abglanz des Erdtrabanten. Die eisige Luft schmerzte beim Einatmen, was die einsame Gestalt auf dem Uferweg dazu veranlasste, mit ihren klammen Fingern den Schal bis über die Nase hochzuziehen. Immer weiter trieb es sie vorwärts. Sie lauschte auf das Brechen des dünnen Eises unter ihren Füßen in der unnatür­ lichen Stille, die sich über die von Krisen geschüttelte Stadt gelegt hatte. Ein Motorengeräusch näherte sich ihr von hinten, und sie fuhr erschrocken herum. Die Scheinwerferkegel eines Automobils tasteten wie suchende Finger über die Straße. Da sie nicht gesehen werden wollte, beschleunigte sie ihre Schritte. Ihr Ziel, die nächststehende Baumgruppe, behielt sie fest im Blick. Die Eisschicht, die die schlan­ ken Zweige der Weiden starr umhüllte, klirrte wie winzige Glöck­ chen, als die Frau zwischen ihnen hindurchhuschte. Mit einem wütenden Aufheulen des Motors schoss das Fahrzeug an ihr vorüber. Sie presste sich Schutz suchend an einen rauen Baum­ stamm und hoffte, unentdeckt zu bleiben. Unkontrolliert schlitterte das Gefährt auf die nahe gelegene Brücke und stoppte dort mit quiet­ schenden Reifen. Ein heißer Schauer der Furcht durchlief ihren Körper. Sie durfte um diese nächt­liche Stunde nicht allein auf den Straßen unterwegs sein. Was würde mit ihr geschehen, wenn die Insassen des Wagens sie entdeckten? Vor Kälte und Angst zitternd beobachtete sie, wie mehrere Männer aus dem Automobil sprangen und sich in seinem Inneren an irgend­ etwas zu schaffen machten. Unverständ­liche Wortfetzen drangen zu ihr. Die schwarzen Silhouetten schleppten etwas Schweres mit sich und hievten es auf das Brückengeländer. Entsetzt riss die heim­liche 11


Beobachterin die Augen auf. War das etwa ein Mensch, den die Män­ ner da hielten? Was hatten sie mit ihm vor? Sekunden später schlug das reglose Bündel auf der Eisschicht der Neva auf, die unter seinem Gewicht in tausend Teile zersprang. Die Splitter blitzten für einen kurzen Moment silbern im fahlen Mond­ licht auf, als wollten sie die Grausamkeit der Szenerie beleuchten. Dann trug das schwarze, jetzt im Winter träge fließende Wasser den Körper mit sich davon. Die Frau glaubte zwischen den Eisschollen zwei nach oben grei­ fende Hände zu sehen, als suche die Person verzweifelt nach Rettung, doch dann verschwanden auch sie. Zurück blieb der eiskalte Fluss, dessen Gurgeln vom aufjaulenden Motor des sich entfernenden Wagens übertönt wurde … und eine junge Frau; reglos vor Entsetzen über das Gesehene, zumal sie die Täter erkannt hatte.

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Teil 1



Kapitel 1 Bei Paris, Frankreich, Juli 1914 Der prächtige Saal des Chateaus erstrahlte im Licht flackernder Ker­ zen und vereinzelt in den Nischen angebrachter elektrischer Lampen. Die in altrosa gehaltenen Wände mit ihren hellen Fensterrahmen und die weiße Stuckdecke gaben dem Raum eine würdevolle Note, während zwei offene Kamine, in Gold gerahmte Landschaftsbilder und mit Blumenmustern geschmückte Chintzsessel für eine heime­ lige Atmosphäre sorgten. Den jetzt im Sommer unbenutzten Kami­ nen gegenüber lag eine Fensterfront, von der drei Türen zur erhöht gebauten Terrasse führten. Vor ihnen tanzten luftige Gardinen wie zarte Elfen im leichten Nachtwind. Attraktive Damen in aufsehenerregenden Abendroben flanierten an den ebenso exquisit gekleideten Herren in Frack, Gehrock und Zylinder vorbei oder saßen in Gruppen beieinander und unterhielten sich angeregt. Obwohl ein hervorragendes Musikensemble spielte, drehten sich nur wenige Paare auf der Tanzfläche. So mancher Mann fand die Zeit nach dem töd­lichen Attentat Gavrilo Princips auf den österreichischen Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie nicht zum Tanzen geeignet, zumal sich die politische Lage drama­ tisch zuzuspitzen begann, seit Österreich sein Ultimatum an Serbien übermittelt hatte. Wenngleich sich mit Staatspräsident Raymond Poincaré, der erst vor wenigen Tagen aus dem russischen St. Petersburg zurückgekehrt war, nun ein hochrangiger Politiker an den Gesprächen beteiligte, war Philippe Meindorff nicht konzentriert bei der Sache. Hinter der Männergruppe schlenderten einige Damen vorüber, und sein Blick fiel auf eine groß gewachsene junge Frau in modischem Kos­ tüm. Anders als die zier­lichen Grazien in ihrer Begleitung wirkte sie ungewöhnlich athletisch, dabei aber noch immer sehr feminin. Er erhaschte einen Blick auf das Profil der Frau und stellte erstaunt fest, dass sie ihm bekannt vorkam. 15


Ohne Zögern stieß er sich von der cremefarbenen Marmorsäule ab, an der er gelehnt hatte. Er umrundete die Diskutierenden, um freie Sicht auf die Frauen am Büfett zu erlangen, ohne dass er dabei ein Wort der politisierenden Unterhaltung versäumte. Während Phi­ lippe dem lebhaften Wortwechsel zwischen französischen Militärs, Politikern und wohlhabenden Geschäftsmännern lauschte, zog er an seiner straff sitzenden schwarzen Krawatte, die ihm die Atemluft abzuschnüren drohte. Anschließend öffnete er den obersten Hemd­ knopf. Lag es an seinen düsteren Überlegungen um die sich zuspitzen­ den Verhältnisse zwischen den Ländern, dass ihm auf einmal so heiß wurde, oder trieb der Nachtwind die Hitze des vergangenen Tages durch die Terrassentüren herein? Philippe, der schon vor Jahren einen Krieg befürchtet hatte und für seine Schwarzmalerei verlacht worden war, da ein Konflikt nach dem anderen friedlich, jedoch niemals endgültig beigelegt werden konnte, verspürte keinen Triumph darüber, dass er damals wohl rich­ tig gelegen hatte. Wie viele Bürger in den betroffenen Ländern hoffte auch er auf ein Einlenken der Parteien. Immerhin hatte er sich nach seinem Einsatz im Herero- und Namakrieg3 in Deutsch-Südwest­ afrika geschworen, sich fortan von Kriegen fernzuhalten. Dennoch überrollten die Ereignisse der letzten Julitage auch ihn. Erschüttert fuhr Philippe sich mit der Hand über sein frisch rasier­ tes Kinn. Ob es noch ein Halten gab? Wie standen die Chancen, dass der losgetretenen Lawine noch Einhalt geboten wurde, ohne dass sie Tausende oder Hunderttausende Opfer mit sich riss? Die Stimmen der diskutierenden Männer in seinem Rücken nah­ men an Lautstärke zu und drängten mit Vehemenz in seine Überle­ gungen. »Nein, Deutschland rechnete nach dem Attentat nicht sofort mit einem Krieg, meine Herren. Der Kaiser brach weder seine Schiffs­ reise ab, noch beendeten seine Berater und Minister ihren Urlaub.« Verwundert über die in diesem Kreise erstaunlich beschwichti­ genden Worte drehte Philippe den Kopf und betrachtete den wohl­ genährten Sprecher in der stramm sitzenden Offiziersuniform. Für einen gebürtigen Franzosen klang seine Aussprache eine Spur zu hart. Ein Zeichen dafür, dass in seiner Ahnenreihe deutsches Blut floss? 16


