Lydia (Ausgabe 4/2016) - 448905

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Persönlich. Echt. Lebensnah. D 12013 ISSN 0939-138X

4/2016 sfr 5,60  3,60 (A)

 3,50

JAHRE LYDIA

Stürmische Weihnachten in Paraguay

Josef – Vater wider Willen

Heil werden nach der Scheidung

Vertrauen, das

Debora Sommer

stärker ist als der Schmerz


Foto: Willi Rolfes

der ruf der wildgänse erinnert mich ruf sehnsucht bestimmung

mich dem wind geben das dunkel als freund

vielleicht heimat und doch wieder aufbruch

um eines tages vielleicht anzukommen

miteinander und doch allein

an der krippe am kreuz oder irgendwo auf dem weg

der erde verbunden mit dem himmel vertraut

dem zu begegnen der mich ruft A N D R E A S C H WA R Z

A u s „F r e i ! S e h n s u c h t s v o l l

leben.

D i e B o t s c h af t

der

Wildgänse“

von

A n dr e a S c h war z / W i l l i R o l f e s © 2016,

ad e o

Verlag


Ganz persönlich Ellen Nieswiodek-Martin

Gott hat mein Gebet erhört, aber anders, als ich es erhofft hatte.

Keine besinnliche Adventszeit … Nach Schätzungen der deutschen Schmerzliga leben 13 Millionen Menschen in Deutschland mit chronischen Schmerzen. Starke Schmerzen verändern unseren Alltag, unsere Beziehungen und unsere Lebensfreude. Wie sehr Schmerzen auch unser Denken beherrschen können, habe ich vor vier Jahren selbst erlebt. Damals bekam ich fast von einem Tag auf den anderen starke Rückenschmerzen. Der Arzt diagnostizierte einen Bandscheibenvorfall. Die Schmerzen schienen täglich stärker zu werden. Ich konnte nicht sitzen, nicht liegen, nicht Auto fahren, nicht arbeiten. Es war schwer, den dauernden Schmerz auszuhalten. Zusätzlich wirkte sich der Schlafmangel negativ auf meine Stimmung aus. Aber ich war zuversichtlich, durch Therapie und Medikamente die Sache in den Griff zu bekommen. Außerdem hatte Gott mir gerade eine neue Arbeitsstelle geschenkt, da würde er mich jetzt sicher nicht im Stich lassen. So dachte ich. Aber Woche um Woche verging und nichts wurde besser. Jedes Mal musste ich sagen, dass die Schmerzen genauso stark seien wie zuvor. Langsam wurden die Therapeuten und auch der Arzt ungeduldig. „Die Wirkung der Spritzen hält normalerweise wenigstens acht Stunden an“, sagte mir der Orthopäde mit vorwurfsvollem Unterton. Bei mir wirkten sie höchstens vier Stunden. Auch weitere Therapien halfen nicht. Meine Familie bemühte sich um Verständnis, aber langsam wurde die Situation zu einer Belastung für alle. Freunde, die anriefen, wussten bald nicht mehr, was sie mir noch sagen sollten. Ich flehte Gott um Hilfe an, während ich nachts meine Runden durchs Wohnzimmer drehte, weil ich nicht mehr liegen konnte. Kollegen und Freunde beteten für mich. Allerdings wurden ihre Anrufe sel-

tener. Einerseits war mir das ganz recht, denn es war mir unangenehm, immer das Gleiche erzählen zu müssen. Andererseits erlebte ich, wie einsam man sich durch die Schmerzen fühlen kann. Wir verlebten eine Adventszeit, die nicht besinnlich war, sondern geprägt von Einschränkungen und Arztbesuchen. Eines Tages rief unser Pastor an und fragte, ob es mir recht sei, wenn sie am Gemeindeabend für mich beteten. Ich freute mich darüber. Zwei Tage später rief eine Frau aus der Gemeinde an. Ich kannte sie nur flüchtig. Sie habe den Eindruck, sie solle mir den Namen eines Therapeuten sagen, der ihr bei einer anderen orthopädischen Krankheit geholfen habe. Die Behandlung dort war schmerzhaft und zeitintensiv. Aber langsam schöpfte ich Hoffnung. Nach etlichen Monaten war ich schmerzfrei. Bis heute. Gott hat mein Gebet erhört, aber anders, als ich es erhofft hatte. Er hat kein Wunder getan, sondern er hat mir Menschen geschickt. Sie haben mir geholfen und den Ausweg gezeigt. Und mich gelehrt, was ich selbst tun kann. Manche Menschen erleben das nicht. Sie müssen mit den Schmerzen leben. Diese Wochen haben mir einen Einblick gegeben in das, was sie erleiden müssen. Jeden Tag. Wie der christliche Glaube Frauen hilft, mit einer solchen Situation umzugehen, davon lesen Sie in dieser Ausgabe. Ihre

