GewandhausMAGAZIN Nr. 91
SIMONE KERMES Gewandhaus MAGAZIN
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»Ich möchte wieder zurück zu den Wurzeln kommen«
HUNDERT JAHRE 1916 ging das Gewandhausorchester erstmals auf Reisen
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Sommer 2016
EUR 6,00
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© by makena plangrafik 2016
Die Latte liegt hoch: Das Gewandhausorchester im Rosental
NotizeN Schön war die Idee: Das Gewandhausorchester feiert sein Jubiläum »100 Jahre auf Reisen« im November mit Konzerten an den Orten, an denen es 1916 seine Karriere als Reiseorchester begann – Bern, Zürich, Basel, Luzern, St. Gallen. Sogar eines der Programme von damals hat das Management des Gewandhausorchesters den Veranstaltern in der Schweiz angeboten: Beethovens »Eroica«, Strauss’ »Tod und Verklärung«, Wagners »Waldweben« aus »Siegfried« und dessen »Tannhäuser«-Ouvertüre. Doch alle winkten nur ab. Schön wär’s gewesen, aber man kann die Schweizer verstehen: Es ist nicht ihr Jubiläum (das Wissen um die historischen Zusammenhänge sei ihnen einfach mal unterstellt). Nicht sie haben die Leipziger mitten im Ersten Weltkrieg eingeladen, sondern es waren Deutsche, die das Orchester im Dienst der Propaganda auf die Reise schickten. Mehr dazu in unseren Titelbeiträgen (ab Seite 8). – Immerhin geht es für das Gewandhausorchester auf einer seiner Jubiläumstourneen dennoch in die Schweiz: im September zum Lucerne-Festival. Schön ist dessen Motto »PrimaDonna« – und schade für das Publikum in Luzern, dass es eine wahre Primadonna dabei nicht erleben kann: Simone Kermes. Umso mehr können sich die Leipziger freuen, wenn die weltweit Gefeierte jetzt zu zwei Open Airs mit dem Gewandhausorchester kommt. Kermes legt allerdings im Interview (ab Seite 44) die Latte hoch: »Ich habe schon einmal ein Open Air vor 78 000 Leuten gemacht.« Im ver-
gangenen Jahr waren es in Leipzigs Rosental um die 30 000. Wie viele kommen diesmal? Schön wird es gewiss nicht sein, sollten die Briten mehrheitlich für den Austritt aus der EU stimmen. Das Referendum findet am 23. Juni, direkt vor den eben genannten Rosental-Konzerten vom 24./25. Juni statt – und wird in Leipzig sicher aufmerksam verfolgt werden. Spielt doch Großbritannien für das Gewandhaus schon lange eine wichtige Rolle: Im 19. Jahrhundert hätte es mit William Sterndale Bennett einen Briten als Gewandhauskapellmeister geben können (siehe Seiten 55 ff.). Im 20. Jahrhundert gehörte das Vereinigte Königreich mit zu den meistangesteuerten Reisezielen des Gewandhausorchesters (siehe Seiten 26/27). Und in London haben heute zwei Agenturen ihren Sitz, über die ein Großteil der Tourneeplanung für Leipzigs Orchester läuft (siehe Seiten 28 ff.). Schön war, die Überraschung zu erleben: Seit acht Jahren fragen wir die Mitglieder des Gewandhausorchesters, welchen Beruf sie im Falle einer Wiedergeburt ergreifen wollen. Nachdem mittlerweile 32 Musikerinnen und 64 Musiker geantwortet haben, ist die Frage so gut wie jedem im Orchester bekannt – weshalb wir diesmal eine zwar nur wenig, aber in einem entscheidenden Punkt veränderte Frage an zwei Männer und eine Frau brachten (siehe Seiten 4/5). Schön, dass sich alle drei trotz der Überraschung darauf eingelassen und nicht nur abgewinkt haben. Claudius Böhm
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Mensch & Musik 4 Auf diese Frage war keiner gefasst: Hartmut Brauer, Anna Theresa Steckel und Gerhard Hundt 6 Auftritte auch in Nordsachsen: Wolfgang Rögner 6 Auf der Welt einzigartig: Alexander Steinhilber 7 Auffällige Parallelen zu Dirigenten: Norbert Menke
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SoMMeRNACHtSKRitiK Einer der seltenen Auftritte der international gefeierten Sommervirtuosin Julia Arto verspricht leidenschaftliche Virtuosität. Für intellektuelle Durchdringung der Werke und beziehungsreiche Programmgestaltung ist Arto bisher weniger bekannt. Bei ihrem Leipziger Sommerabend im Clara-ZetkinPark bewies sie jedoch, dass sie zu Unrecht nur als Meisterin der Expressivität angesehen wird. Der prächtig und farbenreich gespielte, aber recht konventionell strukturierte Sonnenuntergang ließ davon zunächst wenig aufscheinen. Doch die präzise dosierte Abendbrise setzte einen neuen Ton, und mit dem träumerischen Froschkonzert, das Arto wie aus dem Nichts beginnen ließ, begann ein ausgesprochen beziehungsreicher Teil des Abends. Wie stark das Froschkonzert und der darauf folgende Mückenflug trotz des unterschiedlichen musikalischen Temperaments (das Arto keineswegs verleugnet!) aufeinander bezogen sind, zeigte die technisch brillante Sommeristin vor allem durch eindringlich herausgearbeitete rhythmische Parallelen. Der kräftige Abendstern setzte einen sorgsam durchdachten Kontrapunkt, ohne die Zartheit des Abends ganz aufzugeben. Arto schien ihn ganz aus dem Sonnenuntergang zu entwickeln, mit einem fein aufkeimenden Beginn und leuchtenden Spitzen. Vielgestaltig dann der Klassiker zum Abschluss: Arto gestaltete den Nachtigallengesang überraschend emotional, dabei aber unprätentiös und komplex in Klang und Phrasierung. Auch die Zugabe, das erst munter perlende und dann sanft verdämmernde Bachgemurmel, fügte sich bei aller ausgestellten Virtuosität schlüssig in das Programm. Die mittlerweile nicht mehr zu den »Jungstars« gehörende Sommeristin beweist, wie produktiv und letztlich gewinnbringend eine Abkehr von den vermeintlichen Zwängen des Jahreszeiten-Marktes sein kann: Gerade die langen Pausen zwischen ihren Auftritten scheinen Arto die künstlerische Reifung zu ermöglichen. Dieser Sommerabend setzte Maßstäbe! Ann-Christine Mecke 7. Juni im Gewandhaus: thomas Hampson singt »Am leuchtenden Sommermorgen«.
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Gl o ss e
8 Die erstlingstouren: Vor 100 Jahren brach ein lange verteidigter Verbotsdamm – das Gewandhausorchester durfte auf Reisen gehen. Die ersten beiden führten in die Schweiz und dienten vorrangig propagandistischen Zwecken. – Eine ausführliche Schilderung
16 Die zeitzeugin: Hildegard Sack gehörte zu den Chorsängerinnen des Leipziger Bach-Vereins, der das Gewandhausorchester auf der zweiten Schweizreise begleitete. – Erinnerungen in Briefform
20 Die Forschung: Die ersten Tourneen des Gewandhausorchesters bieten Stoff genug, beispielhaft Zusammenhänge von Musik, Diplomatie, Ökonomie, Musiker- und Publikumsverhalten sowie medialen Deutungen darzustellen. – Eine erste Analyse
26 Die zahlen: 50 Balken verraten, wie oft das Gewandhausorchester in welchen Staaten gastiert hat und gegebenenfalls mit wem. – Erläuterungen zu einer Graphik
28 Die Aussichten: Künstleragenturen blicken heute immer öfter in Richtung Asien und dabei insbesondere auf China, während sie zugleich immer seltener in die andere Richtung, nach Südamerika, schauen. – Ein Expertengespräch in London
Musikstadt heute 35 Leipzig – eine Musikstadt? Drei Fragen an den Sänger Thomas Hampson
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interview 44 Simone Kermes: Mozart hat ihr die Tür zur Musik aufgeschlossen, Händel ihr immer Glück gebracht, und mit Bach ist sie längst nicht fertig. – Ein Gespräch mit der weltweit gefeierten Sängerin unter anderem über die Anfänge in Leipzig, über die Verzichtbarkeit von Dirigenten und über den Wunsch, wieder zu den Wurzeln zurückzukehren
Gewandhaus gestern 52 William Göhring: Der Leipziger Jurist war von 1902 bis 1920 Mitglied und ab 1907 für dreizehn Jahre Vorsitzender der Gewandhaus-Konzertdirektion. Auch seine Zustimmung ermöglichte die erste Auslandstournee des Gewandhausorchesters. – Eine Erinnerung
Schweizreise 1916: Die Harfenistin Stefanie Politz in Begleitung von vier Gewandhausmusikern
28 55 William Sterndale Bennett: Zwei Briefe vom August 1853, mit denen der Engländer auf das Angebot reagierte, Gewandhauskapellmeister zu werden. – Ein Beitrag zum 200. Geburtstag des Komponisten
Kunst et cetera 36 Foto-Magazin: Absage eines Gewandhaus-Klavierabends 48 Musik im Bild: Samuel Becks Porträt von Joseph Kraus 66 Weitwinkel: Ausgewählte Kulturtipps
Längst Reiseziel vieler Orchester: Das Nationale Zentrum für darstellende Künste in Peking
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Kolumnen 40 Die CD-Kolumne: Klavierabend auf Konserve 42 Die Literaturkolumne: Heilkräfte der Musik 64 Die illustrierte Kolumne: Neulich im Konzert
Rubriken 58 60 61 62 68 Simone Kermes: »Bach ist für mich wichtig, irgendwie macht er wirklich das Herze rein«
Rätsel-Magazin: Wer hat das fiktive Interview gegeben? Briefe an die Redaktion Impressum Kalender: Gewandhausorchester-Konzerte im Sommer Fünfzig Hefte später: Konstanze Beyer
Titelfoto: Sandra Ludewig
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MUSiKALiSCHe MoMeNte »Moments musicaux« sind kleine lyrische Musikstücke. Gleiches wollen auch diese drei Texte sein, in deren Mittelpunkt Musiker des Gewandhausorchesters stehen. Unsere Autorin kreuzte in einem Café, auf einem Flohmarkt oder in einem S-Bahn-Tunnel ihren Weg und stellte allen die gleiche Frage. Die Augenblicke der Begegnung und der Antworten – Jutta Donat hat sie festgehalten.
einem weißen Hemd vor einem riesigen Lenkrad – das hat mir mächtig imponiert.« Mit seiner Antwort würde er gern auf diesen Kindheitstraum zurückgreifen. »Der große Herbert Blomstedt wollte Lokführer werden – ich begnüge mich mit Busfahrer.« Nach dieser kleinen Lockerungsübung fallen Hartmut Brauer noch weitere Karriereideen ein: Jazzmusiker, Orchestermanager oder Gewandhausdirektor. »Aber da wären wir ja schon wieder bei
Ärztin
Busfahrer Das gewandhausnahe Café Schiller ist an seinem spielfreien Tag ein angenehmer Entspannungsort für Hartmut Brauer. An einem Ecktisch sitzend, genießt er einen Cappuccino und lauscht der Hintergrundmusik. »Das ist mein Ding – Jazzmusik«, freut er sich, und ein Leuchten geht über sein Gesicht. »Ich bin ein Fan von Oldtime-Jazz.« Für einen Moment stören wir seine Kreise, um unsere Überraschungsfrage an den Mann zu bringen: Stellen Sie sich vor, in Ihrem Leben gäbe es keine klassische Musik. Welchen Beruf würden Sie ergreifen? Der sonst so höfliche und distinguierte Musiker macht aus seinem Unbehagen kein Hehl: »Das wäre eine Katastrophe!« Nach einer kurzen Pause lässt sich der 63-Jährige dann doch auf unser Gedankenspiel ein: »Als kleiner Bub bin ich mit meiner Mama oft in diesen alten Hanomag-Bussen gefahren. Der Busfahrer thronte mit weißen Handschuhen und 4
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sein!« Dieser Leitsatz bestimmte sein Lernen und Üben sowohl auf der Spezialschule für Musik in Halle als auch während seines Musikstudiums in Leipzig. Nach einem Engagement am Orchester der Komischen Oper Berlin kam er 1977 ins Gewandhaus, wo er ein Jahr später zum Solocellisten aufstieg. Heute wird Hartmut Brauer, zu dessen Hobbys Reisen, Lesen und Fotografieren gehören, noch einen Stadtbummel mit alltäglichen Besorgungen verknüpfen, ehe er wieder zum Üben ans Cello geht.
