3/2012 - Aktiv für die Menschenrechte

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VOICE

Aktiv für die Menschenrechte Das mutige Engagement der Menschenrechts­ verteidigerinnen und -verteidiger.


Editorial Frauen und Männer, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen, werden vielerorts diffamiert, kriminalisiert, verfolgt, gefoltert oder ermordet. Häufig bleiben die Täter unbehelligt, so auch in Tschetschenien und Russland. Hinter russischen Gefängnismauern wird oft gefoltert, und die Hintergründe von politischen Morden bleiben im Dunkeln – selbst wenn es sich bei den Opfern um bekannte Menschenrechtsverteidigerinnen handelt. Wer sich für Menschenrechte einsetzt, braucht Mut. Arzu Güngör sagt im Interview, ihr sei der Mut von ihrer Familie vorgelebt worden. Arzus persönliche Geschichte schockiert, denn in ihrem Heimatland Türkei wurde sie für Aktivitäten, die für uns selbstverständlich sind, verfolgt, gefoltert und kriminalisiert. Furchtlos handelte auch der Tibeter Dhondup Wangchen, der in seinem Film «Leaving Fear Behind» Missstände in seinem Land aufdeckte und dafür mit Folter und sechs Jahren Gefängnis bestraft wurde. Auf internationaler Ebene unterstützen die Schweizer Behörden verschiedene Projekte zum Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern, wobei deren Schutz im Inland kein sonderlich hoher Stellenwert zukommt. Mit der anstehenden Asylgesetzrevision sollen ausgerechnet politisch aktive MigrantInnen kriminalisiert werden. Menschen wie Arzu Güngör und Dhondup Wangchen, die ihre Angst überwinden und sich unerschrocken für mehr Gerechtigkeit einsetzen, verdienen höchste Anerkennung und brauchen unsere Solidarität. Die GfbV widmet ihnen deshalb diese Ausgabe der Voice und wird sich auch weiterhin aktiv für den Schutz dieser Menschen stark machen – bleiben auch Sie dran! Anna Leissing, Kampagnenverantwortliche GfbV Schweiz

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ist eine internationale Menschenrechtsorganisation, die sich für verfolgte Minderheiten und indigene Völker ­einsetzt. Sie dokumentiert Menschenrechtsverletzungen, informiert und sensibilisiert die Öffentlichkeit und nimmt die Interessen der Betroffenen gegenüber Behörden und Entscheidungsträgern wahr. Sie unterstützt lokale Bemühungen zur Stärkung der Menschenrechte von Minderheiten und indigenen Völkern und arbeitet national und international mit Organisationen und Per­sonen zusammen, die ähnliche Zielsetzungen verfolgen. Die GfbV hat beratenden Status beim Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) der UNO und beim Europarat.

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Mutige Menschen für die Men­ schenrechte

Interview mit Arzu Güngör

Rückblick auf Rio+20

MenschenrechtsverteidigerInnen in der kleinen kaukasischen Republik Tschetschenien werden auch Jahre nach dem Krieg eingeschüchtert, verfolgt, gefoltert und getötet. Täter und Hintermänner dieser Verbrechen brauchen sich in Putins Russland nicht vor einer Strafverfolgung zu fürchten.

Arzu Güngör musste fliehen, weil sie sich aktiv für die Rechte von Frauen, der Kurden und von Homo- und Trans­ sexuellen einsetzte. Nun lebt und arbeitet sie in der Schweiz. Sie engagiert sich weiter für die Menschen­ rechte.

20 Jahre nach dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro: Vom 20. bis 22. Juni fand in der brasilianischen Metropole der Umwelt- und Nachhaltigkeitsgipfel Rio+20 statt. Auch die GfbV war dabei.

Inhaltsverzeichnis

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Mutige Menschen vertei­digen die Menschenrechte

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Kurzinfos

Die Schweiz und Menschenrechtsverteidiger

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GfbV-Projekte und -Kampagnen

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Tibet: Die Angst zurücklassen

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Rückblick Rio+20

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Interview mit Arzu Güngör

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Service Bücher, Ausstellungen

Herausgeberin: Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz, Schermenweg 154, CH-3072 Ostermundigen, Tel. 031 939 00 00, ­E-Mail: info@gfbv.ch, Web: www.gfbv.ch, Spendenkonto: BEKB: IBAN CH05 0079 0016 2531 7232 1  Redaktion: Verantwortlich: Reto Moos­­mann, Mitarbeit: Michel Dängeli  Gestaltungskonzept/Layout: Clerici Partner Design, Zürich  Titelbild: Deklaration der Menschenrechte von 1948  Bild Rückseite: Roma-Mädchen in Mitrovica/Kosovo (Foto: Franziska Stocker)  Erscheinungsweise: vierteljährlich  Auflage: 8500 Exemplare  Abonnement: CHF 30.–/Jahr, Insertionstarif auf Anfrage Nächste Ausgabe: November 2012, Redaktions- und Inserateschluss: 1. Oktober 2012  Copy­right: © 2012 Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz. Die Wiedergabe von Artikeln ist bei Angaben der Quelle und Belegexemplaren an die Herausgeberin erlaubt  Druck: gdz AG, Zürich, gedruckt auf FSC-Papier  ZEWO: Die GfbV trägt das ZEWO-Gütesiegel für gemeinnützige Institutionen. Es steht für einen zweckbestimmten und transparenten Umgang mit Spenden.

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4 Mutige Menschen verteidigen die Menschenrechte Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger (MRV) in der kleinen kaukasischen Republik Tschetschenien werden auch Jahre nach dem Krieg eingeschüchtert, verfolgt, gefoltert und getötet. Täter und Hintermänner dieser Verbrechen brauchen sich in Putins Russland nicht vor einer Strafverfolgung zu fürchten.

Foto: Zaynap Gashaeva/ Chechen Archive

«Warum sollte ich eine Frau ermorden, die keiner braucht? Sie besass weder Würde noch Ehre noch ein Gewissen», sagte kein Geringerer als der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow, nachdem er von Menschenrechtsorganisationen beschuldigt worden war, in die Ermordung der bekannten Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Natalya Estemirowa im Juli 2009 verwickelt zu sein. Knapp einen Monat später drangen tschetschenische Sicherheitsbeamte in ein Büro einer humanitären Organisation in Grosny ein und entführten die zwei Mitarbeiter, Zarema Sadulajewa und ihren Mann Alik Umar Dzhabrailow. Tags darauf wurden die beiden im Kofferraum ihres Autos erschossen aufgefunden. Wieder einmal ging die Angst um in Tschetschenien, und die Menschen fragten sich: «Wer wird der Nächste sein?» Menschenrechtsorganisationen zogen sich eingeschüchtert aus Tschetschenien zurück, politische Aktivisten mussten ausser Landes fliehen und die Zivilbevölkerung litt unter dem staatlichen Terror. Die letzten in Tschetschenien verbliebenen Mitglieder von NGOs sahen sich täglich perfiden Schikanen, unverhohlenen Drohungen und dumpfer Gewalt ausgesetzt. Manch einer machte unter diesen Bedingungen seinen «Deal» mit dem Staat, was in der Folge zum weitverbreiteten Phänomen der «Nichtregierungsorganisationen der Regierung», den sogenann­ ten «GONGOs» (government organized non-governmental organizations) führte. Damit säte das Regime Kadyrow erfolgreich Zwietracht und Misstrauen unter den NGOs in Tschetschenien.

