Die vielfalt der menschlichen kommunikation 1 evolution

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Ausdehnung und Vielfalt der menschlichen Kommunikation - Skizzen eines Beitrags zur Theorie der soziokulturellen Evolution von K.Gilgenmann (letzte Änderung 20.7.04)

1. Evolution Es geht in dieser Arbeit um die Lösung einiger Theorieprobleme bezüglich der Beschreibung menschlicher Sozialformen, die die Sozialwissenschaften von Anfang an begleitet haben. Auch der hier gemachte Vorschlag, diese Probleme mit den Mitteln einer sozialwissenschaftlich adaptierten Evolutionstheorie zu verarbeiten, ist alles andere als neu, kann sich aber auf viele neuere Beiträge zur Theorie der soziokulturellen Evolution stützen. Sie werden in diesem Kapitel zur Vorstellung eines evolutionstheoretischen Kreislaufmodells verwendet. Wenn im Titel dieser Arbeit die „Ausbreitung der menschlichen Kommunikation“ focussiert wird, dann handelt es sich dabei nicht um eine These, die im Folgenden empirisch belegt werden soll, sondern darum, die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand zu richten, der normalerweise als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Es geht zunächst darum, deutlich zu machen, dass es sich bei der Verbreitung der menschlichen Kommunikation und insbesondere bei der Größe der sozialen Einheiten, in den Menschen leben, überhaupt um ein erklärungsbedürftiges Phänomen handelt.[1] Motiv und Leitlinie der folgenden Ausführungen ist die Annahme, dass die im Vergleich mit anderen Lebewesen auffallende Ausbreitung und Ausdehnung der Formen menschlicher Sozialität mit evolutionstheoretischen Mitteln erklärt werden kann und muss. Die Entstehung und Ausdifferenzierung von Makrophänomenen der menschlichen Sozialität soll hier nicht als Bruch mit den Kräften verstanden werden, die die genetisch-organische Evolution der Lebewesen bestimmen, sondern als deren kulturelle Erweiterung mit den besonderen kognitiven Mitteln, die die organische Ausstattung des Menschen ermöglicht hat. Der Mensch wird als ein primär soziales Lebewesen verstanden. Deshalb grenzen die folgenden Ausführungen sich ab von Ansätzen, in denen die Makrophänomene der menschlichen Sozialität als den menschlichen Individuen äußerliche Formen sich selbststeuernder Systeme oder als Nebeneffekte eigennütziger Bestrebungen der Individuen gedeutet werden.

- Drei Theoriebausteine Als Bausteine des evolutionstheoretischen Kreislaufmodells werden im Folgenden vor allem drei Theoriebegriffe verwendet: 1. Kommunikationen, die sich zu komplexen sozialen Netzwerken verknüpfen. Kommunikation ist die phänotypische Grundeinheit der soziokulturellen Evolution und daher sowohl Ausgangspunkt der Darstellung wie auch wiederkehrendes Element erweiterter, evolutionär unwahrscheinlicher Verknüpfungen in den folgenden Kapiteln. 2. Evolutionäre Mechanismen, die auf das Netzwerk der Kommunikation einwirken. Als evolutionäre Mechanismen kommen historische Ereignisse bzw. wiederkehrende Ereigniskonstellationen in den Blick, die auf gegebene Strukturen der Kommunikation kausal einwirken und sie verändern. Hier werden vier


verschiedene Mechanismen unterschieden, die kausal voneinander unabhängig wirken, auf den Wirkungen vorhergehender Mechanismen aufbauen und insofern einen rekursiv-zirkulären Verlauf aufweisen. 3. Instititutionen als operativ geschlossene, genotypische Grundeinheiten der soziokulturellen Evolution, die als elementare Verknüpfungen der Kommunikation dienen. Institutionen sind replikationsfähige Merkmalsträger, nicht selbst Ursachen sozialen Wandels. Sie kommen einerseits als Effekte evolutionärer Prozesse und andererseits in jedem Kapitel erneut als gegebene Voraussetzungen der Kommunikation in den Blick. Der Begriff der Kommunikation steht hier für die kreative Seite, für operative Offenheit, Vielfalt und Wandel in der soziokulturellen Evolution. Der Begriff der Institution steht für die restriktive Seite, für operative Geschlossenheit, Beschränkung und Ordnung in der soziokulturellen Evolution. Der Begriff des evolutionären Mechanismus steht für historisch kontingente Faktoren, die das Zusammenspiel beider Seiten im Verlauf der soziokulturellen Evolution beeinflussen.[2]

Kommunikationstheorie

Evolutionstheorie

Institutionentheorie

Kommunikationen

Evolutionäre Mechanismen

Institutionen

als phänotypische Einheiten

als Kausalfaktoren

als genotypische Einheiten

Kreislaufmodell der soziokulturellen Evolution

Die genannten Theoriebegriffe sind weitgehend unabhängig voneinander in verschiedenen disziplinären Theorietraditionen (der technik- und sozialwissenschaftlichen Kommunikationstheorie, der anthropologischen und sozialwissenschaftlichen Institutionentheorie, der biologischen und sozialwissenschaftlichen Evolutionstheorie) entwickelt worden. Ihre theoriegeschichtlichen Voraussetzungen bleiben in der folgenden Darstellung weitgehend ausgeblendet. Die Begriffe werden stattdessen in einem theoretischen Modell sozialen Wandels miteinander verknüpft und durch diese Verknüpfung in ihrer Bedeutung eingeschränkt.

- Kommunikationen als Phänotypen Der Begriff der Kommunikation dient hier als Sammelbezeichnung für die Vielfalt soziokultureller Formen und zugleich als Bezeichnung ihrer operativen Grundeinheit. Wenn auf die phänomenale Vielfalt der Kommunikation Bezug genommen wird, dann ist deren Einheit als phänotypische Operationsform der soziokulturellen Evolution schon vorausgesetzt. Diese prozessierende Einheit lässt sich allerdings ohne evolutionstheoretischen Bezug auf Beschränkungen gar nicht abgrenzen. Bei der Beschreibung von


Kommunikation als prozessierender Einheit bekommt man es mit Paradoxien zu tun, die im Folgenden durch die Einführung weiterer Unterscheidungen aufgelöst werden sollen. Die erste und für eine Theorie der soziokulturellen Evolution grundlegende Unterscheidung bezieht sich auf materielle und symbolische Aspekte der menschlichen Kommunikation. Ausgehend vom Doppelcharakter der menschlichen Kommunikation als symbolisch-materieller Einheit kommen Schranken und Vielfalt der Kommunikation in zweierlei Formen in den Blick. Wenn Evolutionsbiologen von der „Vielfalt des Lebens“ handeln, dann setzen sie Beschränkungen evolutionstheoretisch schon voraus.[3] Ohne Beschränkung der Ressourcen gäbe es keine Vielfalt der Arten. Die ersten Lebewesen hätten sich sonst ungehindert auf dem Planeten ausgebreitet und wären damit ihrerseits zur Beschränkung für das Aufkommen anderer Arten geworden. Noch eine andere Art von Beschränkungen wird in der biologischen Evolutionstheorie vorausgesetzt: diejenige, die in der informationellen Geschlossenheit des genetischen Codes zu erkennen ist. Alle lebenden Organismen verfügen über eine mehr oder weniger ausgebildete Fähigkeit, sich an die Beschränkungen ihrer Umwelt anzupassen. Jedoch geht von diesen Anpassungsleistungen nichts in ihr genetisches Potential ein. Diese Beschränkung schützt die Evolution der Arten vor Sackgassen der Überanpassung. In der Betrachtung der soziokulturellen Verhältnisse des Menschen erscheint es zweifelhaft, ob von Beschränkungen in diesem evolutionstheoretischen Sinne überhaupt die Rede sein kann. Die Gründe liegen z.T. in der sozialwissenschaftlichen Theorietradition. Sozialer Sinn erscheint nicht als knappe Ressource, sinnhafte Kommunikation wäre ja im Prinzip beliebig vermehrbar. Kommunikation kann demnach nur "künstlich" verknappt werden: als eine symbolische Eigenleistung der sozialen Systeme. In der geisteswissenschaftlich-konstruktivistischen Theorietradition ist nicht erkennbar, inwiefern diese Leistung mit materialen Beschränkungen in der physischen und organischen Welt noch etwas zu tun hat. Andere Gründe des Zweifels, ob die evolutionären Beschränkungen auf die soziokulturellen Verhältnisse übertragen werden können, liegen in der naturwissenschaftlichen Theorietradition. In deren Perspektive ist es kaum vorstellbar, wie jene symbolischen Beschränkungen, die in den basalen Einheiten der soziokulturellen Evolution wirksam werden, die für die Trennung der Wirkungsmechanismen notwendige operative Geschlossenheit errreichen können. Im Folgenden wird argumentiert, dass auch für die soziokulturelle Evolution beide Arten von Beschränkungen angenommen werden können: die operative Geschlossenheit der basalen Einheiten der soziokulturellen Evolution und ihr Zusammenhang mit den materialen Beschränkungen des Lebens in der physischen und organischen Welt. Beides soll mittels eines Doppelstruktur-Modells der Kommunikation entfaltet werden. Die wichtigsten Elemente dieses Modells bestehen in der Unterscheidung von zwei Ebenenen der Kommunikation und auf jeder dieser Ebenen in der Unterscheidung zwischen der konkreten Vielfalt kommunikativer Operationen und der operativen Geschlossenheit ihrer Institutionen als basaler Einheiten soziokultureller Evolution. Die Duplizität von Beschränkung und Vervielfältigung wiederholt sich in den evolutionären Mechanismen: Die Mechanismen der Selektion und Replikation repräsentieren materielle und symbolische Schranken und sichern die Einheit der Kommunikation. Die Mechanismen der Variation und Restabilisation repräsentieren die materielle und symbolische Offenheit der Kommunikation und sichern ihre Vielfalt. Der Doppelcharakter der Kommunikation als materielle und symbolische Operation kommt sowohl in den evolutionären Beschränkungen wie auch in der evolutionären Vielfalt zum Zuge. Operationen der Kommunikation, die mit der Handlungsseite ihrer Komponenten der physischen Welt verhaftet bleiben, produzieren bereits auf dieser Ebene Vielfalt als Variation von Handlungsverknüpfungen. Operationen der Kommunikation, die mit der Erlebensseite ihrer Komponenten mit der symbolischen Welt verknüpft sind, produzieren Vielfalt der Institutionen als Restabilisation durch kulturelle Differenzierung. Institutionen tragen nicht nur dadurch zur Vielfalt der Kommunikation bei, dass sie materielle Schranken der Kommunikation durch symbolische Schranken ersetzen. Sie ermöglichen auch eine Komplexität der kommunikativen Sozialwelt, die mit der Komplexität der Welt des Menschen (seiner ökologischen Nische) mithalten kann, und sorgen durch Binnendifferenzierung der Sozialwelt für die notwendige Vielfalt des


