Lydia (Ausgabe 3/2017) - 448908

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Persönlich. Echt. Lebensnah. D 12013 ISSN 0939-138X

3/2017 sfr 5,60  3,60 (A)

 3,50

Pferde sind wie ein Spiegel LY N N E H Y B E L S

Aussteigen aus dem Hamsterrad Petra Pientka

Den inneren Akku aufladen – aber wie? A S E N E TA

„Ich habe dem Mörder meines Mannes vergeben“

Mein Beruf ist meine Berufung



Ganz persönlich Ellen Nieswiodek-Martin Jesus hat sich oft gegen die damals üblichen Normen und die Erwartungen der Pharisäer gestellt. Aber immer ist er dabei den einzelnen Menschen mit Liebe begegnet.

Gegen den Strom schwimmen Als meine Kinder kleiner waren, habe ich im Kindergottesdienst meiner Gemeinde mitgearbeitet. Eines der Lieder, die wir damals gesungen haben, war: „Sei ein lebendger Fisch, schwimme doch gegen den Strom“ von Margret Birkenfeld. Vor allem die jüngeren Kinder haben enthusiastisch mitgesungen, weil sie die Bewegungen dazu so gerne mochten. Was das bedeutet, was sie singen, haben sie vermutlich nicht verstanden. Wie anstrengend es ist, gegen einen großen Strom zu schwimmen, habe ich einige Jahre später erlebt. Damals waren wir an einer Badestelle im Rhein. Zwischen langen Buhnen aus betonierten Steinen war das Flussufer flach und das Wasser hatte kaum Strömung. Als ich aber zum Ende eines Steinwalls schwamm und ihn umrunden wollte, bekam ich zu spüren, wie stark die Strömung dieses großen Flusses war. Zurück konnte ich nicht mehr, der Sog zog mich mit. Ich kämpfte mit aller Kraft, um wieder Richtung Ufer zu kommen. Zeitweise schien es, als ob ich es nicht schaffen würde. Es kostete mich viel Kraft und Ausdauer, bis ich wieder Boden unter den Füßen hatte. Wenn man im Beruf oder gesellschaftlichen Umfeld gegen „den Strom“, also gegen die Erwartungen, Trends oder die Meinung der Mehrheit „schwimmen“ will, kostet das viel Kraft und Mut. Man kann so etwas nur durchhalten, wenn man die starke Überzeugung hat, das Richtige zu tun. So wie der Chefarzt einer Klinik in Norddeutschland: Der Gynäkologe hatte beschlossen, dass in seiner Abteilung keine Schwangerschaftsabbrüche nach der Beratungsregelung mehr durchgeführt werden sollten. Seine Begründung: Er könne Abtreibungen nicht mit seinem christlichen Glauben vereinbaren, für ihn gelte das biblische Gebot „Du sollst

nicht töten“. Die Klinikleitung stellte sich zuerst hinter ihn. Aber die Meldung schlug hohe Wellen in den Medien und der Öffentlichkeit. Der Arzt und die Klinik wurden heftig kritisiert. Es endete so, dass die Klinikleitung bekannt gab, als „weltanschaulich neutrale Einrichtung“ auch weiterhin Abtreibungen durchzuführen. Der Arzt kündigte. Auch unsere Autorin Gisela Bouwer wollte nicht bei Schwangerschaftsabbrüchen am Operationstisch assistieren. Für das Gespräch mit ihrem Chef hat sie viel Mut gebraucht, um zu ihrer Überzeugung zu stehen. Überraschenderweise zeigte der Chef Verständnis für ihre Haltung und sie verlor nicht – wie zuvor befürchtet – ihre Stelle (Seite 15). In verschiedenen Arbeitsbereichen und Branchen geraten Frauen in ethische Konflikte zwischen ihrem Glauben und so manch gängigen Methoden und Praktiken. Wir wollen Ihnen Mut machen, in Beruf und Gesellschaft für die christlichen Werte einzustehen, auch wenn das immer schwieriger zu werden scheint. Jesus hat sich oft gegen die damals üblichen Normen und die Erwartungen der Pharisäer gestellt. Aber immer ist er dabei den einzelnen Menschen mit Liebe begegnet. Das nehme ich mir zum Vorbild und hoffe, dass diese Ausgabe Ihnen dazu hilfreiche Impulse bietet. Ihre Ellen Nieswiodek-Martin PS: Ab der nächsten Ausgabe erhöht sich der Preis für ein LYDIA-Abo auf 14 Euro im Jahr zzgl. Versandkosten. Wir bitten um Ihr Verständnis!

