The new New - Leseprobe

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The new New


DISTANZ


The new New



Herausgegeben von Ulrich Dietz


Albert Einstein


„Wenn eine Idee am Anfang nicht absurd klingt, dann gibt es keine Hoffnung für sie.“


Vorwort

In seinem Kern ist das Neue paradox. Es ist da, doch die meisten Menschen erkennen es nicht, weder bei sich noch bei anderen. Sie misstrauen Ideen, die seltsam oder abwegig klingen und ersticken damit jede Art von Innovation bereits im Keim. Neue Ideen haben meist noch keine und schon gar keine bekannte Gestalt – deshalb machen sie zunächst Angst. Als Unternehmer im IT-Bereich beschäftige ich mich schon von Berufs wegen ständig mit neuen Technologien, Produkten und Märkten. Um unseren Erfolg zu erhalten und global wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen wir permanent Neues finden und erfinden. Fraglos sind wir Deutschen ein Volk der Erfinder – wie übrigens alle anderen Nationen auch. Doch unser Spektrum ist erstaunlich breit. Die Pioniere, die sich dem „Wagnis Schöpfung“ (Georg Christoph Lichtenberg) stellten, revolutionierten die Welt. So zum Beispiel der Chemiker Felix Hoffmann, der 1897 für Bayer das Aspirin erfand; andere bahnbrechende Denker waren Johannes Gutenberg und ­ Konrad Zuse. Dem einen verdanken wir, wie allgemein bekannt, seit 1440 den Buchdruck, dem anderen beinahe genau fünf Jahrhunderte danach, seit 1941, den Computer. Auch die Jeans ersann 1873 ein Deutscher, der Auswanderer Levi Strauss; viel später, 1953, lieferte Adolf Dassler, der Gründer von Adidas, die ersten Turnschuhe dazu. 26


Noch heute gilt „Made in Germany“ als Gütesiegel für hochwertige Produkte. In einigen Branchen sind deutsche Firmen weiterhin Vor­ reiter, so in der Energie- oder der Gesundheitstechnik. Gleichzeitig gibt es in Deutschland genauso wie rund um den Globus in vielen Firmen und Arbeitsfeldern nach wie vor zu starke Beharrungskräfte. Risikoscheu halten Manager wie Mitarbeiter an lähmenden Gewohnheiten fest, verwässern mit Kompromissen notwendige Veränderungen und blicken lieber zurück als nach vorne. Der träge Status quo auf Kosten von Forscherdrang gefährdet die Zukunftsfähigkeit der globalen Gesellschaft am Anfang des Jahrtausends. Was wir deshalb heute dringend brauchen, ist eine weltweit vernetzte Entdeckerkultur, die am besten in Ideenwerkstätten gedeiht. Auch die bemerkenswerte TED-Konferenz (Technology, Entertainment, Design), die der Architekt und Grafik-Designer Richard Saul Wurman 1984 in Kalifornien ins Leben rief, war am Anfang solch ein kleines, sogar etwas chaotisches Laboratorium. Ihr Motto „Ideen, die es wert sind, verbreitet zu werden“ war das Ini­tialmoment für das Buch „The new New“. Mit meinem Team wollte ich Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen treffen, die 27