der klassischen Musik«, ertappt sich der elegant gekleidete Cellist. »Ich bin jetzt 39 Jahre lang Gewandhausmusiker – eine schöne, aber auch anstrengende Zeit. Bei einer zweiten Chance würde ich nach zwei Dritteln meiner Zeit das Cello aus der Hand legen und ins Management wechseln.« Hier könnte er dann seine reichen Erfahrungen einbringen, die er nicht zuletzt in den vielen Jahren als Vorsitzender des Orchestervorstands gesammelt habe. Das Einmischen als Musiker in Verwaltungsprozesse möchte der in Eisleben Geborene niemals missen. Stark geprägt vom Elternhaus – die Mutter eine hochbegabte Laiensängerin, der Vater Konzertmeister am Eislebener Theater und passionierter Violinpädagoge –, hat er bis heute das Diktum des Vaters im Ohr: »Wenn du in dem Beruf Freude haben willst, musst du richtig gut
Flohmarktfieber vor dem Stadion in Leipzigs Jahnallee. Stände mit Büchern, Tischwäsche, Klamotten und vielem mehr versprechen ein Schnäppchen. Unter den Schaulustigen entdecken wir Anna theresa Steckel. Die Geigerin schlängelt sich durch die Reihen und hält Ausschau nach Schmuck- oder Möbelraritäten. Schließlich stoppt sie vor einem großen Gewürzstand. Während sie die Beutel mit Teeblättern und verführerischen Ingredienzien einer gründlichen Musterung unterzieht, erklärt sie: »Heute genieße ich meinen freien Tag. Auf meiner Radtour habe ich diesen kleinen Flohmarkt entdeckt und will einfach nur mal schauen.« Wir nutzen den Stand-Stopp, um der Musikerin eine überraschende Frage zu stellen: Stellen Sie sich vor, in Ihrem Leben gäbe es keine klassische Musik. Welchen Beruf würden Sie ergreifen? »Ärztin«, lautet die spontane Antwort. »Nützlich zu sein, Menschen zu helfen – das fasziniert mich an dieser Tätigkeit«, sagt die gebürtige Pfälzerin und ergänzt: »Eine spezielle Fachrichtung habe ich da noch nicht im Blick.« Anderthalb Jahre nach dem Abitur – da war sie schon mitten im Musikstudium – waren der ehrgeizigen Studentin angesichts des Leistungsdrucks und der großen Konkurrenz Zweifel gekommen, ob sie die richtige Laufbahn eingeschlagen hätte. »Ich machte mir zum ersten Mal bewusst: Was will ich wirklich? Bin ich auf dem richtigen Gleis?« Nach dieser kurzen Phase der Wankelmütigkeit konnte sie für sich diese Frage bejahen und zur Freude am Musizieren zurückfinden.
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Schon als Dreijährige bekam Anna Steckel ersten Klavierunterricht von ihrer Mutter, einer Klavierlehrerin. Die Lust auf das Zusammenspiel in einem Schulorchester ließ sie mit acht Jahren Geigenunterricht nehmen. Zweigleisig führte danach die heute 30-Jährige ihre Musikstudien fort: als 15-jährige Jungstudentin im Fach Klavier in Wuppertal und ein Jahr später im Fach Geige in Karlsruhe. »Danach entschied ich mich für die Geige«, lacht die natürliche, offene Musikerin. »Die für mich wichtigste Lehrerin wurde Antje Weithaas an der Hochschule für Musik ›Hanns Eisler‹ in Berlin.« München, Boston und die Komische Oper Berlin waren weitere künstlerische Stationen, ehe sie 2014 als Konzertmeisterin der zweiten Violinen ins Gewandhausorchester kam. Inzwischen hat sich die aus Pirmasens stammende und in einem Haus mit großem Garten aufgewachsene, kräuterkundige Anna Steckel einen Überblick über das Angebot verschafft. Sie kauft Schwarzkümmelsamen, Eisenkrauttee und Schafskäsegewürz. An ihrem dienstfreien Nachmittag will die Naturliebhaberin noch durch den Richard-Wagner-Hain radeln und dabei die duftende Frühlingsluft genießen.
Übersetzer S-Bahn-Station Wilhelm-Leuschner-Platz. Mit 20-minütiger Verspätung donnert
die S 4 aus Wurzen in den Leipziger Tunnel. Ihr entsteigt ein frohgemuter Gerhard Hundt, einen kleinen, schwarzen Laptop-Rucksack über der Schulter. »Das war keine verlorene Zeit für mich«, lächelt der Musiker. »Ich habe ja immer mein Arbeitsgerät dabei, auf dem ich Noten schreibe.« Was es damit für eine Bewandtnis hat, erläutert der hochaufgeschossene Schlagzeuger, nachdem wir auf einer Bahnsteigbank Platz genommen haben: »Vor drei Jahren gründete ich zusammen mit meinem Kollegen Johann-Georg Baumgärtel einen Notenverlag – den Kornwein-Verlag. Ursprünglich wollten wir damit nur unserer Stimmgruppe gut lesbare Noten zur Verfügung stellen; inzwischen schreiben wir Noten für alle Instrumente.« Dieses ungewöhnliche Freizeitvergnügen scheint eine gute Ausgangsbasis für unsere Phantasiefrage zu sein: Stellen Sie sich vor, in Ihrem Leben gäbe es keine klassische Musik. Welchen Beruf würden Sie ergreifen? »Ich könnte mir allenfalls vorstellen, als Übersetzer oder Dolmetscher zu arbeiten, denn ich lerne sehr schnell und gut auswendig. Aber diese Frage nach einem anderen Berufswunsch hat sich mir bisher nie gestellt«, antwortet der freundliche 63-Jährige und räumt eine Ausnahme ein: »Ich wollte ursprünglich als Drummer in die Tanzmusik.« Dem habe die Spezialschule für Musik in Halle energisch einen Riegel vorgeschoben mit
der Begründung, Tanzmusik würde die klassische Musik negativ beeinflussen. Sein Lehrer Eckehardt Keune, ein sehr feinfühliger Pädagoge, habe ihn an den Zauber von Oper und Konzert herangeführt. 1969 begann Gerhard Hundt ein vierjähriges Musikstudium an der Leipziger Hochschule für Musik. Schon im ersten Studienjahr spielte der in Halberstadt Geborene und in einer Familie mit zwölf Kindern Aufgewachsene als Substitut im Gewandhausorchester. 1973 wurde er fest engagiert. Ungerührt vom S-Bahn-Sound schwärmt der vierfache Vater von seinem stillen, grünen Zuhause in Machern. Hier lebt der derzeit dienstälteste Gewandhausmusiker, dessen Liebe nach wie vor dem Jazz und Swing gilt, ein weiteres Hobby aus: »Ein Kollege und ich haben auf unseren Smartphones eine Schritt-ZählerApp installiert. Unsere Tagesnorm ist hoch: 10 000 Schritte am Tag, also etwa 7,5 Kilometer.« Danach sei der Kopf wieder frei für die Musik.
Jetzt ruft allerdings erst einmal das andere Hobby: Während wir uns auf der Rolltreppe nach oben bewegen, erzählt Gerhard Hundt, dass er von hier aus geradewegs ins Gewandhaus eilen werde, um die gerade neu geschriebenen Noten auszudrucken und zu kopieren.
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WAS FÄLLt WeG, WeNN ... Als »Ruheständler auf Abruf« bezeichnete sich Wolfgang Rögner noch vor kurzem. Nach elf Jahren als Generalmusikdirektor in Erfurt und acht Jahren als
Intendant des Sorbischen National-Ensembles gab es wohl niemanden, der ihm ein paar Mußejahre kurz vor der Rente missgönnt hätte. Gerade brachte das von ihm gegründete Neue Kammerorchester Dresden erste zarte Blüten hervor. Zudem hatte ihn das nur aus Frauen bestehende Streichorchester »Puellarum Pragensis« als seinen ständigen Gastdirigenten erkoren. Da verwunderte es dann doch, dass das Leipziger Symphonieorchester im vergangenen Jahr verkünden konnte, den Thüringer als Chefdirigenten engagiert zu haben. Dass eben jener Rögner, der in Bautzen im Streit um Kürzungen die Grundsatzfrage stellte und deswegen fristlos entlassen wurde, nun ein Orchester übernahm, das ständig auf diversen Streichlisten erscheint. Ein Orchester, das auch aktuell in seiner Existenz bedroht ist, seit ein Gutachten anregte, entweder die sächsischen Kulturraumgelder zu verdoppeln oder eines der beiden En6
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sembles des Landkreises Leipzig zu schließen: das LSO oder die Sächsische Bläserphilharmonie. Warum tut sich Wolfgang Rögner das an? »Diese Frage wird mir häufig gestellt. Ich liebe Herausforderungen – gleich ob musikalisch oder kulturpolitisch«, lacht der Dirigent. Derlei Gutachten habe er massenhaft erlebt, und manchmal seien sie das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt seien. Wenn im Frühsommer in den Landkreisen Leipzig und Nordsachsen die Entscheidung anstehe, hoffe er auf das Verständnis der Kreistage: »Maßgeblich ist doch, was an kulturellem Angebot wegfallen würde, wenn das LSO schließt: unter anderem unzählige Schülerkonzerte und Projekte mit dem musikalischen Nachwuchs, die die großen Leipziger Orchester so nicht anbieten können, weil es nicht zu ihrem Profil passt.« Rund 100 Konzerte plant Rögner für die kommende Saison. Neben dem Kern von sechs Sinfoniekonzerten in jeweils drei Städten im Leipziger Südraum sollen Auftritte in Nordsachsen ein Schwerpunkt werden. »Für diesen Wunsch des Landkreises habe ich großes Verständnis, und mit sieben Konzerten in Torgau stellen wir uns dem auch.« Die Ensemblegröße von 38 Musikern lässt zwar so manchen Repertoirewunsch unerfüllt. »Aber dafür suchen wir das Besondere, schließen Lücken und geben der zeitgenössischen Musik Platz«, wirbt Rögner. Sein gerade gefeierter 65. Geburtstag lässt den Dirigenten leichten Mutes in die Zukunft schauen. »Einen konkreten Zeithorizont habe ich nicht. Ich fühle mich beim LSO sehr wohl, und ob ich drei, fünf oder sieben Jahre hier dirigieren werde, hängt nicht zuletzt davon ab, wie lange mich das Orchester haben will.« Hagen Kunze
Konzerttipp 2. Juli, 15 Uhr, Biedermeierstrand Hayna am Schladitzer See: Das LSO spielt Stücke von Piazzolla, de Falla, Ravel und Bizet.
Die KASSette HAt eR NoCH Für Alexander Steinhilber, 45, hat sich mit der Ernennung zum neuen Geschäftsführer des Bach-Archivs ein persönlicher Wunsch erfüllt: Seitdem er bei einem Besuch in Leipzig von der Ausschreibung erfahren hatte, brannte er für diese Stelle. »Für einen Musikwissenschaftler ist dies ein ganz besonderer Ort, denn Bachs Werk ist gleichzeitig Höhepunkt all dessen, was vorher war, und Ausgangspunkt für alles, was danach kam. Der Genius Loci weht hier überall.« Außerdem habe ihn gereizt, dass er als Geschäftsführender Intendant des Bachfests künftig den künstlerischen Betrieb aktiv mitgestaltet. »In Hamburg habe ich in der Kulturverwaltung gearbeitet und damit die Rahmen für Kultur gesteckt. Dass ich nun solche Rahmen selbst ausfüllen und dabei konkrete Ideen umsetzen kann, finde ich spannend.«
Ideen für das Bachfest hat Steinhilber einige. Vor allem möchte er die Menschen unter 35 für Bach begeistern. Dafür müsse man akzeptieren, dass sie ein anderes Verständnis von Musik hätten. »Wir möchten Anlässe für die Kommunikation über Bach und das Bachfest schaffen und
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gleichzeitig den jungen Menschen Gelegenheiten zum Mitmachen geben.« Sein Ziel sei, sie »ohne eine Verflachung des Angebots in ihrer Welt abzuholen«. Steinhilbers zweites Anliegen ist, über das Bachfest als Plattform die Forschungsarbeit des Bach-Archivs auch für musikalische Laien sichtbar zu machen. »Das Bach-Archiv ist in seiner Bedeutung als Musikforschungsinstitut einzigartig auf der Welt. Mir ist wichtig, dass die Konzertbesucher erfahren, wie viel sie dieser Arbeit verdanken.« Aber Bach bedeutet für Steinhilber nicht nur Arbeit. Er liebt diese Musik, seit er im Bach-Jahr 1985 als 14-Jähriger eine Übertragung der h-Moll-Messe im Radio aufnahm. »Das war so viel gewaltiger als alles, was ich jemals vorher gehört hatte«, erinnert er sich. »Die Kassette habe ich heute noch.« Kurz darauf begann seine kirchenmusikalische Ausbildung, bei der Bachs Musik eine zentrale Rolle spielte. Und dann war da noch die Schallplattenreihe »Edition Bach Leipzig«, die der junge Alexander leidenschaftlich sammelte. »So lernte ich die großen Leipziger Interpreten schon sehr früh kennen.« An der Leipziger Bach-Pflege reizen Steinhilber deren Qualität und Vielseitigkeit. »Thomanerchor und Gewandhausorchester sind Pfunde, auf die Leipzig stolz sein kann und muss.« Außerdem biete Leipzig seinen Zuhörern Bach sowohl in moderner als auch historisch informierter Aufführungspraxis. »Beide Facetten finden sich auch im Bachfest wieder, denn das Publikum ist an beiden interessiert. Es ist toll, wie hier die unterschiedlichen Geschmäcker Resonanz finden.« Juliane Moghimi
Konzerttipp 19. Juni, 18 Uhr, Thomaskirche: Abschluss des Leipziger Bachfests mit der h-Moll-Messe, interpretiert von William Christie mit Les Arts Florissants.