Institutionenpools zur Fortsetzung der soziokulturellen Evolution.

Makroebene

Materielle Realität Vervielfältigung

⇑ Variation Mikroebene

Beschränkung Handeln

Beschränkung Selektion ⇒ Kommunikation

⇐ Replikation Beschränkung

Symbolische Realität Beschränkung Restabilisation ⇓ Vervielfältigung Erleben

Das hier skizzierte Programm zielt darauf, die Alternative zwischen top down verfahrenden (system-strukturtheoretischen) und bottom up verfahrenden (mikrofundiert emergenztheoretischen) Ansätzen durch ein Kreislaufmodell mit zwei Ebenen und vier kausal wirkenden Mechanismen zu ersetzen. Um Hypothesen zur Verknüpfung der Phänomene auf verschiedenen Ebenen entwickeln zu können, wird der im mainstream der Sozialwissenschaften bevorzugte Grundbegriff der Handlung in diesem Modell ersetzt durch den der Kommunikation. Diesem Vorschlag liegen v.a. zwei Überlegungen zugrunde: 1. Den konkurrierenden handlungstheoretischen Ansätzen ist es bisher nicht gelungen, einen tragfähigen Konsens über die Relation von bewußtseinsbasierten und organisch-physisch basierten Komponenten der Grundoperation menschlicher Sozialität herzustellen. In handlungstheoretischen Ansätzen wird stets (hierarchisch oder konsekutiv) das Eine dem Anderen subsumiert. Im Zwang zur Reduktion auf entweder geistige oder materielle Komponenten liegt ein Auslöser andauernden Paradigmenstreits. Ein kommunikationstheoretischer Ansatz erlaubt es stattdessen, die Grundoperationen menschlicher Sozialität als nicht weiter zu reduzierende (materiell und geistig konstituierte) Einheit zu behandeln und soziale Phänomene – insbesondere Institutionen - als Produkte der Ausdifferenzierung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation zu erklären. 2. Der Rekurs auf Kommunikation als Grundoperation erscheint auch besser als der Rekurs auf individuelle Handlungen vereinbar mit einem evolutionstheoretischen Ansatz zur Erklärung der Bedingungen des Wandels sozialer Institutionen. Evolutionstheoretische Ansätze verlangen die Bestimmung von kausal voneinander unabhängigen Wirkungsmechanismen. Ein kommunikationstheoretischer Ansatz kann die Wirkung evolutionärer Mechanismen aus Unterbrechungen und Verknüpfungen der Kommunikation erklären, die an verschiedenartigen Konstellationen der Kommunikation ansetzen und verschiedenartige institutionelle Lösungen hervorbringen. Kausale Unabhängigkeit i.S. der Darwinschen Prämissen ist zB nicht gewährleistet, wenn der Selektionsmechanismus durch die Intentionalität des Handelns oder rational kalkulierende Nutzenerwartungen gesteuert wäre. Ein komplementäres Problem mit der Unabhängigkeit der Mechanismen hat die funktionalistische Systemtheorie, wenn sie die Selektionsfunktion den symbolisch generalisierten Medien der Funktionssysteme zuordnet. In diesem methodologischen Sinne sind auch die Ausführungen zur Vielfalt der Kommunikation auf der Mikroebene zu verstehen, die ihre kreative, chaotische Seite – gegen alle Beschränkungen und Aggregationen auf der Makroebene - als entscheidend für die soziokulturelle Evolution beschreiben. Dabei soll jede romantisierende Stilisierung vermieden werden – zugunsten eines Arguments, das für die Unterscheidung der Ebenen und Formen der Kommunikation im Kreislauf-Modell soziokultureller Evolution spricht. Im Vergleich mit einem Modell primordialer Strukturen der Kommunikation (mit seinen geringen Freiheitsgraden) muss die Freisetzung von Spielräumen der Kommunikation durch Ebenendifferenzierung (mit Individualisierung und Technisierung als Komplementärphänomenen) als eine Voraussetzung der Regeneration des kulturellen Institutionenpools der Gesellschaft herausgestellt werden.


- Evolutionäre Mechanismen als Ursachen Die formale Grundlage des hier skizzierten theoretischen Modells besteht in der Kombination von drei Unterscheidungen: der Unterscheidung von Ebenen, Referenzen und Kreisläufen der Kommunikation. Die Unterscheidung von Ebenen und Referenzen wird zunächst phänomenal und deskriptiv eingeführt, die Unterscheidung von evolutionären Mechanismen hingegen zielt schon auf kausale Erklärung, die jedoch nur in der Analyse konkreter historischer Situationen ausgeführt werden kann. Ursachen und Wirkungen institutionellen Wandels sind dabei nicht leicht auseinander zu halten. In die Beschreibung evolutionärer Mechanismen, die ja selbst evolutionäre Errungenschaften sind, gehen Institutionalisierungen immer schon ein. Wenn Institutionen als evolutionäre Gegebenheiten betrachtet werden, erscheinen sie selbst als Beschränkungen der Kommunikation. Wenn Institutionenbildung als Prozess betrachtet wird, ist sie kaum zu trennen von den Wirkungsmechanismen. Jeder Mechanismus kann selbst wiederum als Institution betrachtet werden. Da es nicht möglich ist, einen Nullpunkt der Institutionenevolution anzugeben, lassen sich die Fragen des Institutionenwandels und der Institutionengenese nur analytisch, nicht historisch-empirisch trennen. Die Neubildung von Institutionen kann nur als Teil des Institutionenwandels im konkreten historischen Kontext beschrieben werden. Dennoch soll im Folgenden mithilfe des Kreislaufmodells versucht werden, den spezifischen Beitrag evolutionärer Mechanismen zur Neubildung von Institutionen gesondert herauszustellen. Zu den Mindestanforderungen an ein evolutionstheoretisches Modell gehört die Unterscheidung von zwei Mechanismen – blinde Variation und selektive Reproduktion – und die Unterscheidung von zwei Ebenen, auf denen diese beiden Mechanismen kausal voneinander unabhängig wirksam werden: die Ebene operativ geschlossener, replikationsfähiger Einheiten und die Ebene operativ offener, durch Umwelt selektiv beeinflussbarerer Einheiten. Im hier vorgestellten Modell werden diese Anforderungen modifiziert durch die Kombination einer Unterscheidung von Ebenen mit der Unterscheidung von symbolischen und materiellen Komponenten der menschlichen Kommunikation. Hieraus wird die Beschreibung von vier voneinander unabhängig wirksamen evolutionären Mechanismen abgeleitet. Bei der hier skizzierten Verwendung eines evolutionstheoretischen Kreislaufmodells geht es darum, die Vorzüge von sozialwissenschaftlichen Struktur- und Emergenztheorien zu kombinieren. Diese werden zirkulär verknüpft im Sinne der Generation komplexer Strukturen im Rekurs auf vielfältige Variationen kommunikativer Ereignisse einerseits (auf der Handlungs- und Systemseite) und im Sinne der Replikation basaler kommunikativer Ereignisse im Rekurs auf prästabilisierte Strukturen andererseits (auf der Umweltund Erlebensseite). Als Systeme werden im hier skizzierten Modells Makroeinheiten der Kommunikation bezeichnet, die unter Beteiligung lebender Individuen durch symbolisch generalisierte Erwartungen (Institutionen) zusammengehalten und sich dadurch von anderen sozialen Einheiten in ihrer Umwelt abgrenzen. Diese Definition gilt nur für Einheiten der Kommunikation auf der Makroebene der Populationen bzw. Gesellschaften. Sie schließt die Verwendung des Systembegriffs für die Interaktionen Einzelner oder für Organisationen aus.[4] Sie schließt die symbolisch generalisierten Konstrukte ein, mit deren Hilfe die Akteure sich in ihrer innergesellschaftlichen Umwelt (u.a. in der Form von Funktionssystemen) orientieren. Die funktionale Differenzierung der innergesellschaftlichen Umwelt kann als Systemdifferenzierung – nämlich als Binnendifferenzierung des Gesellschaftssystems – bezeichnet werden. Aus der Perspektive der lebenden Akteure, einschließlich der Systeme der Kommunikation, an denen sie teilnehmen, handelt es sich hier jedoch um Formen der Umweltdifferenzierung. Diese Unterscheidung ist auch wichtig, um den für die Darwinsche Evolutionstheorie entscheidenden Gesichtspunkt der Umweltselektion auf die soziokulturelle Evolution anwenden zu können. Der Wandel von Institutionen wird in diesem Modell als eine Folge von Unterbrechungen und Rekombinationen der Kommunikation im Kreislauf rekursiv verknüpfter Mechanismen gedeutet. Im Blick auf Besonderheiten der soziokulturellen Evolution werden die grundlegenden Mechanismen der