eines verbindet: ihr Drang, über das bereits Bestehende hinauszugehen und bequeme Sicherheiten für leidenschaftliche Überzeugungen auf­­zu­geben. Was alle außerdem gemeinsam haben, sind ihr ausgeprägter Individualismus und ihr unabhängiges, eigensinniges Denken. Beide Eigenschaften, die einander bedingen, haben es ihnen ermöglicht, ihre Träume, Ideen und Ziele unbeirrt gegen alle Hindernisse zu verfolgen. Jeder dieser Visionäre, Pioniere, Entdecker und Gründer begann mit kleinen, tastenden Schritten seinen Weg zu gehen. Es folgten Jahre zäher, harter Arbeit mit vielen Rückschlägen, in denen sich eine Erleuchtung, ein Genieblitz oder ein Urknallereignis allmählich in ein Produkt oder ein Werk verwandelten, das das Zusammenleben vereinfachte und es gesünder, schöner oder besser machte. Nie gelang dies im Alleingang. Immer verdanken sich Innovationen idealistischen Mitstreitern, die ebenso fest an eine Sache glauben. Wenn sich Neues am Ende schließlich durchsetzt und seine Wirkung entfaltet, entsteht ein Glückskreislauf für alle Beteiligten und manchmal Millionen anderer Menschen. „Menschen, die gegen alle Widerstände Neues machen, sind kostbar. Sie garantieren das Überleben der Gesellschaft“, sagt der Medien­ theoretiker Peter Weibel. Das Interview mit ihm war ebenso bereichernd und ermutigend wie die Gespräche mit unseren 17 weiteren Partnern. 28


Jeder dieser großartigen Unternehmer, Wissenschaftler, Forscher und Künstler vermittelte uns auf seine einzigartige Weise, dass es nicht unmöglich ist, innovativ zu sein. Fangen Sie an! Ulrich Dietz

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Murat Günak

„Man braucht Selbstvertrauen, um Neues zu wagen.“


Murat Günak Von ihm stammt die rasante Karosserie des Mercedes SLR, aber auch Fahrzeugmodellen von Peugeot und Volkswagen verpasste Murat Günak neue Looks. Doch 2007 geriet der 1957 in Istanbul geborene, erfolgs­ verwöhnte Überflieger in eine Sinnkrise. Kurzentschlossen verließ er den mächtigen Wolfsburger Konzern und gründete mit einem Partner in der Nähe von Luzern die Mindset AG. Das Ziel: Elektroautos bauen, die nicht nur ökologisch korrekt sind, sondern darüber hinaus gut aussehen. Zwei Modelle hat Günak inzwischen ent­wickelt, das aerodynamische Sportcoupé Mindset und Mia, einen kleinen Elektro­wagen für kurze Strecken, der mit Lithium-Phosphat-­ Batterien betrieben wird. Schon ab 2011 wird die schnuckelig-kompakte Box auf Rädern beweisen, dass die Philosophie ihres Erfinders den Zeitgeist trifft: less is more. 70


Mit 50 Jahren stieg er aus. Verließ einen der mächtigsten Autokonzerne der Welt und begann, sein erstes Elektroauto zu entwickeln. Viele hielten den türkisch-deutschen Automobildesigner und Branchenstar für verrückt, doch Günak glaubt mehr denn je an seine Vision einer schadstofffreien, lautlosen Elektromobilität. Wir treffen ihn in der Halle des GFT Corporate Centers in Stuttgart. Aufmerksam betrachtet er die riesige begehbare Stoffskulptur des französischen Bildhauers Vincent Tavenne – eine Neuerwerbung. Sie enthält ein theatralisches Moment, meint der gelernte Bühnenbildner lächelnd. In meinem Büro erzählt er bei Säften, Kaffee, Wasser und Butterbrezeln nicht nur freimütig über Lust und Frust seines Berufs, sondern bringt uns auch türkische Wertmaßstäbe ein wenig näher. Sein Geschenk zum Abschied: ein Kinderbuch, das er selbst geschrieben und illustriert hat.