Ellen Nieswiodek-Martin

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Vertrauen, das stärker ist als der Schmerz

Foto:

Interview mit Debora Sommer

Die Freiheit zum Klingen bringen

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Lydia

{inhalt}

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Glaube & Lebenshilfe

Beruf & Gesellschaft

18 Nachgefragt 20 Macht im Namen Gottes Loslassen lernen – Annemarie Pfeifer Was geistlicher Missbrauch ist und wie er geheilt werden kann 26 Licht in die Welt bringen Cornelia Schmid Interview mit Ulla Järvilehto 24 Eine „Lydia“ sein – dort, wo ich 32 Stürmische Weihnachten in bin Die Zeitschrift LYDIA feiert Paraguay – Rüdiger Klaue 30-jähriges Jubiläum Saskia Barthelmeß 48 Platz und Kraft für viele Kinder Zu unseren eigenen sieben nahmen 30 Leben wie Lydia – Roswitha Wurm wir noch vier Pflegekinder auf 34 Tiefer graben Bereit für Gottes Magdalena Tröger Überraschungen – Gretchen Hilbrands 60 Hoffnung säen – im Biobetrieb 37 Vater wider Willen Wie würde die und zu Hause Die Schweizerin Weihnachtsgeschichte wohl aus Esther Rathgeb erzählt von ihrem AllJosefs Sicht klingen? – Martin Vosseler tag als christliche Geschäftsfrau und Mutter eines mehrfach behinderten 72 Heilige heute Die Puppe zu WeihKindes – Karin Schmid nachten Lotte Bormuth • Allein am 64 Die Freiheit zum Klingen bringen Heiligabend Waltraud Hagedorn • Interview mit Sarah Kaiser Geheilt von meiner Angst – aber anders als gedacht Karin Hößler • Offenbarung in Gelb Johanna Murmylo


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LYDIA-Familientipp:

Stressfreie Vorweihnachtszeit

58

12

Ehe & Familie

Körper & Seele

{ In jeder Ausgabe }

42 Heil werden nach der Scheidung Interview mit Christine Koenig

12 Einmal mehr aufstehen Mein Leben mit chronischen Schmerzen und Hochsensibilität – Katharina Schiemenz

3 Ganz persönlich Keine besinnliche Adventszeit ... Ellen Nieswiodek-Martin

15 Auf das schauen, was möglich ist Melanie Altherr-Schwegler

58 LYDIA kreativ – Imke Johannson

16 Meine Meinung Was hilft Ihnen, Schmerzen zu ertragen?

76 Gut informiert. Neu inspiriert.

17 Sag mal, ... Fragen an die verkrümmte Frau

81 Impressum

46 Zwischendurchgedanken Meine lebenslange Liebe-lern- Aufgabe – Saskia Barthelmeß 47 LYDIA-Familientipp: Stressfreie Vorweihnachtszeit Annegret Scheffler • Ein Adventskalender zum Geben und Nehmen – Saskia Barthelmeß 51 Ein weiches Herz kann nicht zerbrechen – Andrea Varga 52 Schmunzeln mit LYDIA 54 Eine besondere Liebeserklärung Der Brief meiner Enkeltochter war die beste Medizin für mich – Ilona Barthel 56 So hatte ich mir das nicht vorgestellt! Das Vergleichen mit anderen Müttern belastete mein Leben Tabea Seiler

39 Liebe Leser

66 Für Sie entdeckt

80 Leserbriefe

82 Nachgedacht Vom Mut zu wollen Sefora Nelson 38 Als die Angst in mein Leben kam Anita Krenn 68 Meine Geschichte Hoffnung im Todestal – Amiira Ann

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So hatte ich mir das nicht vorgestellt! Lydia 04/2016

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LY D I A

Interview mit Debora Sommer

Vertrauen Vertrauen, das stärker ist als der Schmerz

Nach einem schweren Bandscheibenvorfall lebt Debora Sommer seit Jahren mit chronischen Schmerzen. Diese Zeit war eine große Belastungs-

probe für die Theologin und Familienfrau. Während sie auf die Heilung ihrer Schmerzen wartete, heilte Gott ihre Seele.