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6 F OTO : T I M O S C H E V E N

„Mein Beruf ist meine Berufung“ Interview mit Fritzi Bimberg-Nolte und Petra Pientka

62 Wie Gott meine Lebenspläne umnähte

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Glaube & Lebenshilfe

Beruf & Gesellschaft

19 Der Blick zum Himmel Wie Gott mich tröstete, als meine Oma starb Birgit Ortmüller

12 „Nicht zu diesen Bedingungen“ Frauke Kiwitt

32 Tiefer graben Persönliche Reformation – Sabine Bockel 35 Sag mal, ... Fragen an Syntyche 36 Wort-Schätze der Bibel Gnade Debora Sommer

68 Meine Geschichte „Ich habe dem Mörder meines Mannes vergeben“ Aseneta Cvorovic 72 Heilige heute Alle meine Autos Gabriele Berger-Faragó • In der Sackgasse Daniela Gäbel • Fingerzeige vom Himmel Susann Burkhardt • Beten statt schimpfen Bianca Wagener

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{inhalt}

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54 Gottes Pinselstriche in meinem Leben Wie mein Traum vom Malen Wirklichkeit wurde – Birgit Steinert

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Lydia

14 Meine Meinung Waren Sie schon einmal im Konflikt zwischen Ihrer christlichen Überzeugung und den Erwartungen in Ihrem Umfeld? 15 Wie sage ich`s meinem Chef? Gisela Bouwer 16 Zu Hause alt werden – geborgen und professionell versorgt – Interview mit Uta Kümmerle 24 Wenn Hoffnung aus dem Boden wächst – Interview mit Tony und Liz Rinaudo 28 Vom indischen Dschungel zur Lydia – Christoph Zehendner 38 Augen auf und durch! Als Missionsschwester im Auslandseinsatz Erna Weimar 62 Wie Gott meine Lebenspläne umnähte – Interview mit Sylvia Hill


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Pferde sind wie ein Spiegel

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Ehe & Familie

Körper & Seele

{ In jeder Ausgabe }

42 Chronisch krank – aber voll ehetauglich! – Kerstin Wendel

20 Aussteigen aus dem Hamsterrad Eine Reise von persönlicher Zerbrochenheit hin zu leidenschaftlichem Dienst – Interview mit Lynne Hybels

3 Ganz persönlich Gegen den Strom schwimmen – Ellen Nieswiodek-Martin

23 Den inneren Akku aufladen – aber wie? – Carolin Schmitt

60 LYDIA kreativ – Imke Johannson

30 Bereit für den Abschied? Sefora Nelson

76 Gut informiert. Neu inspiriert.

50 Zwischendurchgedanken Vanillepudding mit viel Liebe Saskia Barthelmeß

56 Pferde sind wie ein Spiegel Wie Tiere unserer Seele helfen können, gesund zu werden – Siglinde Bender

81 Impressum

51 LYDIA-Familientipp Kinder um Vergebung bitten Antje Bernhardt • Das „Ich-sag-dir-etwas-Nettes“-Spiel Beate Simon

59 Mein Wunschhund – Anita Fröhlich

46 Vogel im Sturm Wie mein Mann und ich in Zeiten der Arbeitslosigkeit Vertrauen lernten – Sibylle Hardt 48 Unser geliebtes Übungskind Meine Erlebnisse als Bereitschaftspflegemutter – Marita Müller

40 Liebe Leser

66 Für Sie entdeckt

80 Leserbriefe

82 Nachgedacht Ein Wunder Gottes Ann-Helena Schlüter

52 Schmunzeln mit LYDIA 53 Die verrutschte Krone Inka Hammond

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Gottes Pinselstriche in meinem Leben Lydia 03/2017

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Interview mit Fritzi Bimberg-Nolte und Petra Pientka

, Mein Beruf ist meine Berufung

,

Fritzi Bimberg-Nolte leitet seit 66 Jahren die Autohausgruppe Gebrüder Nolte in Iserlohn. Seit 23 Jahren teilt sie sich die Leitung des Unternehmens mit ihrer Tochter Petra Pientka. Die beiden Frauen sind für neun Autohäuser und rund zweihundert Mitarbeiter verantwortlich, davon 40 Auszubildende. Wie die Zusammenarbeit zwischen Mutter und Tochter klappt und wie sie ihren christlichen Glauben als Unternehmerinnen im Alltag leben, erzählen die beiden im

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Frau Bimberg-Nolte und Frau Pientka, Sie sind beide in das Familienunternehmen hineingeboren. Wollten Sie schon immer im Betrieb der Eltern arbeiten?

Sie waren eine sehr junge Chefin in einem männerdominierten Betrieb. Haben die Angestellten Sie ernst genommen?