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Ulrich Dietz Als ehemaliger Stardesigner bei Mercedes, Peugeot und zuletzt VW kennen Sie die Automobilindustrie genau. Für wie erneuerungsfähig halten Sie diese Konzerne? Murat Günak Ihre Forschungsabteilungen sind in der Technologie zweifellos sehr innovativ. Andererseits hütet kaum eine Branche ihre Erfindungen derart rigoros. Die Experten kontrollieren jedes noch so winzige Detail, stets gilt höchste Geheimhaltungsstufe. Am Ende kauft der Kunde ein ziemlich autoritär hergestelltes Produkt. Ich glaube, das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein. Ulrich Dietz Weshalb? Murat Günak Die Konsumenten heute sind reif für Mitsprache. Immer weniger Menschen akzeptieren es, Waren zum Teil teuer zu kaufen, ohne irgendeine Einsicht in den Herstellungsprozess zu haben. Seit einiger Zeit ermöglicht das Internet jedem, Produkte mitzugestalten. Bis zu einem gewissen Grad ist heute jeder ein Experte. Jedermann kann ein Video produzieren und es bei YouTube einstellen, wo es vielleicht von einem Millionenpublikum angesehen wird. Leserkommentare bei Amazon können für eine Kaufentscheidung ausschlag­gebend sein. All das bedeutet: Unsere Industrie muss die Kreativität ihrer Kunden besser nutzen lernen. Ulrich Dietz Bei den großen Automobilunternehmen scheint die Arroganz der Macht nach wie vor ausgeprägt. Erst wenn 500.000 Autos auf Halde stehen, beginnt man, über Neues nachzudenken. Steht die schiere Größe eines Konzerns seiner Erneuerungsfähigkeit im Weg? Murat Günak Niemand in einem großen Unternehmen wagt es, Fehler zu machen. Ulrich Dietz 2001 sollten wir ein neues Internetportal für einen Großkonzern erstellen. Bei den Besprechungen saßen 15 Personen am Tisch, alle diskutierten eifrig mit, doch niemand wollte Verantwortung übernehmen. Jeder delegierte an jemand anderen weiter und am Ende wurde der kleinste gemeinsame Nenner zum Standard gemacht. Murat Günak Das ist so, weil die Erwartungen der Ingenieure an Standards so hoch sind, dass die Investitionen ebenfalls enorm sind. Wenn ein Produkt dann zwei Jahre später auf dem Markt ein Flop wird, ist das ein Desaster. Wenn es nicht bald gelingt, diese extremen Maßstäbe zu humanisieren, wird die Industrie über kurz oder lang zugrunde gehen.

Ulrich Dietz Leider ist das nicht so einfach, wie es klingt. Stellen Sie sich vor, Rolex würde plötzlich eine Digitaluhr auf den Markt bringen – wären die Kunden nicht eher verschreckt? Deshalb machen sie den Zeiger etwas dicker und den Schriftzug etwas größer und verteuern die Uhr um tausend Euro. Das bezahlen die Kunden. Anscheinend ist es genau das, was der Markt verlangt. Warum konnten Sie Ihre Elektroautos nicht in einem der Unternehmen entwickeln, für die Sie arbeiteten? Murat Günak Die Hersteller verdienen pro Wagen derzeit drei Prozent. Das ist extrem wenig, gemessen am Aufwand, der betrieben wird. Der Gewinn entsteht also nicht durch den Verkauf, sondern durch die riesige Industrie, die eine Marke am Leben erhält. Sie reicht von den Zulieferern über die Werber bis zu den Werkstätten. Angenommen, all diese Einnahmequellen würden wegfallen … Ulrich Dietz Es wäre eine volkswirtschaftliche Kata­ strophe! Deswegen sträubt sich eine ganze Branche seit Jahren gegen den Quantensprung der Elektromobilität. Die meisten Argumente, warum Elektro­ autos nicht wirtschaftlich einsetzbar sind, wurden in der Zwischenzeit widerlegt. Erst der massive Druck der chinesischen Industrie, die mit hohen Summen in das Thema Elektromobilität investiert und weltweit zum Vorreiter werden will, hat die etablierten Hersteller in Bewegung gebracht. Wie sind Sie bei Ihren Produkten, dem ­Elektrowägelchen Mia zum Beispiel oder dem Sportcoupé Mindset, vorgegangen? Murat Günak Wir haben uns zuerst um die Produkt­ identifikation gekümmert, was ganz wesentlich ist. Denn Elektroautos haben in der Öffentlichkeit ein eher negatives Image. Meistens sehen sie hässlich aus und wecken wenig Vertrauen in ihre Alltagstauglichkeit. Es war uns deshalb wichtig, lustvolle Produkte zu gestalten. Wir haben also an die Tradition der Auto­ mobilästhetik angeknüpft, denn wir wollen die Liebhaber schöner Vehikel ansprechen – die Betonung liegt auf schön! Außerdem sollen unsere Wagen die anderen Autos nicht verdrängen, sondern ergänzen. Ulrich Dietz Wie sehen sie aus? Murat Günak Beide Autos sind sogenannte Commuter, Nahverkehrsfahrzeuge. Das Design des Mindset ist eher maskulin. Als Erstes fallen seine freigestellten riesigen 22-Zoll-Räder und die Rundscheinwerfer auf. Der Wagen besitzt eine aerodynamische CoupéKarosserie, einen kasten­artigen Heckabschluss, ist