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Wer steht auf wessen Seite? Eine verworrene Situation, in der nichts war, wie es schien. Etliche Aktivistinnen und Aktivisten gaben sich handzahm, kooperierten scheinbar mit der Regierung, um im Versteckten nach wie vor politisch aktiv zu sein. Einige verteilten beispielsweise im Namen der Regierung Hilfsgüter an Bedürftige, um so mit Opfern in Kontakt zu kommen und Informationen zu sammeln. Andere betätigten sich vordergründig in scheinbar «harmlosen» Projekten, wie der Berufsförderung von jungen Frauen, um gleichzeitig klandestin tätig zu sein. Ein Engagement für die Menschen in Tschetschenien ist über die Grenzen der Kaukasusrepublik hinaus gefährlich: Anna Politkowskaya, eine international bekannte Journalistin, die sich jahrelang für die Aufdeckung der russischen Gräueltaten während der Tschetschenienkriege einsetzte, wurde im Oktober 2006 in Moskau von einem Unbekannten getötet. Heute, sechs Jahre später, ist noch immer niemand für diesen feigen Mord zur Rechenschaft gezogen worden. Dies entspricht leider einer traurigen Normalität in Russland, aber auch im Nordkaukasus, wo sich die Mörder von Menschenrechtsaktivisten kaum je vor Gericht verantworten müssen – mit fatalen Folgen: Die Täter haben nichts zu befürchten und begehen weiterhin ungestraft weitere Verbrechen. Elena Milashina, Nachfolgerin von Politkowskaja als Investigativjournalistin bei der Zeitung «Novaya Gazeta», wurde im April dieses Jahres in einem Moskauer Vorort angegriffen. Als sie den Vorfall der Polizei meldete, zuckten die

«In Tschetschenien verschwanden bis auf den heutigen Tag Tausende Menschen. Die MRV setzen sich dafür ein, dass ihre Schicksale aufgeklärt werden.» Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz


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Beamten nur die Schultern und wiesen sie ab. Aber was darf denn schon von Polizeibeamten eines Landes erwartet werden, dessen neugewählter Präsident nur Verachtung für politische Aktivisten und kritische Journalisten übrig hat? Denn anders lässt sich das Verhalten von Präsident Putin nicht beschreiben, welcher nach dem Mord an Politkowskaya zuerst drei Tage lang nichts sagte, um dann lapidar zu bemerken, dieser Mord sei «belanglos». Während die Mörder Politkowskayas unbehelligt bleiben, sind die russischen Gefängnisse dennoch überfüllt. Dies liegt nicht zuletzt an zweifelhaften politischen Vorgaben, welche die Polizei zu erfüllen hat. So sind die Polizeibehörden angehalten, monatliche Verhaftungsquoten zu erfüllen. Diesem Auftrag kommen sie mit teilweise brutalsten Methoden und Folter nach. Landesweit befinden sich fast eine Million Menschen in Gefangenschaft. Darunter sind auch gut 20 000 Tschetschenen, die in den maroden Gefängnissen unter zusätzlich erschwerten Haftbedingungen leiden und schutzlos der Willkür der Wärter ausgesetzt sind. Etliche dieser Wärter dienten als russische Soldaten in den Tschetschenienkriegen, und sie begleichen nun, verborgen hinter den Gefängnismauern, vermeintlich «offene Rechnungen». Die GfbV Deutschland dokumentierte jüngst einige dieser Fälle. So wurde der Tschetschene Zubair Zubajraew von Gefängnisaufsehern während Monaten mit Elektroschocks gefoltert und massiv geschlagen. Als ihn sein Anwalt im April dieses Jahres besuchen durfte, konnte Zubajraew weder sitzen noch stehen. Er hatte mehrere gebrochene Rippen, klaffende Wunden und ein gelähmtes Bein. Zubajraew wurde im Juni 2012 entlassen. Menschenrechtsorganisationen – unter ihnen auch die GfbV – hatten sich für seine Freilassung ein­ gesetzt. Zubajraew hat zwar die Torturen überlebt – heute ist er aber invalid. Der Fall Zubajraew ist erschütternd, leider jedoch bei Weitem nicht der einzige in dieser extremen Form. Junge, gesunde Männer und Frauen verschwinden in den dunklen, russischen Verliesen und sind teilweise bereits nach kurzer Haft invalid und gebrochen. Dies alles geschieht mit dem Wissen der obersten russischen Instanzen. Es wird von ihnen vertuscht, geduldet oder gar begrüsst. Im vorherrschenden Klima der Straflosigkeit nehmen sich selbst kleine Verbesserungen als wichtige Schritte im Kampf für die Menschenrechte und für eine echte Rechtsstaatlichkeit aus. Dazu zählt zum Beispiel der Freispruch von Oleg Orlow, dem Vorsitzenden der Menschenrechtsorganisation Memorial. Orlow hatte es gewagt, den übermächtigen Präsidenten Kadyrow für den Mord an Estemirowa verantwortlich zu machen und wurde Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz

wegen Verleumdung angeklagt. Der Freispruch Orlows und die Tatsache, dass der Tatbestand der Verleumdung in Russland abgeschafft wurde, sind ermutigende erste Schritte in die richtige Richtung. Es braucht aber noch viele mutige Frauen und Männer, welche für die Menschenrechte in Tschetschenien und Russland einstehen und den ersehnten Wandel herbeiführen können. Denn wider die menschenverachtende Weltsicht von Kadyrow & Co. besitzen genau diese Menschen Würde, Ehre und ein Gewissen. Text: Michel Dängeli und Shoma Chatterjee, GfbV

