WWW.LYDIA .NET
Persönlich. Echt. Lebensnah. D 12013 ISSN 0939-138X
2/2017 sfr 5,60 3,60 (A)
3,50
Vergebung ist der Schlüssel zur Freiheit Melanie Wolfers
Sehnsucht nach Stille
Essen macht die Seele nicht satt Lernen vom Rhythmus des Klosters
In der Tiefe glücklich und versöhnt leben
Auf den Spuren von
Lydia
Die Lebenswelt christlicher Frauen in Griechenland damals und heute
Leserreise nach Griechenland vom 6. bis 12. Mai 2018 Mit Chefredakteurin Ellen Nieswiodek-Martin
Die Purpurhändlerin Lydia gilt als erste Christin in Europa. Sie war die erste Frau auf dem europäischen Kontinent, die von dem Apostel Paulus getauft wurde. Lydia diente Gott mit ihrem offenen Herzen und ihrer Gastfreundschaft, setzte sich mit all ihren Möglichkeiten für die christliche Gemeinde ein und unterstützte die Missionsarbeit von Paulus. Bei der LYDIA-Leserreise begeben wir uns auf die Spuren dieser beeindruckenden Frau. Wir besuchen die Taufstelle von Lydia und erfahren Hintergründe über ihr Leben. Außerdem kommen wir in Kontakt mit vielen verschiedenen Frauen, die uns Einblick in den Alltag im heutigen Griechenland geben. Auf den Tagesausflügen im klimatisierten Reisebus lernen wir Griechenlands Landschaft und Kultur kennen. Ruinen längst vergangener Kulturen, weiß getünchte Fassaden, Wälder, Wie-
sen, Buchten und Klippen – verbringen Sie unvergessliche Urlaubstage und lernen Sie das Land kennen, von dem aus sich das Christentum in Europa ausbreitete.
Reisepreis pro Person im halben Doppelzimmer:
Eine ausführliche Reisebeschreibung inkl. Anmeldeformular erhalten Sie auf www.lydia.net und beim Lydia Verlag, Dillerberg 1, 35614 Asslar-Berghausen. E-Mail: reisen@lydia.net Tel.: 06443-6839 Reiseveranstalter: Lydia Verlag in Kooperation mit TOUR MIT SCHANZ, Sulzer Str. 118, 72218 Wildberg, Tel.: 07054-92650
Leserreise ab 20 Teilnehmern: 1340 Euro ab 35 Teilnehmern: reduziert sich der Preis auf 1145 Euro Einzelzimmerzuschlag: 140 Euro Der Reisepreis enthält Linienflüge, 6 Übernachtungen, Halbpension, Transfer zum Hotel und Flughafen, Eintrittsgelder, Ausflüge im klimatisierten Reisebus und Reiseleitung.
Highlights dieser Reise:
• Besichtigung kultureller Sehenswürdigkeiten in Thessaloniki, Philippi, Vergina und Veria • Besuch eines Frauenklosters mit Begegnungen • Schifffahrt im Ägäischen Meer entlang des Berges Athos • Besuch von Lydias Taufstelle in Kavala • Besuch einer evangelischen Gemeinde und der Frauenorganisation „Lydia“ in Thessaloniki • fakultativer Ausflug zu den Meteora-Klöstern mit Besuch einer Ikonenwerkstatt und Einblick in die Kunst der Ikonenmalerei
Ganz persönlich Ellen Nieswiodek-Martin Können wir etwas von den Ordensfrauen lernen? Können bewährte Traditionen, Rituale und Erfahrungen auch unseren Alltag und unseren Glauben bereichern?
Inspiriert vom Ordensleben Haben Sie schon einmal versucht, einem Grundschulkind zu erklären, was es mit der Reformation auf sich hat? Nachdem ich mit meiner Tochter die Wartburg in Eisenach besucht hatte, stellte sie mir viele Fragen. Wir haben besprochen, dass die Kirche zu Luthers Zeiten den Menschen Angst gemacht hat und sie sich vor Gott fürchteten. Und dass Martin Luther in der Bibel herausgefunden hat, dass Gott ein gnädiger und liebevoller Gott ist. Dass man sich nicht von den Sünden freikaufen kann und muss, denn das hat Jesus für uns getan. Als Redaktionsteam einer Frauenzeitschrift haben wir uns gefragt: Welche Veränderungen hat die Reformation eigentlich den Frauen gebracht? Viele Mädchen sind damals nicht freiwillig ins Kloster gegangen, sondern als Kinder von ihren Familien dorthin gebracht worden. Die klösterliche Erziehung hat nicht nur ihren Glauben, sondern auch ihr Weltbild geprägt. Als Martin Luthers Schriften gedruckt wurden und die Klöster erreichten, kehrten zahlreiche Nonnen dem Klosterleben den Rücken zu. Außerhalb der Klostermauern standen ihnen allerdings nicht viele Möglichkeiten offen – insbesondere dann, wenn sie nicht heiraten wollten oder konnten. Aber die Stellung der verheirateten Frauen wurde aufgewertet. Ab Seite 62 beschreibt die Autorin Ursula Koch die damalige Zeit aus der Sicht einiger Frauen. Wir wollten wissen, wie Ordensleben heute aussieht und was eine berufstätige Frau Mitte dreißig dazu bewegt, in einen Orden einzutreten. Und wir haben uns gefragt: Können wir etwas von den Ordensfrauen lernen? Können