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exakt 4,26 Meter lang, ein Viersitzer mit zwei durchgängigen Sitzbänken. Und vor allem: Er ist völlig schadstofffrei! Ulrich Dietz Er wird mit einer Lithium-Ionen-­Batterie betrieben? Murat Günak Ja, kombiniert mit einem 70 Kilowatt starken Motor. Das Auto wiegt nur rund 800 Kilogramm, weil sein Fahrzeugrahmen aus Aluminium und die Karosserie aus Kunststoff ist. Allein mit der Batterie kann man bis zu 200 Kilometer weit fahren; für Strecken bis 800 Kilometer bieten wir einen 17 Kilowatt starken Range Extender an. Ulrich Dietz Wie sind die Beschleunigungswerte? Murat Günak Von Null auf Hundert in sieben Sekunden. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt 140 Kilo­ meter pro Stunde, und auf dem Dach hat der Mindset eine kleine Solaranlage. Damit kann der Aktions­radius bei gutem Wetter noch einmal um 15 Kilometer pro Stunde gesteigert werden. Ulrich Dietz Was sollen die Autos kosten? Murat Günak Der Mindset wird für etwa 50.000 Euro zu haben sein. Mia wird weniger als 20.000 Euro kosten. Wir wollen sie schon im Jahr 2011 auf den Markt bringen. Ulrich Dietz Welche Käufergruppen wollen Sie mit diesen Autos gewinnen? Murat Günak Wir haben Kunden im Blick, die sich als Trendsetter verstehen und ein lustiges Fahrzeug mit Fahrspaß nutzen wollen. Ulrich Dietz Sie haben also die Kultautos der Umweltgeneration kreiert? Murat Günak Wir hoffen es. In diesen Produkten ist unsere Philosophie der Leichtigkeit des Seins verwirklicht. So sieht für uns der neue Luxus aus: einfach und fließend, unkompliziert und praktisch. Less is more! Auch auf der sozialen Ebene pflegt man inzwischen lieber Netzwerke statt Hierarchien. Ulrich Dietz Wann haben Sie mit der Konstruktion der Autos begonnen? Murat Günak Vor viereinhalb Jahren, als wir wussten, Elektromobilität wird sich in den kommenden zehn Jahren in einer sehr dynamischen Art und Weise durchsetzen. Ulrich Dietz So lange? Was war daran kompliziert? Murat Günak Beim Mindset waren es die Felgen. Das Auto verfügt über eine erhebliche Querbeschleunigung. Hierzu gab es wenig Erfahrungswerte. Bei beiden Autos ist das größte Problem aber die Finanzierung. Der Widerstand, auf den wir treffen, ist enorm. 73