Der Offizier fuhr fort: »Deshalb genügt es momentan, wenn wir den Grenzschutz zum Deutschen Kaiserreich hin verstärken.« Philippe verharrte weiterhin im Hintergrund, wenngleich er auf­ merksam zuhörte. Ein anderer Uniformierter plusterte die Wangen auf, wobei sein Schnauzbart eigentüm­liche Bewegungen vollführte. »Die k.u. k.4 Truppen werden aufgeboten. Und die Deutschen spre­ chen nach der russischen Gesamtmobilmachung von einem Zustand drohender Kriegsgefahr. Für mich heißt das, dass Kaiser Wilhelm, allen voran aber sein Militär, sprich Moltke, binnen achtundvierzig Stunden ebenfalls seine Truppen mobilisieren wird, zumal sie ges­ tern den Russen eine deut­liche Warnung zukommen ließen. Lon­ don wartet noch immer ab. Allerdings hält die englische Regierung nach ihrem in Kriegsstärke abgehaltenen Manöver die Kriegsschiffe zusammen. Ich sehe darin eine Mobilisierung ihrer Flotte.« »Außenminister Grey befindet sich im Austausch mit dem deut­ schen Botschafter. Er bemüht sich um Schadensbegrenzung, und Kaiser Wilhelm und Zar Nikolaj stehen ebenfalls in Kontakt«, wusste ein jüngerer Mann in Zivil. Sein Einwand verleitete einige der Dis­ kussionsteilnehmer zu einem knappen Nicken. Ob die hier vertrete­ nen Militärs den Abbruch aller Gespräche bevorzugen würden? In Berlin ging es wohl nicht anders zu. Die deutsche Armeeführung, ohnehin mit extrem viel Macht ausgestattet, strebte schon länger einer kriegerischen Auseinandersetzung entgegen. Als die lauten Worte eines Leutnants Phillipe aufschreckten, kniff er unwillig ein Auge zu. »Kaiser Wilhelm hat sich Roms Treueschwur eingeholt und Kontakt mit Griechenland und Rumänien aufgenom­ men! Fried­liche Absichten sehe ich darin nicht.« »Unser Problem ist doch im Moment vielmehr, ob wir in diesen Krisenzeiten die Spaltung in ein republikanisches antiklerikales und ein konservatives klerikales Frankreich aufhalten können. Sonst gilt es am Ende nicht nur einen außenpolitischen, sondern auch einen inner­ politischen Krieg auszutragen«, wendete der französische Präsident ein und strich sich mit der Rechten über seinen leicht struppigen Schnurr­ bart bis hinab zu dem spitz zulaufenden Kinnbart. Er wirkte äußerlich gelassen, dennoch glaubte Philippe, Nervosität aus seiner Stimme her­ auszuhören, zumal seine Gestik diesen Eindruck unterstrich. 17


Die Frauen in Philippes Nähe lachten, was ihn zu ihnen hinü­ berblicken ließ. Nun stand die ihm vertraut vorkommende Dame frontal zu ihm. Schwarze Haare, kunstvoll mit perlenverzierten Käm­ men aufgesteckt, umrahmten ein rund­liches Gesicht mit wachen, blauen Augen und einer etwas vorwitzig aussehenden Nase. Ein klei­ ner Mund, hinter dem sich, wenn sie lächelte, gepflegte, ebenmäßige Zähne zeigten und ein spitz zulaufendes Kinn vervollkommneten ein Gesicht, das man gern ansah. Philippe runzelte die Stirn. Sein Eindruck, der Frau früher schon einmal begegnet zu sein, verfestigte sich, je länger er sie betrachtete. Allerdings sperrte sich sein Gedächtnis, ihm einen Namen, einen Ort oder zumindest irgendwelche verwandtschaft­ lichen Beziehungen preiszugeben. Da sich die Männergruppe mittlerweile in innerpoli­ tischen Fragen erging, näherte er sich der fröh­lichen Frauenrunde, entschlossen, der schlanken Schönheit vorgestellt zu werden. »Philippe! Du hast ja nicht mal ein Glas in der Hand. Wer ist der rüpelhafte Gastgeber, der dich so sträflich vernachlässigt?« Claude Du­ pont, der junge Mann, der ihn eingeladen hatte, gesellte sich zu ihm und reichte ihm einen gut gefüllten Schwenker mit echtem Cognac. »Ein Pilot. Wer sonst überzeugt durch so lieder­liche Manieren?« Der Franzose lachte und zeigte dabei zwei Reihen schief sitzender Zähne, was angesichts seines extrem schmalen Gesichts nicht wei­ ter verwunderte. »Warum stehst du so allein herum? Langweilst du dich?« »Ich langweile mich nicht, frage mich aber, wer diese sportive Erscheinung dort drüben ist.« Claude drehte sich um, sodass er ebenfalls die fröhlich lachenden und schwatzenden Frauen betrachten konnte. »Du sprichst von der Mademoiselle mit dem schwarzen Haar, die die anderen Damen um fast einen Kopf überragt?« Philippe nickte. Abermals musterte er interessiert ihr Gesicht und für einen Moment keimte in ihm der Verdacht, dass er sie nicht per­ sönlich kennengelernt hatte, aber vielleicht einen nahestehenden Ver­ wandten. »Bei der Lösung dieses Rätsels, mein Freund, vermag ich dir leider nicht zu helfen. Die Dame ist von Yvette Ledoux mitgebracht wor­ 18


den, da sie derzeit bei der Familie Ledoux zu Gast ist. Sie ist allerdings keine gebürtige Französin. Ihr Französisch ist zwar nicht schlecht, aber hörbar ungeübt.« Noch während Philippe überlegte, ob er das Fräulein anspre­ chen wollte, stürmte Claudes dreizehnjähriger Bruder in den Raum, obwohl der zu dieser vorgerückten Stunde längst im Bett liegen sollte. Ungeachtet der wichtigen Gäste seiner Eltern rief er laut: »Deutsch­ land droht mobilzumachen, falls Russland nicht innerhalb von zwölf Stunden demobilisiert!« Die Musik brach ab. Die Tänzer verharrten auf der Stelle. Alle Gespräche verstummten. Ein Glas fiel zu Boden und zersprang mit nervenzerreißendem Klirren in unzählige Scherben. Die Stille hielt an; einzig von draußen klang das verhaltene Lachen und die nicht verständ­lichen Gesprächsfetzen derer herein, die auf der Terrasse Abkühlung suchten und die Mitteilung versäumt hatten. Philippe schüttelte fassungslos den Kopf. Russland hatte zuerst in vier Militärbezirken mobilgemacht, was in Anbetracht des gefährde­ ten Serbien eine angemessene Reaktion auf die Agitation ÖsterreichUngarns war, doch bereits am nächsten Tag folgte die Gesamtmobil­ machung des riesigen Heers. Dies kam einer Provokation gleich und erzeugte weitere Überreaktionen bei den hochsensibilisierten Staaten und Staatenbünden. Verhaltenes Murmeln erhob sich, als fürchteten die Anwesenden, durch zu lautes Sprechen neue Hiobsbotschaften anzulocken oder dem Feind Informationen preiszugeben. Präsident Poincaré verließ den Raum, gefolgt von den Militärs. Das rhythmische Donnern ihrer Stiefel auf dem Steinboden jagte Philippe einen Schauer über den Rücken und biss sich als stechender Schmerz in seinem Nacken fest. Die Geräusche erinnerten ihn erschreckend an das Marschieren Abertausender Soldaten in Richtung Front. Die beiden Diener beim Büfett murrten halblaut über die verma­ ledeiten Deutschen. Die Gäste der Duponts, die allmählich aus ihrer Erstarrung erwachten, besprachen die Nachricht, wobei die wieder einsetzenden Gespräche einen wesentlich lauteren Geräuschpegel als zuvor erreichten. Erhitzte Gesichter spiegelten eine Mischung aus Verärgerung und kaum unterdrückter Begeisterung über die Ver­ 19