Wer verteidigt die Menschenrechte? Als Menschenrechtsverteidigerin oder Menschenrechtsverteidiger (MRV) wird bezeichnet, wer sich für den Schutz oder die Förderung der Menschenrechte einsetzt. Dieses Engagement kann sich auf ganz unterschiedliche Themen beziehen wie zum Beispiel Folter, Todesstrafe, Diskriminierung, Zugang zum Gesundheitswesen und zu Wohnraum, Versammlungsfreiheit, Frauen- oder Indigenenrechten. MRV untersuchen Menschenrechtsverletzungen, dokumentieren diese und gehen mit ihren Informationen an die Öffentlichkeit. Sie unterstützen Opfer von Menschenrechtsverletzungen, beraten diese und vertreten sie auf juristischem Weg. Sie lobbyieren bei den staatlichen Behörden für die Einhaltung der Menschenrechte und fördern die Menschenrechtsbildung, z. B. bei Gerichten, dem Polizeiwesen oder im Militär. Als Menschenrechtsverteidiger gelten nicht nur jene Personen, die in einer Menschenrechtsorganisation arbeiten, sondern grundsätzlich alle, die sich für die Menschenrechte einsetzen. Die Namen einiger Menschenrechtsverteidiger sind international bekannt – der Grossteil der Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger bleibt anonym. Gemeinsam ist ihnen nach der Definition, dass sie sich zu den universellen Menschenrechten bekennen und sich friedlich für ihre Anliegen einsetzen. Oft setzen sich diese Menschen aufgrund ihrer Tätigkeit einer Gefahr an Leib und Leben aus. Viele Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger werden in ihrer Arbeit behindert und kriminalisiert.

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6 Die Schweiz und die Menschenrechtsverteidiger Die Schweiz engagiert sich auf internationaler Ebene für den Schutz von Menschenrechts­ verteidigerinnen und -verteidigern (MRV) und arbeitet dabei unter anderem mit der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) zusammen. Wie funktioniert das Engagement der Schweiz? Seit 1998 ist die UNO bestrebt, die Sicherheit von MRV zu verbessern. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) unterstützt die Arbeit der UNO-Sonderberichterstatterin für den Schutz von MRV, der Uganderin Margaret Sekaggya, auf multilateraler Ebene. In seiner Arbeit zum Schutz von MRV setzt das EDA auf die Zusammenarbeit mit Projektpartnern. Ein solcher Partner ist beispielsweise die Weltorganisation gegen Folter (OMCT), die 2007 ein Patenschaftsprojekt lancierte, bei dem Schweizer Persönlichkeiten ihr Renommee für konkrete Aktionen zum Schutz von MRV zur Verfügung stellen. Das Projekt basiert auf der Idee, dass möglichst viele Menschen über die Arbeit eines bestimmten MRV Bescheid wissen müssen.

Das EDA ist bestrebt, Schweizer Leitlinien für den Schutz von MRV zu erarbeiten, um das Engagement der Schweiz zu konkretisieren. Damit sollen insbesondere die Schweizer Botschaften im Ausland für die Schwierigkeiten von MRV sensibilisiert werden. Text: Beatrice Schild, Humanrights.ch/MERS

Fragile Situation im Schweizer Migrations- und Asylbereich Im Asyl- und Migrationsbereich haben Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger teilweise auch in der Schweiz Repressionen zu befürchten. Die in der Schweiz aktiven MRV laufen nämlich sehr schnell Gefahr, durch ihr Engagement mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Als Konsequenz droht ihnen zwar keine Folter, und nur sehr selten erfahren sie Gewaltanwendung durch die Behörden, trotzdem ist ihre Arbeit häufig von Repression und Kriminalisierung begleitet. Wer zum Beispiel Sans-Papiers bei sich beherbergt, muss unter Umständen mit einer Strafe von bis zu einem Jahr Gefängnis rechnen (Artikel 116 des Ausländergesetzes).

Denn die öffentliche Meinung ist ein wichtiges Mittel gegen die Machtwillkür von Staaten. Ist eine dieser Personen bedroht, fragt die Organisation einen Paten für eine konkrete Aktion oder eine Solidaritätsmission an. So etwa im Februar 2010, als der Anwalt und ehemalige Ständerat Dick Marty und der Clown Dimitri mit der OMCT in die Demokratische Republik Kongo reisten. Dort trafen sie zusammen mit Justine Masika Bihamba, die sich in Nord-Kivu unter gefährlichen Bedingungen für Opfer von sexueller Gewalt einsetzt. Unter Begleitung eines Filmteams sprachen Dimitri und Dick Marty mit Regierungsvertretern, MRV und Opfern. Der Film wurde schliesslich in Zürich unter Anwesenheit von Bihamba und der UNO-Hochkommissarin Navi Pilay sowie der damaligen Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey einem breiteren Publikum vorgestellt. VOICE | 3–2012

Text: Moreno Casasola, Solidarité sans frontières

Foto: Anne Bichsel

Öffentlichkeit schützt MRV

Auch für die MigrantInnen selber ist die Gewährleistung der Menschenrechte bei Weitem keine Selbstverständlichkeit. Mit der laufenden Asylgesetzrevision soll künftig die Schaffung von sogenannten Nachfluchtgründen unter Strafe gestellt werden. Konkret bedeutet dies: Asylsuchende sollen in der Schweiz nichts tun und sagen, wofür sie in ihrem Heimatland verfolgt werden könnten. Faktisch führt dies dazu, dass sich hierzulande Asylsuchende nicht politisch betätigen dürfen. Mit unserem Demokratie- und Verfassungsverständnis ist es unvereinbar, wenn die friedliche Beanspruchung des Grundrechts auf freie und öffentliche Meinungsäusserung – ein Grundpfeiler unserer Demokratie – für Asylsuchende und sie unterstützende Personen (potenziell) mit Strafe bedroht wird. Es versteht sich von selbst, dass MenschenrechtsverteidigerInnen andernorts viel weitreichendere Konsequenzen zu befürchten haben als in der Schweiz. Trotzdem: Die Verteidigung der Grundund Menschenrechte kann auch bei uns erhebliche Risiken mit sich bringen.

Demo «Stopp der menschenverachtenden Migrationspolitik» vom 23. Juni in Bern.