Fritzi Bimberg-Nolte: Ich habe eine Ausbildung in einem Autohaus in Hamburg gemacht und danach meinen Vater im Betrieb unterstützt. Als mein Vater starb, war ich 23 Jahre alt. Damals habe ich die Leitung übernommen. Ich wollte den Familienbetrieb erhalten. Die Großeltern hatten das Fundament gelegt, der Vater hat daraus seine Firma gegründet. Nun war ich an der Reihe. Erst später haben meine Schwester und mein Mann die Firmenleitung ergänzt.

Fritzi Bimberg-Nolte: Die haben mich manchmal für dumm verkaufen wollen. Aber das haben sie bald gelassen. Petra Pientka: Meine Mutter war immer sehr tüchtig und fleißig. Das haben die Mitarbeiter gesehen. Und sie war sich nicht zu schade, selbst anzufassen. Solche Dinge sprechen sich schnell herum: Die Chefin hat Ahnung und kümmert sich. Das verschafft Respekt.

F OTO S : T I M O S C H E V E N

Gespräch mit LYDIA.


LY D I A

Interview

Wie war der Weg bei Ihnen, Frau Pientka? Hatten Sie mal andere Pläne?

Petra Pientka: Es gibt da eine Anekdote. Als einer unserer Verkäufer mich vom Kindergarten abholte, fragte er: „Na, Kleine, was willst du denn werden, wenn du groß bist?“ Da soll ich gesagt haben: „Chefin, wie meine Mama!“ Haben Sie das eher als Ermutigung oder als Druck erlebt?

Petra Pientka: Für mich stand es lange Zeit außer Frage, dass ich später in die Firma gehe. Das hat mir Zutrauen

gegeben. Als Kind hatte ich oft Minderwertigkeitsgefühle und habe mich unter Gleichaltrigen nicht so frei gefühlt. In der CVJM-Jungschar habe ich begonnen, täglich in der Bibel zu lesen. Als ich später in England BWL studiert habe, kam zum ersten Mal die Frage auf: Was ist wirklich mein Weg? Wo will Gott mich haben? Ich habe dann in Oxford zusätzlich Theologie studiert und ernsthaft überlegt, hauptamtlich für eine christliche Organisation zu arbeiten. Als ich mich in der Studentenmission engagiert habe, wurde ich oft gebeten, Gruppen oder Projekte zu organisieren. Immer wieder stieß ich auf die Themen Leitung,

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Körper & Seele Interview mit Lynne Hybels

AUSSTEIGEN aus dem HAMSTERRAD

F OTO S : P R I VAT

Eine Reise von persönlicher Zerbrochenheit hin zu leidenschaftlichem Dienst

Lynne Hybels war 23 Jahre alt, als sie und ihr Mann Bill die „Willow Creek Community Church“ gründeten. Heute hat die Gemeinde 24.000 Mitglieder und ist weltweit mit anderen Gemeinden vernetzt. Lynne erzählt, wie sie nach einer tiefen Krise gelernt hat, die Gaben und Stärken zu gebrauchen, die Gott ihr geschenkt hat.

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Lynne, in deinem Interview in LYDIA 1/1998 hast du erwähnt, dass du durch eine körperlich und seelisch schwierige Zeit gegangen bist. Was ist passiert?

Nach fünfzehn Jahren als Pastorenfrau erlebte ich 1990 eine emotionale und geistliche Krise. Jahrelang hatte ich gegen Depressionen gekämpft. Schließlich wurde die Depression übermächtig. Ich wollte morgens nicht mehr aufstehen. Ich hatte keine Kraft für einen weiteren Tag. Viele Jahre hatte ich so gelebt, wie ich glaubte, dass es die Menschen in meiner Gemeinde von mir erwarteten,


und wie ich dachte, dass Bill und die Kinder es bräuchten. Dabei gewöhnte ich mir einen Lebensstil an, der sich auf Gaben und Stärken konzentrierte, die ich überhaupt nicht hatte: Verwaltung, Organisation, Achten auf Details. Ich hatte weder Zeit noch Energie für meine wahren Stärken und Leidenschaften: Schreiben, Beziehungen, Unterscheidungsvermögen und Barmherzigkeit. Ich lebte in einem Tempo, das für meinen Mann genau richtig war, aber für mich viel zu schnell. Mein Leben spielte sich weitaus mehr in der Öffentlichkeit ab, als ich verkraften konnte. Und es bot weder Zeit noch Raum für die Stille und Abgeschiedenheit, nach der meine Seele sich sehnte. Ich war voller geistlicher Zweifel und Fragen. Aber ich hatte Angst, dies zuzugeben. Mein Mentor ermutigte mich, aus dem Hamsterrad auszusteigen, zu dem sich mein Leben entwickelt hatte. Er überzeugte mich davon, langsamer zu machen. Was ich dringend brauchte, war, mich von heilsamer Stille umhüllen zu lassen.