schärfung der politischen Entwicklungen wider. Sogar die Frauen diskutierten gestenreich, und Philippes Blick fiel erneut auf die ver­ mutlich einzige Frau nicht französischer Herkunft. Er sah, wie sie nachdenklich und missbilligend zugleich die Nase rümpfte. An dieser Eigenheit erkannte er sie. Ihre Anwesenheit verblüffte ihn weitaus weniger als die Tatsache, dass aus der aufsässigen kleinen Demy van Campen eine hinreißende junge Dame geworden war. *** Demy glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Nur ein paar Schritte von ihr entfernt stand Philippe Meindorff und blickte sie mit seinen hellen Augen ebenso unverfroren an, wie er das bereits vor sechs Jah­ ren getan hatte. Schon damals, bei ihren wenigen Begegnungen in Berlin, hatte er groß und stattlich ausgesehen, inzwischen wirkte er auch noch sehnig und kantig. Philippe schien sie erkannt zu haben. Aber anstelle des süffisanten Lächelns, das sie erwartete, trat ein vorwurfsvoller, harter Zug um sei­ nen Mund, ehe er sich dem ältesten Sohn des Gastgebers zuwandte. »Demy, wen starrst du da so interessiert an?« Yvette stupste ihr leicht mit dem Ellenbogen in die Seite und erlangte somit ihre Auf­ merksamkeit zurück. »Was sucht Philippe Meindorff hier?« »Philippe? Ein gut aussehender Mann, nicht? Aber ich muss dir dein Interesse an ihm ausreden.« Demy winkte mit einer Hand ab. Die Frauengeschichten rund um den Zögling des alten Meindorff, des Schwiegervaters ihrer Schwester Tilla, kannte sie zu Genüge. Unbeirrt fuhr Yvette fort: »Er hat kein großes Faible für Frauen. Für ihn gibt es ausschließlich seine Arbeit und die Fliegerei. Wie auch für Claude Dupont. Du siehst die beiden im Gespräch miteinander.« Sie seufzte theatralisch auf. »Außerdem macht mir dieser Philippe ein bisschen Angst. Er wirkt oft grimmig, unnahbar und kurz angebun­ den, allerdings ist er nie unhöflich, das muss ich zugeben.« Die Querfalten auf Demys Nase vertieften sich. Yvettes Worte ver­ hießen völlig neue Wesenszüge an Philippe. Aber immerhin hatte sie 20


ihn seit dem Frühjahr 1908 nicht mehr gesehen. Damals hatte ihre Schwester sie gezwungen gehabt, mit ihr von den Niederlanden in die preußische Millionenstadt Berlin zu ziehen. Demy hatte gehört, dass Philippe in Deutsch-Südwestafrika schwer verwundet worden war und nach seiner Genesung seine Militärlaufbahn aufgegeben hatte, um in Stuttgart zu studieren. Den Kontakt zur Familie Meindorff hatte er vollständig abgebrochen, wobei sie von Hannes Meindorff wusste, dass er mit ihm zumindest einen losen Briefwechsel unterhielt. Doch Hannes, der wegen seiner heim­lichen Hochzeit mit Edith, einer Frau, die unter der Würde des Patriarchen Joseph Meindorff stand, aus dessen Haus und Leben verbannt worden war, schwieg sich ihr gegenüber über den Inhalt des Schriftverkehrs aus. »Du kennst Philippe? Ich dachte, er unterhalte keine Verbindun­ gen mehr zur Familie Meindorff, obwohl er bei ihnen aufgewachsen ist«, hakte Yvette nach. »Ich bin ihm im vor einigen Jahren ein paarmal begegnet. Er hatte Urlaub von der Armee und war zu Tillas Hochzeit in Berlin.« »Du bist mit ihm verwandt, nicht wahr?« »Nein.« Diesmal war es an Demy zu seufzen. So viele Male hatte sie ihr Verwandtschaftsverhältnis schon erklären müssen. »Meine Schwestern Tilla und Anki sind mütter­licherseits mit den Meindorffs verwandt. Meine beiden jüngeren Geschwister Rika und Feddo und ich sind nur ihre Halbgeschwister.« »Er kommt!«, warnte Yvette und Demy straffte unwillkürlich die Schultern. Philippe verbeugte sich knapp vor den Damen und ergriff Demy am Unterarm, als sei sie seine Begleitung auf diesem Fest. Energisch entzog sie ihm ihren Arm und drehte sich mit aufgebracht blitzenden Augen zu ihm um. Noch ehe sie ihn rügen konnte, sagte er leise und sehr ruhig: »Sie dürfen sich gern hier in Anwesenheit der anderen Gäste mit mir streiten, Mademoiselle Demy, oder wir gehen erst ein paar Schritte.« »Weshalb soll ich mich mit Ihnen streiten, Monsieur Meindorff?« »Das taten Sie schon vor Jahren mit Begeisterung und Ihr Blick ließ mich vermuten, dass Sie diese temperamentvolle Eigenheit trotz des Unterrichts bei Fräulein Cronberg nicht abgelegt haben.« 21


»Wenn ich mich recht erinnere, entsprach das Ihrem der Gouver­ nante gegenüber angesprochenem Wunsch.« Ihr Gesprächspartner lachte auf und nickte in Richtung der Ter­ rassentüren. Sich der Tatsache bewusst, dass ihre bisherigen Ge­ sprächspartnerinnen sie neugierig beäugten, folgte Demy, wenn auch widerwillig, seiner Aufforderung und trat an den im sanften Wind auf­ gebauschten Vorhängen vorbei auf die großzügig angelegte und mit al­ lerlei Zierpflanzen und Palmen geschmückte Terrasse. Am nächt­lichen Himmel prangte ein fast runder Mond und warf sein silbriges Licht auf die weitläufige Parkanlage des Schlosses. Die Nachtluft umfing sie mit angenehmer Wärme, und die Grillen zirpten lautstark. »Über welches Thema soll ich mich mit Ihnen streiten?«, erkun­ digte sie sich nun auf Deutsch, wobei sich ihr leichter niederländi­ scher Akzent nicht verbergen ließ. »Was verleitet Sie und Ihre Schwester, sich in diesen unruhigen Zeiten in Frankreich aufzuhalten? Sie gelten als Deutsche! Ich nehme nicht an, dass Sie in den vergangenen Jahren Ihren Scharfsinn einge­ büßt haben und nicht wissen, wie angespannt die politische Situation zwischen Deutschland und Frankreich derzeit ist.« »Muss ich mir jetzt erst einmal Gedanken darüber machen, ob Sie mich gerade beleidigt haben?« »Demy, Sie machen sich jetzt besser Gedanken darüber, wie Sie und die junge Frau Meindorff diesem Land schnellstmöglich den Rücken kehren.« Demy rümpfte erneut die Nase. Philippes Tonfall klang für ihren Geschmack zu herrisch. Außerdem ärgerte es sie, dass er sie noch immer beim Vornamen nannte, wenngleich er sie nun zumindest mit »Sie« ansprach. »Erstens, Herr Meindorff, bin ich nach wie vor Niederländerin und zweitens befindet sich meine Schwester seit drei Tagen in Berlin. Ich war wegen einer Erkrankung gezwungen, länger zu bleiben, doch meine Rückkehr ist für den vierten August geplant.« »Bis dahin könnte zwischen Deutschland und Frankreich Krieg herrschen. Was glauben Sie, wie es dann an den Grenzen zugeht? Und soweit ich mich erinnere, haben Sie seit dem Tod von Erik van Campen keinerlei Besitztümer mehr in den Niederlanden.« 22