AUCH Die BABYBoX Ein bisschen fremd stand es in der guten Stube – das Klavier, das eine Verwandte in den Kriegswirren aus ihrem Berliner Pianoforte-Geschäft Unter den Linden auf den Bauernhof in Westfalen gerettet hatte: Das Geld der Familie Menke reichte nicht, um einem der sieben Kinder Klavierstunden zu bezahlen. Immerhin übte das Instrument mit seiner Mechanik eine gewisse Faszination auf den späteren Ingenieur Norbert Menke aus. »Wahrscheinlich bin ich auf einem BioBauernhof aufgewachsen, auch wenn es diese Begrifflichkeit damals noch nicht gab«, scherzt der 53-Jährige. Er erinnert sich, dass vieles wieder- und weiterverwendet wurde. Später während der Lehre im Elektrohandwerk wurde ihm ein hoher Qualitätsanspruch vermittelt. »Es ist nicht so wichtig, wie lange man braucht, sondern dass es gut gemacht ist«, zitiert Menke seinen Meister. Von 1982 an studierte er Elektrotechnik in Paderborn, wo er 1995 auch promovierte. Ein berufsbegleitendes betriebswirtschaftliches Studium schloss er 1998 in Großbritannien ab. Dort lernte er in Wales auch eines der ersten energieautarken Dörfer der Welt kennen. Alle diese Stationen – vom westfälischen Hof bis zum walisischen Dorf – haben Norbert Menke in seinem Denken und Handeln nachhaltig geprägt. Folgerichtig spielte Nachhaltigkeit bei seinen Managementjobs in verschiedenen Unternehmen eine große Rolle. Den dabei erworbenen Erfahrungsschatz brachte er mit, als er vor zwei Jahren als Sprecher der Stadtholding nach Leipzig kam. Die Holding, die sich neuerdings »Leipziger Gruppe« nennt, steuert die Stadtwerke, Verkehrsbetriebe und Wasserwerke. Mit den Geschäftsfeldern Energie, Mobilität und Wasser, so Menke, sei die Leipziger Gruppe ein wichtiger Partner einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Und zu dieser Partnerschaft gehöre auch das Engagement für Sport, Kultur, Soziales und Bildung. »Dabei kommt es uns darauf an,
dass wir uns nicht nur für Leuchttürme wie den SC DHfK oder das Gewandhausorchester engagieren, sondern insbesondere auch Projekte unterstützen, mit denen wir die Breite erreichen – wie etwa den Leipzig-Marathon, den Fußballnachwuchs oder die Babybox.« Einen Vorteil, den das Gewandhaus seinen Sponsoren einräumt, hat die Leipziger Gruppe kürzlich für etwas Besonderes genutzt: Die Einführung der neuen Markenfamilie »Leipziger« wurde den Mitarbeitern im Großen Saal des Konzerthauses mit einer emotionalen Show präsentiert. Menke fallen, als er davon erzählt, Parallelen zwischen seinen Aufgaben und denen eines Dirigenten auf: »Vorausdenken, überzeugen, mitnehmen, Richtlinien vorgeben und somit Freiräume schaffen, damit sich Dinge entwickeln können, das alles müssen Orchesterleiter und Manager gleichermaßen.« Die Entwicklung eines Unternehmens hänge entscheidend vom Zusammenspiel aller ab, ist Menke überzeugt – und freut sich jetzt, wo er auf diese Parallelen gestoßen ist, umso mehr auf das nächste Große Concert. Dirk Steiner Weitere informationen unter www.L.de und www.gewandhausorchester.de/sponsors-club.
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MitteN HiNeiN iN DeN KULtURKRieG begaben sich die Orchester, die im Ersten Weltkrieg staatlich subventioniert auf Tournee gingen. Friedemann Pestel betrachtet die ersten Reisen des Gewandhausorchesters aus Sicht der historischen Forschung.
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Das Gewandhausorchester mit Arthur Nikisch am Weltpostdenkmal in Bern, 1917
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Dass Musiker auf Reisen gehen, ist kein Phänomen der jüngeren Vergangenheit. Bereits seit der Frühen Neuzeit wuchs die Mobilität von Komponisten, Sängern und Instrumentalisten kontinuierlich. Im Laufe des 19. Jahrhunderts prägten dann auch Tourneen größerer Ensembles den Musikbetrieb in Europa sowie in Nordund Südamerika. Charakteristisch für diese Reisen war, dass es sich um flexible, individuell zusammengestellte Ensembles handelte, die rein privatwirtschaftlich organisiert waren, so im Falle der Strauß-Kapelle oder des fahrenden Wagner-Theaters des Leipziger Operndirektors Angelo Neumann. Reisen ganzer Sinfonieorchester lassen sich seit den 1880er Jahren beobachten. Als typisches Phänomen der Hochmoderne bedurften die Orchester an ihren Zielorten bestimmter Infrastrukturen aus Konzertsälen, philharmonischen Gesellschaften und Agenturen, einer etablierten Musikkritik und natürlich zahlungskräftiger Publika. Solche musikalischen Institutionen, Konzert- und Opernbesuch als soziale Praktiken sowie ein sich verfestigender Werkekanon normierten Hörgewohnheiten über Ländergrenzen hinweg. Der Sensationswert von Orchestertourneen bestand daher maßgeblich darin, dass sich etablierte Rezeptionsmuster mit der Erwartung des Neuen und Besonderen verbanden, die aber immer auf einem gemeinsamen Erfahrungsfundament beruhten.
Von Schlafwagen geprägt Untrennbar war das Aufkommen von Orchestertourneen mit den innereuropäischen Verkehrsinfrastrukturen verbunden, die Reisen über große Distanzen in immer kürzerer Zeit logistisch erst möglich und ökonomisch rentabel machten. Wiens bedeutendster Musikkritiker Eduard Hanslick nannte den entstehenden Tourneebetrieb der 1880er Jahre treffend »eine neue Erscheinung, ein unserer Eisenbahn-Epoche vorbehaltenes Unicum«. Bereits lange vor dem Jetset-Zeitalter prägten Schlafwagen-Dirigenten und -Orchester das europäische Musikleben. Seine Feststellung traf Hanslick anlässlich des ersten Auftretens eines auswär-
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29. Mai 1931: Unterwegs von Köln nach Brüssel Gewandhausmusiker und der Boxer Hans Schönrath auf dem Grenzbahnhof Herbesthal
tigen Orchesters in Wien – der Meininger Hofkapelle, die unter Leitung Hans von Bülows nicht nur im Deutschen Reich, sondern auch in den Nachbarländern zu gastieren begann. Der Radius solcher Reisen vergrößerte sich rasch. Federführend wurden hier die 1882 – im Übrigen aus dem Widerstand gegen unzumutbare Reisebedingungen – aus der Bilseschen Kapelle entstandenen Berliner Philharmoniker. Hauptsächlich mit ihrem Chefdirigenten Arthur Nikisch bereisten sie ab den 1890er Jahren buchstäblich ganz Europa, von den Niederlanden bis Russland, von Skandinavien bis Spanien. Die Reisetätigkeit des Gewandhausorchesters begann 1916 relativ spät, selbst im Vergleich zu den Wiener Philharmonikern, die 1900 erstmals in Paris und 1906 in London gastierten. Wie die zuvor an die Gewandhausdirektion ergangenen Angebote jedoch zeigen, hatten die Akteure des sich internationalisierenden Musikbetriebs – Konzertveranstalter, Agenturen oder das Auswärtige Amt in Berlin – den traditionsreichen Klangkörper schon vorher klar im Blick. Auch die auf den Leipziger Standort fixierte Gewandhausdirektion war sich des zunehmenden Reise-
drucks bewusst, zog daraus allerdings genau den umgekehrten Schluss verglichen mit dem reisefreudigen Berliner Philharmonischen Orchester: Von den kommerziellen Interessen eines Reiseorchesters, betreut von einer gewinnorientierten Konzertagentur, wollte man sich in Leipzig nicht leiten lassen, obwohl die künstlerischen Voraussetzungen für eine internationale Präsenz ausgesprochen günstig waren.
es wird politisch Gewandhauskapellmeister Nikisch brachte von seiner parallelen Berliner Tätigkeit umfassende Erfahrungen höchst erfolgreicher Tourneen mit und hatte bereits 1907 gegenüber der Gewandhausdirektion klargestellt, »daß ein Künstler meiner Art nicht an eine Scholle gebunden sein kann«. Nikisch kann durchaus als der erste Dirigent gelten, der dem Musikleben auf beiden Seiten des Atlantiks entscheidende Impulse verlieh: 1889 bis 1893 hatte er das Boston Symphony Orchestra geleitet, 1912 gab er für eine USA-Tournee dem London Symphony Orchestra den Vorzug vor den Berlinern und den reiseunerfahrenen Leipzigern. Zwar wäre auch das Gewandhausorchester nicht das erste europäische Orchester in Nordamerika gewesen – diese Krone gebührt der Dresdner Philharmonie, die bereits 1909
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unmittelbar auf diese Initiativen, indem es mit dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire den führenden Pariser Klangkörper auf Tournee in die Schweiz schickte, sowohl in französisch- als auch deutschsprachige Städte. Dagegen blieben die Konzerte des Gewandhausorchesters, trotz anderslautender Planungen für 1917, auf den deutschen Teil beschränkt. Daran änderten auch die propagandistisch immer wieder hervorgehobenen Konzertbesucher aus der romanischen Schweiz nichts. Die Tourneeorte spiegelten damit die unterschiedlichen politisch-kulturellen Orientierungen der Landesteile während des Krieges wider, die für die Schweiz zur Zerreißprobe wurden.
Jetzt wird subventioniert 1. Juni 1931: Unterwegs von Paris nach Straßburg Gewandhausmusiker auf dem Bahnhof Nancy, in der Bildmitte Konzertmeister Leo Schwarz
den Atlantik überquerte. Mit dem 1913 ergangenen Angebot einer Südamerikareise hätte das Orchester allerdings Tourneegeschichte schreiben können – Jahre bevor Nikisch 1921 in Buenos Aires dirigierte und die Wiener Philharmoniker 1922 als erstes Orchester aus Übersee gastierten. Interkontinentalreisen blieben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ausnahmen. Trotz gut ausgebauter Dampfschifffahrtslinien waren die langen Reisezeiten mit den heimischen Verpflichtungen europäischer Orchester nur selten in Einklang zu bringen, ganz abgesehen vom Kostenfaktor. Insofern bildete die Schweiz als erste Reisedestination des Gewandhausorchesters vom geographischen Gesichtspunkt aus betrachtet ein durchaus typisches Reiseziel: in relativ geringer Entfernung und hervorragender Verkehrslage, mit einem zahlreichen und wohlhabenden Konzertpublikum, das zum überwiegenden Teil kulturell auf Deutschland orientiert war. Der besondere Charakter dieser Reise lag aber klar in ihrer politischen Bedeutung. Zwar waren die Wahl von Tourneeorten und die Reaktionen der jeweiligen Publika auch zuvor teil-
weise außenpolitischen Einflüssen unterworfen gewesen – Orchester wurden von Beginn an als Repräsentanten ihres Heimatlandes wahrgenommen und verstanden sich zumeist auch als solche –, mit dem Ersten Weltkrieg setzte jedoch ein deutlicher Politisierungsschub ein. Dieser definierte das Verhältnis von Musik und Politik neu und hatte nachhaltige Auswirkungen auf den Tourneebetrieb insgesamt.