bewährte Traditionen, Rituale und Erfahrungen auch unseren Alltag und unseren Glauben bereichern? Dazu haben wir die Salvatorianerin Melanie Wolfers in Wien besucht. Und einiges zum Nachdenken mitgenommen. Mir kam der Gedanke, selbst einige Tage im Kloster zu verbringen. Ich wollte Abstand zum Alltag gewinnen und herausfinden, ob mir ein bestimmter Ort dabei helfen kann, Gott näherzukommen. Ich bemühte mich, meine Erwartungen an diese Tage nicht zu hoch zu stecken, und genoss es, viel Zeit zu haben: zum Lesen und Nachdenken, zum Stillsein vor Gott und zum Beten. Mein Fazit: Ein Ort kann durchaus helfen, innerlich zur Ruhe zu kommen. Geistliche Übungen können es uns leichter machen, uns auf Gott auszurichten. Ob und wie Gott handelt, liegt nicht in unserer Macht. Aber in der Stille, fern von allen Ablenkungen, kann es leichter sein, Gottes leises Reden wahrzunehmen. „Wenn ihr mich sucht, werdet ihr mich finden. Ja, wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt, will ich mich von euch finden lassen“, hat Gott im Alten Testament versprochen ( Jeremia 29,13–14). Und wenn wir seine Nähe suchen, wird er uns näherkommen, steht im Neuen Testament in Jakobus 4, Vers 8. Diese Zusagen haben Bestand, darauf können wir uns verlassen – an jedem Ort der Welt. Ich wünsche Ihnen wertvolle Impulse beim Lesen dieser Ausgabe. Ihre
Ellen Nieswiodek-Martin
Lydia 02/2017
3
F o t o : C at h r i n e S t u c k h a r d / l a i f .
6 Sehnsucht nach Stille Interview mit Melanie Wolfers
50
Zwischendurchgedanken: Worte an eine unbekannte Mutter
40
Glaube & Lebenshilfe
Beruf & Gesellschaft
19 Sag mal, ... Fragen an Gomer
36 Große Herausforderungen und viel Gnade Unsere „besondere“ Tochter musste viele Schwierigkeiten überwinden, bis sie ihren Platz im Leben fand – Ingrid Witte
20 Katharina Stahl: Getragen von der Hoffnung – Ellen Nieswiodek-Martin 24 Hoffnung: Achtung ansteckend! Mit Gott im Krankenhaus – Anneli Österreich 54 Tiefer graben Der Weltveränderer Martin Vosseler 61 Unerwarteter Besuch Von verzweifelter Angst zu großer Hoffnung – Heiner Eberhardt
72 Heilige heute Was mein Hund mich lehrte Karen Ray • Kleiner Zettel – große Wirkung Anni Lindner • Schlaf und ganz viel Liebe Johanna Ceccon • Im Schmerz auch Glück erleben Dorothee Kowalke
Lydia 02/2017
{inhalt}
24
68 Meine Geschichte Die verlorene Tochter – Chrissy Cymbala Toledo
4
Lydia
38 Dem Tod entkommen Eine Organspende rettete meinem kleinen Sohn das Leben – Olga Löwen 40 Meine Meinung Würden Sie einen Organspendeausweis ausfüllen? Was ist Ihre Meinung dazu? 42 Organspende Ein Überblick über ein heikles Thema – Interview mit Prof. Dr. Christoph Raedel 62 Auf einmal kennt man ihre Namen Frauen in der Reformation Ursula Koch
16 12
Vergebung ist der Schlüssel zur Freiheit
58
14
Ehe & Familie
Körper & Seele
{ In jeder Ausgabe }
12 Mein neuer Rhythmus – Tun und Ruhen Als alleinerziehende Mutter lernte ich, einen klösterlichen Alltag zu führen – Paula Friedrich
14 Plötzlich blieb mir die Luft weg Panikattacken und eine Gebetserhörung – Sandra Klimm
3 Ganz persönlich Inspiriert vom Ordensleben – Ellen Nieswiodek-Martin
26 Ein Mann für jede Lebenslage Daniela Greiner 34 Worte an meine Tochter Was jedes Mädchen hören sollte Maggie Paulus 48 Die verschlossene Tür Was meine Kinder und ich mit Gebet erlebt haben – Katrin Schmidt 50 Zwischendurchgedanken Worte an eine unbekannte Mutter Saskia Barthelmeß 51 Begrenzt und getröstet Ulrike Schomerus 53 LYDIA-Familientipp Langweilige Ferien? Keine Spur! Ruth Weremchuk 79 „Du gehörst zu uns!“ Rebecca Dernelle-Fischer
16 Vergebung ist der Schlüssel zur Freiheit Mein Vater hat mich sexuell missbraucht – Esther Theumert
30 Liebe Leser 52 Schmunzeln mit LYDIA 58 LYDIA kreativ – Imke Johannson
28 Essen macht die Seele nicht satt Eine schockierende Erkenntnis, ein stummes Gebet und ein siegreicher Kampf – Lysa TerKeurst
66 Für Sie entdeckt
32 Mein Körper ist ein Geschenk – auch ohne Beine! – Interview mit Jen Bricker
81 Impressum
46 Identität Vom Workaholic zurück zum Kind Gottes – Teresa Adler
76 Gut informiert. Neu inspiriert. 80 Leserbriefe
82 Nachgedacht Ich erwarte, du erwartest, er wartet. – Désirée Gudelius
11
Der Tagesrückblick: Nahsehen statt fernsehen Lydia 02/2017
5
LY D I A
Interview mit Melanie Wolfers
Stille
Sehnsucht nach Stille In der Tiefe glücklich und versöhnt leben
Als junge Frau wollte sie Biologin, Ärztin oder Bio-Landwirtin werden.