Bei dem grimmigen Tonfall, mit dem Philippe den Namen ihres Vaters aussprach, zuckte Demy zusammen. Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf sah sie zu ihm auf. Seine Gesichtszüge spiegelten die Härte wider, mit der er den Satz ausgestoßen hatte. Ihre Irritation darüber zeigte sie durch neuer­liche Falten auf ihrer Nase. Philippe kannte ihren Vater doch gar nicht. Oder etwa doch? Immerhin hatte sich Erik van Campen für einige Wochen in Deutsch-Südwestafrika aufgehalten, bevor er in die Niederlande zurückgekehrt und in der Gracht hinter ihrem Haus in Koudekerke ertrunken war. Waren Phil­ ippe und ihr Vater sich in Afrika begegnet? Hatten sie gar eine Aus­ einandersetzung ausgefochten? Demy wollte an einen solchen Zufall nicht glauben und erwiderte schnippisch: »Ich besitze trotzdem noch immer meinen niederländi­ schen Pass.« Ihr Gesprächspartner wandte sich ab und ging über die sandfarbe­ nen Steinplatten an die verschnörkelte schmiedeeiserne Brüstung, an der sich eine Glyzinie mit zartlila Blüten entlangrankte. Er legte die Hände fest um das Brüstungsgeländer und beugte den Oberkörper leicht nach vorn, als suche er etwas unterhalb der Terrasse. Demy betrachtete abwartend seinen breiten Rücken, doch als er längere Zeit reglos verharrte, entschied sie, zu Yvette, der Freundin ihrer älteren Schwester, zurückzukehren. Sie schrak zusammen, als er ihr mit flinken Schritten nacheilte und sie am Oberarm ergriff. »Wie alt sind Sie jetzt, Demy? Neunzehn, zwanzig?« Ihre Antwort bestand aus einem herausfordernden Blick. Bei ihrer Ankunft in Berlin war Philippe tatsächlich die einzige Person gewe­ sen, die Tillas falsche Altersangabe für Demy zu Recht angezweifelt hatte. In den vergangenen Jahren war ihr Alter nie wieder themati­ siert worden, was vermutlich daran lag, dass sie sich in das Leben und die Regeln der Familie Meindorff eingefügt hatte. Zumindest hielt sie den Anschein aufrecht, eine wohlerzogene Dame zu sein, denn die Freiheiten, die sie sich nahm, waren weitaus größer, als die Mitglieder der in Berlin anerkannten Industriellenfamilie ahnten. Auf ihr Schweigen hin lachte Philippe freudlos auf und ließ sie endlich los. »Sie schummeln demnach noch immer mit Ihrem Alter? Betrügereien liegen der Familie van Campen wohl im Blut.« Noch 23


ehe Demy erbost einen Einwand anbringen konnte, fuhr Philippe fort: »Ich wundere mich in Anbetracht der falschen Altersangabe allerdings, dass Sie nicht längst gewinnbringend verheiratet wurden.« »Ich bin eine van Campen, keine Meindorff. Vergessen Sie das nicht! Eine Eheschließung ist weder für den Familienpatriarchen noch für dessen ältesten Sohn von Nutzen.« Philippe vollführte eine abweisende Handbewegung und deutete anschließend einladend in den überhitzten Saal, aus dem weiterhin aufgeregte Diskussionsfetzen zu ihnen drangen. »Sie sind noch nicht volljährig, waren aber damals – und sind es heute erst recht – intelligent genug, um selbst über Ihr Leben zu bestimmen. Ich rate Ihnen, reisen Sie unverzüglich nach Berlin zurück. Gute Nacht.« Mit diesen Worten drehte Philippe sich um, schritt auf die Brüstung zu, stützte sich mit einer Hand auf und sprang hinunter auf die knapp zwei Meter tiefer gelegene Rasen­fläche. Demy sah ihm nach, wie er vom Mondlicht beschienen durch die akkurat geschnittenen Rosenbüsche schlenderte und schließlich hin­ ter einer hohen Buchsbaumhecke verschwand. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Über sechs Jahre war sie diesem Philippe nicht mehr begegnet und ausgerechnet hier in Frankreich, abseits aller preußischer Konventionen und der sie einengenden Stellung als Gesellschafterin ihrer Schwester tauchte er wie aus dem Nichts auf und verdarb ihr den Abend. Er war älter geworden, ruhi­ ger vielleicht, aber eines war noch immer gleich geblieben: Sie konnte ihn nicht leiden!

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August: Ungeahnte Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 „Auf dem Weg durchs Leben kann man den Wind nicht immer im Rücken haben.“ September: Ich drohe zu scheitern! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 „Nicht das Beginnen wird belohnt, einzig und allein das Durchhalten.“ Oktober: Neue Kraft! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 „Meine Gnade ist alles, was du brauchst.“ November: Bin ich jetzt ein besserer Mensch? . . . . . . . . . . . . 181 „Der Mut wächst immer mit dem Herzen, und das Herz wächst mit jeder guten Tat.“ Dezember: Mein Leben hat einen Sinn! . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 „Auf dieser Welt lebt keiner vergebens, der die Bürde eines anderen leichter zu machen versucht.“ Und wie geht’s weiter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 „Fange nie an aufzuhören, höre nie auf anzufangen.“ Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223



Vorwort Ein brennendes Brautkleid, Flutwellen und Übelkeitsattacken. Bodylotion für Bibliothekarinnen und Kinokarten für Fremde. Verliebte im Altersheim und ein Vater in der Midlife-Krise, der sich die Haare färben will. Sie alle haben eins gemeinsam: Sie gehören zu meiner Geschichte der guten Taten. Aber es geht um viel mehr als witzige Storys. Es geht um die Liebe zum Leben und die Liebe zu Menschen. „Von einer, die auszog, Gutes zu tun“ soll eine Ermutigung zum Handeln sein. Allerdings ist dieses Buch weder eine perfekte Anleitung, noch ein moralisches Manifest. Vieles ging schief in meinem Jahr der guten Taten. Und viel zu oft wünschte ich mir, es würde doch mehr für mich dabei herauskommen. Dabei sollte es genau darum nicht gehen … Oft werde ich gefragt, wie ich auf die Idee gekommen bin, 365 gute Taten zu tun. Gern erkläre ich es mit einer Geschichte. In einem Songtext meiner Lieblingsband Kurfürst heißt es: „Ich bin so heiß wie Ingwertee, wenn ich um zehn den Rasen mäh …“ Es geht um einen Menschen, der sich in sein Privates zurückgezogen hat und dort sein beschauliches Leben genießt. Das Lied 9