Nur im deutschen teil Waren auch bei vorherigen Reisen insbesondere die Auslandsvertretungen in die Planung und Betreuung vor Ort mit einbezogen, bedienten sich in den Kriegsjahren die Außenministerien und Kulturbehörden in Berlin ebenso wie in Wien oder Paris der Orchester als Propagandaträger im »Kulturkrieg«. Mit dem Aufbau von Planungsstäben und Koordinationsstellen wurde Kulturpropaganda in verbündeten, neutralen oder besetzten Ländern zu einem Handlungsfeld der Diplomatie. Zum eigentlichen Brennpunkt entwickelte sich dabei die neutrale Schweiz, in die im staatlichen Auftrag von Seiten der Mittelmächte das Gewandhausorchester, aber auch das Darmstädter Hoforchester und die Wiener Philharmoniker reisten. Bei den Alliierten reagierte insbesondere Frankreich
Die Wirkungen der staatlichen Indienstnahme von Orchestern reichten jedoch über den unmittelbaren politischen Auftrag hinaus, leisteten doch staatliche Stellen einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung der notorisch kostspieligen Gastspiele. Bildeten öffentliche Tourneesubventionen zuvor die Ausnahme, verschoben staatliche Zuschüsse von nun an nachhaltig die Kräfteverhältnisse auf dem musikalischen Markt. Orchester und Agenturen mussten bei den Weltkriegsreisen nicht mehr Zielorte und Programme nach vorrangig ökonomischen Gesichtspunkten auswählen, um die anfallenden Transport- und Unterbringungskosten, Tagegelder und Honorare zu erwirtschaften. Durch die staatliche Deckung von Defiziten konnten nun auch Konzerte in kleineren Städten wie St. Gallen oder Luzern abgesichert werden, weil sie in erster Linie politisch gewollt waren. Dass die Stadt Leipzig ihrerseits durch die Übernahme von Einnahmeausfällen im Opernbetrieb zur Kostendeckung der Tourneen beitrug, war ebenfalls ein Novum. Die während des Ersten Weltkriegs eingeführte Subventionspraxis sollte sich über das Kriegsende hinaus verstetigen. In den Außenministerien wurden Kulturabteilungen eingerichtet, denen entsprechende Mittel zur Verfügung standen. Ohne solche Subventionen wä-
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3. Juni 1931: Zwischenstopp auf dem Weg von Genf nach Stuttgart in der Bildmitte oben rechts der Gewandhaus-Solocellist Hans Münch-Holland
ren nicht zuletzt die ersten Überseereisen der 1950er Jahre nicht zu finanzieren gewesen.
Machtansprüche reisen mit Nicht zufällig fanden die Schweizreisen des Gewandhausorchesters erst statt, nachdem mit dem Stellungskrieg an der Westfront rasche Siegaussichten der Mittelmächte geschwunden waren. Wenn in der politischen Rhetorik wie der heimischen Presse die friedliche Absicht der Tourneen, die völkerverbindende Kraft der Musik und die Möglichkeit eines baldigen Kriegsendes beschworen wurden, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Auslandskonzerte sehr wohl hegemoniale Machtansprüche transportieren sollten. Bezeichnenderweise bedienten sich die Leipziger Tageszeitungen häufig militärischer Metaphern, um den Erfolg des Orchesters mit Hilfe der »Waffen der deutschen Kunst« zu beschreiben, und verglichen Orchestermusiker mit Frontsoldaten. Gerade in der Schweiz sollten das Gewandhausorchester oder die Wiener Philharmoniker den vermeintli-
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chen Zivilisationsgrad, wenn nicht die kulturelle Überlegenheit der Mittelmächte gegenüber den Alliierten, allen voran Frankreich, demonstrieren. Diese Strategie schlug sich in der Leipziger Repertoireauswahl nieder, bei der Beethoven, Brahms und Wagner dominierten. Entscheidend für den Publikumserfolg der Konzerte war jedoch weniger diese Demonstrationsabsicht »wahrer« deutscher Kunst, sondern der Umstand, dass die gespielten »echten Reisedirigentenwerke«, wie sie die Leipziger Zeitung nannte, dem Publikum, gerade in der Deutschschweiz, mehr als vertraut waren. Tourneeprogramme setzten also von Beginn an vornehmlich auf Klassiker, wobei die Innovationsbereitschaft im Reiserepertoire über das 20. Jahrhundert deutlich abnahm.
Skepsis ist geboten Die Popularität der Programme förderte eine hohe Auslastung der Konzerte und sicherte enthusiastische Publikumsreaktionen. Bezeichnenderweise stand gerade Beethoven neben französischen Werken auch auf den Schweizer Programmen des Pariser Conservatoire-Orchesters; ebenso spielten beide Orchester, unabhängig von der politischen Bündniszugehörigkeit, Werke russischer Komponis-
ten. Diese Beispiele zeigen, dass auf der Sender- wie auf der Empfängerseite Instrumentalmusik mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen werden konnte, die ebenso hegemonialen wie humanistischen oder eben musikalischästhetischen Logiken entsprangen. Die Besprechungen der Konzerte in der Schweizer wie der Leipziger Presse geben darüber wertvolle Aufschlüsse. Folglich ist Skepsis geboten gegenüber einem vermeintlich eindeutigen Wirkungszusammenhang zwischen der politischen Absicht der Tourneen und den zustimmenden Publikumsreaktionen, wie er in den Quellen prominent aufscheint. Mögen manche Schweizer Konzertbesucher durchaus mit ihrem Beifall politische Sympathien für das Deutsche Reich bekundet haben, so waren die populären Programme, die transnationale Reputation Arthur Nikischs, der bereits 1897 mit den Berliner Philharmonikern in der Schweiz konzertiert hatte, und die künstlerischen Qualitäten des »Orchesters Mendelssohns« für die Mehrzahl der Besucher ausschlaggebender. Intensiver Werbung bedurften die Konzerte jedenfalls nicht. Das Interesse an Auslandsgastspielen beschränkte sich aber keineswegs exklusiv auf den Kulturexport der deutschen Kriegspartei. Ein Teil der Berner Konzertbesucher vom November 1916 dürfte kurz zuvor im selben Saal ebenso die von der gegnerischen Seite organisierten Lichtbildvorträge zur französischen Geschichte besucht haben. Auch die Anwesenheit von verwundeten oder internierten Soldaten, einschließlich der Feindesseite, oder diplomatischen Vertretern feindlicher Mächte markierte nicht automatisch eine Zustimmung oder gar Anerkennung einer deutschen Hegemonie. Vielmehr erklären gerade die Mehrdeutigkeiten, die Interpretationsspielräume des Publikumsverhaltens den Erfolg dieser Orchesterreisen, der dadurch aber eben immer auch ein relativer war, weil unterschiedlich motivierte Reaktionen problemlos nebeneinander bestehen konnten.
Musiker als Risikofaktor Dieser Befund gilt auch für Dirigent und Musiker. Mochte Arthur Nikisch sich als
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ein internationaler Dirigent verstehen, so predigte er in seinen eigenen Worten nichtsdestoweniger auf Reisen das »Evangelium deutscher Kunst« und betrieb die Tourneeorganisation im engen Zusammenwirken mit Kulturdiplomaten wie Harry Graf Kessler. Immerhin sah Deutschlands dirigentisches Aushängeschild in den Schweiz-Tourneen eine Möglichkeit, die durch den Kriegsausbruch entstandenen massiven Einschränkungen in seinem Wirkungsradius als Gast- oder Tourneedirigent teilweise zu kompensieren. In Interviews in der Schweizer Presse ließ Nikisch an seinem patriotischen Standpunkt keine Zweifel, obgleich er lieber über künstlerische als politische Fragen sprach. Auch persönliche Reaktionen der Musiker auf die politischen Vereinnahmungen lassen sich zumindest andeuten. Ihr Verhalten jenseits der Bühne, auf der sie einen homogenen Klangkörper bildeten, konnte die politischen Absichten verstärken oder konterkarieren. Die Verquickung von Musik und Diplomatie war hinsichtlich der einzelnen Musiker mit gewissen Risiken behaftet, da diese, ob absichtlich oder unabsichtlich, auch in ihrer Freizeit als politische Repräsentanten wahrgenommen werden konnten. Mit Blick auf die angespannte Versorgungslage im Deutschen Reich und die Zollbestimmungen achtete etwa die Chorsängerin Hildegard Anschütz darauf, mit ihrem Ess- und Einkaufsverhalten kein Aufsehen zu erregen. Dagegen legte es jener Gewandhausmusiker, der im Kollegenkreis in einem Luzerner Hotel lauthals »deutsche Vaterlandslieder« sang, regelrecht darauf an, im neutralen Ausland seinen nationalen Standpunkt kundzutun. Überraschenderweise hatte er damit durchaus Erfolg, versammelten sich doch britische, französische und amerikanische Hotelgäste um ihn und stimmten zum Teil sogar in den Gesang mit ein.
in Genf erst 1931 Ungewöhnlich für Gastspiele, wirkten die beiden Gewandhausorchester-Tourneen 1916 und 1917 unmittelbar im Leipziger Musikleben nach. Im September 1918 fand in Leipzig eine Schweizer Mu-
sikwoche statt, die deutlich macht, dass Kulturpropaganda nicht einseitig von den kriegführenden in neutralen Ländern erfolgte. Vielmehr reisten wenige Wochen vor Kriegsende Schweizer Komponisten und Dirigenten wie Hermann Suter und Othmar Schoeck nach Sachsen und dirigierten im Gewandhaus und in der Oper eigene Werke. Kriegsbedingt mussten die Gäste allerdings auf Tantiemen verzichten, und Künstler aus der romanischen Schweiz waren einmal mehr nicht vertreten. Mit den beiden Schweiz-Tourneen fand das Gewandhausorchester während des Ersten Weltkriegs Anschluss an den internationalen Musikbetrieb, auch wenn es erst zu DDR-Zeiten zu einem veritablen »Reiseorchester« avancierte. Die zwei Tourneen während der Zwischenkriegszeit knüpften allerdings an die Kriegsreisen an: 1923 bildete unter der Leitung Wilhelm Furtwänglers einmal mehr die deutschsprachige Schweiz das Tourneeziel, womit die 1916/17 unter den Vorzeichen der Kulturpropaganda entstandenen Beziehungen mit Schweizer Veranstaltern und Publikum unter dem Eindruck innenpolitischer Krisen und Inflation im Deutschen Reich eine Fortsetzung fanden. Bei der Westeuropareise 1931 mit Bruno Walter gastierte das Orchester dann erstmals in Genf, wobei es hier weniger um eine verspätete Kompensation für die 1917 aus politischen Gründen ausgefallenen Auftritte ging. Vielmehr bot gerade die Völkerbundstadt mit ihrem internationalen Publikum attraktive finanzielle Bedingungen. Angesichts der Folgen der Weltwirtschaftskrise, die für das Deutsche Reich insbesondere auch eine Krise der Reparationszahlungen war, über die in Genf verhandelt wurde, besaß kulturelle Repräsentation jedoch auch ohne unmittelbaren politischen Auftrag eine politische Dimension. Diese hier beispielhaft skizzierten Zusammenhänge von Musik, Kulturdiplomatie, Ökonomie, Musiker- und Publikumsverhalten sowie medialen Deutungen machen Orchestertourneen zu einer aufschlussreichen Sonde für den Stellenwert kultureller Praktiken in einer transnationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dem Gewandhausorchester kommt darin eine wichtige Rolle zu.
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2115 Was bedeutet diese Zahl, was das beistehende Diagramm?
Wer in eine Internet-Suchmaschine »2115« eintippt, stößt nicht gleich bei den ersten, aber doch unter den vorderen Suchergebnissen auf »100 Years« – den Film von Robert Rodriguez mit John Malkovich, der zwar im vergangenen Jahr abgedreht, aber erst im Jahr 2115 gezeigt werden soll. Mit dem Jubiläum »100 Jahre Gewandhausorchester auf Reisen« hat das im Grunde nichts zu tun, wenn nicht die Summe aller Gastspiele der Leipziger Musiker in den vergangenen »100 Years« eben genau diese Zahl ergäbe: 2115. So viele Male ist das Gewandhausorchester seit 1916 außerhalb Leipzigs aufgetreten, und zwar in 1677 Sinfoniekonzerten (im Diagramm rot gekennzeichnet), in 246 Konzerten gemeinsam mit dem Thomanerchor (im Diagramm blau) und in 192 Aufführungen gemeinsam mit dem Ensemble beziehungsweise dem Ballett der Oper Leipzig (im Diagramm gelb). Im Folgenden sollen diese Zahlen ein wenig aufgeschlüsselt und ein paar Hintergründe zum Diagramm beleuchtet werden.