Darwinschen Evolutionstheorie - Variation und Selektion – darin zweimal angesetzt. Daraus ergibt sich ein Kreislaufmodell mit vier institutionellen Grundkonstellationen, in denen sich die Differenz von Variation und Selektion wiederholt. Variation ist stets mit Differenzierungen der Kommunikation auf einer Ebene verknüpft, Selektion stets mit der Differenzierung und Verknüpfung der Ebenen selbst.

Vervielfältigung

Systeme

Makroebene

Organisationen

Unterbrechung

Technisierung ⇑ Variation

Mikroebene

Individuen

Beschränkung

Handeln

Unterbrechung Wettbewerb Selektion ⇒ Kommunikation Tradierung ⇐ Replikation Unterbrechung

Umwelten

Beschränkung

Populationen

Makroebene

Differenzierung Restabilisation ⇓

Unterbrechung

Institutionen

Mikroebene

Erleben

Vervielfältigung

Die Darstellung im Kreislaufmodell darf nicht mit einer historischen Abfolge verwechselt werden. In historisch-empirischer Hinsicht wirken alle evolutionären Mechanismen gleichzeitig. Das ist nur ein anderer Ausdruck für ihre kausale Unabhängigkeit. Sie können allerdings nur auf Ereignisse einwirken, die schon passiert sind. Insofern setzt Selektion setzt Variationen voraus und umgekehrt. Im Hinblick auf die Ebenendifferenzierung der Kommunikation macht es allerdings einen Unterschied, mit welchem Mechanismus die Darstellung beginnt. Im hier skizzierten Modell ist Selektion i.S. gegebener Beschränkungen der Kommunikation stets das Explanans, und Variation i.S. entstandener Vielfalt stets das Explanandum. Die evolutionären Mechanismen, die in diesem Modell für Veränderungen der Kommunikation sorgen, sind „blind“ hinsichtlich der Folgewirkungen, also historisch zufallsbestimmt. Sie reagieren auf jeweils gegebene Bedingungen und sind insofern rekursiv miteinander verknüpft. Die rekursive Verknüpfung der evolutionären Mechanismen legt ihre Darstellung in einem Kreislaufmodell nahe. Der Unterscheidung von Ebenen und ebenenspezifischen Differenzierungen soziokultureller Evolution gewissermaßen schon vorausgesetzt (an dieser Stelle aber nur ansatzweise zu skizzieren) ist eine Beschreibung der Evolution evolutionärer Mechanismen in verschiedenen historischen Formen der menschlichen Gesellschaft. Der Tradierung von Institutionen als basalem Element kommt innerhalb der soziokulturellen Evolution zugleich die Funktion des Replikators zu - ähnlich der Weitergabe von Genen in der biologisch bestimmten Evolution, jedoch ebensowenig als ihr allein bestimmendes Merkmal. Wenn schon in der biologischen Diskussion.[5] Vieles dafür spricht, den basalen Einheiten nicht den alles determinierenden Einfluss einzuräumen, so läßt sich für die soziokulturelle Evolution leicht plausibel machen, dass die basale Replikatorfunktion von Institutionen das kommunikative Netzwerk der menschlichen Gesellschaft nicht allein bestimmen kann. Sie kann dies umso weniger, je stärker die kausal unabhängige Wirkungsweise der anderen evolutionären Mechanismen im Verlauf ihrer historischen Entwicklung ausdifferenziert wird. Nicht nur der Replikationsmechanismus ist in Abhängigkeit von verschiedenen historischen Ausformungen der Gesellschaftseinheiten neu zu bestimmen. Das gilt auch für die anderen evolutionären Mechanismen und die Ausdifferenzierung ihrer kausal voneinander unabhängigen Wirkungen. Auf der Mikroebene der Kommunikation muss in Abhängigkeit von der Technisierung der Kommunikationsmittel zwischen verschiedenen historischen Formen der Tradition und der Individualisierung der Teilnehmer bis hin zum modernen Bildungswesen unterschieden werden. Entsprechend kann beim Mechanismus der Variation zwischen primordialer Intentionalität des Handelns in der Kommunikation, sprachlich vermitteltem Negationspotential und seiner Steigerung durch Technisierung der Kommunikationsmittel unterschieden werden.


Auch hinsichtlich des Selektionsmechanismus muss unterschieden werden zwischen primordialen Formen der Gruppenselektion, historischen Formen kultureller Selektion in Abhängigkeit von der Reichweite der Kommunikationsmittel sowie modernen Formen auf der Grundlage von geregeltem Wettbewerb. Der Restabilisationsmechanismus der innergesellschaftlichen Umweltdifferenzierung muss als ein gattungsgeschichtlich spät entwickelter Mechanismus der Variation zweiter Ordnung in Reaktion auf die intentionale Veränderbarkeit der Bedingungen der Selektion durch Märkte u.a. Formen des geregelten Wettbewerbs angesehen werden. Die Institutionalisierung von Institutionen ist ein reflexiver Prozess, der nur unter sehr spezifischen Umständen möglich und notwendig wird. Dennoch kann auch hier in Abhängigkeit von der Entwicklung der Kommunikationsmittel zwischen primordialen und traditionellen Formen des kollektiven Erlebens und entsprechenden Formen in einer funktional differenzierten Öffentlichkeit unterschieden werden.

- Institutionen als Genotypen R. Dawkins hat für die funktionalen Äquivalente von Genen in der soziokulturellen Evolution die Bezeichnung Meme vorgeschlagen[6], die z.T. auch in den Sozialwissenschaften aufgegriffen worden ist. Dass es sich bei der Wahl des Begriffs Mem um eine stimmige Analogie handelt, ist nicht zu bestreiten. Zweifellos kann jeder sprachlich oder aussersprachlich fixierte symbolische Ausdruck als funktionales Äquivalent zu Genen betrachtet werden. Auch die offenkundigen Parallelen in der evolutionären Verbreitung von Genen und Sprachen stützen eine solche Konstruktion.[7] Allerdings wird diese Analogiekonstruktion den emergenten Makrostrukturen der soziokulturellen Evolution nicht gerecht. So wie es schon in der Evolution der natürlichen Arten bei den höheren Lebewesen eigentlich nicht um einzelne Gene, sondern immer schon um Gen-Komplexe (die ein ganzes Arsenal an Bausteinen der Evolution kombinieren) geht, so muss angesichts der quantitativen Ausdehnung und qualitativen Komplexität der soziokulturellen Evolution nicht nur von Mem-Komplexen sondern eher von Meta-Memen o.ä. gesprochen werden. Als solche MetaMeme betrachten wir im Folgenden die soziokulturellen Institutionen. Im Anschluss an ältere und neuere Theorietraditionen der Sozialwissenschaften erscheint es angemessener, die basalen Einheiten der soziokulturellen Evolution als Institutionen zu bezeichnen.[8] Der Institutionenbegriff hat eine lange Tradition in den Sozialwissenschaften.[9] Daher wird häufig übersehen, dass in den konkurrierenden Ansätzen, die sich darauf beziehen, eine klare Definition meist vermieden wird. Entgegen einer Tendenz zur Ausweitung in neueren Ansätzen (insbesondere mit Bezug auf Organisationen) wird hier eine engere Definition des Institutionenbegriffs vorgeschlagen, die sich auf evolutions- und kommunikationstheoretische Annahmen stützt. Die übliche funktionalistische Deutung von Institutionen als Mittel zur Reduktion von Unsicherheit erscheint unzureichend für deren Definition, da diese Funktion auch vielen anderen sozialen bzw. technischen Einrichtungen zugeschrieben werden kann. Um zu einer strikteren Definition von Institutionen zu kommen, werden im wesentlichen zwei Instrumente verwendet: 1. das kommunikationstheoretische Instrument der Unterscheidung zwischen Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation - und damit die Plazierung der Institutionen (ausschließlich und im Sinne operativer Geschlossenheit für Handlungszugriffe) auf der Seite der Erlebenskomponenten (der symbolischen Konstrukte); 2. das evolutionstheoretische Instrument der Unterscheidung evolutionärer Mechanismen - und damit die Platzierung der Institutionen als basale (operativ geschlossene) Einheiten in einem Modell soziokultureller Evolution, das kausal voneinander unabhängige Wirkungsmechanismen, also konstitutive Blindheit, annimmt.