Im Dezember 2012 bin ich auf der Treppe gestolpert und hatte danach leichte Rückenschmerzen. In den folgenden Wochen habe ich mich geschont. Im Januar war ich dann auf dem Crosstrainer und spürte einen ziehenden Schmerz in meinem Bein. Im Laufe des Wochenendes wurde es so schlimm, dass ich kaum noch gehen konnte. Mein Mann ist mit mir ins Spital in die Notaufnahme gefahren. Dort sagte man mir, es geht mit ein bisschen Physiotherapie wieder weg. Kurze Zeit später sind wir in den Skiurlaub gefahren. Ich konnte überhaupt nicht mehr sitzen und hatte unglaublich starke Schmerzen. Ich lag viel und bin spazieren gegangen. Die Schmerzen wurden ein klein wenig besser.

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Zuerst hat mich das gefreut, aber dann habe ich gelesen, dass weniger Schmerzen auch bedeuten können, dass es Lähmungen gibt. Tatsächlich habe ich gemerkt, dass mein linkes Bein von Tag zu Tag weniger beweglich war. Das hat mir Angst gemacht. Später hat ein MRT gezeigt, dass ich einen großen Bandscheibenvorfall hatte. Die Lähmungen wurden stärker, aber die Ärzte waren sich nicht einig, ob sie operieren sollten oder nicht. Am Schluss lag ich nur noch im Bett. Als die Lähmung auf den Blasenbereich übergriff, war klar: Es bleibt nur die Operation. Ist der Eingriff gut verlaufen?

Rein anatomisch ist die Operation gelungen. Ich hatte wieder Gefühl in den Beinen, auch die Kraft kam zurück. Das war sehr, sehr schön. Aber der schwierige Teil war: Die Schmerzen

Foto: Fotovilla

Debora, vor einigen Jahren hatten Sie ein schmerzhaftes Erlebnis, das Ihr Leben verändert hat. Was ist passiert?


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Körper & Seele

ILONA BARTHEL

einmal mehr

Katharina Schiemenz

aufstehen Mein Leben mit chronischen Schmerzen und Hochsensibilität

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enn ich einen Raum betrete, spüre ich sofort, wenn etwas nicht stimmt. Ich nehme Gerüche, Geräusche und Farben stärker wahr als andere. Auch Stimmungen, die in der Luft liegen, wie Freude oder Schmerz, nehme ich verstärkt auf. Die Welt wirkt auf mich laut, schnell und fordernd. Sie kostet mich viel Kraft. Heute weiß ich, dass ich hochsensibel bin. Zudem kämpfe ich seit über zwanzig Jahren mit chronischen Schmerzen, denn ich leide unter Fibromyalgie. Das ist eine chronische und unheilbare Erkrankung. Sie ist verbunden mit Schmerzen in der Muskulatur und den Gelenken, mit Rückenschmerzen und Druckempfindlichkeit. Dazu kommen Begleitsymptome wie Müdigkeit, Schlafstörungen, Morgensteifigkeit, Konzentrations- und Antriebsschwäche, Wetterfühligkeit und Schwellungsgefühl an Händen, Füßen und Gesicht. Jeden Tag Schmerzen Es gibt keinen Tag, an dem ich keine Schmerzen habe. Wenn es trocken und warm ist, halten sie sich in Grenzen und ich bin in der Lage, meine Aufgaben zu bewältigen. Wenn es aber nass und kalt ist, dann werden die Schmerzen unerträglich. Sie wandern im Körper und machen es mir beispielsweise unmöglich zu laufen. Ein anderes Mal sind die Hände betroffen und ich kann nicht einmal mehr eine Tasse aus dem Schrank nehmen. Stress und nasses, kaltes Wetter scheinen die Hauptfaktoren für die extremen Schmerzschübe zu sein. Besonders im Herbst und Winter, wenn es mehr kalte, nasse und graue Tage gibt, muss ich jeden Morgen ein neues Ja zu dem beginnenden Tag finden, der oft schon mit Schmerzen beginnt. Die Finger sind steif und unbeweglich, die ersten Schritte tun weh, die ersten Tätigkeiten fallen mir schwer. Ja, und dann sind da unsere drei Pflegekinder. Damals, als wir eins nach dem anderen zu uns genommen haben, war es mit den Schmerzen noch nicht so schlimm, das kam erst in den letzten vier Jahren. Wenn es irgendeine besondere Situation mit den Kindern gibt, die stressig, herausfordernd oder verletzend ist, weiß ich: Nachdem wir die Situation klären konnten, kommt die nächste Herausforderung in Form eines heftigen Schmerzschubes. Dauer unbestimmt. Hört Gott mich nicht? Schmerzen, die nicht aufhören, machen traurig und lebensmüde, weil das Leben so viel Kraft kostet, weil alles nur noch anstrengend ist und weil es keine Pausen