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7 Tibet: Die Angst zurücklassen Dhondup Wangchen drehte einen Film über die bedrückende Situation seiner tibetischen Landsleute. Mit brutaler Härte versucht die chinesische Führung seine mutige Stimme zu unterdrücken. Ohne Erfahrung im Filmen und ausgerüs­ tet lediglich mit einer einfachen Kamera brach Dhondup Wangchen Ende 2007 auf, um durch Tibet zu reisen. Er wusste um die erhöhte Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, welche China im Vorfeld der Olympischen Spiele zuteil wurde, und wollte diese nutzen, um den unterdrück­ ten Tibetern eine Stimme zu geben. Entstanden ist ein eindrücklicher Film, der den sinnigen Titel «Leaving Fear Behind» trägt. «Die Angst zurücklassen», das galt nicht nur für Dhondup Wangchen, welcher unerschrocken seinen Film drehte und diesen unter grössten Gefahren ausser Landes schmuggelte, sondern das galt auch für all die jungen und alten Tibeterinnen und Tibeter, welche

mutig von ihrer schwierigen Situation erzählten. Vor der Kamera schilder­ten sie, wie ihre tibetische Kultur unterdrückt wird und sich ihre Lebensumstände stetig verschlechtern. Wangchens Film wurde mittlerweile in über dreissig Ländern gezeigt und in fünf verschiedene Sprachen übersetzt. Der mutige Einsatz von Wangchen war von Erfolg gekrönt. Doch das rief auch die chinesischen Autoritäten auf den Plan. Brutal verhafteten sie den Filmemacher im März 2008, verhörten ihn unter schwerer Folter und verurteilten ihn schliesslich wegen «Anstiftung zum Separatismus» zu sechs Jahren Gefängnis. Geschwächt von einer Hepatitis-Infektion, welche sich Wangchen unter den

unmenschlichen Bedingungen der Untersuchungshaft zuzog, sitzt er seine Strafe heute im Arbeitslager von Xichuan in der Provinz Qinghai ab. Täglich muss er in der Backsteinproduktion schuften und ist ständigen Erniedrigungen ausgesetzt. Wangchen bezahlt bitter für seine Furchtlosigkeit, doch unbezahlbar ist sein Einsatz für die Rechte der Tibeter. Er hat seine Furcht zurückgelassen, damit das tibetische Volk ein wenig Hoffnung schöpfen kann und damit die Unterdrückung endet. Dhondup Wangchen wird voraussichtlich 2014 entlassen.

Text: Tenzin Tsedön, Verein «Filming for Tibet», weitere Informationen auf www.filmingfortibet.org.

Interna: Tschüss und Willkommen… 1

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1. Reto Moosmann 2. Franziska Stocker 3. Valjentina Ademi

Nur ungern haben wir uns im Sommer von unserer langjährigen und engagierten Mitarbeiterin Franziska Stocker verabschiedet. Franziska Stocker, Leiterin des Bereichs Kommunikation und Mitglied der Geschäftsleitung, war während 10 Jahren mit viel Engagement für die GfbV tätig. «Als ich bei der GfbV begonnen hatte, waren wir zu zweit. Inzwischen sind wir zwölf Festangestellte. Es war äusserst spannend, diesen Auf- und Ausbau der Organisation mitzuprägen», sagte Franziska. «Am eindrücklichsten war für mich der Kontakt zu Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtlern aus unterschiedGesellschaft für bedrohte Völker Schweiz

lichen Regionen der Welt, die sich mit viel Mut engagierten.» Im Anschluss an ihr Praktikum absolvierte Valjentina Ademi bei der GfbV eine zweijährige Ausbildung zur Bürofachassistentin. Im Juli hat Valjentina ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen. Wir gratulieren ganz herzlich! Nun verlässt Valjentina die GfbV. «Die GfbV zu verlassen, fällt mir schwer, das Team ist mir ans Herz gewachsen. Besonders gefallen bei der GfbV hat mir der direkte Kontakt zu den Mitgliedern und die Mitarbeit bei Veranstaltungen», sagte Valjentina. Wir danken Franziska und Valjentina für

ihr grosses Engagement für die GfbV und wünschen den beiden für ihre Zukunft alles Gute und viel Erfolg! Wir freuen uns sehr, mit Reto Moos­ mann einen engagierten und motivierten Mitarbeiter bei der GfbV zu be­ grüssen. Reto arbeitet seit Anfang September als Bereichsleiter Kommunikation und Mitglied der Geschäftsleitung bei der GfbV. Reto ist Historiker und langjähriger NGO-Aktivist. Er hat bei verschiedenen Organisationen im Bereich Kommunikation gearbeitet und bringt viel Erfahrung mit. Wir wünschen ihm einen guten Start und viel Erfolg bei der GfbV. 3–2012| VOICE


8 «Ich will nicht einfach nur für mich schauen» Arzu Güngör ist Kurdin und arbeitet heute beim Forum für die Integration der Migrantinnen und Migranten FIMM. Zudem engagiert sie sich bei der Föderation des kurdischen Volkes in der Schweiz FEKAR.

Frau Güngör, Sie sind in Istanbul aufgewachsen und leben nun in der Schweiz. Ihren Weg in den Westen begannen Sie allerdings mit einer Autofahrt in den Osten? Ja, ich war mit einigen Freunden in einem Auto unterwegs in die Osttürkei, als wir auf offener Strasse von zwei Polizeiautos gestoppt wurden. Die Beamten verlangten unsere Ausweise und stellten fest, dass wir Kurden waren. Wenn du jung und kurdisch bist und von Istanbul aus in den Osten der Türkei fährst, bist du in den Augen der Polizei verdächtig. Sie hielten uns vor, dass wir uns der kurdischen Guerilla-Organisation PKK (Kurdische Arbeiterpartei) anschliessen wollten und verhafteten uns. Einzig die Zugehörigkeit zur ethnischen Minderheit der Kurden reicht doch wohl nicht aus, um einen solchen Vor­ wurf zu erheben? In der Türkei schon! 17 Tage lang hielten sie uns in Gefangenschaft, wo wir schwerer Folter und massiven sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren, und als wir endlich dem Staatsanwalt vorgeführt wurden, verspottete er uns nur. Er glaubte uns nicht, dass wir gefoltert worden waren und meinte, wir seien gute Schauspieler. Nachdem ich aus Angst vor erneuter Folter ein Geständnis unterschrieben hatte, kam ich frei. Allerdings begann an diesem Tag der langwierige Prozess gegen mich. Worauf stützten sich die Anschuldigungen der Staatsan­ waltschaft? Im Wesentlichen argumentierten sie, ich hätte an politischen Aktionen in Istanbul teilgenommen. An der Demo zum 1. Mai und an einer Manifestation anlässlich des internationalen Frauentages am 8. März. Mir wurde vorgeworfen, «normale» Menschen würden an solchen Veranstaltungen nicht teilnehmen, und ich sei daher eine gefährliche Person, welche sich der «Terrororganisation» PKK anschliessen wolle. Wie ging es dann weiter? Die Misshandlungen hatten mir schwer zugesetzt. Ich zog mich zurück und konnte nicht mehr unter die Menschen gehen. Ich und meine Familie litten sehr unter dem Vorgefallenen. Doch wir wurden nicht in Ruhe gelassen. Polizisten schnüffelten herum, bespitzelten uns und kamen regelmässig bei meinem Vater in seiner kleinen Bäckerei vorbei. Sie stellten Fragen und versuchten, ihn einzuschüchtern. Die Menschen in unserem Quartier begannen uns wegen der häufigen Polizeibesuche zu meiden. VOICE | 3–2012

Ein Jahr lang ging das so, und dann beschloss ich: Jetzt ist Schluss damit! Ich wollte wieder die Arzu sein, welche sich einmischt, welche sich für die Schwachen und Ausgegrenzten engagiert. Schliesslich hatte ich mich bereits in meiner Gymnasialzeit für die Rechte der Frauen, insbesondere der kurdischen Frauen, eingesetzt. Daneben habe ich mich für weitere diskriminierte Minderheiten engagiert, wie beispielsweise Homosexuelle und Transsexuelle. Das wollte ich jetzt wieder tun, das sollten sie mir nicht nehmen können!