Aber statt Karriere zu machen, gab Melanie Wolfers ihren Job an der Hochschule auf und trat in eine Ordensgemeinschaft ein. Dort arbeitet die Theologin mit jungen Menschen, bietet Seminare an und hat inzwi-
schen mehrere Bücher geschrieben. Im Gespräch mit LYDIA erzählt sie, warum sie sich für das Leben in einer Ordensgemeinschaft entschieden hat und warum es wichtig ist, Freundschaft mit sich selbst zu schließen.
Es gab in meinem Leben Erfahrungen, in denen ich in einer ganz großen Tiefe von Gott berührt worden bin. In mir ist die Sehnsucht gewachsen, Gott den ersten Platz in meinem Leben zu geben. Das ist natürlich in vielen verschiedenen Lebensstilen und Lebensformen möglich. Mich hat das Ordensleben fasziniert. Ich bin sehr überzeugenden Ordensmenschen begegnet, bei denen ich erfahren habe: Christin sein, Ordensfrau sein heißt, die Hände zu falten und die Ärmel hochzukrempeln. Anders gesagt: Aus dem Gebet und der Stille zu leben. Im Vertrauen auf Gott zu wachsen. Und die Welt zu gestalten in dem Maß, in dem ich es kann und soll. Ich hatte Sehnsucht danach, ein Leben zu führen, in dem die Stille einen wichtigen Platz
6
Lydia 02/2017
einnimmt und ich mit anderen und für andere lebe. Und so sieht unser Ordensleben aus: Wir versuchen, persönlich und gemeinschaftlich aus dem Gebet und aus der Beziehung mit Gott heraus unseren Alltag zu gestalten. Was haben Sie vorher gemacht?
Ich habe Theologie und Philosophie studiert, dann habe ich promoviert. Anschließend war ich in der Studentenseelsorge in München tätig und habe an der Hochschule gelehrt. Mit jungen Leuten zu arbeiten hat mich sehr glücklich gemacht. Ich habe mich gefühlt wie ein Fisch im Wasser. Wie kamen Sie in Kontakt mit den Salvatorianerinnen?
Der Wunsch, als Ordensfrau zu leben, wurde immer stärker. Damit tauchte die Frage auf, wo mein Platz ist. Den Salvatorianerinnen bin ich bei
F o t o s : C at h r i n e S t u c k h a r d / l a i f .
Frau Wolfers, Sie sind vor 13 Jahren in den Orden der Salvatorianerinnen eingetreten. Wie kam das?
Lydia 02/2017
7
Körper & Seele
Esther Theumert
Vergebung ist der Schlüssel zur Freiheit
Ich bin in einem strengen christlichen Elternhaus aufgewachsen. Mein Vater
Mein Vater hat mich sexuell missbraucht
war Pastor. Das war nicht immer leicht für mich. Ich hatte Angst vor Gott, denn ich dachte: „Wenn ich irgendetwas falsch mache, komme ich in die Hölle.“
D
as Motto meiner Kindheit hieß: immer hübsch brav sein, damit ich Gott nicht verärgere und in den Himmel komme. Vieles habe ich nicht verstanden. Ich durfte beispielsweise keine Hosen tragen, meine Haare nie kurz schneiden lassen, nicht fernsehen und keine Musik hören, die nicht von christlichen Interpreten war. Ich hätte in dieser Zeit niemanden ermutigen wollen, Christ zu werden, obwohl ich Jesus sehr liebte und ihm nachfolgen wollte. Doch dann passierte etwas, das mein Leben völlig aus der Bahn warf – mein Vater missbrauchte mich sexuell. Für mich brach eine Welt zusammen. Meine strenge Erziehung und ein Pastor, der von der Kanzel predigte: „Gott verbietet Sex außerhalb der Ehe“, und der dann selbst nicht danach lebte – was war das alles wert? „Gott, warum hast du das zugelassen?“, fragte ich fassungslos. „Wo warst du? Wie kann ein Mann, der auf der Kanzel dein Wort predigt, mir so etwas antun?“ Ich wollte mit Gott und meinem Vater nichts mehr zu tun haben. Mein Herz war tief verletzt. Als
16
Lydia 02/2017
der Missbrauch geschah, war ich vierzehn Jahre alt. Mit achtzehn verließ ich mein Elternhaus. Ich zog allein in eine andere Stadt und lebte mein Leben mehr schlecht als recht. Keinen Ausweg mehr Reden konnte ich mit niemandem über das, was passiert war. Ich schämte mich zu sehr, weil mein Vater ja Pastor war. Trotzdem suchte ich nach Liebe und Anerkennung und hatte viele Männerbekanntschaften. Ich heiratete recht schnell und bekam zwei tolle Jungs. Doch ich merkte, dass ich den Mann, den ich geheiratet hatte, nicht mehr lieben konnte. Ich konnte seine Berührungen nicht ertragen. Das tat mir leid, denn er war ein wunderbarer Vater. Ich tat ihm sehr weh, als ich mich scheiden ließ. Nichts klappte in meinem Leben. Ich war total unglücklich, rauchte und trank viel. Immer wieder lernte ich Männer kennen und trennte mich nach kurzer Zeit von ihnen. Manchmal spürte ich, wie Gott zu meinem Herzen sprach, doch ich versuchte, sein Reden zu verdrängen, weil ich so