te Seele. Später spürte ich seinen Ruf zum barmherzigen Handeln in der Welt. Anders gesagt: Als ich Anfang vierzig war, kam ich an einen Punkt tiefster Zerbrochenheit. Dort fand ich Jesus, der mir seine Liebe zeigte und mich zu einem Weg behutsamer Heilung einlud. Als ich dann nicht mehr in den Vierzigern, sondern in den Fünfzigern war, spürte ich, wie Jesus meinen Blick von meiner eigenen Zerbrochenheit weg hin zu der Zerbrochenheit der Welt lenkte.

FRAUEN

haben das größte ungenutzte Potenzial der Welt.

Gewalt erreicht ein vorher nicht gekanntes Ausmaß. Menschenhandel nimmt zu, Krankheiten breiten sich aus und Traumata aufgrund von Verlust und Unterdrückung werden übermächtig. Am verletzlichsten sind die Flüchtlinge, die um ihr Leben bangen. Ich bin dankbar für die Zusammenarbeit mit Organisationen in Syrien, Jordanien, im Irak, im Libanon und in der Demokratischen Republik Kongo. Sie bieten notleidenden Familien im Namen und in der Liebe Jesu Hoffnung und Hilfe an: durch Nahrungsmittel und medizinische Versorgung, durch Traumatherapie und Möglichkeiten eines dauerhaften Einkommens. Nicht jede von uns kann in diese Länder reisen – wie können wir helfen?

Frauen in Kriegsgebieten sind die verletzlichsten. Ein gewaltsamer Konflikt kann

Ich kann ehrlich sagen, dass mein Dienst immer von dem geprägt war, was mir das Herz gebrochen hat. Von den Geschichten, die mir spontan die Tränen in die Augen getrieben haben. Deshalb ist meine Empfehlung: Schau dir an, was dir das

alles zerstören – vom Körper eines winzigen Babys bis hin zur gesamten Infrastruktur eines Landes. Wenn Krieg herrscht, verschlimmert sich Armut auf dramatische Weise, Bildung wird zu einem unerreichbaren Luxus und geschlechtsspezifische

Herz bricht. Dann überlege, was dir in der gegenwärtigen Lebensphase möglich ist. Als junge Mutter konnte ich nicht so viel reisen wie jetzt, aber ich konnte Spenden für Organisationen sammeln, die im Ausland tätig waren; ich konnte schreiben

Heute engagierst du dich in verschiedenen Projekten für Frauen weltweit. Was ist die größte Not, die du siehst?

Was würdest du im Rückblick anders machen?

Viele Jahre lang fühlte ich mich frustriert und depressiv. Aber ich redete mir ständig ein, dass ich so nicht fühlen sollte. Ich sollte mehr beten und mehr in der Bibel lesen. Ich sollte dankbarer für mein Leben sein, so, wie es war. Im Rückblick ist mir klar, dass Frustration und Depression eine Folge davon waren, dass ich meine wahren Bedürfnisse, Gaben, Leidenschaften und meine Berufung ignoriert hatte. Als ich meine Gefühle ehrlich vor Gott brachte, half er mir, mein Leben zu ordnen. Natürlich gab es auch Bereiche, in denen ich egoistisch war. In diesen Bereichen war es nötig, geistlich zu wachsen und reifer zu werden. Was genau hast du verändert, um gesund zu werden?

Ich habe nur noch das Nötigste gemacht und Verantwortlichkeiten so weit wie möglich reduziert. Das hat es mir ermöglicht, eine Zeit der Heilung und Wiederherstellung zu erleben. Das Wichtigste war: Ich habe Gott und den Glauben neu entdeckt, als ich mich auf die Lehren Jesu konzentrierte. Bei Jesus fand ich einen Ruheort für meine erschöpf-