«Mut? Keine Ahnung, woher ich den genommen habe.» Sie haben die brutalste Seite eines repressiven Staates am eigenen Leib kennengelernt. Woher nahmen Sie da den Mut, erneut aufzustehen? Mut? Keine Ahnung, woher ich den genommen habe. Aber lassen Sie mich ein prägendes Ereignis erzählen. Als ich zwölf Jahre alt war, wurde meine jüngste Schwester geboren. Meine Grossmutter bestand darauf, dass sie einen kurdischen Namen erhält. Berivan sollte sie heissen, und Grossmutter erzählte mir auch, warum sie auf diesem Namen bestand. In jenem Jahr nämlich waren in unserem Heimatdorf drei PKK-Kämpfer hingerichtet worden. Unter ihnen befand sich auch eine junge Kurdin mit Namen Berivan. Nachdem sie hingerichtet worden war, wurde sie in den umliegenden Dörfern zur Schau gestellt. Sie wurde nackt aufgehängt. Das Militär wollte so die Menschen einschüchtern und zum Schweigen bringen. Meine Grossmutter schüchterten sie damit nicht ein, und statt zu schweigen, erzählte sie immer wieder von dieser Schandtat. Und ich? Ich wollte auch nicht schweigen, ich wollte Fragen stellen: Warum greift eine Frau zu den Waffen? Warum geht sie in die Berge, lebt dort unter fremden Männern und verschreibt sich dem Kampf für die kurdische Sache? Was ist überhaupt die kurdische Sache? Warum dieser Krieg, warum all die Toten, die Vertreibungen und das ganze Leid?

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Foto: Michel Dängeli/GfbV

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Arzu Güngör

An wen wandten Sie sich mit diesen Fragen? Woher beka­ men Sie die Antworten? Ich begann zu lesen, alles Mögliche rund um den Konflikt zwischen Türken und Kurden, und ich löcherte meinen Vater und meine Mutter mit zig Fragen. So erfuhr ich viel über unsere Familiengeschichte und damit über das Los der Kurden in der Türkei. Ein Onkel von mir weigerte sich bis zuletzt, unser Heimatdorf zu verlassen, als die grossen Vertreibungen einsetzten. Heute ist er über siebzig Jahre alt, er hat Krebs und sitzt im Gefängnis. Nachdem ich viele solcher Geschichten gehört hatte, wollte und konnte ich nicht einfach nur für mich schauen. «Mut» wurde mir in meiner Familie oft vorgelebt. Sie erlitten Folter und Verfolgung und liessen sich dennoch nicht zum Schweigen bringen. Wie kam es zur Flucht in die Schweiz? Der Prozess gegen mich dauerte bereits Jahre, und meine Anwältin hatte mir stets versichert, dass die Beweislage gegen mich so dünn sei, dass ich selbst vor einem türkischen Gericht niemals verurteilt werden würde. Dann änderte plötzlich alles: Das Oberste Gericht hatte einen Kurden, dessen Fall ähnlich gelagert war wie meiner, zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Meine Anwältin erkannte, dass dieses höchst fragwürdige Urteil zu einem Präzedenzfall geworden war und dass sich damit meine Prozessaussichten massiv verschlechtert hatten. Auf einmal drohte mir eine langjährige Haftstrafe. Rasch besorgte ich mir einen gefälschten Pass und floh in die Schweiz. Wie wurden Sie in der Schweiz aufgenommen? Es war hart, ich war alleine und litt immer noch unter der erlebten Folter. Da ich keine Landessprache beherrschte, wurde ich zu einem Psychiater geschickt, der Türkisch sprach. Dieser war wohlbemerkt selber Türke und hatte kein Verständnis für meine Probleme. Er gab mir eine Pille und damit hatte es sich. Aber 17 Tage Folter lassen sich nicht einfach so mit einer Pille vergessen machen. Anschliessend wurden Sie in der Schweiz aufgenommen… ...ja, genau und die Dame der Migrationsbehörde, welche mich während des Aufnahmeverfahrens befragte, legte mir nahe, ich solle mich in der Schweiz ruhig verhalten. Mit einer Pille sollte ich also die Folter vergessen, und dann sollte ich auch gleich noch vergessen, warum ich aus meiner Heimat fliehen musste. Aber das konnte und wollte ich nicht. Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz

Die kurdische Frage Die sogenannte «kurdische Frage» ist so alt wie der moderne türkische Staat, welcher aus dem Osmanischen Reich hervorging. Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg billigten die europäischen Besatzungsmächte den Kurden zunächst ein Selbstbestimmungsrecht zu, welches im Vertrag von Sèvres im Jahre 1920 festgehalten wurde. Der Begründer der modernen türkischen Republik, Mustafa Kemal (Atatürk), verstand es, die Kurden für den sogenannten Nationalen Befreiungskrieg zu gewinnen. Dabei nutzte er nicht zuletzt vorhandene Rivalitäten unter den verschiedenen kurdischen Gruppierungen aus. Nachdem Mustafa Kemal siegreich aus diesem Krieg hervorgegangen und damit die Besatzung überwunden war, wurden die Bestimmungen des Vertrags von Sèvres revidiert. Im Friedensvertrag von Lausanne 1923 fielen die Autonomiezugeständnisse an die Kurden weg. Der «Kemalismus» wurde zur tragenden Ideologie der jungen Türkei und zeichnete sich unter anderem durch einen rigiden Laizismus aus. Darüber hinaus wurde ein türkischer Nationalismus betont, welcher dezidiert mit dem multiethnischen Staatskonzept des Osmanischen Reiches brach. Aufgrund dieser Reformen kam es mehrfach zu blutigen Aufständen, welche vom türkischen Militär niedergeschlagen wurden. Die Kämpfe waren von «Türkisierungsmassnahmen» begleitet, d.h., Kurden wurden umgesiedelt und deportiert, die kurdische Sprache wurde verboten, türkische Nachnamen wurden eingeführt und Ortschaften erhielten ebenfalls türkische Bezeichnungen. 1980 putschte das türkische Militär, welches sich traditionsgemäss als Hüter des Kemalismus verstand. Wenige Jahre danach nahmen erste Kommandos der in den 1970er-Jahren gegründeten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat auf. Der Konflikt eskalierte vollends. Es folgten Bombardements, Bombenanschläge, und es kam zu eigentlichen Massakern. Dieser Konflikt dauert mit wechselnder Intensität bis auf den heutigen Tag an, und die «kurdische Frage» bleibt somit offen und unbeantwortet.