In dieser Arbeit wird die Vielfalt sozialer Phänomene in ein relativ einfaches Schema gepresst. Auch innerhalb dieses Schemas werden nicht alle Kausalfaktoren sozialen Wandels gleichmäßig behandeln, sondern wird der Schwerpunkt auf diejenigen Faktoren gelegt, die die operative Geschlossenheit von Instititutionen als elementare Voraussetzung der evolutionären Offenheit sozialen Wandels erklären können. Institutionen werden analog zur Funktion der Gene in der biologischen Evolutionstheorie als Basiseinheiten der soziokulturellen Evolution betrachtet. Der Institutionenvorrat einer Population entspricht dem Gen-Pool. Für eine evolutionstheoretische Betrachtung genügt es allerdings nicht, Institutionen in einer funktionalen Analogie als Gen-Äquivalente zu betrachten. Es sollte auch gezeigt werden, wie diese funktionalen Äquivalente als erweiterte Mittel der Kräfte wirken, die in der biologischen Evolutionstheorie beschrieben werden.[10] Es sollte gezeigt werden, wie die Institutionen der soziokulturellen Evolution eingebettet in die Evolution der Lebewesen, gewissermaßen „an der langen Leine“ der Selbstausbreitungstendenz der Gene und ihrer Beschränkung durch natürliche Umwelten zur Wirkung kommen. In dieser Hinsicht wird es wichtig zu zeigen, dass Institutionen als Replikationseinheiten der Kommunikation auch über bestimmte Fähigkeiten verfügen, die die Gene nicht haben: nämlich durch symbolische Generalisierung und Respezifikation sich so zu verändern, dass sie ihre Fitness auch unter extrem verschiedenen Umweltbedingungen gleichzeitig bewahren. Auch dies muß noch als ein „Experiment“ betrachtet werden, das die Evolution des Lebens ermöglicht und beschränkt.

Sozialwissenschaftliche Theorie- und Methodenprogramme sind immer wieder von der Biologie angeregt worden. Die Darwinsche Evolutionstheorie hatte vorgeführt, Biologisches - die Entstehung der Arten - mit biologischen Mitteln zu erklären statt mit einer Schöpfungslehre. Die Soziologie hatte von Beginn an das Programm, Soziales nur aus Sozialem (und nicht aus menschlichen oder höheren Absichten) zu erklären. Die Durchführung dieses Programms stieß jedoch immer wieder auf das Problem der Entscheidung über das Letztelement, das soziale „Molekül“, das mit soziologischen Mitteln nicht weiter aufzulösen wäre. Tatsächlich sind Ansätze zur Anwendung molekularbiologischer Modelle auf soziokulturelle Phänomene sowohl von Biologen wie von Sozialwissenschaftlern in die Diskussion gebracht worden.[11] Institutionentheorien, die Anleihen bei Evolutionstheorien machen, bleiben meist undeutlich an einem Punkt, der in der neueren biologischen Evolutionstheorie (in der neodarwinistischen Synthese mit den Erkenntnissen der Genetik) als besonders wichtig angesehen wird: das ist die Bezeichnung der basalen Einheiten, die in evolutionären Prozessen repliziert werden. Denn für diese Einheiten wird in der biologischen Evolutionstheorie eine vollständige operative Geschlossenheit postuliert: Gene lernen nicht aus Veränderungen der Umwelt – und gerade deshalb kann Evolution stattfinden. Während die Darwinsche Evolutionsbiologie in der „neuen Synthese“ auf basale (genetische) Einheiten jenseits individueller Organismen umgestellt hat, haben die Sozialwissenschaften in der Wahl ihrer Elementareinheiten am Bezug auf menschliche Individuen festgehalten. Mit der tradierten Präferenz für menschliche Individuen ist ein teleologisches Moment in die Beschreibung des Sozialen eingeführt worden, das die konsequente Verwendung von Evolutionstheorie in den Sozialwissenschaften eher behindert hat. Dieses Problem konnte auch durch die Umstellung der Grundbegrifflichkeit von Individuen auf - normativ oder individualistisch konzipierte - Handlungseinheiten nicht aufgelöst werden. Es geht zunächst darum, diejenigen Einheiten näher zu bestimmen, die in einem Modell der soziokulturellen Evolution als replikationsfähige Basiseinheiten fungieren. Für die soziokulturelle Evolution erscheint es schwer vorstellbar[12] – oder es wird ausdrücklich bestritten[13] - dass es solche operativ geschlossenen Einheiten geben könne. Wenn hier vorgeschlagen wird, Institutionen an dieser Stelle einzusetzen, so steht dies zunächst auch im Gegensatz zur üblichen Auffassung von Institutionen als veränderbare oder sich selbst verändernde Einrichtungen. Die klassische Selektionstheorie besagt, dass das Gen die Einheit der Vererbung und der Variation ist, das


Individuum die Einheit der Selektion und die biologische Art die Einheit der Evolution.[14] Die auf Darwins Schriften sich berufende biologische Evolutionstheorie ist allerdings kein festgefügtes Fundament, von dem aus Wandel und Vielfalt biologischer Arten abschließend erklärt werden könnte, sondern ein kompliziertes Forschungsprogramm, das ständig geändert und verbessert wird.[15] Deshalb ist auch nicht möglich, entsprechende Erklärungsinstrumente für die Gegenstände anderer Disziplinen – etwa den Wandel und die Vielfalt sozialer Institutionen – einfach aus der biologischen Evolutionstheorie zu übernehmen und gewissermaßen den Erfolg der Theorie auf einem Feld als Autoritätsquelle für die Anwendung auf einem anderen Feld auszuborgen.[16] Dennoch ist es auch für sozialwissenschaftliche Ansätze lehrreich, sich klar zu machen, auf welchen grundlegenden Theorieentscheidungen der große Erfolg der Evolutionsbiologie im 20. Jh. – die Synthese zwischen der Biologie der Organismen und der Genetik nach einer langen Periode der Zersplitterung zwischen konkurrierenden darwinistischen und nichtdarwinistischen Ansätzen – beruht. Die theoretische Grundentscheidung des Darwinschen Modells besteht in der Behauptung der kausalen Unabhängigkeit der evolutionär wirksamen Mechanismen, die bei Darwin bereits mit der These der Nichtvererbbarkeit erworbener Eigenschaften postuliert wurde (gegen die tief in der soziokulturellen Welt des Menschen verankerte Intuition Lamarcks). Mehr als Darwin selbst dies wissen konnte, ist diese These durch die Entdeckung der modernen Molekulargenetik bestärkt worden. Veränderungen auf der genetischen Ebene vollziehen sich demnach völlig unabhängig von Veränderungen auf der Ebene der Organismen und ihrer Umweltwahrnehmungen. Die Frage ist also: Läßt sich das Modell der operativen Geschlossenheit der genetischen Ebene (der basalen Replikationseinheiten) gegenüber der phänotypischen Ebene (der Organismen und Populationen) auf den Bereich der soziokulturellen Evolution anwenden? Und wenn ja, welche Modifikationen müssen für diesen Zweck in Kauf genommen werden? Eine Modifikation ist offenkundig und grundlegend: die Vererbung erworbener Eigenschaften macht ja gerade die Besonderheit der soziokulturellen Evolution aus. Aber diese Divergenz zwingt nicht zum Verzicht auf ein theoretisches Modell, in dem die operative Geschlossenheit von Elementareinheiten mit der operativen Offenheit und Komplexität soziokultureller Phänomene kombiniert wird. Um diese Kombination von Offenheit und Geschlossenheit evolutionstheoretisch tragfähig zu machen, ist es allerdings nötig, im Gegenstandsbereich der Theorie selbst zu zeigen, dass die evolutionären Wirkungen kausal voneinander unabhängig zustande kommen. Es geht also darum zu zeigen. dass die Wirkungen auf die Elementareinheiten soziokultureller Evolution völlig zu trennen sind von den Wirkungen auf der phänomenalen Ebene zusammengesetzter sozialer Ereignisse. Wie müssen die Elementareinheiten beschaffen sein, damit eine solche Trennung auch für die soziokulturelle Evolution beschrieben werden kann? Die Elementareinheiten soziokulturelle Evolution müssen als operativ geschlossene Einheiten eingeführt werden, die sich wie Gene selbst durch Umwelterfahrungen nicht verändern können. Damit ist ausgeschlossen, dass es sich bei diesen Einheiten um menschliche Individuen handeln könnte, da diese offensichtlich aus Umwelterfahrungen lernen und diese Erfahrungen sogar vererben können. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass der Gebrauch, der von diesen Einheiten auf der phänotypischen Ebene gemacht wird, im strikten Sinne der evolutionären Selektion unterliegt. Ähnlich wie in den Sozialwissenschaften wird auch in der Biologie zwischen einer Mikro- und einer Makroebene unterschieden – und auch hier gibt es Streit darüber, ob Phänomene der Makroevolution allein aus Phänomenen der Mikroebene zu erklären sind.[17] Während Vertreter der neodarwinistischen Synthese wie E.Mayr von kausal unabhängigen Einflüssen auf der genetischen und der phänotypischen Ebene ausgehen, behaupten molekulargenetisch orientierte Darwinisten wie Dawkins eine determinative Funktion der Keimbahn-Replikatoren für Veränderungen auf der phänotypischen Ebene.[18] Grundlegende Züge des menschlichen Verhaltens werden aus dem Mechanismus der Replikation von genetischen Programmen erklärt. Ist ein Gen erfolgreich, so reproduziert es sich in möglichst vielen Individuen. Auch bei Lebewesen, die Gehirne und gedächtnisgestützte kulturelle Praktiken entwickelt haben, erscheint ein großer Teil der