zum Luftholen und Erholen gibt. Wenn es immer wehtut, wenn jede Bewegung Schmerzen verursacht – selbst in der Nacht bei jeder Drehung und in jeder Lage – dann ist die Versuchung da zu resignieren. Vor einiger Zeit spürte ich, wie mein Leben immer grauer wurde und ich immer seltener Freude empfand. Ständig waren sie da, diese Schmerzen, dazu die Herausforderungen mit den Kindern. Dann diese tiefe Traurigkeit, eben weil alles so anstrengend war. Ich begann Stück für Stück Abschied zu nehmen von dem, was mir wichtig war. Die vielen Gebete, meine, unsere und die vieler Freunde, schien Gott nicht zu hören, denn es änderte sich nichts, sondern blieb in großer Intensität bestehen. Dunkle und beängstigende Gedanken tauchten immer öfter auf. Medizinisch gesehen gibt es keine Lösung für meine Schmerzen. Offenbar befinde ich mich in der schlimmsten Schmerzphase, die voraussichtlich noch die nächsten Jahre andauern wird, wie ich in einem Buch über Fibromyalgie gelesen habe. Als es wieder einmal unerträglich war, sagte ich es Gott ganz direkt. Ich sagte ihm, wenn er wolle, dass ich weiterlebe, dann müsse etwas geschehen, denn meine Kraft sei zu Ende. An meinen Schmerzen änderte sich nichts, sie waren da und blieben. Auch die Kinder ersparten mir nicht alle stressigen Momente. Es schien, als bliebe alles wie immer. Ich treffe eine Entscheidung … Ich hatte gerade wieder einen Arzttermin mit einem unserer Kinder und nahm mir ein Buch mit, das ich in der Wartezeit lesen wollte. Es handelte von Menschen aus der Bibel, die gute Tipps und Ratschläge aus ihrem Alltag für unsere heutige Zeit gaben. Ich fand es klasse. Und während ich las, spürte ich eine tiefe Freude in mir. Lange hatte ich dieses Gefühl nicht mehr gespürt. Plötzlich wurde mir bewusst, dass mich in den vergangenen Tagen viele Menschen ermutigt hatten, nicht aufzugeben, dass ich sogar direkt darum gebeten worden war, weiterzumachen. Und dann las ich Josefs Geschichte, die in der Bibel in 1. Mose 37–50 steht. Josef, der so oft erleben musste, dass es anders kommt, als man denkt. Josef, der so oft erleben durfte, dass Gott da ist, auch wenn man es nicht spürt. Er gab seine Träume nicht auf, obwohl sie ihn in Lebensgefahr brachten. Und er hat mehr als einmal erfahren, dass Gott Situationen komplett verändern kann.

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Glaube & Lebenshilfe

Cornelia Schmid

MachT im Namen Gottes

Was geistlicher Missbrauch ist und wie er geheilt werden kann

Die Geschichte der Menschwerdung Gottes ist eine Geschichte voller Liebe, Hingabe, Barmherzigkeit und – Macht.

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ie Weihnachtsgeschichte ist eine Geschichte der Macht? Ja. Kaum ist das kleine Jesuskind im Stall von Bethlehem angekommen, kaum ist das Halleluja der Engel verklungen, kaum hat Maria sich von den Strapazen der Geburt erholt, da beginnt sich das Machtkarussell zu drehen. Damals hatte die Macht einen Namen: Herodes der Große. Als Jesus geboren wurde, saß er schon einige Jahre als Herrscher über Judäa auf dem Thron. Seine Angst, an Macht zu verlieren, war so groß, dass er nicht nur seine Ehefrau umbringen ließ, sondern auch zwei seiner Söhne. Als er von der Geburt eines neuen Königs erfuhr, ließ er kurzerhand alle Jungen im Alter bis zwei Jahre umbringen. Er war sich sicher, dass Jesus dabei war.