Fortsetzung Seite 10

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Fortsetzung von Seite 9

Kurzinfos

Sie sind also auch in der Schweiz politisch aktiv? Wissen Sie, als Kurde hat man es schwer in der Türkei, als Frau im Besonderen. Doppelt schwer haben es allerdings die kurdischen Frauen, welche sowohl hinsichtlich ihrer ethnischen Zugehörigkeit als auch aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden. Diese Erfahrung habe ich durch meine Flucht in die Schweiz nicht einfach abgestreift. Deshalb ist es für mich selbstverständlich, auch hier politisch aktiv zu bleiben. Gegenwärtig engagiere ich mich beispielsweise für einen Kurden, dem die Abschiebung in die Türkei droht.

Was meinen Sie mit einer «schweizerischen Lösung»? Einen föderalen Staatsaufbau in der Türkei mit weitreichender Autonomie für Kurdistan. Einen Minderheitenschutz, der in der Verfassung garantiert wird. Aber eben… das ist die Hohe Politik. Ich für meinen Teil werde weiterhin auf Demonstrationen gehen, ich bleibe aktiv, unterstütze Menschen in Not, leite sie in Kursen und Seminaren an und leiste meinen Teil für ein freies Kurdistan. Es gibt viel zu tun, die Menschenrechte müssen täglich verteidigt werden. Interview: Michel Dängeli & Reto Moosmann, GfbV Schweiz

China: Zwangsansiedlung der letzten Nomaden China hat im Rahmen seines neuen Fünfjahresplans angekündigt, dass die verbliebenen rund 1,2 Millionen Nomaden bis 2012 angesiedelt werden sollen. Be-

Foto: Paul Bürgler

Wie liesse sich der Konflikt lösen? Seit den 1980er-Jahren bekämpfen sich Kurden und Türken. Während beide Seiten in diesem Konflikt nur verlieren, steht die Waffenindustrie als Gewinner da. Es gibt keine militärische Lösung des Konflikts. Wir brauchen Dialog und Verhandlungen, um zu einer friedlichen Lösung zu kommen. Warum nicht eine «schweizerische Lösung»?

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gründet wird diese radikale Politik vordergründig mit ökologischen Argumenten. Die Herden der Nomaden würden mass­ geblich zur Versteppung beitragen, heisst es offiziell. Allerdings räumen unterdessen selbst chinesische Wissenschaftler ein, dass die Wüsten durch die Ansiedlung der Nomaden nicht an ihrem Vormarsch gehindert werden können. Eine solche Politik bewirke das Gegenteil und beraube darüber hinaus Hunderttausende Nomaden ihrer wirtschaftlichen Grundlagen. Asienspezialist Ulrich Delius von der GfbV Deutschland meint dazu: «Die Nomaden können sich nicht mehr von ihren Tieren ernähren, in den neuen Dörfern gibt es weder ausreichend Infrastruktur noch Arbeitsplätze, und auch in anderen Wirtschaftsbereichen finden die Angesiedelten kaum eine Anstellung. Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz


11 verteidigerinnen in aller Welt 3

4 1. Mutabar Tadjibayeva (Foto: Antonio Marmolejo) 2. Leyla Zana (Foto: Peace Women Across the Globe) 3. Lyudmila Alexeyeva (Foto: Vladimir Lipka) 4. Hina Jilani (Foto: Peace Women Across the Globe)

Quelle: GfbV Deutschland

Russland: Gesetze gegen Regimekritiker Das russische Parlament hat im Juni und Juli mehrere Gesetzesänderungen verabschiedet, die sich gegen Oppositionelle und Regimekritiker richten: So hat das russische Parlament, die Duma, ein Gesetz angenommen, mit dem sämtliche vom Ausland finanzierten NGOs verpflichtet werden, sich registrieren zu lassen. Zudem werden die Finanzen dieser NGOs künftig streng kontrolliert. Weiter hat das Parlament die Strafbestimmungen für Verleumdung drastisch erhöht. Menschenrechtsaktivisten kritisieren das neue Gesetz als Einschränkung der Meinungs- und Redefreiheit. Medienschaffende fürchten einen Maulkorb. Schliesslich wird auch das Internet als wichtiges Mittel der Informationsverbreitung stärker überwacht. Offiziell heisst es, die Behörden wollten mit dem Gesetz die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte bekämpfen. Doch NGOs und Regimekritiker sehen darin den Versuch, die Mobilisierung der Protestbewegung über das Internet zu verunmöglichen. Quelle: GfbV Schweiz

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Minderheiten nach Arabischem Frühling vermehrt unter Druck «Wenn das Jahr 2011 als das Jahr des Arabischen Frühlings in die Geschichte eingeht, dann wird 2012 als das Jahr in Erinnerung bleiben, in welchem die Revolutionen umschlugen», meint Mark Lattimer, Geschäftsleiter der Menschenrechtsorganisation Minority Rights Group (MRG). In Syrien, Libyen, Ägypten und dem Jemen sind religiöse, kulturelle oder politische Minoritäten wie die Kopten, die Baha’i oder die assyrischen Christen bedroht. Zu diesem Schluss kommt die MRG in ihrem jüngsten Jahresbericht. Im Ranking, das die MRG jährlich erstellt, sind diejenigen Länder, in denen grosse politische Umwälzungen erfolgten, nach oben geklettert – die Situation in diesen Ländern hat sich also verschlechtert. Das kommt

Foto: Minority Rights Group International

Die Hoffnungslosigkeit unter Nomaden nimmt so sehr zu, dass sich einige von ihnen durch Selbstverbrennung bereits das Leben genommen haben.»

nicht ganz unerwartet, bildet aber Anlass zu grosser Sorge. Mark Lattimer von MRG warnt: «Die grossen Veränderungen in den Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas nähren die Hoffnung auf eine Demokratisierung, stellen gleichzeitig aber auch die grössten Gefahren

für religiöse und politische Minderheiten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und Ex-Jugoslawiens dar.» Quelle: «State of the World’s Minorities and Indigenous Peoples 2012», Bericht von Mino­ rity Rights Group International