beschreibt quasi meinen Alltag vor dem Experiment. Mit dem kleinen Unterschied, dass ich um den Jahreswechsel keinen Rasen mähte, sondern vor dem Kaminfeuer Pfefferkuchen aß. Ach, war das gemütlich. Und so bequem. Und so langweilig! Vieles ging mir durch den Kopf: War das das Leben, zu dem ich berufen war? Wollte ich, dass die versammelte Mannschaft an meinem Totenbett anstimmt: „Sie trank am liebsten Salbeitee, dann tat die Welt ihr nicht mehr weh“? Bitte nicht! Außerdem fühlte ich mich durch meine Erziehung und meinen Glauben herausgefordert, einen Unterschied zu machen. So beschloss ich, im kommenden Jahr jeden Tag eine gute Tat zu tun und darüber zu bloggen. Ohne zu wissen, dass diese Entscheidung mein ganzes Leben auf den Kopf stellen würde. Nachdem der Blog viele Menschen ermutigt hat, wünsche ich mir, dass der Gute-Taten-Gedanke durch dieses Buch noch weitere Kreise zieht. Deshalb habe ich die besten Blogbeiträge und die Geschichten dahinter hier festgehalten. (Leider können nicht alle 365 guten Taten abgedruckt werden. Dafür hätte der Platz nicht ausgereicht und manche guten Taten wiederholen sich.) Wie im Blog möchte ich auch im Buch die Privatsphäre von Personen (vor allem die meiner Patienten) schützen. Deshalb habe ich die Namen und Details im Umfeld und Krankheitsbild geändert. Da ich im Blog meine Leser immer mit „du“ angesprochen habe, führe ich diesen persönlichen Ton auch im Buch fort. Ich hoffe, dass meine Geschichte auch dich ermutigt, Gutes zu tun. Vielleicht nicht jeden Tag, aber einfach öfter. Also dann: Pfefferminztee austrinken und loslegen, äh … loslesen.

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Januar: Neues Jahr, neue Chance „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Erich Kästner Viel Zeit, viel Ruhe, viel Freiheit – so lauten meine drei Lebensziele. Vollständigkeitshalber ergänze ich sie durch: viele Spaghetti auf meinem Teller, viele Sonnenstunden in meinem Bikini und viele Gratulanten zu meinem Geburtstag. Der war übrigens gestern. Ich bin 24 geworden. Und um eine Erkenntnis reicher. So kann’s nicht weitergehen. Ich habe es satt, mich immer nur um mich selbst zu drehen. Es steckt mehr in mir! Daher mein Vorsatz: Ich werde 365 gute Taten vollbringen! Was ist eigentlich eine gute Tat? Gibt es wahrhaft selbstlose Taten? Werde ich etwas verändern können? Ich bin neugierig … Mit diesen Gedanken begann mein Blog auf der Internetseite „365gutetaten.de“. Es war einer dieser typischen Nächstes-Jahrwird-alles-besser-Silvester-Vorsätze. Ich ließ das vergangene Jahr in Gedanken Revue passieren, dankte und fragte Gott: „Was ist nächstes Jahr wichtig?“ Und so kam mir die Idee. Im Vorfeld versuchte ich, ungefähr abzuschätzen, wie groß das Risiko sein könnte zu scheitern und wie viel Zeit und Geld es mich

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kosten würde. Auf Anhieb fielen mir eine Handvoll guter Taten ein. Da zögerte ich nicht lange, sondern beauftragte gleich meinen Mann mit der Erstellung einer Internetseite. Ich ließ meinen Geburtstag verstreichen und begann am ersten Arbeitstag im Jahr, dem 4. Januar, mit den guten Taten. Ehrlich gesagt, war das ein Riesenschritt für mich. Wer mich kennt, weiß, dass ich Planbarkeit liebe. Meine Risikofreude ist in etwa so groß wie mein Wunsch, in unsichere Aktien zu investieren. Jeden Montag erstelle ich einen Essensplan für die gesamte Woche. Ich buche meinen Urlaub nie Last-Minute und das Mutigste, das ich jemals gewagt habe, war, so nah an eine Spinne heranzutreten, dass ich sie einsaugen konnte. Aber diese erste Motivation ist regelrecht verzaubernd. Ich glaube, man darf diese „erste Liebe“ bei Ideen, die einen so richtig aus dem Trott reißen, nicht verstreichen lassen. Womöglich hätte ich das Jahr der guten Taten nie begonnen, wenn ich noch eine Woche gegrübelt hätte. Bei allem Tatendrang war mir jedoch klar: Es war ein gewagtes Experiment. Ein Abenteuer mit unsicherem Ausgang. Hätte ich gewusst, was die guten Taten alles verändern würden in meinem Leben – ich wäre total aufgeregt gewesen! Erst einmal stand ich aber klein und fast ängstlich zitternd vor der aufgeblähten Zahl: 365. Hinzu kommt, dass ich eigentlich noch nie geschrieben hatte. Doch, ja, mit 14 habe ich dieses eine Gedicht verfasst: Warum rufst du mich nicht an? Mein Herz ist schon ganz bang. Um einen Kuss von dir würd ich mich reißen, rufst du nicht an, werd ich auf dich verzichten. Schriftstellerisches Talent bleibt hier selbst dem gründlichsten Leser verborgen. Ich hatte schlichtweg Bock auf diesen Blog (oh

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wow, ich kann es immer noch!). Und wer weiß, vielleicht beginnen so die besten Dinge im Leben, wenn wir uns frei von Selbstzweifeln und Wahrscheinlichkeiten fragen: „Wozu hätte ich mal so richtig Lust?“ Und dann heißt es einfach: Versuchen. Etwas wagen. Denn meist ist diese innere Sehnsucht – die Leidenschaft für eine bestimmte Sache – ein untrüglicher Wegweiser zu unserer Bestimmung. Ist der Mensch von Grund auf böse oder gut? Darüber streiten sich Philosophen und Theologen. Aber eins ist sicher: Ein gesunder Mensch ist von Grund auf bestrebt, das Beste aus sich herauszuho­ len. Etwas zu lernen. Ein Abenteuer zu meistern. Nicht nur mittel­ mäßig zu sein. Nicht nur, wie in meinem speziellen Fall, den größten Beitrag für die Gesellschaft darin zu sehen, 50 Cent in die Kollekte zu werfen oder pünktlich bei der Arbeit zu erscheinen. Ich langweilte mich in meiner bequemen Welt. Das sollte sich schleunigst ändern. Und so begann alles nach meinem Geburtstag mit einer leckeren Torte … In meinem Blog schrieb ich:

Klappe die 1. Habe heute meinen ersten Schritt in Richtung „Leben, wie es sein sollte“ getan. Großzügigerweise bestand meine gute Tat aus übrig gebliebenen Schlemmereien des gestrigen Kaffeemahls: jeweils ein Viertel einer Marzipantorte und einer Pudding-Mandarinen-Torte. Diese habe ich meinen zwei netten Kolleginnen zur Feier meines vergangenen Geburtstages mitgebracht. Was? Das hättest du auch gemacht? Dann hast du wahrscheinlich noch nie diese, diese Marzipantorte gegessen, die vermutlich nur zum Allein-vor-dem-Kühlschrank-Aufessen gebacken wurde. 13


Der 2. Tag: Meine zweite Chance Vorweg sollte ich vielleicht noch erwähnen, dass ich die Frau des Drummers bin. Des Drummers der bald sehr bekannten Band „Kurfürst“. Die Band besteht aus sechs mehr oder weniger beschäftigten Studenten. Da hat natürlich niemand Zeit für so schnöde Aufgaben, wie Bewerbungsbriefe für Veranstalter zur Post zu bringen. Ich trabe also zur Post. Versuche, mir unterwegs einzureden, dass einer der beiden Briefe den Mega-Auftritt des nächsten Jahres herbeiführt inklusive des längst überfälligen Plattenfirmaangebotes.