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Wort-Schätze der Bibel

Gnade

Debora Sommer

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er in der Bibel liest oder einen Gottesdienst besucht, kommt früher oder später mit dem Begriff Gnade in Berührung. Was ist damit gemeint? In Apostelgeschichte 20,24 erzählt Paulus von seinem Lebensauftrag, „allen Menschen die gute Nachricht von Gottes Gnade zu bringen“. Gottes Gnade wird hier als Herzstück des christlichen Glaubens vorgestellt. Gnade im Alltag Um besser zu verstehen, was göttliche Gnade ist, schauen wir uns zunächst an, wie der Begriff Gnade in unserer alltäglichen Sprache gebraucht wird. Wir verwenden ihn in einem doppelten Sinn: Einerseits beschreibt Gnade die wohlwollende Haltung einer höher gestellten Person oder Organisation gegenüber einer niedriger gestellten. Dies zeigt sich an Wendungen wie: „Es hängt von der Gnade der Behörden ab.“ Andererseits beschreibt Gnade ein nachsichtiges Verhalten, wenn jemand eigentlich eine Strafe verdient hätte. Wenn zum Beispiel ein Kind trotzig ist und nicht auf seine Eltern hört und sie „Gnade walten lassen“, dann heißt das, der Vorfall bleibt ungestraft, obwohl Konsequenzen durchaus angemessen gewesen wären. In beiden Fällen bedeutet Gnade, dass jemandem etwas zugestanden wird, worauf er oder sie keinerlei Anspruch erheben kann. Noch deutlicher wird dies in dem Begriff Begnadigung. Von einer Begnadigung spricht man dann, wenn eine rechtskräftig verhängte Strafe abgemildert oder ganz erlassen wird. Wie der Volksmund sagt, ergeht dann „Gnade vor Recht“. Eine Begnadigung kann einem gescheiterten Leben eine unerwartete und hoffnungsvolle Neuausrichtung geben. Gnade in der Bibel Um einen unverdienten Neuanfang und unerwartete Hoffnung geht es auch im biblischen Verständnis von Gnade. Dennoch ist die biblische Bedeutung von Gnade komplexer. In der Bibel begegnet uns der Begriff Gnade an unterschiedlichen Stellen und meint nicht immer dasselbe. Die Bibel wurde ursprünglich auf Hebräisch und

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Griechisch geschrieben. Schaut man sich die Begriffe an, von denen das deutsche Wort „Gnade“ abgeleitet ist, fällt auf: Gnade ist nicht gleich Gnade. Die Bedeutung von Gnade ist facettenreich und reicht in den Ursprachen von Anmut, Lieblichkeit, Wohlwollen, Fürsorge, Dank bis hin zur Freude – um nur einige Beispiele zu nennen. Welche Bedeutung gemeint ist, erschließt sich aus dem Zusammenhang. Aus dieser Fülle von Bedeutungen greife ich zwei wesentliche Aspekte heraus. Gnade ist Gottes unverdientes Geschenk an mich Während Gnade im alltäglichen Sprachgebrauch das Verhalten von Menschen untereinander beschreibt, steht Gnade nach dem christlichen Verständnis für etwas, das von Gott ausgeht und in unser Leben hineinwirkt. Er erweist uns Menschen seine Gnade, indem er immer wieder liebevoll und heilsam eingreift und die Dinge für uns zum Guten wendet. In der Bibel meint Gnade deshalb in erster Linie ein unverdientes Geschenk von Gott an uns Menschen. Ein Geschenk, das wir nur dankend empfangen können, denn es steht uns eigentlich nicht zu. Im Laufe unseres Lebens machen wir immer wieder Fehler. Selbst wenn wir uns noch so sehr bemühen, ein Leben zu führen, das Gott gefällt, scheitern wir an unserer eigenen Unvollkommenheit. Das gesteht sich niemand gerne ein, ist jedoch eine Tatsache. Machen wir uns bewusst, wozu uns Jesus in Matthäus 22,37–39 auffordert: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe und mit deinem ganzen Verstand. (…) Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.“ Wer kann von sich behaupten, dieses Gebot immer zu befolgen? Aus eigener Kraft sind wir nicht fähig, so zu lieben und zu leben. Immer wenn wir uns selbst verachten, schlecht über andere reden oder andere Dinge wichtiger nehmen als Gott, brechen wir dieses Gebot. Wir werden schuldig – an Gott, unseren Mitmenschen und uns selbst. Doch „Gott sei Dank“ haben wir einen gnädigen Gott, der uns schenkt, was wir uns niemals verdienen