Indonesien: Deutschland will Panzer liefern Anlässlich ihres Besuches in Indonesien Anfang Juli bestätigte die deutsche Bun­­ deskanzlerin Angela Merkel, dass Deutschland der indonesischen Armee Ausbildungshilfe leisten will und Indonesien Interesse an der Lieferung von 100 Kampfpanzern Leopard hat. Ulrich Delius von der GfbV Deutschland kritisiert die mögliche Lieferung an die in­ donesische Armee: «Deutschland darf keine Ausbildungshilfe für eine Armee leisten, die für schwere Menschenrechtsverletzungen in Westpapua verantwortlich ist.» Zudem widerspricht Delius dem indonesischen Staatspräsidenten Susilo Bambang Yudhoyono, der behauptete, Waffen aus Deutschland würden nie gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt. «Deutsche Waffen werden seit mehr als 40 Jahren in Indonesien eingesetzt», sagt Delius. Die gefürchteten parami­ litärischen BRIMOB-Einheiten, die für Menschenrechtsverletzungen an den Bevölkerungen in Westpapua, Osttimor und Aceh verantwortlich sind, verfügen laut Angaben der GfbV Deutschland über deutsche Waffen. Quelle: GfbV Deutschland

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GfbV-Projekte

Foto: Eva Schmassmann/GfbV

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Brasilien: Unter dem Motto «Trommeln für den Amazonas» haben am 9. Juni Hunderte Menschen auf der Zürcher Rathausbrücke mit einem Demonstrationszug und einem Trommelkonzert (von «Oficina de Percussão», «Zussamba» und «Rhythm Family») darauf aufmerksam gemacht, dass der Amazonas – die grüne Lunge der Erde – und dessen Bewohnerinnen und Bewohner durch die Änderung des brasilianischen Waldgesetzes in akute Gefahr geraten. In bislang unberührten Regenwaldgebieten sollen künftig Rohstoffe abgebaut werden. Zudem werden derzeit im Amazonas riesige Staudämme und Strassen gebaut. Das gefährdet auch die Indigenen. GfbV-Geschäftsleiter Christoph Wiedmer sagt dazu: «Die Situation ist äusserst besorgniserregend. Die rein profitorientierte Ressourcen­politik Brasiliens bedroht die Indigenen – allen voran die Unkontaktierten.»

Schweiz: Multinationale Konzerne wie Xstrata und Glencore ver­ letzen die Menschenrechte, verursachen Umweltschäden und verschieben Gewinne in Steuerparadiese. Die beiden Konzerne, die in Zug beheimatet sind, wollen demnächst fusionieren – die Aktionäre streben noch höhere Gewinne und Dividenden an. Mit der Fusion von Xstrata und Glencore würde einer der weltweit grössten Rohstoffkonzerne entstehen. Gemeinsam mit zahlreichen weiteren Organisationen rief die GfbV am 11. Juli zu einer lautstarken Demonstration in Zug auf. Die rund 300 Teilnehmenden forderten an der Demo mehr Nachhaltigkeit und appellierten an die soziale Verantwortung der Rohstoffgiganten.

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Foto: Franziska Stocker/GfbV

Foto: Eva Schmassmann/GfbV

Die GfbV publizierte ebenfalls einen Hintergrundbericht, welcher die Situation der Indigenen umfassend darstellt und setzte sich am Umwelt- und Nachhaltigkeitsgipfel der UNO in Rio de Janeiro zusammen mit Indigenen-Vertretern für deren Anliegen und Rechte ein (siehe zu «Rio+20» S.14). Die Kundgebung wurde von der GfbV zusammen mit Greenpeace und dem Klimacamp organisiert.

Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz


Foto: Anna Leissing/GfbV

und -Kampagnen

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Foto: Alexandra Cavilano/GfbV

Schweiz/Sri Lanka: Unter dem Motto «Fit for Action» startete die GfbV erfolgreich ein Capacity-BuildingProjekt zur Förderung der gesellschaftspolitischen Parti­ zipation von jungen Menschen tamilischer Herkunft. Unterstützt von ausgewiesenen ExpertInnen und der GfbV pflegen die 18- bis 30-Jährigen in regelmässig stattfindenden Workshops den Austausch untereinander und entwickeln eigene Projekte und Initiativen. Vol­ler Ideen und mit viel Elan erweitern die jungen Menschen ihre Kompetenzen und machen sich «fit», ihr Umfeld zu gestalten.

Schweiz: 135 285 Personen haben die Forderungen der Kampagne «Recht ohne Grenzen» unterschrieben. Gemeinsam mit mehr als 50 Organisationen hat die GfbV die Petition am 13. Juni Bundesrat und Parlament übergeben. Mit der Petition fordern die Unterzeichnenden den Bundesrat und das Parlament auf, dafür zu sor­gen, dass Schweizer Firmen die Menschenrechte und die Umwelt weltweit respektieren müssen. Immer wieder verstossen Tochterfirmen von Schweizer Unternehmen im Ausland gegen Menschenrechte oder verschmutzen die Umwelt, ohne dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden können. Angesichts der hohen Zahl an Unterzeichnenden ist die Petition bereits jetzt ein grosser Erfolg. Doch die Kampagne geht weiter. Bereits haben NationalrätInnen aus sechs verschiedenen Parteien mehrere Vorstösse zur Thematik eingereicht. Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz

Zürich: Die GfbV schloss sich am 20. Juli der weltweiten Solidaritätskundgebung für die Menschen von Cajamarca (Peru) an, welche mit einem Generalstreik gegen die Erweiterung einer Goldmine protestierten, da sie gravierende Auswirkungen für die Umwelt befürchten. Das Grundwasser in Cajamarca war durch den bisherigen Gold­ abbau bereits stark verschmutzt, was zu einer deutlich erhöhten Leukämierate in der Region führte. Bei der Streikniederschlagung durch die Polizei gab es mehrere Tote und Schwerverletzte, worauf die Regierung von Präsident Humala den Ausnahmezustand über die Region Cajamarca verhängte. Die GfbV deponierte ihre Forderungen Ende Juli in Zürich direkt beim peruanischen Konsul und verlangte ein Ende der Gewalt und des Ausnahmezustandes.

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14 Rio+20: Impressionen vom Umweltgipfel, Juni 2012 1.