Steuerung ihrer Lebensprozesse auf der genetischen Ebene vorprogrammiert. Genetische Programmierung benötigt gewissermaßen keinen Programmierer sondern nur Programme und Prozessoren. Ein ähnlich aufgebautes Modell der soziokulturellen Evolution käme ebenfalls ohne Programmierer (Subjekte der Steuerung) aus. Ein vergleichbarer Begriff für operativ geschlossene Einheiten der Kommunikation liegt in der sozialwissenschaftlichen Theorietradition mit den Begriff der Institutionen durchaus schon vor.[19] Er ist in der älteren ökonomischen und soziologischen Theorietradition zunächst auf grundlegende Phänomene bezogen worden, die unmittelbaren Handlungszugriffen sich entziehen und eben dadurch zu den Möglichkeitsbedingungen sozialen Handelns und Erlebens gehören. In der Tradition soziologischer Aufklärung verhält sich der Begriff der Institution zur Sphäre des Sozialen wie der der latenten Strukturen zu manifesten Phänomenen.

Soziobiologisch

Soziokulturell

Emergente Einheiten

Populationen, Arten

Populationen, Systeme

Selektionseinheiten

Organismen

Kommunikationen

Basale Einheiten

Gene

Institutionen

Institutionen werden im hier skizzierten Modell als die basalen replikationsfähigen (informationell geschlossenen) Einheiten soziokultureller Evolution betrachtet und als solche strikt unterschieden von den evolutionären Mechanismen, die als (selbst historisch evoluierte, also sich verändernde) Wirkursachen betrachtet werden. Ähnlich wie in der Evolutionsbiologie gibt es auch in den Sozialwissenschaften Dissens darüber, inwieweit den Elementareinheiten selbst kausale Wirkungen zuzuschreiben sind.[20] Institutionen werden im hier skizzierten Modell nur als Merkmalsträger, nicht als (selbst aktive) Ursachen evolutionärer Prozesse betrachtet. In vielen Beiträgen des soziologischen Neo-Institutionalismus wie auch der Neuen Institutionen-Ökonomie wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Institutionen (durch intentionales Handeln) „geschaffen“ werden können. Diese Prämisse soll hier durch evolutionstheoretische Annahmen ersetzt werden. In diesem Modell sind Institutionen weder handlungs- noch entscheidungs- noch lernfähig. Sie sind operativ geschlossenen Einheite, die sich zu den vielfältigen Formen des Sozialen wie Genotypen zu Phänotypen verhalten. Der Anschluss an konkurrierende Verwendungen des Institutionenbegriffs soll im hier skizzierten Modell dadurch hergestellt werden, dass verschiedene Phasen im „Lebenszyklus“ von Institutionen unterschieden werden. Instititutionen werden im Folgenden als Genäquivalente der soziokulturellen Evolution und als replikationsfähige Merkmalsträger der Kommunikation betrachtet. In der Form ihrer Verknüpfung repliziert die Kommunikation laufend ihre basalen Merkmale als operativ geschlossene Einheiten. Die Beschreibung der basalen Replikationseinheiten soziokultureller Evolution und die Abgrenzung des Replikationsmechanismus von anderen evolutionären Mechanismen wird im Rahmen eines ZweiebenenModells der Kommunikation entfaltet.


- Ebenen der Kommunikation Eine der grundlegenden erkenntnistheoretischen Prämissen, die Biologie und Sozialwissenschaften (insbes. die Theorien sozialen Wandels und die Evolutionsbiologie) teilen, ist die Annahme, dass nicht ohne Weiteres von der Beobachtung von Phänomenen der Mikroebene auf Phänomene der Makroebene geschlossen werden darf. In beiden Disziplintraditionen wird deshalb mit Ebenenunterscheidungen bzw. mit Annahmen über kausal unabhängige Wirkungsmechanismen auf verschiedenen Ebenen operiert. Die Sozialwissenschaften haben allerdings wohl mehr als die Biowissenschaften mit dem Problem zu kämpfen, wie dann der Zusammenhang dieser Ebenen zu beschreiben ist. Die Frage des Zugangs zu normativen Fragen ist umstritten und hat zur Ablösung der Soziologie von der utilitaristischen Theorietradition der Ökonomie geführt. Der mainstream der Soziologie operiert mit „altruistischen“ Wertprämissen auf der Makroebene, der mainstream der Ökonomie mit „egoistischen“ Prämissen auf der Mikroebene. In beiden Fällen entstehen Probleme, die Ebenendifferenz angemessen zu beschreiben.[21]

Zur Erklärung der Evolution komplexer Strukturen der Sozialität wird hier ein Zwei-Ebenen-Modell der Kommunikation eingesetzt, das sich auf der Mikroebene an das Doppelhelix-Modell der biologischen Evolutionstheorie anlehnt.[22] Bausteine dieses Modells sind die durch technische Eingriffe verselbständigten Komponenten des Handelns und Erlebens: Formen des kollektiven Handelns und Erlebens werden möglich, wenn Handlungs- und Erlebenskomponenten aus dem Fluss der Kommunikation herausgelöst und in System-Umwelt-Relationen institutionell verselbständigt werden. Das Doppelstruktur-Modell der Kommunikation wird eingesetzt zur Erklärung der Evolution komplexer Strukturen der Sozialität, als mikrostrukturelle Bedingung von emergenten Strukturen der Makroebene und umgekehrt als mikrostrukturelle Folge der Institutionalisierung kollektiver Formen des Handelns und der Institutionalisierung kollektiver Formen des Erlebens auf der Makroebene. Institutionen sind einerseits als Voraussetzungen der Kommunikation und andererseits als deren Folgewirkungen zu betrachten: als historische Formen, die sich im Medium des Kollektiverlebens erst ausdifferenzieren. Wie in der organischen Evolution nicht einzelne Gene (sondern Wechselwirkungen im Genom) phänotypische Formen festlegen, so gilt auch für Institutionen, dass die phänomenalen Formen der Kommunikation durch komplexe Institutionengebilde festgelegt werden.[23] Für die Mikroebene wird die Ausdifferenzierung von Handlungs- und Erlebenspotentialen und für die Makroebene die Ausdifferenzierung von System- und Umweltbezügen zum Erklärungsansatz für evolutionären Wandel. Wie schon die Ausdifferenzierung verschiedener Ebenen der Kommunikation werden auch diese Differenzen als Ergebnisse historischer Differenzierungsprozesse aufgefaßt, die in der soziokulturellen Evolution entstanden und steigerbar sind. Die Unterscheidung von Ebenen und Referenzen der Kommunikation wird zurückgeführt auf historische Entwicklungen, die ausgelöst werden durch Steigerungen der Reichweite der Kommunikation mit technischen Mitteln und die dazu führen, dass die selektiv-stabilisierenden Mechanismen, die in einfachen Kreisläufen zur Wirkung kommen, ihre Wirkung verlieren und durch erweiterte Mechanismen der Selektion und Stabilisierung ersetzt werden müssen. Erst mit deren Institutionalisierung kann von einer emergenten Makroebene und von einem Makrokreislauf der Kommunikation gesprochen werden. Die Beschreibung von Mikrokreisläufen der Kommunikation läßt sich für entwickelte Sozialitäten nur analytisch abgrenzen von der Beschreibung der Makrokreisläufe, in die sie eingebettet sind. Andererseits kann darauf verwiesen werden, dass in den Mikrokreisläufen der Kommunikation noch immer evolutionäre Mechanismen zur Wirkung kommen, die in weniger entwickelten Sozialitäten den gesamten Kreislauf der Kommunikation oder zumindest größere Teile desselben bestimmten. In der Sequenz der evolutionären Mechanismen auf der Makroebene wird die Form der Verknüpfung durch Institutionen selbst zum Gegenstand der De- und Restabilisierung durch Differenzierung. Die Entstehung von


neuen Institutionen der Kommunikation auf der Makroebene setzt das Wirken von Mechanismen der Unterbrechung und Verknüpfung der Kommunikation auf der Mikroebene schon voraus. Ihre Replikation (im erneuten Übergang zur Mikroebene) ist wiederum strukturell gekoppelt an die physischen und psychischen Substrate lebender Kommunikationsteilnehmer (ihre Teilnahmekompetenzen). Die Unterscheidung von (institutionell ausdifferenzierten) Ebenen der Kommunikation kann zunächst nur analytisch ein- und mitgeführt werden. Die Mikroebene ist kein Letztfundament zur Erklärung von Phänomenen der Makroebene sondern eine theoretische Konstruktion, in die ein Vorwissen über Makrostrukturen soziokultureller Evolution schon eingegangen ist. Bei der Unterscheidung von Mikro- und Makroereignissen der Kommunikation handelt es sich nicht um ein Fundierungsverhältnis[24] sondern darum, die Unterscheidung der Ebenen zur wechselseitigen Erschließung zu verwenden. In der Entfaltung des Modells kann die Freisetzung von Mikroereignissen der Kommunikation dann als historische Errungenschaft der Evolution und als ein Moment der soziokulturellen Evolution beschrieben werden, das die Rede von der „Vielfalt der Kommunikation“ rechtfertigt.