Ulrich Dietz Lassen Sie uns in die Zukunft schauen: Aller Anfang ist heiter. Sie haben vielversprechende neue Modelle entworfen. Jetzt kommt der schwierige Teil: Wie setzen Sie die Produkte auf dem Markt durch? Murat Günak Entscheidend ist, dass wir in dem Augenblick, in dem die Autos auf dem Markt sind, sofort mit einem flächendeckenden Vertrieb beginnen können. Ulrich Dietz Wie funktioniert die Distribution? Murat Günak Wir planen, mit unserem deutschen Vertriebspartner zuerst Flottenbetriebe, also Großabnehmer, und Kommunen zu beliefern. Denn für sie ist unser Produkt sehr wichtig. Es setzt ein Zeichen für emissionsfreie Mobilität, spart mittelfristig Unterhaltskosten und entlastet die Innenstädte von Lärm und Abgasen. Erst wenn dieser erste Schritt funktioniert, wenden wir uns an Privat­ kunden. Ihnen bieten wir direkten Service an. Ulrich Dietz Callservice für Reparaturen ist ein neuer Trend. Nespresso, das Label des schweizerischen Nestlé-Konzerns, macht das auch. Sie reparieren vor Ort oder stellen eine Ersatzmaschine zur Verfügung, sodass die Kunden keine Minute auf ihren Espresso verzichten müssen. Ich halte das für eine intelligente Art, Kunden zu binden und für die eigene Marke zu werben. Warum haben Sie eigentlich drei Konzerne verlassen, in denen Sie sehr erfolgreich waren? War die Vision so überwältigend oder gab es auch einen gewissen Frust? Murat Günak Da muss ich etwas ausholen. Ich hatte das Glück, in einer Phase zu dieser Industrie zu stoßen, als sie ihre Modellpalette dringend erweitern musste. Mercedes bot 1986, als ich anfing, genau drei Modelle an: die S-Klasse, die Mittelklasse und den Baby-Benz. Mein damaliger Chef Bruno Sacco übertrug mir viel Verantwortung, obwohl ich noch ziemlich jung war. Allmählich erwarb ich mir den Ruf, ein Sanierer von Automarken zu sein. So kam ich zu Peugeot, die damals beinahe pleite waren. Gelähmt vor Angst, wagten sie nicht, einen Nachfolger für den 205 und den 206 zu bauen. Das war meine Chance. Ulrich Dietz Sie sind mutig. Welche Eigenschaften braucht man noch, um gerade im Designbereich Neues zu generieren? Murat Günak Selbstvertrauen. Sie wundern sich vielleicht, aber das entsteht aus dem Bauch! Vergessen Sie Marktforschung und Markenstudien, das ist alles


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Pseudo, nichts als Augenwischerei. Ich habe meinen Auftraggebern immer gesagt: Ich mache es, wenn ihr mir freie Hand lasst. Das ist euer Risiko, den Rest erledige ich. Ulrich Dietz Nach Peugeot gingen Sie wieder zu Mercedes zurück, kreierten das wunderschöne Coupé CLS und den Supersportwagen SLR. Murat Günak Fantastische Fahrzeuge, trotzdem geriet ich dort in eine echte Sinnkrise. Deshalb war ich auch glücklich, als im April 2003 VW auf mich zukam. Bernd Pischetsrieder, der damalige Vorstandsvorsitzende, teilte meine Vision, aus VW wieder Volkswagen zu machen: begehrenswerte, zuverlässige Autos zu erschwinglichen Preisen. So sind der Tiguan, der neue Scirocco, der Passat CC und der Golf 6 entstanden. Aber leider gab es damals, anders als heute, kaum Interesse an alternativen Formen von Energie. Jedenfalls gelangte ich an einen Punkt, an dem ich dachte: Wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich es nie tun. Ulrich Dietz Sie und ich und einige andere Menschen, die ich kenne, ungefähr in unserem Alter, haben im Leben viel erreicht. Nun haben wir alle das gleiche Bedürfnis: Projekte zu initiieren, die Substanz haben. Produkte und Dienstleistungen von hoher Qualität, technologisch innovativ, ökologisch und für die Menschen. Murat Günak Wir wollen etwas von den Möglichkeiten zurückgeben, denen wir unsere Karriere verdanken. Das funktioniert jedoch nur, wenn wir nicht elitär bleiben. Ulrich Dietz Exakt. Wir stellen beide qualitativ hochwertige Produkte her, die gleichzeitig für breite Käuferschichten geeignet sind. Unsere Lösungen für Banken nutzen Tausende von Menschen jeden Tag. Ihre Autos sollen über den ganzen Globus rollen. Bahnbrechende Innovationen entstehen nicht von heute auf morgen, und doch werden in den nächsten Jahren auch in unserer Industrie grundlegende Veränderungen den Markt umwälzen. Ich denke zum Beispiel an das Bezahlen mit dem Mobiltelefon. Murat Günak Die Informationstechnologie wird unser Leben künftig in allen Bereichen wesentlich beeinflussen. Auch die Autoindustrie. Denken Sie an das von Mercedes vorgestellte Mobilitätskonzept car2go, ein Leihwagensystem für die Innenstadt. Es ist IT pur. Die Automobilindustrie muss noch lernen, sie viel effizienter für neue Produktangebote einzusetzen. 75