Kontinente: Denkt man zunächst global, lässt sich schnell feststellen: 71 Prozent aller Auftritte fanden in Europa statt, 15 in Asien, zwölf in Nord- und zwei in Südamerika. Nicht einmal 0,2 Prozent machen die vier Konzerte in Australien aus. In Afrika war das Gewandhausorchester noch nie, Gleiches trifft mangels geeigneter Auftrittsorte auf Antarktika zu. Staaten: Genau 50 Staaten sind es – betrachtet man die USA als einen Gesamtstaat –, in die die Gewandhausmusiker in corpore ihre Füße gesetzt haben. Wobei hier tatsächlich nach Staaten und nicht nach Ländern differenziert wird, so dass auch nicht mehr existierende Staaten wie etwa die Sowjetunion, Jugoslawien oder das Deutsche Reich auftauchen. Das ist umso erwähnenswerter, als dass einer dieser nicht mehr existenten Staaten zu den Top Ten der GewandhausorchesterReiseziele im vergangenen Jahrhundert gehörte: die DDR. Rangliste: Platz eins unter den Top Ten nimmt mit 443 Konzerten die Bundesrepublik Deutschland ein, Plätze zwei und drei Japan und die USA, wobei Japan seinen zweiten Platz dem Thomanerchor verdankt. Italien dagegen muss nicht nur dem Chor, sondern auch der Oper Leipzig dankbar sein: Hätte das Opernensemble die Gewandhäusler zu DDR-Zeiten nicht so oft mit ins Mutterland der Oper mitgenommen – insbesondere zu zwei »Opera in Residence«-Aufenthalten in Messi-
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na auf Sizilien –, stünde Letzteres heute nicht vor Österreich, sondern wohl gleichauf mit der Alpenrepublik. Nahost: Das Land auf Platz 24 der Gewandhausorchester-Reiseliste verdient Beachtung wegen einer Besonderheit, die kein anderes Reiseziel vorzuweisen hat: In Israel sind die Leipziger Musiker noch nie als Sinfonieorchester aufgetreten. Vor der deutschen Wiedervereinigung 1990 ließ die Politik der DDR eine Reise dorthin nicht zu. Umso rascher kam danach das erste Gastspiel zustande, allerdings nur dank der künstlerischen Partnerschaft mit der Oper Leipzig: Im Juni 1992 fuhren Opernensemble und Orchester gemeinsam nach Jerusalem und führten dort unter anderem Udo Zimmermanns »Weiße Rose« auf. Zum ersten Mal in der Gegend waren die Gewandhäusler damit jedoch nicht: 1969 ging das Orchester erstmals gemeinsam mit Kurt Masur auf Tournee. (Das Orchester hatte zu dieser Zeit keinen Chef und reiste mit Gastdirigenten; dass Masur im Jahr darauf Gewandhauskapellmeister werden würde, war zu dieser Zeit noch nicht abzusehen.) Die Leipziger gastierten mit Masur im Libanon, auf Zypern und in Syrien. Am 11. August spielte das DDRVorzeigeorchester in Damaskus Schumanns »Frühlingssinfonie«. Ein Dank dafür, dass die gerade erst im Frühjahr durch einen Militärputsch an die Macht gekommene syrische Regierung am 5. Juni 1969 die DDR diplomatisch anerkannt hatte?
Nach 1990: Nicht nur Israel, auch andere Länder sind erst nach dem Ende der DDR zu den Reisezielen des Gewandhausorchesters hinzugekommen: Hongkong, Südkorea und Taiwan 1995 auf der letzten Asientournee mit Kurt Masur; Malaysia und Singapur 2003 auf der vorletzten Asientournee mit Herbert Blomstedt; China 2009 auf der ersten Asientournee mit Riccardo Chailly. Doch nicht nur Asien war, abgesehen von Japan, Neuland für das Orchester: Gemeinsam mit Blomstedt flog es 2003 zum ersten und bisher einzigen Mal nach Australien, 2009 mit Chailly erstmals nach Irland. Dirigenten: Am liebsten reist das Gewandhausorchester offensichtlich mit seinen Chefdirigenten, den Gewandhauskapellmeistern. Zumindest führen einige von ihnen die Rangliste der Tourneedirigenten des Gewandhausorchesters an. An der Spitze und selbst auf lange Sicht uneinholbar steht mit 947 »Tournee-Dirigaten« Kurt Masur. Wie immens diese Summe ist, zeigt etwa der Vergleich mit seinem Nachnachfolger Riccardo Chailly: Der hat es in seinen elf Amtsjahren zwar auf immerhin 222 Tourneekonzerte gebracht, im Schnitt 20 Auswärtskonzerte pro Jahr. Aber hochgerechnet auf die 26 Jahre, die Masur im Amt war, käme Chailly, nähme er erst 2031 seinen Abschied, gerade mal auf die Gesamtzahl von 520 Gastspielkonzerten. Hätte Chaillys Vorgänger Herbert Blomstedt, der Dritte in der Rangliste,
eher Chancen gehabt? In seinen sieben Amtsjahren hat er 193 Reisekonzerte dirigiert, im Durchschnitt 28 pro Jahr – was am Ende trotzdem nicht gereicht hätte, um Masur einzuholen. Franz Konwitschny nimmt mit 154 Konzerten den vierten Rang ein. Dann aber folgen nicht weitere Gewandhauskapellmeister, sondern zwei Thomaskantoren: Hans-Joachim Rotzsch trat in seinen 19 Amtsjahren bei orchesterbegleiteten Tourneekonzerten 80-mal ans Dirigentenpult, sein Nachfolger Georg Christoph Biller, 22 Jahre im Amt, tat es 77-mal. Was fehlt? Knapp 200 Staaten gibt es auf der Erde. Auch wenn das Gewandhausorchester vor 273 Jahren nicht zum Zweck des Reisens gegründet worden ist, können die Leipziger Bürger stolz sein, dass ihr Orchester die Kunde von der Musikstadt Leipzig mittlerweile in nahezu ein Viertel aller Staaten getragen hat. Freilich, in den bislang unbereisten Staaten gibt es nicht überall Interesse an abendländisch klassischer Musik. Umso mehr erstaunt, dass ein Land, in dem dieses Interesse bekanntermaßen groß ist, auf der Liste fehlt: Lettland. In dessen Hauptstadt Riga, der Geburtsstadt des designierten Gewandhauskapellmeisters Andris Nelsons, war das Gewandhausorchester noch nie. Man darf gespannt sein, wann das Orchester dort sein Debüt geben wird. Wobei zu vermuten steht: Das geschieht nicht erst 2115. Claudius Böhm
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KLAVieRABeND AUF KoNSeRVe Martin Hoffmeisters CD-Kolumne »Kontrapunkt« Klavierabende zählen zu den wenigen Konzertformen mit originärer Aura. Sie strahlen, generieren Magie, noch bevor der Weg in den Konzertsaal überhaupt angetreten ist. Und: Jedes Rezital lässt Erinnerungen an vergangene einschlägige Erlebnisse aufscheinen. Im ParforceRitt jagen Namen und Orte durch den Kopf wie Arturo Benedetti Michelangeli und die Stuttgarter Liederhalle, Igor Levit und die Düsseldorfer Tonhalle, Maurizio Pollini in der Berliner Philharmonie, András Schiff in Kattowitz, Rudolf Buchbinder in Warschau oder Keith Jarrett in Zürich. Allein solch emphatisch aufgeladener Erinnerungsstrom entschädigt für jegliche Strapaze oder Enttäuschung, die sich über die Jahre zweifellos ebenfalls als Reminiszenz manifestiert haben mögen im Zusammenhang mit Soloauftritten renommierter Pianisten. So gilt denn »Magie« als das eigent- und wesentliche Stichwort im Kontext mit dem Phänomen Klavierabend: Vorfreude, Erwartungs-Phantasien, die suggestive Ästhetik des offenen Flügels, die existenziell aufgeladene Aura der leeren Bühne, schließlich: der Künstler im Dialog mit sich selbst, dem Publikum, seinem Instrument – und der Musik. Ein Szenarium auch als Versprechen auf emotionale wie mentale Reinigung, nicht zuletzt auf intellektuelle Metamorphosen. Was wird der »Zauberkasten« unter den Händen des Meisters freigeben, was auslösen oder verändern? Wird das Instrument seinen Be-Spieler oder der Be-Spieler das Instrument domestizieren? Wird man zusammenfinden im geglückten, entgrenzten Moment? Was steht am Ende: quälendes Nachspiel oder rauschender Triumph? Bereits das überbordende halluzinatorische Potenzial im Kontext mit Klavier-Rezitalen vermittelt eine Ahnung vom mythischen, olympionikischen Charakter, mithin der Strahlkraft der traditionsreichen Konzertform. Der Künstler auf weiter Bühne im abgeschat-
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teten Lichtkegel am Flügel: ein Bild, das für mehr steht als musikalische Einlassung – (Selbst-)Inszenierung, Drama, Demut, Kampf, Ekstase, narzisstisches Opfer, Spiel, Offenbarung, Erkenntnis, Inspiration, Blockaden, Transzendenz. Die Klavierabend-Reihen des Leipziger Gewandhauses führten in den vergangenen Jahren zahlreiche bedeutende Musiker nach Leipzig. Die meisten von ihnen spielten vor wenigen hundert Besuchern, darunter genuine Tasten-Heroen wie Radu Lupu, Alfred Brendel, Katia und Marielle Labèque, Mitsuko Uchida oder Grigory Sokolov. Mit deutlichem Unverständnis, bisweilen Beschämung nehmen wir zur Kenntnis, dass Klavier-Rezitale an der Pleiße auf wenig Resonanz stoßen. Zwangsläufig drängt sich die Frage auf, wie lange schlecht frequentierte Veranstaltungen dieser Art noch finanzierbar bleiben. Werden wir also für international besetzte Klavierabende in naher Zukunft vielleicht nach München, Hamburg, Berlin oder Prag reisen müssen? Für die Musikmetropole Leipzig wäre es ein Desaster.
Aus Londons Wigmore Hall Großbritanniens Klavierszene zählt seit Jahrzehnten zu den renommiertesten, vielseitigsten und originärsten des europäischen Kontinents. Pianisten wie Benjamin Grosvenor, Paul Lewis, Imogen Cooper, Stephen Hough, Howard Shelley, Jill Crossland, James Rhodes, Peter Donohoe, Steven Osborne und zahllose andere stehen ebenso für ein breites stilistischästhetisches Spektrum und handwerkliche Vollendung wie für interpretatorische Noblesse. Bedenklich in diesem Zusammenhang stimmt allerdings die Tatsache, dass über Eingeweihte hinaus kaum einer die genannten Künstler außerhalb Englands je im Konzert erleben konnte. Zumindest – mit wenigen Ausnahmen – in Deutschland nicht, wo sich deren Ruhm ausschließlich über Radio, Web, Fachmagazine und Tonträger verbreitet. Wenn überhaupt. Zu den weltweit gefeierten, hierzulande aber weitgehend unbekannten britischen Künstlern gehört auch Christian Blackshaw, ein Mann in den 60ern, dessen pianistische Raffinesse sich zuletzt gelegentlich einer
Reihe von Live-Mitschnitten aus Londons legendärer Wigmore Hall bewundern ließ. Im Fokus der Rezitale, die sukzessiv beim hauseigenen Label der Konzertstätte veröffentlicht werden, stand (und steht) der integrale Zyklus der 18 Mozart-Sonaten. Nicht viele Pianisten haben sich den immensen Herausforderungen einer Gesamteinspielung dieser Werke gestellt, tatsächlich scheiterten unzählige bereits an einzelnen Sonaten. Blackshaws Exegesen nehmen für sich durch ihren leuchtend klaren, wie gemeißelt makellosen Ton ein. Sein Spiel kennt und berücksichtigt die ureigene Verfasstheit und Binnendramaturgie jeder Sonate, er weiß um das Wesentliche dynamischer Nuancen, um die Differenzierung der Phrasen, vermag das weite Ausdruckstableau zwischen spielerischer Einlassung, Abgrund, Melancholie und exzessiver Volte beispielhaft zu fassen. Die exzentrische Geste ist diesem außergewöhnlichen Pianisten ebenso fremd wie die Niederungen der Übertreibung.