Die kausale Unabhängigkeit der evolutionären Mechanismen wird in der biologischen Theorie durch die Unterscheidung verschiedener Einheiten gewährleistet, die auf verschiedenen Ebenen der Evolution ausgesetzt sind. Es wird also nicht nur zwischen verschiedenen Mechanismen (hier primär: Variation und Selektion – mit differentieller Reproduktion als Ergebnis) sondern auch zwischen verschiedenen Einheiten der Evolution unterschieden. Darwin hatte zunächst zwischen Organismen, Populationen und ihren Umwelten unterschieden. Die neuere Evolutionstheorie hat (angeregt durch die Erkenntnisse der Molekularbiologie) die primäre Einheit, den Merkmalsträger der Evolution, vom individuellen Organismus auf die Ebene der Genomentwicklung verlagert.[25] Auch für eine Theorie der soziokulturellen Evolution läßt sich dem Postulat der kausalen Unabhängigkeit evolutionärer Faktoren dadurch Rechnung tragen, dass ihre Wirkung auf verschiedenen Ebenen bzw. getrennten Feldern angesetzt wird. In diesem Sinne wird im Folgenden die Darstellung mithilfe der Beschreibung evolutionärer Mechanismen auseinandergezogen. Die kausale Unabhängigkeit, also Zufallsabhängigkeit des Zusammentreffens evolutionärer Wirkungsmechanismen wird zunächst mithilfe von zwei Unterscheidungen markiert: Der Unterscheidung von Ebenen der Sozialität und die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation. Alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen operieren mit der Unterscheidung verschiedener Ebenen in der Beschreibung ihrer Gegenstände. Im Prinzip handelt es sich um die Unterscheidung zwischen einer Ebene sozialer Makrophänomene, die sich der unmittelbaren Beobachtung schon aufgrund ihrer raum-zeitlichen Größe entziehen und deshalb den bevorzugten Gegenstand der wissenschaftlichen Beobachtung bilden, und einer Ebene sozialer Mikrophänomene, die der unmittelbaren Beobachtung in der Teilnehmerperspektive zugänglich ist (auch wenn sich in der Perspektive wissenschaftlichen Beobachter daran noch Anderes als in der Perspektive von Alltagsteilnehmern erschließen läßt). Auf der Grundlage dieser Unterscheidung wird in methodologischer Perspektive auch von einem MikroMakro-Problem der Sozialwissenschaften gesprochen, das darin besteht, die Beschreibung der verschiedenen Ebenen der Sozialität theoretisch zu verknüpfen.[26]

Formen des kollektiven Handelns und Erlebens Makroebene Systeme, Populationen, Differenzierungsformen der Gesellschaft


Formen des individuellen Handelns und Erlebens Mikroebene Austausch, Kooperation, Technik, Tradition

Für die Konstruktion kausal unabhängiger Wirkungsmechanismen in einem Modell soziokultureller Evolution reicht die Unterscheidung sozialer Mikro- und Makrophänomene allerdings nicht aus. Sie entspricht nicht der Differenz zwischen genetischer und phänomenaler Ebene in der Evolutionsbiologie, sondern eher der von individuellen Organismen und Populationen. Um zu einem evolutionstheoretisch differenzierteren Ansatz zu gelangen, enthält der Begriff der Kommunikation (mit der in ihm angelegten Differenzierung von Handlungs-und Erlebenskomponenten) die Möglichkeit, auf beiden Ebenen noch einmal zwischen offenen und geschlossenen Formen der Kommunikation zu unterscheiden.

- Mikro- oder Makrodetermination? Die Unterscheidung zwischen einer Mikro- und einer Makroebene der Kommunikation impliziert noch keine Aussage über Ursachen und Wirkungen. Luhmann ist recht zu geben mit seiner Zurückweisung der MikroMakro-Unterscheidung als einer Unterscheidung, die kausale Determinanten unterscheidet, allerdings nicht mit seiner Tendenz, deshalb letztlich alles auf Makro-Determination zurückzuführen. Vielmehr soll hier umgekehrt für eine mikrotheoretische Fundierung plädiert werden. Deshalb wird die Beschreibung von Institutionen (in dem eingangs und wiederholt dargestellten Gliederungsschema) der Mikroebene zugeordnet. Was in der funktionalistischen Theorietradition als Makrodetermination (downward causation) bezeichnet wird, kann besser auf kollektiv geteilte Motive der Individuen zurückgeführt werden. Es handelt sich dann nicht um eine Art autopoietischer Selbstbewegung der Gesellschaft oder ihrer Teilsysteme, sondern um die im technisch erweiterten Netzwerk der Kommunikation eingelagerten, aber nur durch die teilnehmenden Individuen aktivierten Bestandteile des Institutionenpools der Gesellschaft. Wenn die Aktivierung geteilter symbolischer Voraussetzungen selbst als Makrodetermination bezeichnet würde, wäre die Beschreibung von Mikrodetermination auf eine Restgröße individueller Freiheit reduziert, die sich der sozialen Überformung entzieht. Damit könnte i.S. Simmels der unabdingbare Spielraum individueller Entscheidungen gemeint sein, der sich – sogar schon in einfachen und gruppenkonformistischen Gemeinschaften – der sozialen Steuerung entzieht, bzw. die Sozialität immer wieder mit abweichendem Verhalten und Variationspotential versorgt. Diese Freiräume steigen zweifellos unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung – zugleich mit der Diversifikation und Universalisierung der geteilten Voraussetzungen. Dennoch scheint es mir nicht zweckmäßig – und auch mit der Beschreibung älterer Gesellschaftsformen unvereinbar - die Beschreibung von Determinanten auf der Mikroebene auf dieses Diversifikationspotential zu beschränken. Was in der funktionalistischen Theoretradition als Makrodetermination bezeichnet wird, muss in evolutionstheoretischer Perspektive als Umweltdetermination betrachtet werden - in diesem Fall als innere, kulturelle Umwelt. Das hier skizzierte evolutionstheoretische Modell der spiralförmigen Ausdehnung der Gesellschaft ist demnach mikrotheoretisch – „von unten“ - angetrieben.[27]


- Aufsteigende und absteigende Linie Die für die Darwinsche Evolutionstheorie grundlegende Unterscheidung der Funktionen der Variation und Selektion wird demnach im hier skizzierten Kreislaufmodell auf zwei Ebenen entfaltet: einmal in der aufsteigenden Bewegung von der Mikro- zur Makroebene – als Variation durch Technisierung und Selektion durch Wettbewerb – und ein weitereres Mal in der absteigenden Bewegung von der Makro- zur Mikroebene – als restabilisierende Variation durch Differenzierung und als replikative Selektion durch Tradierung. Die Doppelbezeichnung der Evolution des Menschen als „sozio-kulturelle“ Evolution[28] steht hier für eine Kombination von Merkmalen, die Diese mit den Formen der Evolution anderer Lebewesen teilt, mit Merkmalen, die sie von den Formen der Evolution anderer Lebewesen unterscheidet. Die Gemeinsamkeit besteht in der Form des sozialen Zusammenlebens in Populationen. Die Differenz besteht in der Schaffung kultureller Sonderumwelten in der Form von Institutionen. •

Die Bezeichnung „sozio-“ steht in dem hier skizzierten Kreislaufschema für die aufsteigende Linie: die auf dem Gebrauch materieller Ressourcen basierende, expansive Strategie menschlicher Akteure, die Bildung immer größerer sozialer Einheiten in der Konkurrenz mit gleichartigen und andersartigen Akteuren in derselben ökologischen Nische.[29]

Die Bezeichnung „kulturell“ steht in dem hier skizzierten Kreislaufschema für die absteigende Linie – die (materielle Ressourcen sparende) Steuerung sozialer Einheiten mit symbolischen Mitteln – und damit für das dominante Merkmal, die Besonderheit dieser Evolution, die Ausdiffererenzierung kultureller Sonderumwelten.

Das Leben menschlicher Populationen wird durch das Merkmal der Kultur, die Ausdifferenzierung institutioneller Umwelten modifiziert und spezifiziert.[30] Es bleibt jedoch – wie in den folgenden Kapiteln zu zeigen - auch dabei noch an seine ökologische Nische und damit an die in der Biologie beschriebenen Mechanismen der Evolution gebunden.