Ulrich Dietz Macht es Ihnen Ihre Zugehörigkeit zu zwei Nationen leichter, „quer“ zu denken, also auch ganz neue Gedankenansätze zuzulassen? Murat Günak Ich glaube schon. Lassen Sie mich Ihnen etwas über türkische Erziehung erzählen. Man fragt sich oft, weshalb Nationen mit einem starken Gefälle von Arm und Reich so fröhlich sind, verglichen mit anderen, die wie Deutschland eine noch immer stabile Mitte besitzen. Das ist eine Erziehungsfrage. In der Türkei gilt der am meisten, der die größte Lebenserfahrung hat, nicht der, der die meisten ­Titel besitzt oder das meiste Geld. Deshalb spielt Achtung dem anderen gegenüber eine so große ­Rolle, während es hier, in Deutschland, der Neid ist. Wir dagegen lernen von klein auf, dass ein Blumen­ verkäufer vielleicht ein schöneres Leben haben kann als ein Milliardär. Das befreit uns. Ulrich Dietz Macht es auch offener für Neues? Murat Günak Ja, weil wir fähig sind, den anderen als Mensch wie er ist anzuerkennen. In Deutschland kontrolliert man stattdessen. Ulrich Dietz Kontrolle ist Gift für Innovation, wie wir wissen. Dennoch hält sich Deutschland für ein innovatives Land. Murat Günak Das ist es auch, allerdings überwiegend im technischen und naturwissenschaftlich-medizinischen Bereich, der mehr vom Verstand als von Intuition beherrscht wird. Wo sind eigentlich Ihre Wurzeln? Ulrich Dietz Ich stamme aus einer Unternehmerfamilie aus Baden-Württemberg. Mein Großvater und mein Vater waren in der Schmuckindustrie tätig. Murat Günak Was ist Ihre erste Erinnerung als Kind? Ulrich Dietz Die riesigen Pressen, mit denen Rohteile im Schmuckunternehmen meines Vaters ausgestanzt wurden. Ich durfte schon sehr früh in die Firma mitkommen. Die Fabrik war ein wunder­ barer Abenteuerspielplatz. Und auch die morgendliche Brotzeit mit den Arbeitern ist mir in Erinnerung geblieben. Noch heute ist die Butterbrezel zum Frühstück für mich der größte Luxus. Als ich in Frankreich und den USA lebte, habe ich ­regionale Spezialitäten wie diese stets am meisten vermisst. Meine Heimat und die kluge Technologiepolitik der achtziger Jahre in Baden-Württemberg haben es mir ermöglicht, mein Unternehmen aufzubauen. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich möchte das Stichwort Respekt aufgreifen. Achtung voreinander zu haben, ist elementar. Auch den Mitarbeitern gegenüber. Ich