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1. Eingang zur «Cúpula dos Povos», dem Gipfel der Zivilgesellschaft. Entlang dem Strand von Rio führten NGOs eine Woche lang Veranstaltun­ gen, Kundgebungen und Workshops durch. 2. Täglich fanden Demonstrationen und Kundge­ bungen gegen den Bau des Belo-MonteStaudamms statt. 3. Marco Apurinã, Generalsekretär der brasilia­ nischen Indigenenorganisation COIAB an einer Kundgebung an der «Cúpula dos Povos». 4. Der berühmte Häuptling der Kayapó, Raoni

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Metuktire (hier mit der Aktivistin Sheyla Juru­ na), nutzte die Öffentlichkeit in Rio auch dafür, eine Petition gegen Belo Monte mit über 350 000 Unterschriften an den französischen Staatspräsi­ denten François Hollande zu übergeben. 5. Benki und Moisés Piyãko, Angehörige der As­ haninka, erläutern ihre Anliegen an einem Tref­ fen mit brasilianischen Politikerinnen. Daneben sitzt Alberto Pizango, Präsident der peruanischen Indigenenorganisation AIDESEP. 6. Hunderte von Demonstranten bilden am Strand

von Rio ein Symbol mit dem Titel «Rios para a vida» («Flüsse für das Leben»). 7. Der Side-Event zum Thema «Indigenenrechte und nachhaltige Entwicklung», wo die Idee eines binationalen Schutzgebietes in der peruanischbrasilianischen Grenzregion vorgestellt wurde. Auf dem Podium: Franz Fluch (GfbV Internatio­ nal), Alberto Pizango (Präsident AIDESEP), Edwin Vasquez (Generalsekretär COICA), Marco Apurinã (Generalsekretär COIAB) (v.l.n.r.). Fotos: Eva Schmassmann/Christian Bosshard Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz


15 Service Weltweit: «Tribal peoples for tomorrow’s world» Der britische Anthropologe und Direktor von Survival International, Stephen Corry, setzt sich seit über 40 Jahren für die Rechte indigener Völker ein. Nun hat er ein neues Buch veröffentlicht. Dieses zeigt, wer die Indigenen sind, wie sie leben, was sie wollen und wie sie diskriminiert und ihrer Rechte beraubt werden. «Tribal peoples for tomorrow’s world» ist nur in englischer Sprache erhältlich.

Indien: «Streetparade der Götter – Bronzekunst aus Indiens Dörfern» Das Museum Rietberg zeigt in seiner neusten Ausstellung Götter, Reiter, Tiere und Tänzer in Trance. Sämtliche Kunstgegenstände stammen aus Bastar, einem alten Fürstentum im heutigen indischen Bundesstaat Chhattisgarh. Dieses zentralindische Gebiet wird noch heute mehrheitlich von tribalen Gesellschaften der Adivasi («Ureinwohnern») bewohnt. Die Ausstellung präsentiert etwa 300 faszinierende Figuren aus Gelbmetall, die von Metallgiessern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für rituelle Zwecke angefertigt wurden.

Stephen Corry. Tribal

Museum Rietberg Zürich,

peoples for tomorrow’s

Gablerstrasse 15,

world. Freeman Press,

8002 Zürich: Street­

2011 (in Englisch).

parade der Götter – Bron­ zekunst aus Indiens Dörfern. 20. 7. – 11. 11.12.

Mexiko: «Als die Sonne ein Kind war» Im Schatten des Regenwaldes lebte einst eine Mutter mit ihren drei Söhnen. Der jüngste, NeNe, besitzt Zauberkräfte. Zusammen mit der Mutter klettert er eines Tages auf einen Baum, immer höher und höher, bis die Mutter ergriffen von der Schönheit der Aussicht sagt: «Hier möchte ich bleiben!» Da verwandelt NeNe die Mutter in den Mond. Er selber möchte seine Zauberkraft teilen und allen Wesen dieser Welt das Leben schenken. Und so verwandelt er sich in die Sonne, die alles Leben auf die Erde bringt. Gemeinsam hüten Sonne und Mond seither die Welt. Maruch Mendes Peres hat die Geschichte von NeNe nacherzählt. Entstanden ist ein Kinderbuch mit strahlenden Bildern und einer tiefgehenden Poesie.

China: Die Kugel und das Opium Am frühen Morgen des 4. Juni 1989 mobilisierte die chinesische Regierung die Volksbefreiungsarmee, um die friedlichen Demonstrationen Zehntausender Studenten auf dem Platz des himmlischen Friedens (TiananmenPlatz) niederzuschlagen, die mehr Freiheit und Demokratie forderten – Hunderte verloren ihr Leben. Liao Yiwu, der über das Massaker ein Gedicht verfasst hatte und dafür vier Jahre inhaftiert wurde, führte über Jahre hinweg heimlich In­ terviews mit Augenzeugen und Ange­ hörigen der Opfer. Entstanden ist ein ebenso schockierendes wie bewegendes Zeugnis der unfassbaren Ereignisse vom 4. Juni. Der 53-jährige Liao Yiwu erhielt für sein Werk und Wirken den diesjährigen Friedenspreis des deutschen Buch­ handels. Liao Yiwu: Die Kugel und

Fukushima Wer hat den Ort vor dem 11. März 2011 ausserhalb Japans gekannt? Erdbeben und Tsunami haben ihn in die Schlagzeilen befördert. Inzwischen steht Fukushima als weiteres Mahnmal für den Irrsinn der Atomenergie. Wenige Wochen nach der Katastrophe begibt sich der japanische Filmemacher Toshi Fujiwara ­ in die 20-km-Sperrzone, um mit seiner ­Kamera festzuhalten, was in den Medien kaum sichtbar wird: Wie geht es den betroffenen Menschen, was passiert mit der Natur und – wie kann man den unsichtbaren Schaden der entmenschlichten Region überhaupt zeigen?

Ambar Past/Maruch Mendes Peres/Tamana

das Opium. Fischer Verlag. Erscheint am 25. Oktober 2012.

Singen für den Frieden Das letztjährige Gross-Singen «Cantellón – La Paz Cantamos» auf dem Berner Münsterplatz mit rund 1000 Teil­ neh­ menden war ein eindrückliches ­­ Singund Gemeinschaftserlebnis. Am 15. September 2012 gibt es nun eine Zweitauflage. Klein und Gross sind aufgefordert, in den Chor einzustimmen. Von 13.00  bis 14.00 Uhr findet ein gemeinsames Einsingen in der Heiliggeistkirche beim HB Bern statt, bevor das ­eigentliche Gross-Singen auf dem Müns­ terplatz um 15.30 Uhr startet.

Araki: Als die Sonne ein Kind war. Nach einem

NO MAN’S ZONE gelangt

Gross-Singen «Cantellón – La Paz Cantamos», am

Mythos der Maya. Baobab

am 6. September in die

15. September ab 15.30 Uhr auf dem Münsterplatz

Books, 2012.

Deutschschweizer Kinos.

in Bern. Weitere Infos unter: www.stimmvolk.ch

Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz

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Eine Stimme für Verfolgte. www.gfbv.ch

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