enttäuscht von ihm war. Ich wollte seine Stimme nicht hören. Mit dreißig Jahren habe ich Tabletten geschluckt, um mich umzubringen. Ich fand mich selbst so schlecht – ich war keine gute Mutter, keine gute Ehefrau, ich hatte keine Berufsausbildung zu Ende gemacht. Ich fühlte mich wertlos. Doch dann kam ich zu mir. Ich spürte: Gott wollte nicht, dass ich mein Leben wegwarf ! Trotzdem ließ ich Jesus nicht an mich heran. In der Abwärtsspirale Drei Jahre später heiratete ich zum zweiten Mal und bekam noch einen Sohn. Jetzt wird alles gut!, dachte ich. Doch auch diese Ehe klappte nicht, schon nach kurzer Zeit konnte ich die Nähe meines Mannes nicht mehr ertragen und ließ mich scheiden. Heute weiß ich, dass ich damals unter starken Depressionen litt. Das Grundproblem war, dass ich meine Vergangenheit in jede neue Beziehung mitnahm. Ich wollte nicht über das reden, was geschehen war, war voller Wut und Hass. Ich wollte aber auch keine Therapie machen. Einmal ließ ich
mich dazu überreden und ging dreimal hin, doch dann brach ich die Therapie ab. Ich hatte eine riesige Mauer um mich herum aufgebaut. Niemand kam an mich heran. Da ich nicht allein sein konnte und wollte, lernte ich bald wieder einen Mann kennen und lieben und heiratete ein drittes Mal. Einen Tipp hatte mir der Therapeut mitgegeben: „Wenn Sie noch mal einen Mann kennenlernen, erzählen Sie ihm von Ihrer Vergangenheit, sonst geht die Beziehung wieder schief.“ Das tat ich dann auch und erzählte Bernd vor der Hochzeit von dem Missbrauch und meinen Männergeschichten. Er wollte mich trotzdem heiraten. Meine drei Jungs, die im Alter von 15, 12 und 5 Jahren waren, kamen mit Bernd sehr gut zurecht. Doch bald merkte ich, dass ich selbst wieder auf Abstand ging. Fängt das jetzt schon wieder an?, fragte ich mich verzweifelt. Es traf mich wie ein Schlag. Ich vergrub mich im Selbstmitleid, starrte nur die Wände an, war wütend, bitter, zornig auf Gott und meinen Vater. Ich funktionierte nur noch. Wenn meine Kinder aus der Schule und dem Kindergarten
kamen, versuchte ich, so gut es ging, ein Mittagessen zu kochen und mich mit ihnen zu beschäftigen. Sie taten mir schrecklich leid. In dieser Zeit weinte ich viel, weil ich ihnen keine gute Mutter sein konnte. Ich wusste keinen Ausweg. Doch eines wusste ich: Scheiden lassen wollte ich mich nicht noch einmal! Der Schlüssel zur Freiheit In meiner Not schrie ich zu Gott und besuchte eine christliche Gemeinde. Mein Mann kam mit. Dort sprach mich eine Frau an und meinte: „Esther, ich habe den Eindruck, du solltest zu einer Frauenkonferenz gehen. Hättest du Lust?“ Lust hatte ich keine, denn ich kannte dort ja niemanden. Trotzdem sagte ich Ja und fuhr hin. Ich war ganz in Schwarz gekleidet, hatte lange schwarze Fingernägel, war sehr aggressiv und negativ eingestellt. Unter all den anderen Frauen fiel ich sehr auf. Dann kam nach einem Vortrag die Einladung: „Wer Gott neu begegnen und sich Jesus neu öffnen möchte, soll nach vorn kommen.“ Ich ging tatsächlich nach vorn! Dort passierte etwas
Außerordentliches: Zuerst schrie ich all meine Wut, meinen Zorn und Hass heraus: „Gott, ich hasse meinen Vater, weil er mich sexuell missbraucht und mein Leben zerstört hat!“ Andere Frauen beteten mit mir und Gott berührte mein Herz. Er zeigte mir, dass er mich liebt, dass er mich nie alleingelassen hatte – auch nicht, als mir das passierte. Er sagte mir, dass ich sein geliebtes Kind bin und er mich heilen möchte. Es war eine geniale Erfahrung, Gottes Liebe so zu spüren. Mir liefen die Tränen übers Gesicht und ich war überwältigt. So etwas kann nur Gott machen, weil er die Liebe ist! Als ich wieder zu Hause war, war ich ein anderer Mensch. Ich las in der Bibel und betete viel. Doch ich merkte, dass noch nicht alles in Ordnung war. Gott zeigte mir dann auch, was es war. Eines Tages las ich wieder in der Bibel und stieß auf einen Vers, in dem es um Vergebung ging. Ich wollte mit meinem Vater nichts mehr zu tun haben, doch Gott zeigte mir ganz deutlich: „Esther, ich möchte, dass du zu deinem Vater gehst und ihm vergibst!“ Das traf mich wie ein Schlag. Damit hatte ich nicht gerechnet. Mein Vater hatte mir das doch angetan, warum musste ich jetzt zu ihm fahren? Ich wollte das nicht. Zwei Jahre lang ignorierte ich Gottes Reden – bis ich ziemlich am Boden war. Mein Leben und meine Ehe waren wieder ins Wanken geraten. Ich wusste, ich konnte Gottes Reden nicht länger verdrängen. Also bereitete ich mich auf eine Begegnung mit meinem Vater vor und fuhr zu ihm. Ich fühlte mich schrecklich, war furchtbar nervös. Doch als ich vor der Tür stand, staunte ich, wie ruhig ich war. Wir tranken zusammen Kaffee, dann sagte ich zu ihm: „Papa, du hast mich sexuell missbraucht. Du hast meine Seele getötet und mein Leben ruiniert. Doch hier und jetzt vergebe ich dir!“ Wow, das tat gut! Das machte mich innerlich frei.