- Unterbrechungen und Verknüpfungen Um die Dynamik der soziokulturellen Evolution zu verstehen, genügt es nicht, ihre institutionellen Verknüpfungen zu betrachten. Evolutionäre Prozesse können nur deshalb zur Steigerung sozialer Komplexität durch neue Verknüpfungen beitragen, weil ihnen - den Fluss der Kommunikation unterbrechende - Beschränkungen bereits vorausgehen. Die Wirkung evolutionärer Mechanismen auf gegebene soziale Einheiten muss als institutionalisierte Unterbrechung oder als Unterbrechung und Wiederverknüpfung der Kommunikation rekonstruiert werden.[31] Die Vielfalt der Kommunikation wäre nicht möglich, wenn Alles mit Allem verknüpft und nicht Vieles schon ausgeschlossen wäre. Insofern muß hinsichtlich der kausal wirkenden Mechanismen soziokultureller Evolution unterschieden werden zwischen Variationsmechanismen, die bereits vorhandene Unterbrechungen der Kommunikation „auflösen“ (sie erweitern und verflüssigen) und Selektionsmechanismen, die die Variation wieder reduzieren (bestimmte Varianten auswählen und verwerfen). Viele Institutionentheorien machen Anleihen bei der Evolutionstheorie oder bezeichnen sich als „evolutorisch“ und beziehen sich dabei ausdrücklich auf das Darwinsche Konzept evolutionärer Mechanismen. Sie bleiben jedoch zumeist undeutlich in einem Punkt, der in der biologischen Evolutionstheorie als grundlegend angesehen wird: das ist das kausal von einander unabhängige – also nur zufällig koinzidierende – Wirken evolutionärer Mechanismen. Viele Sozialwissenschaftler halten das Konzept der kausal unabhängigen Wirkungsfaktoren nicht für anwendbar auf soziokulturelle Evolution,[32]


und Evolutionsbiologen schließen aus, dass Theorien der soziokulturellen Evolution den Darwinschen Prämissen entsprechen könnten.[33] Für den hier skizzierten Theorievorschlag kommt es also darauf an zu zeigen, dass es möglich ist, kausal voneinander unabhängig wirkende Mechanismen in der soziokulturellen Welt des Menschen zu bezeichnen.

Viele sozialwissenschaftliche (insbesondere ökonomische) Modelle der Evolution beschränken sich auf die Mechanismen der Variation und Selektion. Im Vordergrund der Betrachtung stehen "blinde Variation" durch Technisierung auf der Akteursebene und "selektive Reproduktion" durch Wettbewerb (der Akteure einer Population) auf der Systemebene. Andere Ansätze schließen die Übertragbarkeit evolutionstheoretischer Ansätze auf die soziokulturellen Verhältnisses des Menschen unter Bezug auf das intentional gesteigerte Steuerungspotential des menschlichen Handelns aus.[34] Diesen Einwänden soll durch die Beschreibung der evolutionären Mechanismen im Kreislaufmodell – insbesondere durch die Unterscheidung zwischen Mechanismen erster und zweiter Ordnung – Rechnung getragen werden.[35] Die Intentionalität des menschlichen Handelns schließt in all ihren technischen Steigerungsmöglichkeiten Blindheit der Variation jedenfalls nicht aus sondern ein. Blind ist dieses Handeln ja nur insofern, als es die eigenen Folgen – auf der Makroebene - nicht kontrollieren kann. Gerade weil das menschliche Handeln intentional darauf ausgerichtet ist, seine eigene Reichweite mit technischen Mitteln zu erhöhen, bedarf es anscheinend der Ausdifferenzierung von Institutionen als einem zusätzlichen Restabilisationsmechanismus, der sich dem Handeln entzieht. Im Rahmen des hier skizzierten Modells verhalten sich Institutionen umgekehrt proportional zu den Operationen der Kommunikation: Kommunikation ist auf der Mikroebene informationell offen, hochpersönlich und fast chaotisch variabel - auf der Makroebene hingegen hochverdichtet, asymmetrisiert, unpersönlich etc. Institutionen wirken hingegen auf der Mikroebene als latente Voraussetzungen der Kommunikation, sind gerade deshalb stabil, weil normalerweise gar nicht thematisiert, der Reflexion entzogen – auf der Makroebene geraten sie jedoch selbst in den Sog der Variation und Selektion durch Reflexions- und Differenzierungsprozesse in Formen und Medien der Öffentlichkeit.

Soziokultureller Wandel wird im Folgenden beschrieben als kausale Wirkung von rekursiv verknüpften evolutionären Mechanismen, die die jeweils gegebenen Strukturen der Kommunikation unterbrechen und Differenzierungen hervorbringen zwischen Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation und zwischen verschiedenen Ebenen der Kommunikation, auf denen sich verschiedenartige Konstellationen von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation reproduzieren. Das folgende Schema benennt vier evolutionäre Mechanismen und vier Einheiten der Kommunikation, auf die diese Mechanismen einwirken: auf der Mikroebene einfache Kommunikationen unter unmittelbarere Beteiligung menschlicher Individuen, auf der Makroebene medienbasierte Öffentlichkeitskommunikationen, und im Ebenenwechsel aufsteigend Organisationen und absteigend Institutionen. Diese Einheiten sind selbst als historische Konstrukte soziokultureller Evolution zu verstehen. Ihre Gestalt ist abhängig von der Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Jede Gesellschaft verfügt über einen tradierten Pool und eine auf ihre Umweltbedingungen abgestimmte Auswahl an Institutionen, auf die sie zurückgreift in der Weise, in der sie ihre Kommunikationen verknüpft. Der Wandel von Institutionen wird durch die Sequenz von vier evolutionären Mechanismen bestimmt: Der Mechanismus der Replikation (und primordialen Variation) besteht in der Tradierung von Institutionengebilden. Der Mechanismus der Variation besteht im Gebrauch technischer Innovationen.


Der Mechanismus der Selektion besteht im Wettbewerb kollektiver Akteure um knappe Umweltressourcen. Der Mechanismus der Restabilisation besteht in der Ausdifferenzierung des Institutionen-Pools.

Es gibt in diesem Modell keine Verknüpfung evolutionärer Mechanismen i.S. eines intentionalen Vorgriffs auf Wirkungen, die noch nicht eingetreten sind. Die Pfeile im o.a. Schema sind also nicht als vorgreifende Steuerungsimpulse zu interpretieren sondern als – gewissermaßen blind zur Verfügung gestellte – Wirkungen auf Unterbrechungen und Verküpfungen der Kommunikation, die zu Voraussetzungen für die Wirkungen des folgenden Mechanismus werden. Allerdings muss ein theoretisches Modell der soziokulturellen Evolution berücksichtigen, dass in der menschlichen Kommunikation ein besonderes Maß an Intentionalität und Individualisierung zum Tragen kommt und dass Menschen spezifische Mittel (Techniken) zur Verwirklichung ihrer Intentionen zur Verfügung stehen. Die Intentionalität der menschlichen Kommunikation ermöglicht zwar keine prokursive Verknüpfung evolutionärer Mechanismen, wohl aber die Antezipation von Effekten, die in der Vergangenheit aufgetreten sind, und eine Adaption der jeweiligen Formen der Kommunikation an diese Erwartungen. Die konstitutive „Blindheit“ auch der soziokulturellen Evolution i.S. des Darwinschen Konzepts wird dadurch nicht in Frage gestellt. Im Modell wird diesem Umstand durch die kreisförmige Sequenz der Mechanismen Rechnung getragen. Auch die Kapitelzählung orientiert sich an dieser Sequenz. In jedem Kapitel des Kreislaufmodells zeigt sich jedoch zugleich, dass das Vorangehen im Uhrzeigersinn ein Zurückgehen auf institutionelle Voraussetzungen schon einschließt (gewissermaßen gegen den Uhrzeigersinn) im Sinne der Erschließung von Resultaten vergangener Evolution. Es gibt in diesem evolutionstheoretischen Modell auch keine Universalien und keine Letztfundierung. Statt Strukturdetermination gibt es nur Sperrklinkeneffekte und Pfadabhängigkeiten, statt Individualdetermination i.S. rationaler Handlungswahl nur blinde Variation. Es gibt hier auch keinen institutionenfreien Raum, in dem eine erste Institution aus der Interaktion menschlicher Akteure emergiert. Deshalb ist als Form der Darstellung ein Kreislaufmodell gewählt, in dem an beliebiger Stelle eingestiegen werden kann.[36] Der Fortgang ist jedoch nicht beliebig, sondern durch die Abfolge evolutionärer Mechanismen und institutioneller Errungenschaften festgelegt. Die Darstellung evolutionärer Mechanismen beginnt mit der Tradierung von Institutionen als basalen Einheiten soziokultureller Evolution und beschreibt dann die Entfaltung menschlicher Handlungsintentionalität auf der Mikroebene (Variation durch Technik). Es folgt die Beschreibung der Emergenz einer Makroebene sozialer Systeme (Selektion durch Wettbewerb) und ihrer kulturellen Umwelten (Restabilisation durch Differenzierung) die den evolutionären Kreislauf abschließt.