Aus Warschaus Philharmonie Der Kult um den russischen Klaviervirtuosen Grigory Sokolov gemahnt bisweilen an die exzessive Verehrung der Tastenlegenden im späten 19. Jahrhundert. Wer heute einem Klavierabend des Meisters beiwohnt, meint denn auch eher an einer Messe teilzuhaben – samt mentaler Reinigung. Die Aura eines Sokolov-Konzerts auf einem CD-Mitschnitt abzubilden, grenzt trotz zunehmend verfeinerter technischer Möglichkeiten ans Unmögliche. Die spezifische Raum-ZeitKlang-Rezeption im Konzertsaal vermag die Konserve nicht annähernd zu spie-
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geln, geschweige denn wie im Falle Sokolovs dessen magische Körperlichkeit. Wie kein zweiter Pianist weiß Sokolov die Kluft zwischen Körper, Instrument und Musik aufzulösen, ja obsolet zu machen: Fokussierte, unmittelbare Pianistik, die Musik, Raum und Publikum zu transzendieren sich im Stande zeigt. Denn, so scheint es, Sokolov selbst ist Ton, ist Instrument, der Flügel nur marginales Mittel, Übersetzer klanglicher Idee. Trotz der angesprochenen Aporien im Kontext mit digitaler Aufzeichnung von KlavierRezitalen gehört auch der vorliegende Mitschnitt aus der Warschauer Philharmonie zum ewigen Kanon des Genres. Sokolov durchschreitet die Welt der Schubert-Impromptus D 899, von Beethovens »Hammerklavier-Sonate« op. 106 und ausgewählten Rameau-Piecen mit einer Unbedingtheit und Intensität, die die Maßstäbe interpretatorischer Konsistenz in neue Umlaufbahnen katapultiert. Sokolovs Handwerk, sein vielgesichtiges Ausdrucksspektrum in Laut- und LeiseWerten, zumal in der dynamischen Differenzierung, gehen weit über die Grenzen des Üblichen hinaus; Phrasierung, Artikulation, aparte Rubati, insbesondere aber seine Kunst des Trillers (Rameau) stehen für nichts weniger als die Neudefinition pianistischer Möglichkeiten. Dass der Mann aus Sankt Petersburg einen Notentext bisweilen sehr frei auszulegen versteht, liegt in der Natur grandiosen, selbstvergessenen Künstlertums.
Aus dem Penderecki-zentrum Der Konzertsaal des European Krzysztof Penderecki Centre for Music im polnischen Lusławice mit seinen exzellenten
akustischen Bedingungen lockt seit seiner Entstehung im Jahre 2013 zunehmend mehr Künstler und Ensembles zu Konzerten und/oder Aufnahmen in die abgeschiedene, landschaftlich ungemein reizvolle Region am Fuße der Karpaten. Der vorliegende Konzertmitschnitt des argentinischen Pianisten Nelson Goerner vom Spätsommer vergangenen Jahres stand ausschließlich im Zeichen der Musik Fryderyk Chopins, dessen Werke er zuvor unter anderem auch auf historischem Instrumentarium eingespielt hatte. Mit Goerner präsentiert sich auf dieser CD einer der profiliertesten Pianisten der Mittelgeneration. Seine Lesarten zeigen einen der subtilsten Chopin-Exegeten des Jahrhunderts – in der Nachfolge Rubinsteins –, in seinen Ausleuchtungen einzig den Tiefenschichten, der sublimen Faktur des Repertoires verpflichtet. Goerners Chopin atmet, er ist gezeichnet von Anschlagsdelikatesse, von strukturierender Intelligenz, Farbsensualismus und einer bemerkenswerten Empathie für die humanistische Botschaft dieser Werke.
men. Tatsächlich gerierte sich dieser Pianist zeitlebens als Akribiker existenziellen Zuschnitts, der im Wortsinne jeden Ton auf die Goldwaage zu legen pflegte. So gerieten selbst seine Konzerte zur Feier der Perfektion. Moravec, der in den wichtigen Konzertsälen der Welt gastierte, kehrte über sechs Jahrzehnte lang immer wieder zurück ins Prager Rudolfinum. Der Saal mit der legendären Akustik war dem Virtuosen geistige und emotionale Heimat, die ihn regelmäßig zu pianistischer Höchstform inspirierte. Im Prager Klavierabend von 1987 erweist Moravec fünf der wichtigsten Klavierkomponisten der Historie seine Reverenz, eine Hommage nicht zuletzt auch an die eigene pianistisch-interpretatorische Vielseitigkeit und Substanz. Ähnlich darin Friedrich Gulda, neigt Moravec kaum zur klanglichen Mystifizierung, zu romantisierender Überzeichnung. Im Zentrum seiner markierten Pianistik stehen Transparenz, Durchdringung, Geradlinigkeit und nuancierte Tongebung. Die CD vergegenwärtigt eine einzigartige Dimension künstlerischer Stringenz.
Aus dem Prager Rudolfinum Ein Konzertmitschnitt mit Geschichte! Nachdem das Prager »Twelfth Night Recital« des tschechischen Pianisten Ivan Moravec 28 Jahre lang unveröffentlicht im Archiv lag, sollte es 2015 von Freunden dem feinsinnigen wie skrupulösen Musiker als Geschenk zum 85. Geburtstag übergeben werden. Monate zuvor verstarb der Pianist, nicht ohne wochenlang über den Sinn der geplanten CD diskutiert zu haben: Immerhin, so Moravec, habe er die dargebotenen Werke beispielhaft bereits im Studio aufgenom-
CD-tipps • Mozart: Piano Sonatas Volume 3 – Christian Blackshaw – The Wigmore Hall Trust WHLive 0076/2. • Sokolov: Schubert / Beethoven – Deutsche Grammophon 4795426. • Chopin: Polonaise, Berceuse, Barcarolle, 24 Préludes – Nelson Goerner – Alpha Classics 224. • Ivan Moravec: Twelfth Night Recital, Prague 1987 – Supraphon SU 4190-2.
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iCH MöCHte WieDeR zURÜCKKoMMeN Wann hat Leipzig letztmals einen solchen Sängerstar hervorgebracht? Simone Kermes ist mittlerweile in aller Welt aufgetreten – in Amerika genauso wie in Australien, in Paris wie in Peking, in Mexiko wie in Moskau. Jetzt wird die vielfach Ausgezeichnete, die 2011 »Sängerin des Jahres« war, wieder einmal in Leipzig gastieren. Wir haben in Berlin mit ihr gesprochen.
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Frau Kermes, wir haben Ihnen einen besonderen Stadtplan von Leipzig mitgebracht. In ihm sind alle Orte markiert, die in Verbindung zu Max Reger stehen. Interessiert Sie das? Simone Kermes: Ich war kürzlich in Leipzig für eine Talkshow. Da habe ich am nächsten Tag meinem Begleiter Leipzig gezeigt. Wir waren auch im Bach-Museum, wo es gerade die Reger-Ausstellung gibt. Aber ich bin kein Reger-Fan. Reger hat in Leipzig an der Hochschule unterrichtet, an der auch Sie studiert haben. Gibt es da keine Querverbindung? Kermes: Es gibt ganz viele Querverbindungen, die sich in der letzten Zeit aufgetan haben. Ich bin nächstes Jahr Botschafterin der Anna-MagdalenaBach-Grundschule in Leipzig, die mit dem Thomanerchor kooperiert. Ich bin ja Bach- und Mendelssohn-Preisträgerin. Und meine allererste CD habe ich mit Kurt Masur und Mendelssohns »Suleika« gemacht. Das kam so zustande: Es gab damals an der Hochschule einen Wettbewerb um ein Stipendium in New York. Ich wollte eigentlich nur Masur, der in der Jury saß, vorsingen. Er war sehr angetan und meinte: »Du brauchst nicht an die Juilliard School, du hast hier deine Lehrerin und solltest mit ihr deinen Weg weitergehen.« Aber er wollte sofort mit mir etwas machen. Das Resultat war diese CD, die damals für den Wiederaufbau des Mendelssohn-Hauses produziert worden ist. Jetzt war ich mit meinem Begleiter in diesem wiederaufgebauten Mendelssohn-Haus und habe gedacht: Dafür hast auch du etwas getan. Das ist eine Querverbindung genauso wie der Mendelssohn-Wettbewerb in Berlin, den ich 1993 gewonnen habe. Er fand damals zum ersten Mal gesamtdeutsch statt, und die Leipziger Musikhochschule hat in diesem Jahr alle Preise abgeräumt. Drei Jahre später gewann ich auch den Bach-Wettbewerb. Das sind alles Querverbindungen: Mendelssohn und Bach, eine Leipzigerin, die jetzt in Berlin lebt. Und nun trete ich wieder in Leipzig auf. Schließt sich damit für Sie ein Kreis?
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Kermes: Ja. Ich muss allerdings ehrlich sagen, ich habe mit Bach noch nicht meinen Frieden geschlossen. Im vergangenen Jahr habe ich in München das Weihnachts-Oratorium gesungen, mit allen sechs Kantaten. Es war ein Riesenerfolg. Dennoch bin ich längst nicht fertig mit Bach. Als ich jetzt in Leipzig meinem Begleiter das Bach-Grab zeigte, wurde mir bewusst: Du hast hier studiert, bist hier großgeworden, hast den Bach-Wettbewerb gewonnen, der damals noch viel schwerer war als heute, und hier die Johannes-Passion gesungen. Das war vor zehn Jahren im Gewandhaus, Riccardo Chaillys erster Bach in Leipzig. Was war für Sie wichtiger, der Mendelssohn- oder der Bach-Preis? Kermes: Beide waren für mich wichtig. Nach dem Mendelssohn-Preis gab es eine Tour mit Liederabenden in ganz Deutschland. Auch nach dem Bach-Wettbewerb habe ich erst einmal sehr viel Bach gesungen. Doch ich hatte immer Angst, wusste immer, wie schwer es ist. Bachs Musik hat eine solche Tiefe, dass man ihr nur mit Demut begegnen kann. Aber das darf nicht zu viel sein. Man muss diese Musik trotzdem interpretieren. Und ich sage mir, vielleicht ist jetzt die Zeit, wieder mehr Bach zu machen – nicht nur um meinen Frieden mit ihm zu finden, sondern auch um zu den Wurzeln zurückzukehren. Haben Sie als Leipzigerin nicht ohnehin Bach im Blut? Kermes: Ja, ich denke schon, aber damals an der Hochschule habe ich mehr Oper als Oratorium gesungen und auch studiert, die Barockmusik habe ich mit verschiedenen Dirigenten kennengelernt, und so habe ich mich dann zum Bach-Wettbewerb angemeldet. Leider gab es in der Jury – wie es immer ist, ein Wettbewerb ist nie objektiv – Dozenten, die meine Bach-Interpretation nicht mochten und mich mit schlechten Punkten gedrosselt haben. Ich habe deshalb nicht den ersten Preis bekommen. Das war ungerecht. Dazu muss ich noch sagen: Barockmusik hat bei mir mit Händel angefangen. Den habe ich bereits mit 14 Jahren gesungen, 46
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er hat mir immer Glück gebracht. Man hat mit ihm etwas mehr Erfolg – wie auch mit Vivaldi, Rossini, Verdi und so weiter. Bei Bach steht man blank, muss man zeigen, was man kann – ähnlich ist es auch bei Mozart –, während der Effekt eher gering ist. Keine Schnörkel, keine Glissandi, keine Show. Gilt nicht generell für Ihre Soloprogramme, dass Sie blank dastehen – beim aktuellen Programm »Love« genauso wie etwa davor bei »Rival Queens«? Kermes: Das ist sicher so. Dabei hat die Musik von »Rival Queens« noch ein ganz anderes Gewicht. Für mich baut auf dieser neapolitanischen Schule, auf ihrem Repertoire speziell für die Kastraten alles auf, was danach kommt. Wenn man diese Richtung singen kann, diese stupende Gesangstechnik beherrscht, kann man eigentlich alles singen. Wenn ich ein Programm mache mit diesen neapolitanischen Sachen, ist es hundertmal schwerer als alles, was danach kommt. Sie haben Joseph Martin Kraus’ Solokantaten gesungen. Sind nicht auch die besonders schwer? Kermes: Das sind sie. Aber Kraus setzt sich ja in diesen Kantaten mit der neapolitanischen Schule auseinander. War Kraus Ihre erste Soloaufnahme? Kermes: Nein, das war »La Maga Abbandonata« mit Arien von Händel. Ich habe viel Händel gemacht. Aber der große Erfolg kam erst mit dem neapolitanischen Programm »Lava«. Das war ein Bestseller. Ich singe das alles immer noch, finde alles noch toll. In Ihrem Terminkalender stehen aktuell weniger Konzerte als noch vor einem Jahr. Wie wählen Sie Ihre Auftritte aus? Kermes: Vergangenes Jahr war ich viel unterwegs und habe zu viel gemacht. Das will ich nicht mehr. Ich suche mir heraus, was mich interessiert. Zum Beispiel die Open Airs jetzt mit dem Gewandhausorchester sind durch meine Bekanntschaft mit Alexander Shelley zustande gekommen. Ich habe mit ihm schon einmal ein Open Air vor 78 000 Leuten gemacht.