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Die Geschichte vom Kindermord in Bethlehem erschien mir immer etwas unpassend mitten in der Weihnachtsgeschichte. Aber wenn ich mir das Leben des erwachsenen Jesus ansehe, dann wimmelte es da nur so von Gewalt und Macht, von Ausgrenzung, Flucht und Unverständnis. Da gab es Macht von außen: römische Herrschaft und Unterdrückung. Und es gab Macht von innen: Gesetzlichkeit und Entmündigung gläubiger Juden durch die Pharisäer, die damaligen Theologen. Dieser Macht begegnete Jesus scharf. „Ihr Schlangen“, nannte er sie, „verblendete Führer“, „Heuchler“, „Narren und Blinde“. Hart ging Jesus mit denen ins Gericht, die andere lehrten und dabei nicht den Menschen im Blick hatten, nicht das Heil, nicht Gnade und Barmherzigkeit, sondern sich selbst, ihre Macht, ihr Wohlergehen, ihre Sicherheit, ihren Ruhm und ihre Anerkennung. Jesus prangerte schon vor 2000 Jahren diesen geistlichen Missbrauch öffentlich an. Auch heute passiert das in Werken und Gemeinden.

Angst und Einsamkeit Als Rita* auf mich zukam, sah ich in ihren Augen Müdigkeit, Besorgnis und vor allem Angst. Ich hatte ein Seminar zum Thema „Geistlicher Missbrauch“ gehalten und über die zerstörerische Kraft frommer Gewalt gesprochen. Nun bat sie mich um ein Gespräch. Aufgewachsen in einem frommen Elternhaus, erlebte sie als Kind eine streng gläubige Gemeinde. Hier wurde nicht nur das Denken und Handeln geregelt, sondern auch der Kleidungsstil, die Hobbys und die eigene Persönlichkeit. Rita lernte früh, sich anzupassen, um nicht aufzufallen. Als sie dennoch als Teenager eines Tages in den „falschen“ Kleidern in der Gemeinde erschien, wurde ihr gesagt: „Das gefällt Gott nicht! Wir möchten, dass du dich angemessener kleidest.“ Rita fühlte sich unter ständiger Beobachtung und hatte dabei den Eindruck: „Ich genüge nicht.“ Sie hatte Angst vor diesem Gott. Als sie älter wurde, ahnte sie, dass es einen anderen Gott geben musste. Einen,


der sie liebt und für den sie wichtig ist; der sie geschaffen hat und der ihrem Leben Sinn und Bestätigung gibt. Es blieb bei der Ahnung. Während ihrer Berufsausbildung stellte ihr ein Mann aus ihrer Gemeinde nach. Er war etwa 30 Jahre älter als sie und Single. Jeden Tag stand er vor ihrer Wohnungstür. Seine Absichten waren eindeutig. Rita bekam Panik. Im Dunkeln verließ sie ihre Wohnung nicht mehr. Nach einiger Zeit wagte sie es, ihre Eltern darüber zu informieren und um Hilfe zu bitten. Die Hilfe wurde ihr verweigert. Der Mann sei ein angesehener Leiter der Gemeinde. Wie das wohl aussähe, wenn man ihn darauf anspräche. Rita fiel in ein seelisches Loch. Gefühle abgrundtiefer Einsamkeit und Hilflosigkeit wechselten sich ab mit Panik und Aggression. Trotzdem ging sie weiterhin in die Gemeinde. Die Leiter hochklettern Rita lernte, dass Christsein aus verschiedenen Stufen bestehe. Ziel sei es, sich so anzustrengen, dass man möglichst ganz oben auf der Leiter stehe. So wurde der Glaube für Rita zu einem beständigen Kraftakt. Schaffte sie es nicht, morgens in der Bibel zu lesen, fühlte sie sich schlecht. Geriet sie bei der Arbeit in einen Konflikt mit einem Kollegen, fühlte sie sich als Versager. Oft hatte sie den Eindruck, sobald sie eine Stufe weitergekommen war, fiel sie wieder zwei Stufen zurück. In der Gemeinde schwelte seit Jahren ein Konflikt mit einer anderen Frau. Diese war neidisch auf Ritas Leben und ließ sie ihren Neid ständig spüren. Sticheleien, Gehässigkeiten und Zynismus musste Rita fast wöchentlich über sich ergehen lassen. Als sie schließlich den Mut aufbrachte, mit anderen aus der Gemeinde darüber zu reden, warf man ihr vor, nicht gottgefällig zu leben. Sie solle so leben wie Jesus und Ungerechtigkeit ertragen. Sie müsse lernen, leidensfähiger zu werden. Die Gehässigkeiten gingen weiter. Rita konnte nicht mehr schlafen und nur noch wenig essen. Der jahrelange Konflikt zermürbte sie. Sie wusste nicht weiter, zweifelte an sich und an Gott und hatte ständig den Eindruck, anders sein zu müssen.