Lydia 02/2017
17
Körper & Seele Lysa TerKeurst
Essen
macht die Seele nicht
satt
Eine schockierende Erkenntnis, ein stummes Gebet und ein siegreicher Kampf Ich rolle mich herum und schaue auf den Wecker. Hoffnungsvoll schlüpfe ich aus dem Bett und ziehe alles aus, was auch nur das kleinste Gewicht haben könnte, bevor ich auf die Waage steige. Vielleicht hat sich über Nacht der Fettanteil meines Körpers auf wundersame Weise verringert? Ich streife mein Haargummi ab – es wiegt sicherlich auch ein paar Gramm. Nein, meine Hoffnung erweist sich als trügerisch.
28
Lydia 02/2017
I
ch nehme mir fest vor, weniger zu essen, während ich in die Küche gehe. Aber dort schmelzen meine guten Vorsätze so rasch dahin wie die Zuckerglasur auf den Zimtschnecken, die meine Tochter gerade aus dem Ofen geholt hat. Mmm. Wer hört schon auf die Stimme der Vernunft, wenn es so wunderbar duftet! Zweieinhalb Zimtschnecken später beschließe ich, dass morgen ein viel besserer Tag ist, um meine Ernährung umzustellen. Da heute der letzte Tag ist, an dem ich essen darf, worauf ich Lust habe, sollte ich das ausnutzen. Noch eine Zimtschnecke, bitte. So geht es weiter – Tag für Tag. Mein ganzes Leben dreht sich ums Essen Dieser schreckliche Kreislauf, in dem ich gefangen bin, setzt sich fort. Ich wage es nicht, mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Wenn ich meinen Freundinnen von meinen Problemen erzähle, werden sie mir womöglich Vorwürfe machen, wenn ich mir das nächste Mal Käse-Nachos mit einer Extraportion Sour Cream bestelle … Aber ich weiß genau, dass sich etwas ändern muss. Es geht gar nicht so sehr darum, was die Waage anzeigt oder welche Kleidergröße ich trage, sondern um den Kampf in meinem Herzen. Mein ganzes Leben dreht sich viel zu sehr ums Essen. Genau deshalb fordert Gott mich auf, diesen Bereich unter seine Kontrolle zu stellen. Es ist für meine geistliche Gesundheit noch wichtiger als für meine körperliche Gesundheit. Ich muss mir selbst eine unangenehme Frage stellen: Kann es sein, dass Essen mir wichtiger ist als Gott? Tatsächlich musste ich mir eingestehen: Ich sehnte mich mehr nach Essen als nach Gott und glaubte, dass es mir mehr Trost spendete, als er es tun würde. Essen war meine Freude und mein Trost, die Belohnung, die ich mir nach einem harten Tag gönnte, und der Ausgleich für Stress und Frustration. Gott wollte nie, dass wir uns nach etwas anderem mehr sehnen als nach ihm. In der Bibel heißt es über die Israeliten, als ihnen Essen wichtiger war als Gott: „Sie forderten Gott heraus und verlangten von ihm die Speise, auf die sie gerade Lust hatten“ (Psalm 78,18). Was war die Folge? Diese Menschen durften nie das verheißene Land betreten.