Wo war das? Kermes: In Nürnberg, Shelley ist dort Chefdirigent. Das ist das größte KlassikOpen-Air in Europa. Mir war das erst gar nicht bewusst. Und dann kamen diese Massen – 78 000 Leute! Wer erlebt das schon? Das haben ja nicht einmal die Rolling Stones. Jedenfalls hat mich Alexander Shelley gefragt, ob ich Lust auf die Konzerte in Leipzig hätte. Wir sind ja jetzt open-air-erprobt. Seit wann arbeiten Sie zusammen? Kermes: Seit 2011. Da haben wir in Düsseldorf ein Konzert sogar mit Rammstein-Titeln gemacht. Alexander Shelley ist ein wunderbarer Dirigent, der von Barock bis Moderne alles gleichermaßen gut kann. Das weiß ich nicht nur aus Düsseldorf und Nürnberg, sondern zum Beispiel auch aus Berlin, wo wir vor anderthalb Jahren im Konzerthaus gemeinsam ein Wahnsinnsprogramm zu Silvester und Neujahr gemacht haben. Wie kommen Sie zu Ihren Programmen? Kermes: Das mache ich alles allein. Ich suche das Repertoire zusammen, wähle die Stücke aus, schreibe bei meinen CDs immer das Booklet und habe sogar das Konzertprogramm zur aktuellen CD »Love« selbst produziert. Das heißt, ich habe meinen Choreographen Torsten Händler eingekauft, Tänzer von der Staatlichen Ballettschule Berlin gecastet und engagiert, die Kostüme mit meiner Designerin Johanna Henze kreiert und gesponsert wie auch eine Perücke – und noch dazu alle Konzerte organisiert. Ich bin der Solist, stehe selbst auf der Bühne, trage die volle Verantwortung und organisiere nebenher noch alles andere. Da muss man kämpfen, niemand hilft dir da. Aber letztlich zählt die Qualität, das Ideal. So ein Projekt mit Tänzern mache ich, um etwas Neues, Modernes im Konzertgeschehen zu präsentieren, um Menschen zu berühren. Auch das bürgerliche Konzert hing in seiner Frühzeit wesentlich von den Gesangssolisten ab. Warum spielt Sologesang heute kaum noch eine Rolle im normalen Abonnementkonzert?
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Kermes: Ich singe selten in Abo-Konzerten. Es ist schwer, so ein Publikum zu knacken. Der größte Teil geht dahin, ohne zu wissen, was auf dem Programm steht. Bei einem freiverkauften Konzert kommen die Leute ja extra meinetwegen und wegen des Programms. Das finde ich besser. Reizt es Sie nicht trotzdem, ein Publikum zu »knacken«? Kermes: Ja, aber wissen Sie, welche Energie das kostet? Ich habe diese Energie vielleicht, aber viele haben sie nicht. Es gibt da auch große regionale Unterschiede. Die Sachsen zum Beispiel sind kein einfaches Publikum. Die sind nicht so begeisterungsfähig wie die Kölner oder die Berliner. Und wenn sie es dann doch toll finden, kommt als das Höchste der Gefühle lediglich: »Nicht schlecht, kann man nicht meckern.« – Ich darf das sagen. Ich bin doch selbst Leipziger und Sachse und kann auch über mich lachen. Hängt Ihre Abneigung gegenüber dem Abo-Konzert auch damit zusammen, dass Sie gern auf den Dirigenten verzichten? Kermes: Bei meinem aktuellen Programm gibt es auch keinen. Mein Orchester funktioniert ohne Dirigenten. Wir sind wie eine Familie, und so muss es auch sein, denn es dürfen nie die Freude und die Energie leiden. Der Schlüssel zu allem ist, die Energie zu transportieren, zu transformieren. Ohne Dirigenten zu spielen, ist für Alte Musik nicht ungewöhnlich. Aber wie reagiert ein Sinfonieorchester, wenn der Dirigent fehlt? Kermes: Wissen Sie, was das Problem mit den Dirigenten ist? Viele kriegen Angst, weil sie überhaupt nicht wissen, wie man Sänger begleitet. Für ein gutes Orchester ist das kein Problem. Ich drehe mich immer um, singe zum Orchester und gebe meine Energie direkt an die Musiker weiter. Eigentlich brauchen wir dann keinen Dirigenten. Voraussetzung ist natürlich ein guter Konzertmeister. Geht es auch in der Oper ohne Dirigenten?
Kermes: In meinem aktuellen Programm stehe ich mit Tänzern auf der Bühne, tanze und spiele mit ihnen und sehe den Konzertmeister nur aus dem Augenwinkel – und es klappt! In der Oper sieht das anders aus. Wenn die Dirigenten keine Ahnung haben, machen sie dich tot. Du hast dann auch keinen Erfolg. Selbst wenn du gut bist, kannst du das nicht mehr steuern. Das geht schon mit dem Tempo los. Wenn es falsch ist, funktioniert nichts. Deshalb bevorzuge ich es, Oper konzertant zu machen. Haben Sie nur schlechte Erfahrungen gemacht? Gibt es nicht doch auch Dirigenten, die mit Sängern zu musizieren verstehen? Kermes: Alexander Shelley ist so einer. Das ist mein Dirigent. Natürlich gibt es auch noch andere, meist jüngere oder unbekanntere, die es schaffen, die Energien des Solisten mit dem Orchester zu transformieren und an das Publikum weiterzugeben. Das sind Dirigenten, die ihr Orchester animieren können, die Spaß an ihrer Arbeit haben und sich auch nicht überstrapazieren lassen. Man kann Musik doch nicht wie am Fließband machen und von Mucke zu Mucke reisen, wie es so mancher Dirigent tut. Man muss ja auch noch Kraft übrig haben, neue Trends für unser klassisches Musikleben und neue Wege für die jüngeren Generationen zu finden. Wir brauchen ein gebildetes Publikum, das in der Lage ist, Musik zu verstehen. Aber daran wird heute kaum noch gearbeitet. Da fangen die Probleme schon mit dem Musikunterricht in den Schulen an. Haben Sie den in Ihrer Kindheit anders erlebt? Kermes: Nein. Wie sind Sie da zum Rundfunk-Kinderchor gekommen? Kermes: Das hat meine Nachbarin angestoßen, die mich immer singen gehört hat. In der dritten Klasse habe ich mir in der Bibliothek Schallplatten ausgeliehen – Wagner, Mozart, Callas, Schreier. Es gab einfach mehr klassische als andere Platten dort. Die habe ich mir angehört, und was ich toll fand, habe ich mitgesungen:
die Felsenarie der Fiordiligi genauso wie die Rachearie der Königin der Nacht oder die Hallenarie der Elisabeth – eigentlich alles, was ich jetzt auch singe. Was hat Sie angetrieben? Gab es eine familiäre Vorprägung? Kermes: Nein, ich war fasziniert von dieser Musik. Mozart war der Schlüssel. Ich bin immer wieder an Mozart hängengeblieben. »Così fan tutte« war auch meine erste reguläre Oper, die ich gesungen habe, und dann immer wieder Così, Così, Così. Diese Oper hat mich mein Leben lang, ich will nicht sagen: verfolgt. Immer wieder werde ich dafür angefragt, bis heute. Das ist zwar schön, aber dann denkt man irgendwann, es ist auch mal gut. Jetzt sollte vielleicht wieder mehr Bach kommen. Ich bin auch schon erneut vom Münchner Bach-Chor angefragt worden. Da habe ich allerdings gesagt: »Macht doch mal die Matthäus-Passion in der Mendelssohn-Fassung.« Denn da habe ich Arien zu singen, die ich bisher noch nicht hatte. Und das reizt Sie? Kermes: Ja. Es geht mir oft so, wenn ich Bach höre, dass ich bei manchen Arien sage: Die will ich auch singen. Obwohl sie für eine andere Stimme geschrieben sind – aus der Matthäus-Passion zum Beispiel die Bassarie »Mache dich, mein Herze, rein« oder die Altarie »Erbarme dich, mein Gott«. Bach ist für mich wichtig. Irgendwie macht er wirklich das Herze rein und holt einen auf den Boden zurück. Vielleicht mache ich als nächstes ein Bach-Programm. Das wäre meine erste deutsche CD. Ich möchte gern so etwas machen, wieder zurückkommen zu den Wurzeln, zu dem, was ich bin und was in meinem Innersten ist. Interview: Claudius Böhm, Hagen Kunze
Konzerttipps 24./25. Juni, 20 Uhr, Leipziger Rosental: »La Primadonna« – Werke aus Musical und Film, Oper und Operette. An jedem Abend erklingt ein anderes Programm.
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inte r vie w
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BRieFe Dank dem Stadtarchiv Leipzig: Adolph Emil Wendler im Bilde
ein wirklicher »Straßenfeger« Zur gesamten Ausgabe Nr. 90
Briefe an die Redaktion es gibt doch ein Bild! Zum Beitrag »Und nebenbei Gewandhausdirektor« von Anna-Barbara Schmidt in Nr. 90 Seit vielen Jahren bin ich Abonnent Ihrer Zeitschrift und freue mich über jede neue Ausgabe. Es gelingt Ihnen sehr gut, das vielfältige Musikleben in und um Leipzig vorzustellen. Mit besonderem Interesse lese ich natürlich die Artikel zur Musikgeschichte und den damit verbundenen Personen. In der letzten Ausgabe stellte Anna-Barbara Schmidt das Mitglied der Gewand60
Gew an d h au s- M a g a zi n
hausdirektion Adolph Emil Wendler vor. Im Artikel bedauert Frau Schmidt, dass sich kein Porträt von ihm erhalten hat, deshalb möchte ich auf eine im Stadtarchiv Leipzig verwahrte Abbildung von Wendler im Bestand Gewandhaus zu Leipzig Nr. 1743 verweisen. Es handelt sich um eine Lithographie vom 29. Oktober 1839 und zeigt Wendler als jungen Mann. Mit freundlichen Grüßen Im Auftrag Carla Calov Ltd. Bestandsreferentin Stadtarchiv Leipzig (per E-Mail)
Sie kennen sicher auch noch die Zeiten, zu denen Krimiserien im »Westfernsehen« Straßenfeger waren. Das neue Magazin hat auf mich eine analoge Wirkung. Ich konnte das Heft nicht aus der Hand legen und habe darüber erst einmal ein paar andere zu erledigende Dinge einfach vergessen!!! Kompliment!! Und weiter solche guten Hefte! Damit soll aber keinesfalls gesagt sein, dass die anderen Hefte etwa nicht gut waren. Aber dieses Mal ist es eben durch die Aktualität des Inhalts ein wirklicher »Straßenfeger« zumindest für die Gewandhausfans geworden. Danke! Mit freundlichen Grüßen Volker Stiehler, Leipzig (per E-Mail)
Schreiben Sie uns bitte: Gewandhaus-Magazin Redaktion Augustusplatz 8 04109 Leipzig Fax: (0341) 1270-468 E-Mail: magazin@gewandhaus.de
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Gewandhausorchester Das Gewandhausorchester musiziert im Gewandhaus, in der Oper Leipzig und gemeinsam mit dem Thomanerchor in der Thomaskirche. Gewandhaus Augustusplatz 8 04109 Leipzig www.gewandhaus.de Karten & Spielplaninformationen Tel. (0341) 1270-280 Fax (0341) 1270-222 E-Mail: ticket@gewandhaus.de Abonnements Tel. (0341) 1270-270 Fax (0341) 1270-444 E-Mail: abo@gewandhaus.de Vermietung Tel. (0341) 1270-349 Fax (0341) 1270-403 E-Mail: betriebsbuero@gewandhaus.de oper Augustusplatz 12 04109 Leipzig www.oper-leipzig.de Tel. (0341) 1261-261 thomanerchor Hillerstraße 8 04109 Leipzig www.thomanerchor.de Tel. (0341) 98442-11 thomaskirche Thomaskirchhof 18 04109 Leipzig www.thomaskirche.org Tel. (0341) 22224-0
Gewandhaus-Magazin Redaktion Augustusplatz 8 04109 Leipzig Herausgeber: Gewandhaus zu Leipzig (Eigenbetrieb der Stadt Leipzig) Gewandhausdirektor Prof. Andreas Schulz Gewandhauskapellmeister Riccardo Chailly Redaktion: Claudius Böhm (verantwortlich), Sonja Epping, Hagen Kunze (Assistenz), Roland Ludwig (Korrektorat), Dirk Steiner, Iris Türke (Sekretariat) Tel. (0341) 1270-387, Fax (0341) 1270-468 E-Mail: magazin@gewandhaus.de Reihengestaltung: Christopher Kunz Gestaltung dieser Ausgabe: Ines Linke Druck und Binden: D+L Reichenberg GmbH Verlag: Das Gewandhaus-Magazin erscheint im Verlag Klaus-Jürgen Kamprad, Altenburg, mit vier Ausgaben pro Spielzeit. Verlag Klaus-Jürgen Kamprad Theo-Neubauer-Straße 7, 04600 Altenburg Tel. (03447) 375610, Fax (03447) 892850 E-Mail: verlag@vkjk.de Vertrieb und Anzeigen: Verlag Klaus-Jürgen Kamprad, Altenburg, Ansprechpartnerin: Anja Pippig Tel. (03447) 375610, Fax (03447) 892850 E-Mail: anja.pippig@vkjk.de Es gilt die Anzeigenpreisliste vom 1.1.2015. Vertrieb im Bahnhofsbuch- und Zeitschriftenhandel über DPV GmbH, www.dpv.de, lange.guido@dpv.de. Autoren dieser Ausgabe: Maja Anter, Claudius Böhm, Jutta Donat, Steffen Held, Martin Hoffmeister, Anja Kleinmichel, Hagen Kunze, Dr. Ann-Christine Mecke, Juliane Moghimi, Dr. Sieglinde Oehrlein, Dr. Friedemann Pestel, Hildegard Sack, AnnaBarbara Schmidt, Kerstin Sieblist, Dirk Steiner, Dr. Stefan Voerkel Fotos und Abbildungen dieser Ausgabe: Angermuseum Erfurt / Dirk Urban (S. 50), Elisabeth Bolius (S. 67 oben), Marco Borggreve (S. 63), Oliver Fantitsch (S. 67 unten), Gewandhaus / Jens Gerber (S. 1), Gewandhaus / Eberhard Spree (S. 31/32), Kristin Hoebermann (S. 35), Armin Linke (S. 67 Mitte), Sandra Ludewig (Titel, S. 3 unten, 44–47, 62 unten), Gert Mothes (S. 2, 4–6, 68, Beilage), Kirsten Nijhof (S. 36/37), Martin Petzold (S. 64), Privat (S. 18/19), Privat / Horst Kolberg (S. 48), Torsten Proß (S. 7), Stadtarchiv Leipzig (S. 15, 52, 60), Peter Warren (S. 62 oben), Wikimedia / Evilbish (S. 3 Mitte), Wikimedia / Francisco Diez (S. 28/29), Wikipedia / Taxiarchos228 (S. 16/17), Gewandhausarchiv (alle übrigen) Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Die im Gewandhaus-Magazin veröffentlichten Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt, ihre Verwertung ist nur mit dem Einverständnis der Redaktion und bei Angabe der Quelle statthaft.