Kennzeichen von geistlichem Missbrauch Wie kann ein geistliches Machtsystem identifiziert werden? Was sind seine Kennzeichen? In solchen Organisationen regiert eine Scheinwelt. Konflikte gibt es nicht, und wenn sie angesprochen werden, liegt die Schuld bei dem, der sie aufdeckt. Kontrolle, Zwang und Manipulation bestimmen die Atmosphäre. Solche Orte dienen nicht dazu, in Freiheit seinen Glauben an Jesus zu leben, Gaben und Fähigkeiten auszuprobieren und ehrliche Beziehungen zu anderen Christen zu leben. Stattdessen ist der äußere Schein sehr wichtig: Zahlen, Gottesdienstbesucher, Finanzen und die Art und Weise, wie man sich in der Öffentlichkeit präsentiert. Das geistliche Leben wird zur Show – was Backstage passiert, hat niemanden zu interessieren. Unter Missbrauch versteht man das „Gebrauchen, Verwenden, Benutzen oder Anwenden einer Sache auf eine Art und Weise, die falsch, schädlich, unsachgemäß, unerwünscht oder nicht vorgesehen ist“. Die Buchautoren David Johnson und Jeff VanVonderen definieren geistlichen Missbrauch als „falschen Umgang mit einem Menschen, der Hilfe, Unterstützung oder geistliche Stärkung braucht, mit dem Ergebnis, dass dieser betreffende Mensch in seinem geistlichen Leben geschwächt und behindert wird“. Im Gespräch mit Betroffenen fällt mir eines immer wieder auf: Geistlicher Missbrauch hinterlässt tiefe Wunden, geschwächte Christen, die mit Schuldgefühlen durchs Leben gehen, immer in der Angst, nicht zu genügen. Als ich Rita fragte, warum sie ihre Gemeinde nicht verlassen würde, war sie eine Weile still. Dann antwortete sie leise: „Sie ist doch meine Heimat. Ich habe keine andere.“ Der religiöse Zaun Genau das war schon das Problem, als Jesus auf der Erde lebte. Ein jüdischer Mensch hatte nichts anderes als seinen Glauben an Jahwe. Um diesen Glauben aber richtig zu leben, musste er mehr tun, als Gottes Gebote

Morgenstern Du warst Heimat für mich, selbst als du meine Seele mit Füßen getreten hast. Du gabst mir Sicherheit, als meine Welt längst wegen dir in Scherben lag. Ich habe auf dich gehört, als ich schon lange auf der Flucht vor dir war. Ich habe getan, was du von mir wolltest, weil ich nicht erkannte, wer du bist. Ich habe mein Leben aufgegeben, um deines zu leben. Als am Horizont der Morgenstern aufgeht, stehe ich auf. Es ist Zeit zu gehen. Nun bin ich auf dem Weg in neues Land. Der Weg ist weit und steinig. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre geblieben, bei dir und meiner Sicherheit. Der Morgenstern ist da, zeigt mir den Weg, wacht über mir, versorgt mich. Ich gehe, um in Freiheit anzubeten. Cornelia Schmid