merke immer wieder: Wenn ich ihnen vertraue, entstehen die besten Dinge. Freiräume scheinen die Menschen kreativer zu machen. Murat Günak Belohnen Sie Ihre Teams manchmal? Ulrich Dietz Ich denke, offene Worte und gemeinsame Zeit sind für uns alle die beste Belohnung. Ich verbringe gerne viel Zeit mit meinen engsten Mitarbeitern, so lernt man sich gegenseitig gut kennen. Das ist auch der Vorteil eines Familienunternehmens, wie wir es sind. Der Vorstand ist zum Greifen nah und beschäftigt sich auch mit den Menschen im Unternehmen. Was ich damit sagen will: Unternehmen müssen heute die Voraussetzung schaffen, dass sich Mitarbeiter mit der Firma und deren Werten und Produkten identifizieren können. Damit bewirken sie wirtschaftliches Wachstum. Murat Günak Ich stimme Ihnen zu. Noch eine Bemerkung zu unseren Produkten: Sie sollten uns nach Möglichkeit ebenfalls befreien und nicht beschweren. Das gilt besonders für das Automobil. Es wurde ursprünglich gebaut, um den Menschen mehr Freiheit zu schenken. Mit ihm konnten sie die Welt kennenlernen, es trug entscheidend zum Wohlstand der westlichen Hemisphäre bei. So haben es die Menschen nach dem Krieg auch gefeiert. Sie verzierten es zum Beispiel mit Gotthard-Aufklebern, weil sie so stolz darauf waren, diesen Berg endlich überquert zu haben! Diese Unbeschwertheit im Umgang mit der Ware Auto möchte ich meinen Käufern wieder schenken. Ulrich Dietz Gilt auch hier: zurück zu den Wurzeln? Murat Günak Durchaus. An meinen Autos darf ein Kratzer keine Katastrophe bedeuten, man soll Lust haben, den Namen der Liebsten auf die Scheibe zu schreiben. Fahrzeuge sollen keine Ehrfurcht einflößenden Fetische sein, sondern nützliche Lieblingsspielzeuge. Ulrich Dietz Der Kult, der um dieses Produkt getrieben wird, ist in der Tat einzigartig. Es dirigiert nicht unerheblich unser gesellschaftliches Verhalten. Wer einen BMW, Bentley oder Ferrari fährt, der kleidet und benimmt sich anders als jemand, der in einem Toyota sitzt. Zunehmend frage ich mich, will man heute überhaupt noch Prestigeautos fahren? Auffallen ist in Zeiten, in denen sich die sozialen Gegensätze verschärfen, keine so gute Idee. Wächst den Designern nicht auch so eine immer bedeutendere Rolle zu? Murat Günak Richtig. Von einem Modell wie dem