Gnade ist Gottes sichtbare Kraft in meiner Schwachheit Dieses liebevolle und barmherzige göttliche Eingreifen in mein Leben bleibt nicht ohne Auswirkungen: Gottes Gnade durchdringt mich ganz und verändert mein Leben, wenn ich mich darauf einlasse. Als Christen glauben wir Gottes Gnade an einen Gott, der nicht fern sondern dessen Kraft in durchdringt mich ganz ist, uns lebt und wirkt. Und auf geheimnisvolle Weise kommt und verändert mein diese Kraft besonders dann Leben, wenn ich mich zur Entfaltung, wenn ich mich schwach, unfähig und unzudarauf einlasse. länglich fühle. In den vergangenen Jahren, die etliche Schwierigkeiten mit sich brachten, wurde mir tröstlich bewusst, dass göttliche Gnade nicht an meinen Erfolgen oder meiner Stärke anknüpft, sondern an meiner Schwachheit. Jesus spricht Paulus im zweiten Brief an die Korinther (Kapitel 12, Vers 9) zu: „Meine Gnade ist alles, was du brauchst, denn meine Kraft kommt gerade in der Schwachheit zur vollen Auswirkung.“ Gnade ist göttliche Befähigung, wo ich an meine menschlichen Grenzen stoße. Aus menschlicher Kraft kann ich kein Leben führen, das Gott gefällt. Doch genau hier, in meiner Schwachheit und menschlichen Unfähigkeit, kommt Gottes Kraft zur vollen Entfaltung. So wird Gottes Gnade, die etwas in mir bewirkt, für andere sichtbar. Gnade ist nicht etwas, worüber man nur theoretisch berichten kann. Gnade ist erfahrbar – zum Beispiel dann, wenn jemand nach großem Leid wieder neuen Mut fasst oder wenn ich mit Gottes Hilfe jemandem aus ganzem Herzen vergeben kann. Der Ort der Gnade ist genau hier In Hebräer 4,16 schreibt Paulus: „Wir wollen also voll Zuversicht vor den Thron unseres gnädigen Gottes treten, damit er uns sein Erbarmen schenkt und uns seine Gnade erfahren lässt und wir zur rechten Zeit die Hilfe bekommen, die wir brauchen.“ Gott wartet darauf, uns im alltäglichen Leben seine Gnade zu schenken. Der Thron der Gnade ist nicht weit weg, sondern ganz nah. Nämlich genau da, wo wir in unserem Herzen Gottes Nähe suchen. Zu Hause. In der Bahn. Im Supermarkt. In der Kirche. Es liegt an uns, diesen geheimnisvollen inneren Ort der Gnade immer wieder zu suchen – und uns dort verändern zu lassen. Debora Sommer ist verheiratet, Mutter von zwei Kindern und Theologin. Sie arbeitet als Autorin und Referentin. www.deborasommer.com

EIN GUTER EGLEITER DURCH DAS JAHR

B

Gebunden • 15,0 x 22,7 cm • 480 Seiten • € 20,– ISBN 978-3-95734-228-7

könnten: bedingungslose Liebe, wahre Vergebung und Freiheit von aller Schuld. Dieses Gnadengeschenk können wir annehmen, indem wir Gottes Sohn, Jesus Christus, annehmen. In ihm wurde Gottes große Gnade sichtbar. Am Kreuz hat Jesus alle Schuld auf sich genommen, damit wir freigesprochen werden können – ein für alle Mal, von jetzt an bis in Ewigkeit. Wenn wir das glauben und Jesus in unser Leben einladen, können wir in unserem eigenen Leben erfahren, was Gnade bedeutet: ein fester Grund (1. Korinther 3,11), auf dem ich in der Gegenwart und Zukunft stehen kann. Ein sicherer Halt mitten in den Stürmen des Lebens. Etwas, das mir Würde und Rückgrat gibt und mich zu dem macht, was ich bin: ein geliebtes Kind Gottes.

Dieses Andachtsbuch ist wie ein Schatz voller Weisheit, der Sie durch das Jahr begleitet: Es enthält die fünf Weisheitsbücher des Alten Testaments Hiob, Psalmen, Sprüche, Prediger und Hoheslied in der Übersetzung der Lutherbibel 2017. Zur Vertiefung wird jedes biblische Kapitel von mindestens einer Andacht begleitet. Die Texte stammen von über 100 Autorinnen. Sie regen an, den Glauben zu stärken und im Alltag zu entfalten. Herausgegeben von Elisabeth Mittelstädt. Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich.

Leseprobe unter www.gerth.de

was mich bewegt

Erhältlich im Handel, telefonisch unter 0 64 43 - 68 32 oder unter www.gerth.de

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Körper & Seele

Siglinde Bender

Pferde

sind wie ein

Spiegel

Wie Tiere unserer Seele helfen können, gesund zu werden In Therapie und Seelsorge gibt es diese Erfahrung immer wieder: Tiere tun der Seele gut; sie können Trost und Nähe spenden. Das bekannteste Beispiel ist wohl die Delfintherapie in Florida, bei der Delfine zu autistischen Kindern einen Zugang gewinnen, der menschlichen Therapeuten verschlossen ist. Gott hat manche seiner Geschöpfe mit einem besonderen Gespür ausgestattet, dadurch können sie uns auf einer anderen Ebene erreichen als ein menschliches Gegenüber. Wie hilfreich Pferde auf dem Weg der seelischen Heilung sein können, davon berichtet die Therapeutin Siglinde Bender.