Die 3. gute Tat: Mutmacher und Topflappen Schauplatz: Ein altes, einsames, kleines Häuschen am Waldrand. Die Deckenhöhe variiert zwischen 1,70 und 1,80 Meter. Ruß quillt aus dem Ofen. Ein Hund und vier Personen teilen sich die bewohnbaren 15 Quadratmeter. Die Wäsche hängt bei eisigen minus 10 °C flatternd im Wind. Ich besuche in meiner Rolle als Logopädin die vier einfachen aber herzlichen Bewohner mit meiner Praktikantin. Gute Tat: Ich lobe die hilfsbereite Tochter für ihre aufopfernde Pflege an ihrem Bruder und ihrer Mutter. Mache ihr Mut, gegen allen Druck von außen ihrem liebenden Herzen zu vertrauen. Ausgang: Bin um zwei neonpinke, gehäkelte Topflappen reicher, meine Praktikantin auch (unverdient). 14


Christine Caine

Der Angst keine Chance Mein Weg zu einem Leben ohne Furcht Aus dem Englischen 端bersetzt von Barbara Schuler


Inhalt

Vorwort

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Kapitel 1 Der Schindlers-Liste-Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13

Teil 1 – Gott kennt meinen Namen Kapitel 2 Ich bin nicht die, für die ich mich gehalten habe . . . . . . .  33 Kapitel 3 Nummer 2508 aus dem Jahrgang 1966 . . . . . . . . . . . . . . .  52

Teil 2 – Gott kennt meinen Schmerz Kapitel 4 Narbengewebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  79 Kapitel 5 Herzensbruch – oder Durchbruch?

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Teil 3 – Gott kennt meine Angst Kapitel 6 Liebe und Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  129 Kapitel 7 Ich war völlig verloren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  151 8


Teil 4 – Gott kennt meine Bestimmung Kapitel 8 Wachgerüttelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  179 Kapitel 9 Eine gött­liche Ruhestörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  201 Kapitel 10 Mit Riesen fertig werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  224 Die Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  245 Danksagungen

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Vorwort Schon oft habe ich mich gefragt, wie es wohl wäre, mit dem Apostel Paulus Menschen zu besuchen – einem Globetrotter und Botschafter der Gnade, der Menschen von Jesus erzählte und unglaub­liche Dinge tat. Ich habe mir vorgestellt, ein angeregtes Gespräch mit Maria zu führen, der Mutter Jesu – einem einfachen Dorfmädchen –, die zu Gott sagte: „Ich werde tun, was du sagst.“ Sie hatte gerade erfahren, dass sie als Jungfrau ein Kind erwarten würde. Ich habe mir eine Unterhaltung mit Ester ausgemalt – der Befreierin, die aus dem Nichts erschien. Sie trat aus dem Schatten heraus, und weil sie das tat, wurde ein ganzes Volk verschont. Paulus. Maria. Ester. Wie sich herausgestellt hat, bin ich allen drei gleichzeitig begegnet – als ich Christine Caine traf. Sie hat den Schneid eines Paulus. Kaum steht sie auf der Bühne oder sitzt am Esstisch, hört man auch schon, was sie antreibt: Jesus, ihre Familie und die vergessenen Mädchen, die als Zwangsprostituierte arbeiten müssen. Sie sagt klar und deutlich, wofür sie steht und wen sie liebt. Ihre Herzenshaltung ist ansteckend. Wunderbar ansteckend. Sie hat den Gehorsam einer Maria. Wer hätte gedacht, dass eine in Australien aufgewachsene blonde Powerfrau griechischer Abstammung die Welt verändern würde? Und doch bringt sie wie Maria allen Menschen der Welt Jesus nahe. Christine strahlt überall, wo sie hinkommt, Hoffnung aus – von Südafrika bis Osteuropa. Vor allem für die Mädchen, denen sie eine Ester ist – den Millionen junger Mädchen, die in dem übelsten Machwerk dieser Welt gefangen sind, dem Sexhandel. Diese Mädchen sollten eigentlich Musik hören, Bücher lesen und mit Jungs 11


flirten. Stattdessen werden sie in Bordellen gefangen gehalten, geschlagen, vergewaltigt und wie Vieh behandelt. Ihre einzige Hoffnung? Jesus Christus. Und Jesus möchte durch Menschen wie Christine wirken. Er wird nicht nur in ihrem Namen sichtbar, sondern auch in ihrem Gesicht, ihrer Entschlossenheit, ihrem Mut und ihrer Freude. Sie weckt in uns allen den Wunsch, den Jesus, den sie liebt, so zu lieben, wie sie ihn liebt. Ich hoffe, dass Sie dieses Buch lesen und entdecken werden, was auch ich entdeckt habe: Gott hat unserer Generation einen Paulus, eine Maria und eine Ester in einer Person gegeben. Sie heißt Christine Caine. Gott hat es unserer Generation ermöglicht, etwas gegen die furchtbarsten Gräuel dieses Jahrhunderts zu unternehmen. Nachdem ich dieses Buch gelesen hatte, habe ich beschlossen, mehr zu tun. Ich hoffe, Ihnen wird es genauso ergehen. Max Lucado

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Kapitel 1

Der Schindlers-Liste-Moment Das Griechenland, das sich mir an jenem Mittwochnachmittag im März 2010 bot, war nicht das Land, das ich von unserer Hochzeitsreise vor vierzehn Jahren in Erinnerung hatte. Es gab keine strahlend weiß gestrichenen Gebäude. Keine dunkelblauen Ziegeldächer. Keine fest­liche Musik. Keinen Straßenmarkt, wo Händler frisch gepresstes Olivenöl, frische Cantaloupe-Melonen oder Fetakäse feilboten, der einem das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Nichts dergleichen. An diesem Nachmittag waren die Straßen leer, schwarz, nass. Das sonst kristallblaue Mittelmeer rollte düster und schwer gegen die Hafenmauern von Thessaloniki. Seltsam, wie Angst alles verändert hatte und nicht nur die Jahreszeit schuld daran war – der lange, strenge Winter. Ist das wohl das Bild, das sie von Griechenland haben?, fragte ich mich. „Sie“ waren vierzehn junge Frauen, hauptsächlich Osteuropäerinnen, die vor Kurzem aus der Zwangsprostitution gerettet worden waren. Sie waren noch Schülerinnen gewesen, als man sie von ihren Familien in der Ukraine, Bulgarien, Georgien, Albanien, Rumänien, Russland, Usbekistan und Nigeria fortgelockt hatte. Sechzehn Jahre alt waren sie. Siebzehn. Achtzehn. Mädchen, die eigentlich herumalbern, über Musik und Sport quatschen und sich den Kopf zerbrechen sollten, was sie am nächsten Tag zur Schule anziehen würden – nicht darüber, wie sie die folgenden Minuten überleben konnten. Sie waren gut versteckt in einem Frauenhaus der A21Kampagne, der Organisation zur Rettung von Mädchen aus 13