Stattdessen mussten sie vierzig Jahre lang in der Wüste herumwandern. Ich persönlich möchte nicht in einer Wüste herumwandern müssen, weil ich Gott mit meinen Begierden herausfordere. Das Leben im Überfluss, das Gott für mich bereithält, möchte ich nicht verpassen. Als ich diesen Kampf aufnahm, wusste ich, dass er hart werden würde. Doch ich beschloss, mich von nun an auf Gott zu konzentrieren statt aufs Essen. Meine Strategie war folgende: Sobald ich Appetit auf etwas bekam, das nicht zu meinem Ernährungsplan gehörte, verstand ich dies als Aufforderung zum Gebet. Und da dies oft passierte, betete ich oft. Die Opferrolle verlassen Besonders schwer fiel es mir, meinen Ernährungsplan einzuhalten, wenn ich harte Zeiten durchmachte. So viele Dinge, die ich mir wünschte, schienen unerreichbar zu sein – außer den Keksen direkt vor meiner Nase. Und niemand hatte das Recht, mir diesen Genuss zu verwehren, oder? Mit solchen Argumenten rechtfertigte ich meine Entscheidungen oft vor mir selbst. Bis ich las, was Ruth Graham dazu meint: Entweder lassen wir uns zum Opfer machen oder wir ergreifen die Initiative. Oft ist es allerdings einfacher, in der Opferrolle zu verharren, als unsere Masken abzunehmen und um Hilfe zu bitten. Irgendwann haben wir uns so an unseren Opferstatus gewöhnt, dass er ein Teil unserer Identität geworden ist und wir ihn kaum aufgeben können. Die Israeliten sahen sich selbst oft als Opfer, und es beeindruckt mich, wie Gott sie dazu auffordert, ihre Einstellung zu ändern: „Lange genug habt ihr dieses Gebirge umzogen. Wendet euch nach Norden!“ (5. Mose 2,3). Wendet euch nach Norden! Es ist Zeit weiterzugehen. Selbstmitleid, Furcht, Stolz und Pessimismus können uns lähmen. Es erfordert Mut, unsere Masken abzunehmen, aber wenn wir es nicht tun, bleiben wir in unserer Opferrolle gefangen. In meinem Fall steht das Gebirge für meine Gewichtsprobleme und die Anhäufung negativer Gefühle, die mich in meiner Opferrolle bestärken. Was kann ich also tun, wenn ich weder den Wunsch verspüre
noch die notwendige Selbstbeherrschung aufbringe, mich gesund zu ernähren? Für mich beginnt es damit, dass ich Gott gegenüber ehrlich bin und ihn bitte, mir in der Beziehung zu ihm tiefere Erfüllung zu schenken. Das ist schwierig. Um meine Maske fallen zu lassen, muss ich ja zugeben, dass ich ein Problem habe, und das tue ich nicht gern. Wenn ich einräume, dass es ein Problem gibt, muss ich mich auf Veränderungen gefasst machen, und darauf habe ich keine Lust. Etwas zu essen verschafft mir eine viel schnellere Befriedigung. Es ist einfacher, mich mithilfe einer Handvoll Schokoladenkekse gut zu fühlen, als die Leere in meinem Herzen von Gott ausfüllen zu lassen. Wie gelange ich an den Punkt, an dem mir meine Beziehung zu Gott ein ebensolches Glücksgefühl verschafft wie all die Köstlichkeiten, nach denen ich mich sehne? Natürlich ist mir klar, dass ich beten sollte. Früher habe ich Folgendes gebetet, während ich mich vollgestopft habe: „Danke, Herr, für dieses Essen. Bitte mach, dass es meinem Körper guttut. Und könntest du vielleicht auf wundersame Weise bewirken, dass diese Cracker dieselbe chemische Zusammensetzung haben wie rohe Karotten?“ Solche Gebete waren ein Zeichen dafür, dass ich mich weiterhin im Kreis drehte. Um mich „nach Norden“ auszurichten, musste ich eine andere Gebetsstrategie finden. Vor einigen Jahren habe ich dann entdeckt, dass man auch beten kann, ohne ein einziges Wort zu sagen. Gebete ohne Worte Ich hatte einige absolut schreckliche Tage hinter mir und war so frustriert, dass ich, als ich beten wollte, einfach keine Worte fand. Ich starrte mit leerem Blick vor mich hin und blieb stumm. Da drang Gottes Stimme zu mir durch. Ich hatte den Eindruck, dass er zu mir sagte: „Lysa, ich weiß, wie sehr du dich danach sehnst, dass ich deine Lebensumstände verändere. Doch ich möchte mich stattdessen darauf konzentrieren, dich zu verändern. Denn ich weiß, dass du sogar unter den günstigsten Umständen nicht so eine tiefe Erfüllung finden würdest, wie ich sie dir schenken kann, indem ich deine Denkweise verändere.“
Lydia 02/2017
29
Beruf & Gesellschaft
Interview mit Prof. Dr. Christoph Raedel:
Organspende Ein Überblick über ein heikles Thema
Als wir unsere Leser baten, uns ihre Meinung zum Thema Organspende zu schreiben, erreichten uns viele Fragen und die Bitte nach sachlichen Informationen. So haben wir uns entschieden, Prof. Dr. Christoph Raedel zu interviewen. Als Leiter des Instituts für Ethik & Werte in Gießen beleuchtet er medizinische, rechtliche und theologische Aspekte des Themas.
Herr Raedel, wie kann man sich den Verlauf einer Organtransplantation vorstellen?
Die erste Voraussetzung für eine Organentnahme ist, dass zwei Ärzte unabhängig voneinander nach den Richtlinien der Bundesärztekammer den Hirntod feststellen. Definiert ist der Hirntod als Zustand der unumkehrbar erloschenen Gesamtfunktion von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm. Die für die Feststellung erforderlichen Untersuchungen können nur auf der intensivmedizinischen Station eines Krankenhauses vorgenommen werden. Übrigens handelt es sich bei den Personen, bei denen der Hirntod festgestellt wird, zu weniger als 20 Prozent um Unfallopfer. Bei vier von fünf Patienten hat die akute Hirnschädigung atraumatische Ursachen: Hirnblutungen, Hirntumore, Hirnentzündungen …
42
Lydia 02/2017
Ist der Hirntod aus Ihrer Sicht ein angemessenes Kriterium dafür, einen Menschen für tot zu erklären? Oder ist Sterben vielmehr ein Prozess, der nach dem Hirntod weitergeht?