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Beruf & Gesellschaft

Magdalena TrĂśger

Kinder

Platz und Kraft fĂźr viele

Zu unseren eigenen sieben nahmen wir noch vier Pflegekinder auf

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Schon als junges Mädchen hatte ich mir sechs Kinder gewünscht, und Gott schenkte mir einen Mann, der denselben Wunsch hatte. Doch bei diesen sechs sollte es nicht bleiben. Da wir genug Platz und Kraft hatten, kamen nach und nach noch einige Kinder mehr dazu … „Mutti, mir ist langweilig!“ Die fünfjährige Tabea kommt in die Küche gelaufen, wo ich gerade dabei bin, einen Berg Kartoffeln zu schälen, um für unsere neunköpfige Familie das Mittagessen zu kochen. Tabeas sechs ältere Geschwister sind in der Schule und die Vormittage allein zu Hause sind lang. In den sozialistischen Kindergarten wollten wir unsere Kinder nicht schicken, so sind sie vor dem Schuleintritt alle zu Hause gewesen. Tabea hat einen Vorschlag, um ihrer Langeweile abzuhelfen: „Mutti, geh doch mal in ein Kinderheim und hol mir von da ein Geschwisterchen, dann habe ich jemanden zum Spielen!“ Ein knappes Jahr später sind wir – zunächst nur die Eltern, etwas später auch als ganze Familie – tatsächlich in einem nahegelegenen Kinderheim, um einen kleinen Jungen zu besuchen, den wir aufnehmen wollen. Über Beziehungen in der Gemeinde hatten wir gehört, dass ein psychisch krankes Ehepaar gläubige Pflegeeltern für seinen Sohn sucht. Nun besuchen wir das Kind, um es kennenzulernen und um zu sehen, ob es in unsere Familie passen würde. Vatis Herz erobert Michi im Sturm, als er auf dessen Schoß klettert und anfängt, mit den Fingern in seinem Vollbart zu wühlen. Auch alle anderen Familienmitglieder haben sich auf den ersten Blick in den kleinen Rotschopf verliebt. So beginnt unsere Aufgabe als Pflegeeltern. Fünf sind geladen, zehn sind gekommen … Doch die eigentlichen Anfänge unserer Geschichte liegen noch weiter zurück. Wir sind eine Familie mit einem offenen

Haus. Ich kannte das nur so, auch meine Eltern hatten ein offenes Haus für Freunde und Bekannte, die gerne willkommen geheißen wurden und am Familienalltag teilnehmen durften. Das lebten auch mein Mann und ich. Unsere Kinder wuchsen damit auf, dass es kein Problem war, mittags von der Schule nach Hause zu kommen mit den Worten: „Mutti, ich hab noch vier Freundinnen mitgebracht. Wir haben eine Freistunde. Können wir alle hier Mittag essen?“ In solchen Fällen ging mein Blick oft zu dem Spruch, der in unserer Küche hängt: „Fünf sind geladen, zehn sind gekommen. Gieß Wasser zur Suppe, heiß' alle willkommen.“ Nach diesem Spruch habe ich gehandelt, und es hat immer für alle gereicht. Auch wenn in der Nachbarschaft eine Mutter krank war und ihre Kinder mitversorgt werden mussten oder wenn Freunde unserer Kinder bei uns schlafen wollten, war das kein Problem. Eine Matratze war schnell bereitgelegt und ein Bett zurechtgemacht. Platz für noch mehr Kinder Unsere ersten fünf Kinder sind innerhalb der ersten fünf Ehejahre geboren – ein Mädchen, dann zwei Jungen und dann unsere Zwillinge, zwei Mädchen. Als die beiden knapp vier Jahre alt waren, war das sechste Kind unterwegs. Die Zwillinge rechneten sich aus: „Jetzt müssen wir einen Bruder bekommen, dann geht es wieder auf !“ Doch es wurde ein Mädchen. Für die Kinder kein Problem: „Dann brauchen wir jetzt eben noch zwei Jungs …“ Aber als Zugabe kam noch ein Mädchen, und so waren es sieben.