P

ferde kommunizieren untereinander und mit dem Menschen hauptsächlich über die Körpersprache. Gott hat die Pferde mit einer Sensibilität ausgestattet, die weit über die unsere hinausgeht. Wenn wir uns mit ihnen beschäftigen, lesen sie in uns wie in einem offenen Buch und drücken ihr Empfinden über ihre Körpersprache aus. Gelingt es uns, ihre Körpersignale zu verstehen und richtig zu interpretieren, werden Pferde zu einem Spiegel, der uns helfen kann, oft unbewusste innere Haltungen, Paradigmen und Lebenslügen zu erkennen. Nutzen wir dann das Pferde-Feedback und korrigieren unsere Haltungen und falschen Glaubenssätze im Laufe der „Pferdesprechstunde“, so spiegeln die Pferde die korrigierte Haltung ebenfalls blitzschnell wider. So ermutigen sie uns, das Erkannte im Alltag anzuwenden.

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Pferde spiegeln die Familiendynamik In unserem Schulungszentrum bieten wir im Sommer „Familientage mit Pferd“ an. Mehrere Familien kommen für einen Tag zu uns. Nach einer kurzen Einführung sucht sich jede Familie ihr Pferd für diesen Tag aus. In einer Patchwork-Familie führte sich der dreijährige gemeinsame Sohn als Chef der Familie auf. Er bestimmte alles. Von außen war das schnell zu erkennen. Ist man aber Teil der Familiendynamik, wird man leicht blind für Dinge, die schieflaufen. Im Laufe des Vormittags half ich dem Vater auf den Rücken des Familienpferds und gab dem dreijährigen Sohn den Führstrick in die Hand. Er sollte das Pferd mit dem Vater auf dem Rücken mehrere Runden über den Reitplatz führen. Der kleine Knirps tat das mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit. Das Pferd ging

brav mit. Zunächst fanden der Vater und die zuschauende Mutter die Situation lustig, aber je länger die Übung dauerte, desto unwohler fühlten sie sich. In der anschließenden Reflektion war sich das Elternpaar einig: In Zukunft wollten sie die Rolle des Chefs nicht mehr ihrem Sohn überlassen. Beim Mittagessen begannen sie bereits, ihre neue Haltung umzusetzen. Zuerst war der Kleine entsetzt, aber dann entspannte er sich sichtlich. Er durfte wieder Kind sein. Eine andere Familie kam zur Intensivberatung. In der Ehe kriselte es, und die Kinder, zwei Mädchen im Alter von drei und sechs Jahren, ließen sich von Mama und Papa nichts sagen. In Gesprächen mit den Eltern wurden verschiedene Problembereiche besprochen. Dann traf die ganze Familie im Pferdecoaching auf Buddy,


Ich fühle mich, als würde ich an einem beschlagenen Fenster eine Stelle freireiben und ein Stück vom Himmel sehen.

einen kinderfreundlichen, gutmütigen und ruhigen Wallach. Die Mutter stand mit den beiden Töchtern in der „ersten Reihe“ zum Pferd, der Vater dahinter in der „zweiten Reihe“. Buddy kam neugierig und freundlich auf die Familie zu und ließ sich von Mutter und Töchtern streicheln. Daraufhin beschwerte sich der Vater, er würde von Buddy nicht begrüßt. Ich wies ihn darauf hin, dass Buddy die Frauen hätte beiseitestoßen müssen, um zu ihm zu kommen. Er hatte sich so platziert, dass er gar nicht begrüßt werden konnte. In der Reflektion wurde ihm klar, dass er sich in vielen alltäglichen Situationen als Zuschauer abseits hielt, sich nicht beteiligte und sich von Frau und Töchtern ins Abseits gestellt fühlte. Er erkannte, dass es seine eigene Verantwortung war, sich aktiver in das Familiengeschehen einzubringen.