Eine grundlegend wichtige Frage, denn gesetzlich ist die Organtransplantation an die Feststellung des Hirntods gebunden. Sie ist also ein medizinisches Kriterium, was etwas anderes ist als beispielsweise ein bestimmtes religiöses Verständnis vom Tod. Als Kriterium hat es sich jedoch weltweit durchgesetzt, auch wenn es zwischen den Staaten abweichende Procedere für die Feststellung des Hirntods gibt. Die Befürworter des Hirntodkonzepts argumentieren, dass die personale Identität an das Gehirn gebunden ist. Demnach gewährleistet das Gehirn die Integration des Organismus zu einer leib-seelischen Ganzheit. Mit dem Ausfall des Gehirns endet das integrierte Wechselspiel der Organe. Dass sich bei hirntoten Patienten bestimmte Vitalfunktionen wie Atem, Herzschlag und Stoffwechsel aufrechterhalten lassen, ist nicht mehr eine Leistung des Organismus, sondern der medizinischen Apparate. Das bedeutet: Es muss zwischen dem Tod des Menschen und dem Erlöschen sämtlicher Vitalfunktionen in allen Teilen des Körpers unterschieden werden – und genau diese Unterscheidung ermöglicht es, so paradox das klingen mag, Hirntoten lebendige Organe zu entnehmen, die im Empfänger dann fortleben.
Es gibt zahlreiche Kritiker des Hirntodkonzepts …
Kritiker sagen: Es gibt nicht ein einzelnes Organ, das den Organismus als Einheit integriert, sondern diese Leistung wird erst durch das Zusammenspiel des gesamten Organismus erbracht. Die Kritiker verweisen auch gerne darauf, dass historisch die Durchsetzung des Hirntodkriteriums mit dem Anliegen verknüpft war, Organtransplantationen rechtlich zu ermöglichen. Vor allem aber betonen sie, dass Sterben ein Prozess ist. Wenn man das Zusammenspiel aller Organe für die personale Identität des Menschen betont, dann handelt es sich bei „Hirntoten“ eigentlich um Menschen, die einen „totalen Hirninfarkt“, wie Josef Seifert es ausdrückt, erlitten haben. Sie sind in einer unumkehrbaren Phase des Sterbeprozesses, aber noch am Leben. Ihr Herz schlägt, die Organe werden durchblutet, der Brustkorb hebt und senkt sich beim Atmen, gebrochene Knochen können heilen, eine Schwangerschaft kann weitergehen. Die Konsequenz lautet: Der Patient stirbt nicht an der Hirnschädigung, sondern an der Organentnahme. Ist das Hirntodkriterium Ihrer Meinung nach hinreichend zuverlässig?
Im Sinne einer Übereinkunft, dass dieser Patient medizinisch die Voraussetzungen für eine Organtransplantation erfüllt, ja. Aber die Medizin entscheidet nicht allein
darüber, was Menschen unter Sterben und Tod verstehen. Dafür sind auch kulturelle und religiöse Vorstellungen von Bedeutung. Deshalb gibt es selbst unter Befürwortern der Organspende an diesem Punkt Uneinigkeit: Für wen der Hirntote ein Verstorbener ist, für den ist Organspende in der Regel kein Problem. Wer stattdessen vom unumkehrbaren Hirninfarkt spricht, wird sagen: Dieser Patient befindet sich in der finalen Sterbephase. Er konnte aber vorab seine Zustimmung dazu geben, dass ihm Organe entnommen werden und er daran stirbt. Das Problem ist hier, dass damit die Regel aufgegeben würde, Lebenden keine für sie selbst lebensnotwendigen Organe zu entnehmen. Ein dritter Weg wäre, in einer Patientenverfügung zu bestimmen, dass nur bestimmte Organe (beispielsweise eine der zwei Nieren), an deren Entnahme der Mensch nicht stirbt, entnommen werden dürfen. Kehren wir zum Ablauf einer Organtransplantation zurück. Was geschieht nach der Feststellung des Hirntods?
Bei ununterbrochener künstlicher Beatmung wird durch weitere Untersuchungen festgestellt, ob der Hirntote als Spender infrage kommt oder nicht, denn es dürfen nur gesunde Organe oder Gewebe übertragen werden. Im positiven Fall erfolgt eine Meldung an den zuständigen Koordinator der Deutschen Stiftung Organtransplanta-
tion, der für den gesamten weiteren Prozess wichtig ist. Die Angehörigen werden nun zum Gespräch gebeten, um den geäußerten oder mutmaßlichen Willen des Hirntoten im Blick auf eine mögliche Organspende zu erkunden. Angehörige erleben dieses Gespräch oft als belastend, müssen sie doch die Todesnachricht verarbeiten und befinden sich gerade in einer tiefen Trauer- oder Schockphase. Was auch schwierig ist: Der Hirntote, der ja weiter beatmet wird, zeigt nicht die typischen Todesanzeichen: Erkalten, Erstarren, Totenflecken auf der Haut … Diese treten erst ein, wenn die Maschinen abgeschaltet werden. Gerade dann werden die Angehörigen dem Verstorbenen nicht nahe sein können, da sie bei der Organentnahme natürlich nicht anwesend sein dürfen. Angehörige von Organspendern haben also keine Möglichkeit, den Patienten in der Phase zwischen dem medizinisch bezeichneten Hirntod und dem durch Eintreten der Todesanzeichen für die Angehörigen erfahrbaren Tod durchgängig zu begleiten und ihm nahe zu sein. Wie viel Zeit haben die Angehörigen, um eine Entscheidung zu treffen, wenn der Sterbende keinen Organspendeausweis und keine Patientenverfügung hat? Und welche Angehörigen entscheiden?