Wo sieben Kinder aufwachsen, ist immer noch Platz für ein achtes. Und so beschlossen wir, ein Pflegekind aufzunehmen, und Michi kam in unsere Familie. Aber bei dem einen blieb es nicht. Als unsere Ältesten erwachsen wurden und aus dem Haus gingen, stellten wir fest: Wir haben viel Platz und auch noch Kraft, wir könnten noch ein Pflegekind aufnehmen. Wieder war es Tabea, inzwischen 15 Jahre alt, die die Bitte äußerte: „Mutti, dieses Mal wollen wir aber ein Baby!“ Meine Antwort fiel eher negativ aus: „Mit 50 Jahren bekommt man doch kein Baby mehr – auch nicht vom Jugendamt. Aber wenn das dein Wunsch ist, kannst du ja dafür beten.“ Wir signalisierten dem Jugendamt, dass wir in ein paar Wochen wieder bereit wären, ein Pflegekind aufzunehmen. Für ein paar Tage war ich mit Michi allein zu Hause. Da rief mich eine Mitarbeiterin vom Jugendamt an: „Frau Tröger, könnten Sie sich vorstellen, ein Baby aufzunehmen?“ Nach Rücksprache mit meinem Mann gab ich ihr die Zustimmung und rief meine älteste Tochter an, die zu dem Zeitpunkt ihr drittes Kind erwartete. „Ich kriege auch ein Baby“, erzählte ich ihr, „aber früher als du!“ Schnell packte sie ihre Babysachen zusammen und lieh sie uns, damit wir die kleine Anja so bald wie möglich vom Krankenhaus abholen konnten. Nun lebt Anja schon seit zwölf Jahren bei uns. Vor etwa neun Jahren sprach mich die Leiterin des hiesigen Kinderheims an, ob wir ein Geschwisterpärchen von acht und neun Jahren aufnehmen könnten. Wir baten Gott um deutliche Führung. Unsere jüngste Tochter wollte im Laufe des folgenden Jahres heiraten, so war wieder Platz in der Wohnung. An Weihnachten kamen die beiden zu einem Probebesuch, und in den Februarferien zogen sie endgültig bei uns ein. So haben wir jetzt elf Kinder. Das sind mehr als die sechs, die wir uns gewünscht hatten. Unsere Kinder sagen immer, unser Kater sei das zwölfte Kind, und damit seien es für jeden von uns sechs.

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Amiira Ann

Hoffnung im Todestal

Wie ich nach einem traumatischen Erlebnis Heilung fand

Ich freute mich auf einen unbeschwerten Nachmittag mit unseren neuen Mitarbeiterinnen: Helena, einer Hebamme, und Leni, unserer Lernhelferin. Die beiden jungen Frauen waren erst vor ein paar Tagen hier im Jemen angekommen. Am ersten freien Tag ging ich mit ihnen zum Strand. Nie hätte ich gedacht, dass sich die idyllische Bucht in wenigen Augenblicken in einen Ort des Schreckens verwandeln könnte.

D

as Panorama war großartig: eine zweihundert Meter breite Bucht, links und rechts von dunklen Korallenriffen eingegrenzt, die vom kilometerlangen Sandstrand aus ins Meer hineinragten. Als wir lachend ins flach abfallende Meer liefen, stellten sich weitere Gäste am Strand ein. Helena entdeckte sechs Beduinenfrauen mit etwa zwanzig Kindern. Sie kamen geradewegs zu dem Platz, an dem wir Ausländerinnen unsere Stranddecke ausgebreitet hatten. Die schwarz gekleideten Beduinenfrauen boten uns in arabischer Gastfreundschaft Kekse und gesüßten Chai aus einer Thermoskanne an und begannen, uns mit neugierigen Fragen zu löchern. Die Kinder rannten barfuß mit ihren hübschen bunten Sonntagskleidern zum Meer und sprangen in voller Montur hinein.

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Die älteren Jungs wetteiferten darum, in dem knietiefen Wasser zu einem der seitlich aus dem Meer ragenden dunklen Riffe zu waten. Wie die meisten Jemeniten konnten sie nicht schwimmen. Bald hatten sie den Felsen erreicht und kletterten geschickt und furchtlos auf den messerscharfen Kanten herum. Die Gischt der sanften Wellen spritzte die Kinder nass und sie lachten begeistert. Unsichtbare Gefahr Doch dann überschlugen sich die Ereignisse. Eine Fontäne ergoss sich über den Felsen und die Kinder, die darauf herumgeklettert waren, schrien und winkten. Ich ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen war. Im nächsten Moment setzte ein markerschütterndes Geheul ein. Es war die Totenklage der


F o t o s : P r i vat

Meine Geschichte

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D 1 2 0 1 3 / Post ver triebsstück/Gebühr bezahlt/Lydia Verlag/Ger th Medien GmbH/Dillerberg 1/D -35614 Asslar-Berghausen

Frieden Innehalten,

stille werden,

lauschen auf die leise Stimme, die uns ruft. Erlösung, die uns geschenkt ist durch die Geburt dieses Kindes. Vergebung für die Gequälten.

Befreiung für die Gebundenen.

Hoffnung für die Verzweifelten. Würde für die Beschämten.

Heilung für die Zerbrochenen. Ruhe für die Beladenen.

Geborgenheit für die Einsamen. Schutz für die Verfolgten.

Ein Zuhause für die Heimatlosen. Trost für die Trauernden.

Leben für die Sterbenden. Freude kehrt ein in unsere Herzen – wenn wir glauben. Jrene Bircher


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