iPhone von Apple können andere Industrien viel ­lernen. Es ist ein hervorragendes Beispiel, wie man ein Produkt durch das Kombinieren von Techno­ logien schnell auf den Markt bringt und dank seines genialen Designs eine Konsumgemeinde aufbaut, die es dann millionenfach kauft. Ulrich Dietz In einem unserer Geschäftsbereiche vermitteln wir Ingenieure und Informatiker. Wir managen rund 1.500 Spezialisten. Angenommen, eine Bank benötigt ein Team in ­Singapur, dann stellen wir es binnen weniger Tage maßgeschneidert zusammen, und zwar vom Techniker bis zum Bankberater. Unserer Erfahrung nach wollen künftig mehr und mehr Experten freiberuflich arbeiten. Für Ihr Elektroauto brauchen Sie möglicherweise ein paar Ingenieure, die in Japan sitzen. Sie benötigen einen Motor, der in Deutschland hergestellt wird. Und so weiter. Wenn man in der Lage ist, die unterschiedlichen Spezialisten zu orchestrieren und auf der anderen Seite eine starke Marke hat, kann man viel schneller und vor allem viel ökonomischer neue Produkte auf den Markt bringen und sie dort platzieren. Murat Günak Das sehe ich genauso. Es geht um Netzwerkkompetenz. Wir haben unser kleines Team aus zehn Personen genau so zusammengestellt. Ulrich Dietz Aber jemand muss dieses Netzwerk organisieren, es pflegen und aktualisieren. Murat Günak Man könnte ein entsprechendes Internetportal einrichten, das wie eine Bewerbungsbörse funktioniert. Es gibt Auswahlkriterien, Aufnahmetests, danach wird man zugelassen und bei Bedarf kontaktiert. Das Vorläufermodell waren Zeit­ arbeitsfirmen. Die bewegten sich allerdings mehr im Bereich einfacher Dienstleistungen. Ulrich Dietz In diesem Jahr haben wir verschiedene Veranstalter von Messen beraten. Dorthin kommen Tausende von Ausstellern und mehrere hunderttausend Besucher. Diese miteinander zu vernetzen, und zwar so, dass für alle Beteiligten Synergieeffekte und optimierte Begegnungen entstehen, ist die Herausforderung. Denn dort trifft sich eine Community, die man auch für andere, artverwandte und sogar zunächst fremde Geschäftsfelder motivieren kann! Murat Günak Absolut, denken Sie an das Medium Internet. Spannend ist, dass der Kunde dort einen uneingeschränkten Freiraum hat. Das birgt zwar viele Gefahren, ist aber anderseits faszinierend, da der Kunde das Produkt mitformt. 76


Der Konsument als Produzent? Genau. Es gibt übrigens ein klassisches Unternehmen, das es mit dieser Strategie beinahe wieder zur Nummer eins in seinem Segment gebracht hat: Harley Davidson. Ulrich Dietz Ach ja? Murat Günak Sie kaufen eine Harley sozusagen pur, ohne jedes Zubehör, aber Sie erhalten einen dicken Katalog dazu. Aus ihm können Sie alle Extras wählen, die Sie mögen und so Ihre ganz eigene, einzigartige Maschine kreieren! So initiiert die Firma eine Unmenge von Geschichten über die Marke, die sie immer populärer machen und ihr den Kultstatus zurückerobern, den sie einst hatte. Ulrich Dietz Die Deutschen gelten als geborene Erfinder. Wie sieht das in Ihrer Nation aus? Murat Günak Um etwas zu erfinden, muss man den Freiraum haben zu improvisieren. Darin ist Deutschland nicht unbedingt Weltmeister. Dafür ist dieses Land eines der sichersten der Welt, weshalb man dort besonders angenehm leben kann. Ulrich Dietz Chaos erfordert und fördert Improvisa­ Ulrich Dietz

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tion. Zurzeit bin ich häufiger in Brasilien, vor ­allem in São Paulo. Dort beobachte ich, dass dieser Zustand durchaus kreativ sein kann, aber eben auf Dauer auch anstrengend ist. Murat Günak Vor allem, wenn man ihn nicht gewohnt ist. Ich muss gestehen, ich brauche Chaosatmo­ sphäre, um das zu tun, was ich als Designer mache. Wenn die Strukturen erstarren, muss ich gehen. Ulrich Dietz In unserem Unternehmen versuchen wir, so flexibel wie möglich zu bleiben. Es gibt 22 Büros, alle können multifunktional eingesetzt werden. Meine Vision ist, auf einem Gelände Ingenieure und Designer, Wissenschaftler und kreative Menschen verschiedenster Bereiche zu versammeln, Kleinstunternehmer, aber auch große Firmen. So könnte eine Art multikreativer Thinktank mit vielen spannenden neuen Verknüpfungen entstehen. Murat Günak Gedankenwelten und Mentalitäten zu mischen, halte ich für essenziell für unsere Zukunft. Ich glaube, das Zauberwort des 21. Jahrhunderts heißt: intelligente Vernetzung.


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