Was die Angehörigen angeht, ist die Rangfolge klar festgelegt: Erst der Ehepartner, dann volljährige Kinder, dann Eltern
oder eine als Vormund bestellte Person, dann volljährige Geschwister. In jedem Fall ist die Voraussetzung, dass in den letzten zwei Jahren ein persönlicher Kontakt zum Verstorbenen bestand. Die unvermeidliche Nötigung der Situation liegt darin, dass die Entscheidung im Gespräch fallen muss. Denn für die Organentnahme gibt es ein Zeitfenster von drei bis sechs Stunden – je nach Organ. Und die Operation muss vorbereitet werden. Welche Rechte haben die Angehörigen? Was können sie tun, wenn sie das Gefühl haben, dass Druck auf sie ausgeübt wird?
Rechtlich gilt: Die entscheidungsbefugte Person hat bei ihrer Entscheidung den früher geäußerten oder den mutmaßlichen Willen des Hirntoten zu beachten. Ist dessen Wille nicht zu ermitteln, dann muss der entscheidungsbefugte Angehörige nach seinen eigenen Wertvorstellungen entscheiden. Dieser schmerzhafte Gesprächsgang wird dadurch erleichtert, wenn der Wille des Hirntoten in dieser Frage bekannt ist. Von daher empfiehlt sich das Tragen eines Organspendeausweises, alternativ eines Nichtspendeausweises oder das Abfassen einer Patientenverfügung. Existieren diese Dokumente nicht, müssen die Angehörigen die Entscheidung treffen. Wenn moralischer Druck auf die Angehörigen ausgeübt wird, verhindert das, dass sie eine authentische Entscheidung treffen können.
Lydia 02/2017
43
Chrissy Cymbala Toledo
Die verlorene Tochter Die Geschichte einer jungen Frau, die vor Gott davonlief und in seinen Armen landete
I
ch lief neben meinem Vater durch den New Yorker Stadtteil Brooklyn. Ich war vier Jahre alt. „Papa, mein Schuh ist offen!“ Er ließ meine Hand los und ich bückte mich. Ich lächelte, als ich meine leuchtend roten Schuhe sah. Ich liebte diese Schuhe mehr als alle Spielsachen, die ich besaß. Sorgfältig band ich meine Schnürsenkel zu einer Schleife. Mit elf Jahren begann ich mich für Mode zu interessieren. Ich las Modezeitschriften und kleidete mich nach dem neuesten Trend. Aber die Beschäftigung mit diesen Zeitschriften tat mir nicht gut. Denn wie konnte ich jemals so vollkommen sein wie die darin abgebildeten Mädchen? Als ich etwa dreizehn war, ging es los mit den Stimmen in meinem Kopf. „Chrissy, du siehst schon richtig weiblich aus. Wirklich umwerfend. So hübsch!“, hörte ich, kaum dass ich im Bad vor dem Spiegel stand. Wo kamen diese Gedanken her? Aus meinem Kopf ? Aus dem Spiegel? Ich trat näher an mein Spiegelbild. „So geht das nicht, Chrissy, das muss besser werden“, ging das Flüstern in meinem Kopf weiter. Ich gehorchte. Mehr Make-up. So. Jetzt war es gut. „Nein, das sieht nach nichts aus.“
68
Lydia 02/2017
Der Spiegel tyrannisierte mich. Immer kam die gleiche Botschaft: „Du musst perfekt sein.“ Rund um die Uhr fragte ich mich: Bin ich gut genug? Wird mich jemals ein Mann haben wollen? Kaum tauchten diese Fragen auf, brachen die Selbstzweifel über mich herein. War ich unterwegs, zückte ich den Taschenspiegel. Zu Hause eilte ich ins Bad. Wenn diese Gedanken kamen, musste ich sofort mein Aussehen überprüfen. Süchtig nach Bewunderung Unsere Gemeinde hatte mehrere tausend Mitglieder, und als Tochter des Pastors fand ich einige Beachtung. An einem Sonntag wartete ich auf der Empore ungeduldig auf das Ende des Gottesdienstes. Das Kleid, das ich trug, war neu. Schnell prüfte ich, ob die Naht an meinen transparenten schwarzen Strumpfhosen hinten gerade verlief. Meine Schuhe waren die absolute Krönung meines Outfits: Ich trug schwarze Wildleder-Pumps mit Goldkanten und Schnallen. Papa sprach den Segen, während ich mich für meinen Auftritt bereit machte. Ich griff nach meiner Handtasche und versteckte mein Gesicht hinter einer Hand, als würde ich beten. Mit der anderen Hand öffnete ich leise die Tasche, schaute prüfend in den Spiegel und zog den Lippenstift nach. Noch ehe
Foto: Andre w Collings,
copyright
Š 2012. A l l
rights reserved.
Meine Geschichte
Lydia 02/2017
69
D 1 2 0 1 3 / Post ver triebsstück/Gebühr bezahlt/Lydia Verlag/Ger th Medien GmbH/Dillerberg 1/D -35614 Asslar-Berghausen
Immer wieder Wellen glätten Konflikte lösen Liebe schenken
Grenzen setzen
Tränen trocknen
hundertmal das Gleiche sagen umsorgen und helfen
vertrauen und hoffen
loslassen und Gott übergeben Helena Gysin