Christina Pluhar artist in residence 7.10. Gera | 8.10. Weißenfels 9.10. Dresden
Eva Mattes | Wu Wei Lautten Companey 13.10. Dresden | 14.10. Bad Köstritz
Marco Beasley – exklusiv 14.10. Dresden
Michel Godard Das neue Programm
15.10. Weißenfels | 16.10. Dresden
G ew a n d h a u s -Mag az& in Tickets 61 © Gewandhaus−MagazinGesamtprogramm
www.schütz-musikfest.de
KALeNDeR
9./10. Juni
10. Juni
20 Uhr, Leipzig, Gewandhaus Andris Nelsons, Dirigent Richard Wagner Ouvertüre zur Oper »Tannhäuser« Vorspiel und Isoldes Liebestod aus der Oper »Tristan und Isolde« WWV 90 Anton Bruckner 3. Sinfonie d-Moll WAB 103 (3. Fassung von 1888/89)
20 Uhr, Leipzig, Gewandhaus Trevor Pinnock, Dirigent Martina Janková, Sopran Ann Hallenberg, Alt Benjamin Bruns, Tenor Peter Mattei, Bariton (Arien) Michael Nagy, Bariton (Christus) Panajotis Iconomou, Bass (Pilatus) MDR-Rundfunkchor NDR-Chor Johann Sebastian Bach Matthäus-Passion BWV 244 (Einrichtung von Felix Mendelssohn Bartholdy)
17 Uhr, Leipzig, thomaskirche Gotthold Schwarz, Dirigent Ullrich Böhme, Orgel Thomanerchor Leipzig Johann Sebastian Bach Passacaglia c-Moll BWV 582 Kantate »O Ewigkeit, du Donnerwort« BWV 20 Max Reger Requiem op. 145a (»Lateinisches Requiem«)
16./17. Juni
20 Uhr, Leipzig, Gewandhaus Riccardo Chailly, Dirigent Sarah Connolly, Alt Damen des MDR-Rundfunkchores Damen des Gewandhaus-Chores Gewandhaus-Kinderchor Gustav Mahler 3. Sinfonie d-Moll
19. Juni
24./25. Juni
18 Uhr, Leipzig, Gewandhaus Riccardo Chailly, Dirigent Sarah Connolly, Alt Michael Schönheit, Orgel Damen des MDR-Rundfunkchores Damen des Gewandhaus-Chores Gewandhaus-Kinderchor Johann Sebastian Bach Präludium und Fuge e-Moll BWV 548 Gustav Mahler 3. Sinfonie d-Moll
Simone Kermes
2./3. Juni
Sarah Connolly
Konzerte des Gewandhausorchesters im Sommer
20 Uhr, Leipzig, Rosental Alexander Shelley, Dirigent Simone Kermes, Sopran »La Primadonna« – Werke aus Musical & Film, Oper & Operette 62
Kal end er
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20 Uhr, edinburgh, Usher Hall Herbert Blomstedt, Dirigent Julian Rachlin, Violine Johann Sebastian Bach Konzert für Violine und Orchester E-Dur BWV 1042 Anton Bruckner 5. Sinfonie B-Dur WAB 105
27. August
19.30 Uhr, edinburgh, Usher Hall Herbert Blomstedt, Dirigent Sir András Schiff, Klavier Ludwig van Beethoven 2. Ouvertüre zur Oper »Leonore« op. 72a 5. Konzert für Klavier und Orchester Es-Dur op. 73 Felix Mendelssohn Bartholdy 3. Sinfonie a-Moll op. 56 MWV N 18 (»Schottische«)
31. August
19.30 Uhr, London, Royal Albert Hall Herbert Blomstedt, Dirigent Sir András Schiff, Klavier Ludwig van Beethoven 2. Ouvertüre zur Oper »Leonore« op. 72a 5. Konzert für Klavier und Orchester Es-Dur op. 73 7. Sinfonie A-Dur op. 92
Die Angaben entsprechen dem Stand vom 12. Mai. Änderungen bleiben vorbehalten.
29. August
30. August
Vilde Frang
26. August
19.30 Uhr, Rotterdam, De Doelen Herbert Blomstedt, Dirigent Vilde Frang, Violine Johann Sebastian Bach Konzert für Violine und Orchester E-Dur BWV 1042 Anton Bruckner 5. Sinfonie B-Dur WAB 105
19.30 Uhr, Salzburg, Großes Festspielhaus Interpreten und Programm wie am 29. August
JUNI 04. | Samstag | 09:30/11:00 Uhr Bambinokonzert
16. | Donnerstag | 18:00 Uhr Sommerkonzert für Familien
„Schille“ – Theaterhaus des Evangelischen Schulzentrums (Otto-Schill-Straße 7, Hinterhaus) VVK: Musikalienhandlung M. Oelsner (Schillerstr. 5) Eintritt: 3 € / Kinder bis 3 Jahre frei
Sinfonisches Blasorchester, Nachwuchsblasorchester, Vorbereitungsensemble Blechbläser Gewandhaus (Mendelssohn-Saal) VVK: Musikalienhandlung M. Oelsner (Schillerstr. 5) Eintritt: 7,50 € / 4 € erm.
11. | Samstag | 15:00 – 19:00 Uhr Tag der aufgeschlossenen Tür
Kalender
JUNi 2016
Alle Fachbereiche stellen sich vor Musikschule Eintritt frei
14. | Dienstag | 20:00 Uhr 20 Jahre MSL BIGBAND MDR Streichorchester & MSL BIGBAND MDR Würfel (Augustusplatz 9a) VVK: an allen bekannten VVK-Stellen Eintritt: 16,40 €
19. | Sonntag | 15:30 Uhr 20 Jahre MSL BIGBAND Big Band Sound von Swing bis Jazz Biedermeierstrand (Haynaer Ufer des Schladitzer Sees) VVK: Musikalienhandlung M. Oelsner (Schillerstr. 5) sowie an der Tageskasse Biedermeierstrand Eintritt: 7,50 €
Alle weiteren Informationen unter www.musikschule-leipzig.de
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20. und 21. | Montag und Dienstag | 18.30 Uhr Sommertanzgala Schauspiel Leipzig (Bosestraße 1) VVK: Schauspiel Leipzig (Theaterkasse), Musikalienhandlung M. Oelsner (Schillerstr. 5) sowie an allen bekannten Ticket-Online-VVK-Stellen Eintritt: 12 € / 7 € erm. zzgl. VVK-Gebühr
23. | Donnerstag | 20:00 Uhr Hofkonzert Konzert mit Ensembles der Musikschule Innenhof der Musikschule Eintritt frei
Die SAAt iSt AUFGeGANGeN Zwölfeinhalb Jahre ist es her, dass das Gewandhaus-Magazin das Leipziger Barockorchester und dessen Leiterin Konstanze Beyer porträtierte: »Eine Musizierfarbe, die zu Leipzig gehört«, hieß es damals, und die Überschrift verrät viel über die hiesige musikalische Szene vor einem Achteljahrhundert. Denn obgleich schon seit den 1980er Jahren das kleine Pflänzchen der historischen Aufführungspraxis an der Pleiße von zwar wenigen, dafür aber besonders enthusiastischen Anhängern gehegt und gepflegt wurde, waren die Darmsaiten-Jünger in der Stadt, in der Johann Sebastian Bach 27 Jahre lang lebte, zuerst bestenfalls Außenseiter. Es bedurfte einiger Jahrgänge des seit 1999 jährlichen Bachfestes mit seinen unterschiedlichen Handschriften, es bedurfte der behutsamen Besetzungsexperimente vor allem am Ende der Ära des Thomaskantorats von Georg Christoph Biller, bis auch in Leipzig die historisch informierte musikalische Praxis derart Einzug hielt, dass sie kein Fremdkörper mehr war. Vor allem aber bedurfte es einer neuen Musikergeneration, die mit undogmatischem Schwung jahrzehntelang eingefahrene Grundsätze hinterfragte. Selten hat man bei der Recherche für die Rubrik »50 Hefte später« so sehr den Eindruck, in einer komplett anderen Zeit zu leben. Und auch wenn Konstanze Beyer davon spricht, was ihr Ensemble inzwischen alles geplant und aufgeführt hat, dann liegen Welten zwischen dem Dezember 2003 und der Gegenwart. Nein: Das Leipziger Barockorchester hat die liebevolle Rechtfertigung, »zu Leipzig zu gehören«, längst nicht mehr nötig. Das Ensemble, das schon 21 Jahre lang gemeinsam musiziert, ist mittlerweile einer der Botschafter Leipzigs in der musikalischen Welt. In seiner Heimatstadt ist es seit 1998 das feste Orchester des Bach-Wettbewerbs, bestreitet in Mitteldeutschland Konzertreihen, gastiert beim Bachfest ebenso regelmäßig wie bei den Telemann-Festtagen in Magdeburg, war gar »Ensemble in Residence« des Bach-Archivs. »Es hat sich gelohnt, so lange intensiv bei der Sache zu bleiben«, freut sich die 49-Jährige im Rückblick. »Wir haben uns in Leipzig und darüber hinaus etabliert.« Konzertreisen führten das Ensemble nach Japan und im November 2013 als Begleiter des Thomanerchors in die USA. Dort gastierten die Musiker in diesem Frühjahr erneut – zusammen mit ihrem Partnerchor von der Universität Valparaiso führten sie Bachs Johannes-Passion auf. »Zur Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Studentenchor kam es erstmalig 2007«, erinnert sich Beyer. »Das war der Beginn einer wundervollen Freundschaft, die uns alle zwei, drei Jahre zusammenführt.« Wie schon 2003 besteht das Leipziger Barockorchester auch heute noch aus einem festen Stamm von gut zwei Dutzend Musikern, von denen je nach Bedarf 15 bis 18 gemeinsam proben. Da die Gründungsgeneration mittlerweile zumeist den 50. Geburtstag überschritten hat, stellt sich bisweilen auch die Frage
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Fü nf z i g Heft e s p ä t e r
nach dem Nachwuchs: »Wir haben in den vergangenen Jahren auch einige neue Leute aufgenommen, aber sie müssen sich dem Klangideal anpassen, das wir in 21 Jahren gefunden haben«, erläutert Konstanze Beyer. Grundsätzlich sei dies aber heute weniger problematisch als noch vor zwölfeinhalb Jahren, betont sie. »Dank den hervorragenden Ausbildungsmöglichkeiten in Leipzig gibt es hier alles vor der Haustür, was wir uns damals mühevoll als Autodidakten oder in Kursen in ganz Europa angeeignet haben. Die nächste Generation kann wirklich auf etwas zurückgreifen, was wir aufgebaut haben. Und die Qualität der Absolventen der hiesigen Alte-Musik-Studiengänge zeigt, dass die Saat auch aufgegangen ist.« Wenn also in einem weiteren Achteljahrhundert die erste Generation des Leipziger Barockorchesters langsam in Rente gehe, müsse man sich um die Zukunft keine Sorgen machen: »Das Ensemble wird es auch dann noch geben«, ist dessen künstlerische Leiterin felsenfest überzeugt. Hagen Kunze
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