dem Menschenhandel, die mein Mann Nick und ich erst vor sechs Monaten ins Leben gerufen hatten. An diesem düsteren Nachmittag sollte ich persönlich mit ihnen über einen Teil Griechenlands sprechen, der mir bis dato unbekannt gewesen war. Immer wieder musste ich mir klarmachen: Dies ist kein Film. Kein Reality-TV . Dies ist real. Die Wirklichkeit. Die jungen Frauen und ich saßen in unbehag­ lichem Schweigen beisammen. Wie redet man über unaussprech­ liche Scham und Qual? Nadia machte den Anfang. Stockend erzählte sie, wie sie in einem Dorf in Georgien zu einer Zeit aufgewachsen war, als Krieg und Mangel herrschten. In ihrer Familie gab es Liebe in Hülle und Fülle, aber kaum etwas zu essen. Die Armut verzehrte sie. Jahrelang lebte Nadia von Träumen: Sie träumte davon, dem Hunger zu entkommen, sie träumte von einer Welt fernab des verwüsteten Dorfes, sie träumte davon, Krankenschwester zu werden. Wäre sie eine Krankenschwester wie die Frauen, die sich um die verwundeten Soldaten in ihrem Dorf kümmerten, könnte sie endlich fortgehen. Sie könnte reisen. Sie würde eine wunderschöne Welt sehen, eine Welt, in der sie anderen Menschen helfen könnte. Doch die Mädchen aus armen georgischen Dörfern gingen nur bis zur zweiten Klasse in die Schule. Sie brauchten nur Kochen und Putzen lernen, nicht aber Lesen und Schreiben. Welcher Mann würde schließlich eine Frau heiraten wollen, die gebildeter war als er selbst? Heiraten, den Haushalt führen, Kinder bekommen und ansonsten in allem vom Ehemann abhängig sein – war das nicht alles, was von einer Frau erwartet wurde? Nadia war eine gehorsame Tochter, die ihre Eltern unbedingt zufriedenstellen wollte. Sie versuchte, ihren heim­ lichen Traum zu unterdrücken. Doch ein kleiner Funke blieb in ihrem Herzen. Und dieser Funke wurde nur drei Wochen vor ihrem 14


siebzehnten Geburtstag neu entfacht, als ein Mann zu ihr und ihren Freundinnen an der Bushaltestelle trat und von Arbeitsmöglichkeiten in Griechenland erzählte. Der Mann sagte den Mädchen, dass Griechenland wunderschön sei und es den Menschen dort gut gehe. Es gebe dort viele gut bezahlte Jobs als Kellnerinnen, Friseurinnen und Verkäuferinnen. Auf Krankenschwestern würde man dort geradezu warten. Der Mann drückte Nadia eine Broschüre in die Hand und fügte hinzu, in einer Informationsveranstaltung am kommenden Freitag werde alles Nähere erklärt. Die ganze nächste Woche fühlte Nadia sich wie geblendet von der großen Chance, die ihr entgegenstrahlte. Ihr Traum schien so greifbar und endlich wahr zu werden. Am Freitag traf sie früh im Dorfgemeinschaftshaus ein und bekam einen Platz in der ersten Reihe. Mehrere Dutzend andere Mädchen kamen nach und nach herein. Der Raum war erfüllt von einer aufgeregten Atmosphäre und dem Geschnatter der Mädchen. Ein paar Männer stellten sich als Jobvermittler vor und schilderten die Arbeitsmöglichkeiten in Griechenland in den leuchtendsten Farben. Sie verhießen eine strahlende Zukunft und teilten dann die notwendigen Papiere aus, mit denen man Reisepässe und Visa beantragen konnte. Anschließend halfen sie den Mädchen geduldig, die Formulare auszufüllen. Nadia verließ den Saal voller Hoffnung. Sie rannte nach Hause, um ihren Eltern zu erzählen, dass sie die Chance hatte, ein neues Leben anzufangen. Sie würde nicht nur eine Ausbildung zur Krankenschwester machen und anderen Menschen helfen können, sie würde auch ihrer Familie Geld nach Hause schicken können. Ihre Eltern hatten Bedenken. Griechenland war so weit weg. Doch der Funken der Hoffnung glühte auch in ihnen. Vielleicht würde ihre Tochter in der Lage sein, etwas aus 15


sich zu machen, was ihnen selbst nie gelungen war. Vielleicht könnte sie einen Beruf erlernen und gutes Geld verdienen. Nadia könnte auch für ihre Eltern der Schlüssel zu einem neuen Leben sein. Nach vielen Diskussionen willigten sie schließlich widerstrebend ein, ihre Tochter ziehen zu lassen. Sie plünderten alle ihre Konten, verkauften, was sie irgendwie entbehren konnten, und liehen sich sogar Geld, um die Gebühr zusammenzubekommen, die Nadia den Vermittlern für die Überfahrt nach Griechenland würde zahlen müssen. Nadias Traum – Glück, Erfolg, Wohlstand – wurde auch zu ihrem Traum. Am Flughafen in Griechenland wurde Nadia von einer Mitarbeiterin der Vermittlungsagentur abgeholt, die kein Russisch sprach, sondern nur Griechisch. Aber Nadia konnte kein Griechisch. Trotz der Verständigungspro­­bleme ging sie mit der Frau zu einem Wohnblock, wo ihr ein Zimmer zugewiesen wurde, von dem sie annahm, dass es ihres sein würde. Die Frau ging und Nadia packte ihren Koffer aus. Innerhalb weniger Minuten begann ihr Albtraum. Mehrere Männer stürmten herein und schlossen die Tür hinter sich ab. Sie schlugen und vergewaltigten Nadia mehrfach. Sie versuchte sich zu wehren und schrie um Hilfe, bis sie keine Stimme mehr hatte. Doch als Antwort auf jeden Protest und jeden Schrei wurde sie nur noch mehr misshandelt und gequält. Verwirrt, verängstigt, beschämt, voller Schmerzen und innerlich zerbrochen zog sich Nadia immer mehr in sich zurück – an einen dunklen Ort in ihrem Inneren. Zwei Wochen lang hielten die Schläge und Vergewaltigungen an. Schließlich erklärte man Nadia, wo sie arbeiten würde. Nicht in einem Krankenhaus oder einem Restaurant, sondern in einem Bordell. Ihr neues Leben bestand darin, eine 16


Ein Psalm in meinem Herzen Mit den Psalmen durch das Jahr Abendgebete

Das Buch der Psalmen nach der Übersetzung Martin Luthers



Ein Psalm in meinem Herzen Woran denken Sie, bevor Sie einschlafen? Besonders die letzten Minuten vor dem Schlaf können unser Leben bestimmen: wie wir uns fühlen, was unser Herz beschäftigt und wie erholsam wir schla­ fen. Ja, sogar, wie der neue Tag beginnt! Leider klopft in der Stille der Abendstunden oft gerade das an, was uns sorgt und ärgert, belastet oder Angst macht. Doch wir sind nicht allein! Bei Gott können wir unser Herz aus­ schütten. Bei ihm kann es zur Ruhe kommen. Wie? Die Psalmisten machen es uns vor: Schonungslos offen drücken sie ihre Gedanken und Gefühle vor Gott aus – Angst und Wut, Glück und Dankbarkeit, Enttäuschung, Scham und Schmerz, Freude und Hoffnung … Egal, wie es Ihnen geht, in den Psalmen finden Sie Ihre Gedanken und Gefühle wieder. Sicher werden Sie sogar staunen, mit wie vielem Sie sich identifizieren können. Aber nicht nur das: Wer in die Gebete der Heiligen einstimmt, findet eine Quelle der Kraft und Ermuti­ gung. Wer sich auf die Tiefe der Gedanken und Gefühle einlässt, ge­ winnt Mut, selbst offen vor Gott zu sein und ihm neu zu vertrauen. Die Sehnsucht zu beten liegt tief im Zentrum unseres Seins – so hat Gott uns erschaffen. Dennoch ist es nicht verwunderlich, dass es uns schwerfällt, mit einem Gott zu sprechen, dessen Worte die ganze Welt ins Leben riefen. Manchmal wissen wir einfach nicht, was wir sagen sollen. Egal, wie reich unser Wortschatz ist, er scheint nicht auszureichen. Die Psalmen geben unserem Herzen eine Stim­ me. Vielleicht beten deshalb viele Gläubige seit Jahrtausenden die Psalmen – sogar Jesus.