Pferde decken fehlende Sensibilität auf Es tut gut, von Zeit zu Zeit innezuhalten, um sich neu zu sortieren. Meistens bringen die Menschen, die zu uns kommen, ein oder mehrere Themen mit, die sie in der Zeit bearbeiten möchten. Vieles wird natürlich im Beratungszimmer besprochen, manches lässt sich aber gut mit Hilfe des Feedback-Gebers Pferd bearbeiten. Ein Pastorenehepaar war mit seiner Ehe unzufrieden. Als beide den Eindruck hatten, sie hätten alles Wesentliche besprochen, bat der Mann um ein Pferdecoaching, um seine Rolle als Pastor zu überdenken und sein Verhalten zu verbessern. Er suchte sich eine schöne Stute aus, die in der Herdenhierarchie weit unten steht. Seine Aufgabe war es, Franka am langen Führstrick zu führen und sie dabei hinter sich zu halten. Im zwei-

ten Teil sollte er das hinter ihm gehende Pferd durch seine Körperhaltung und Stimme dazu bringen, in einem respektvollen Abstand hinter ihm anzuhalten, ohne ihn anzustoßen. Mir fiel auf, dass er Franka nie lobte, wenn sie die Übungen korrekt ausführte. Als ich ihn darauf ansprach, wurde ihm klar, dass er seine Gemeindemitarbeiter ebenfalls wenig lobte. Voller Elan änderte er sein Verhalten Franka gegenüber und streichelte ihr anerkennend über die Stirn. Allerdings wendete Franka den Kopf ab, um deutlich zu machen, dass ihr seine Berührung am Kopf unangenehm war. Durch einen entsprechenden Hinweis verstand er das auch. Er wiederholte die Führübung erfolgreich und streichelte Franka erneut – ohne den Widerwillen der Stute zu beachten – über die Stirn. In der Reflektion dieses Verhaltens fiel es ihm wie Schuppen von

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Aseneta Cvorovic

„Ich habe dem Mörder meines Mannes vergeben“ Der Tag begann wie jeder andere. Am frühen Morgen machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Mein Mann Miroslav, der als Pastor tätig war, hatte an diesem Tag frei. Am Nachmittag besuchte er seinen Bruder, der in einem anderen Teil von Belgrad lebt. Gegen Abend rief Miroslav an, um mir zu sagen, dass er sich nun auf den Heimweg machen würde ...

M

it dem Auto sollte er innerhalb einer halben Stunde zu Hause sein. Als er nach über einer Stunde nicht da war, rief ich ihn auf seinem Handy an. Er nahm nicht ab. Ich rief seinen Bruder an und fragte, ob Miroslav losgefahren sei. Er bestätigte, dass er längst aufgebrochen sei. Besorgt rief ich die Polizei an, um mich zu informieren, ob es auf der Strecke einen Unfall gegeben hatte. Man sagte mir, dass es keinen Unfall gegeben habe. Im Internet las ich, dass in der Nähe unseres Hauses ein Taxifahrer ermordet worden war. Ich rief nochmals bei der Polizei an und fragte, ob Miroslav eventuell als Zeuge auf der Polizeistation sei. Auch das war nicht der Fall. Nach einer schlaflosen Nacht ging ich am Morgen zur Polizei, um meinen Mann als vermisst zu melden. Während ich wartete, rief mich ein Freund an und sagte mir, dass außer dem

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Taxifahrer noch eine andere Leiche gefunden worden sei. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das mein Mann sein könnte. Auf der Bank neben mir saß ein mir unbekannter Mann und hörte zu, was ich meinem Freund erzählte. Er streckte mir sein Handy entgegen und zeigte mir einen Online-Artikel. Dort standen die Initialen und das Geburtsjahr des ermordeten Mannes. Es waren die gleichen Daten wie die von Miroslav. Ich war schockiert. Tödliches Missverständnis Was war passiert? Angeblich wollte ein junger Mann dem Taxifahrer eine Pistole verkaufen. Während sie die Waffe ausprobierten, kam es zu einem Missverständnis und der junge Mann erschoss den Taxifahrer. Einen Moment später kam mein Mann mit dem Auto an der Stelle vorbei. Als er das Taxi im Straßengraben und eine auf der Straße liegende Person sah, hielt er an,


F OTO : TA B I TA K O P R I V N J A K

Meine Geschichte

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D 1 2 0 1 3 / Post ver triebsstück/Gebühr bezahlt/Lydia Verlag/Ger th Medien GmbH/Dillerberg 1/D -35614 Asslar-Berghausen

Egal, wie unsere Umstände aussehen, wir können wissen, dass Gott immer

die Kontrolle darüber hat und dass er größer ist als unsere Umstände.

Selbst dann, wenn wir seine Hand in unserer Situation nicht sehen, können wir auf seinen

guten Charakter vertrauen.

Wir können wissen, dass er vorangeht und hinter uns steht,

und dass nichts und niemand

seinen guten Plan durchkreuzen kann. HELEN LESCHEID

Aus: „Ich will dir nah sein, Gott. Das Geheimnis des Gebets entdecken“ von Helen Lescheid (LYDIA-Edition)


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