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Ein Psalm in meinem Herzen

Ich erinnere mich noch genau daran, wie eine gestandene Christin mir das Beten beibrachte. Eines Tages, als ich mit einer Heraus­ forderung konfrontiert war und nicht wusste, wie ich beten sollte, drückte sie mir einen Psalm in die Hand. „So, jetzt geh nach Hause und bete das“, sagte sie. Während ich diese Zeilen betete, war ich überrascht. Diese Worte waren weder poliert noch höflich. Auf einmal merkte ich: Gebet ist keine höhere Sprache, sondern lässt unser Reden ehrlich und wahr werden. Ein persönliches Gespräch mit Gott. Durch die Psalmen lernte ich: In verwundbarer Ehrlich­ keit im Gebet werden wir innerlich heil. Dieses Gebetbuch kann Sie über Jahre begleiten und ermutigen. Sie werden erleben, wie gut es tut, den Tag mit einem Psalm und einem Gebet abzuschließen und – geborgen in Gott – einzuschlafen. Von Herzen wünsche ich Ihnen Gottes spürbare Nähe am Abend und ruhigen Schlaf in der Nacht. Elisabeth Mittelstädt Herausgeberin

„Lass dir wohlgefallen die Rede meines Mundes und das Gespräch meines Herzens vor dir, HERR, mein Fels und mein Erlöser.“ Psalm 19,15

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Psalm 1

Erstes Buch

Psalm 1 Der Weg des Frommen – der Weg des Gottlosen 1 Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen / noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt, wo die Spötter sitzen, 2 sondern hat Lust am Gesetz des Herrn und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht!

• 3 Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, / der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl. 4 Aber so sind die Gottlosen nicht, sondern wie Spreu, die der Wind verstreut. 5 Darum bestehen die Gottlosen nicht im Gericht noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten. 6 Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht.

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ater, du bist der Schöpfer der Zeit. Auch jetzt, an der Schwelle der Nacht, bist du mir nah und schenkst mir Geborgenheit. Ich danke dir für all das Gute, das ich heute empfangen habe. Du hast mich durch den Tag geführt mit deiner liebenden Hand.

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Psalm 2

Danke, dass du in mir wirkst – auch im Schlaf. Hilf mir, alle Sorgen beiseitezulegen und ganz bei dir anzukommen. Bewahre mein Herz und meine Gedanken davor, an Orte zu ziehen, die dir nicht gefallen. Lass deine Worte in mir Wurzeln schlagen in den Stunden der Nacht. Dann werde ich wie ein immergrüner Baum sein, dem die Hitze des ­Tages und Zeiten der Dürre nichts anhaben können. Ja, Vater, du erfrischst mich mit deinem Wort. Bitte ­schenke mir jetzt einen erholsamen Schlaf. Und danke, dass du über mir wachst und über allen, die zu mir gehören. Amen.

Psalm 2 Gottes Sieg und die Herrschaft seines Sohnes 1 Warum toben die Heiden und murren die Völker so vergeblich? 2 Die Könige der Erde lehnen sich auf, / und die Herren halten Rat miteinander wider den Herrn und seinen Gesalbten: 3 »Lasset uns zerreißen ihre Bande und von uns werfen ihre Stricke!« 4 Aber der im Himmel wohnt, lachet ihrer, und der Herr spottet ihrer. 5 Einst wird er mit ihnen reden in seinem Zorn, und mit seinem Grimm wird er sie schrecken: 6 »Ich aber habe meinen König eingesetzt auf meinem heiligen Berg Zion.«

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Psalm 2

7 Kundtun will ich den Ratschluss des Herrn. Er hat zu mir gesagt: »Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt. 8 Bitte mich, so will ich dir Völker zum Erbe geben und der Welt Enden zum Eigentum. 9 Du sollst sie mit einem eisernen Zepter zerschlagen, wie Töpfe sollst du sie zerschmeißen.« 10 So seid nun verständig, ihr Könige, und lasst euch warnen, ihr Richter auf Erden! 11 Dienet dem Herrn mit Furcht und küsst seine Füße mit Zittern, 12 dass er nicht zürne und ihr umkommt auf dem Wege; denn sein Zorn wird bald entbrennen. Wohl allen, die auf ihn trauen!

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armherziger Vater, danke für deinen Sohn, Jesus, der auf diese Welt kam, um unseren Schmerz und unsere Schuld ans Kreuz zu tragen. Der unsere Strafe trug. Der litt, damit wir nicht ewig leiden müssen, sondern die ­unaussprechliche Freude des Himmels mit dir erleben ­können. Wie dankbar bin ich dafür! Ja, du wirst deinem Sohn die Länder der Welt zum Erbe geben – Menschen aus allen Völkern, die an seinen Namen glauben. Und ich danke dir, Vater, für das Vorrecht, dass ich dazu beitragen darf! Bitte gib mir eine tiefe Leidenschaft dafür, anderen von Jesus zu erzählen – da, wo du mich ­hingestellt hast. Aber ich bitte dich auch für die Missionare, die in anderen Ländern deine kostbare Botschaft weiter­ geben: Beschütze sie vor aller Gefahr und schenke ihnen eine reiche Ernte, sodass viele Menschen zu dir finden, bis eines Tages alle Völker vor deinem Thron versammelt sind.

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Wochenende

Marias Loblied

Marias Loblied Ich freue mich so über Gott und alles, was er für mich getan hat. Ich möchte ihm zu Ehren ein Lied singen, denn er ist mein Retter. Gott hat sich von meiner Bedeutungslosigkeit nicht abschrecken ­lassen … Un­ endlich ist sein Erbarmen gegenüber denen, die ihm mit Ehrfurcht begegnen und ihn ernst nehmen. An­ ders geht es denen, die sich für großartig halten. Sie lässt er seine Macht spüren. Er holt die Tyrannen von ihrem Thron herunter, hebt dafür die Opfer auf und lässt sie zu Ehren kommen. Hungrige werden bei ihm satt; hartherzige Reiche dagegen gehen leer aus. Noch einmal kümmert er sich um Israel, sein auser­ wähltes Kind; er erinnert sich an das Erbarmen, das er unseren Vätern zugesagt hat, Abraham und seinen Nachkommen bis in Ewigkeit. Lukas 1,46–55 (WD)

Wochenende

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Wochenende

Gott dienen „Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!“ Jesaja 6,8

„Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.“

Gott dienen

Lukas 1,38

„Denn des Herrn Augen schauen alle Lande, dass er stärke, die mit ganzem Herzen bei ihm sind.“ 2. Chronik 16,9

„Alles, was ihr tut, das tut von Herzen als dem Herrn und nicht den Menschen, denn ihr wisst, dass ihr von dem Herrn als Lohn das Erbe empfangen werdet. Ihr dient dem Herrn Christus!“ Kolosser 3,23–24

„Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ Matthäus 6,24

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