Systeme Makroebene

6. Organisationen

5. Technisierung Variation

Mikroebene

4. Individuen Handeln

⇒ 7. Wettbewerb Selektion 1.Evolution 3. Tradierung Replikation ⇐

Umwelten 8. Populationen

Makroebene

9. Differenzierung Restabilisation

2. Institutionen

Mikroebene

Erleben


- Zirkuläre Verknüpfung der Mechanismen Die Unterscheidung von basalen Einheiten und kommunikativen Operationen auf verschiedenen Ebenen der Kommunikation soll im Folgenden evolutionstheoretisch entfaltet werden. Vor dem Hintergrund des biologischen Modells (in dem operativ geschlosssene Einheiten der genetischen Ebene mit umweltoffenen Einheiten der Makroebene kombiniert werden) erscheint es erklärungsbedürftig, wenn in der soziokulturellen Evolution auf der Makroebene – in der Konkurrenz kollektiver Akteure unter Umweltbeschränkungen – Operationen von höchster Geschlossenheit und auf der Mikroebene – in der Interaktion unter Anwesenden Operationen von größter Offenheit zu beobachten sind. Beobachtungsprobleme dieser Art sollen im Folgenden durch die Darstellung der zirkulären Sequenz evolutionärer Mechanismen aufgelöst werden, in der zunehmende Selektivität (Strukturaufbau) mit zunehmender Varietät (Artenvielfalt) kombiniert werden kann. Aus der neueren Molekularbiologie stammt eine Kurzformel dafür, wie in evolutionären Prozessen Offenheit mit Geschlossenheit kombiniert wird: Sequenz bestimmt Struktur! Nach dieser Formel ist auch das Kreislaufmodell der soziokulturellen Evolution konstruiert, das im Folgenden entfaltet werden soll. Es geht in diesem Modell darum, sozialen Wandel durch das Zusammenwirken von evolutionären Mechanismen zu erklären. Durch die kreisförmige Anordnung der Mechanismen wird erklärbar, wie das intentionale Prinzip der Zukunftsorientierung in der menschlichen Kommunikation mit der unaufhebbaren Zukunftsblindheit evolutionärer Mechanismen vereinbar ist. Die prinzipielle Rekursivität der evolutionären Mechanismen kann - auf der Grundlage technisch steigerbarer Gedächtnisleistungen - in die symbolische Konstruktion von Prokursivität verwandelt werden. Mit der Bezeichnung als Kreislaufmodell ist also nicht gemeint, dass die soziokulturellen Phänomene selbst sich in einem Kreislauf befinden – etwa i.S. einer ewigen Wiederkehr des Gleichen. Die Bezeichnung bezieht sich nur auf die Anordnung der evolutionären Mechanismen und den dadurch bewirkten Prozess der Veränderung des Institutionenpools der Populationen. Die Bescheibung der zirkulären Verknüpfung evolutionärer Mechanismen soll der Korrektur einer zentralen Schwäche aller Zwei-Ebenen-Modelle dienen: nämlich der Vernachlässigung des Umstands, dass soziale Strukturen nicht immer wieder neu aus der Mikrodiversität der Kommunikation (wie aus einer Art Ursuppe) entstehen, sondern in der zirkulären Sequenz der Mechanismen mehrstufig aggregiert werden können: Formen der vorhergehenden Stufe können gewissermaßen eingeschmolzen und zu Medien neuer Formen werden. Der Unterschied der Ebenen bleibt bei diesen mehrstufigen Prozessen aber insofern bestehen, als immer wieder auf der Mikroebene der Kommunikation die Freiheitsspielräume für Variationen wiederhergestellt werden müssen, die sich in evolutionären Errungenschaften der Makroebene niederschlagen.[37]

[1] In evolutionstheoretisch vergleichender Perspektive ist dieses Phänomen von Richerson und Boyd (1998) als menschliche „Ultrasozialität“ bezeichnet worden. [2] Darwins Bezeichnung der evolutionären Kausalketten als „Mechanismen“ ist eine metaphorische Anleihe an das physikalische Weltbild seiner Zeit. Sie bringt zunächst zum Ausdruck, dass die Ursachen nicht in den Intentionen von Menschen (oder höherer Wesen) zu suchen sind. [3] E. Mayr, 1979, E. Wilson, 1992 [4] Dies zur vorläufigen Abgrenzung vom totalisierenden Systembegriff der Luhmannschen Theorie. Mehr dazu in Kap. 7 bis 9


[5] Im Gegensatz zur genetischen Deteremination in der Beschreibung von Dawkins, 1996

[6] Dawkins, 1976 [7] vgl. Cavalli-Soforza. 1999 [8] vgl. Durkheim-Zitat oben , vgl. Neoinstitutionalismen [9] S. nur Menger, 1883, S. 140f und Durkheim (1895) 1961, S. 100 [10] In dieser Hinsicht schließe ich mich an die Thesen von Boyd und Richerson (1998a, 1998b) zur Koexistenz und Konkurrenz genetisch verankerter und kulturell erweiterter Gruppenselektion an. Diese Aspekte sind in den vorliegenden Ausführungen des hier vorgstellten evlutionstheoretischen Ansatzes noch nicht zureichend ausgeführt. [11] Die Parallelen zwischen biologischen und ökonomischen Evolutionsmodellen skizziert Hirshleifer in folgender Weise: „Evolutionsmodellen sind gewisse Eigenschaften gemeinsam. Erstens beziehen sie sich auf Populationen. Selbst wenn wir von Einzelwesen zu sprechen scheinen, können wir dort, wo der Vorgang der Veränderung ein evolutionärer ist, diese als Veränderung von Populationen von Mikroorganismen beschreiben. So ist der evolutorische Verlauf einer Krankheit in einem einzigen menschlichen Körper eine Funktion der Beziehungen zwischen Populationen von Bakterien, Antikörpern, Zellen usw. Oder es ist die Evolution einer einzelnen Volkswirtschaft das Ergebnis sich verändernder Beziehungen zwischen Populationen von Einzelmenschen, Tauscheinheiten u. ä. Evolutionsmodelle stellen eine Verbindung von Konstanz (Vererbung) und Variation vor. Es muss ebenso ein unveränderliches wie ein veränderliches Element geben, und sogar das veränderliche Element selbst muss vererbbar sein, damit man von einem evolutorischen System sprechen kann. In der biologischen Evolution liegt die Betonung auf Unterschiedlichkeiten im Überleben und in der Fortpflanzung zwischen Typen oder Arten von Organismen von einer Generation zur nächsten. Hier beruht die Konstanz auf der Mendelschen Vererbung bleibender Muster kodierter genetischer Instruktionen (Gene). Die Variation ist durch eine Reihe von Faktoren bedingt, einschließlich interner Mutationen dieser Instruktionen (genetische Kopierfehler), Neukombination von Genen bei sexueller Fortpflanzung und des externen Druckes natürlicher Zuchtwahl. Sozialökonomische Evolution betrifft vor allem unterschiedliches Wachstum bzw. Überleben bestimmter sozialer Ordnungsmuster. Das wichtigste Vererbungselement ist die soziale Trägheit, unterstützt von bewußt gelehrter Tradition. Was die Variation angeht, so gibt es hier Analoga zur Mutation (Kopierfehler beim Erlernen von Traditionen). Auch die natürliche Zuchtwahl tritt noch in Erscheinung. Schließlich stellen Nachahmung und rationales Denken zusätzliche nicht-genetische Ursachen sozialökonomischer Variation vor.“ (Hirshleifer 1987, S. 221 – zitiert nach D. North 1992, S. 25 ) [12] Stichweh bezeichnet es als einen der Gründe für das Fehlen einer soziologisch ausgearbeiteten Evolutionstheorie, dass es „für eine auf Sozialstrukturen konzentrierte Disziplin schwierig [sei], ein basales Element zu erkennen, das Variationen unterliegt, als Einheit der Selektion fungiert und replikationsfähig ist; zumindest gibt es bisher kaum überzeugende Vorschläge dafür.“ (Stichweh u.a., 1999a 9) Einschränkend in diesem Sinne auch Hannan/Freeman 1989, S.21. In einem anderen Beitrag dazu schreibt Stichweh (1999b, 467): „Wir begegnen hier einem klassischen Einwand gegen Evolutionstheorien: Diese verlangten, so lautet das Argument, eine exakte Replikation von Elementen - beispielsweise von Genen - , damit im Unterschied zur normalerweise erwartbaren Replikation die Variation als Abweichung überhaupt sichtbar wird. Replikation in diesem Sinn aber sei in sozialen Systemen niemals zu erreichen. Wie immer man das Element von Kultur oder Wissen bestimmt, jede Wiederaufnahme einer unit-idea sei immer schon eine Modifikation und insofern entfielen die Anwendungsbedingungen für Evolutionstheorie. Kürzlich noch hat Dan Sperber in seinem faszinierenden Buch „Explaining Culture" diese theoretische Denkbewegung wiederholt. (Sperber 1996). Sperber fokussiert seine Beziehung zum Darwinismus auf die Frage der Replikation. Er favorisiert an dieser Verzweigungsstelle eine Einflusstheorie, weil für Einfluss charakteristisch sei, dass keine 100%ige Genauigkeit im Kopiervorgang erwartet werde. Entsprechend versteht Sperber seine Epidemologie genannte Theorie in diesem zentralen Punkt als nichtdarwinistisch.“ Die angesichts der Kopiermetapher naheliegende Überlegung, dass spätestens mit der Erfindung des Buchdrucks es doch so etwas wie exakte Replikation gibt und dass vielleicht sogar die Idee der evolutionären Replikation in der Massenkommunikation ihren Ursprung hat, ist aber bisher noch nicht ernsthaft geprüft worden. (s. Kap.8). [13] Henrich, Richerson und Boyd (2002) setzen sich kritisch mit entsprechenden Annahmen der Memetik im Anschluß an Dawkins auseinander: “Memeticists and their many critics seem to share the view that evolutionary principles can only be applied to cultural evolution if culture can be thought of as arising from the transmission of gene-like replicators. The memeticists believe that such particles (or at least close approximations) exist, and thus Darwinian reasoning—which has proven so useful in biology—can be applied to culture. Their critics argue that replicating particles do not exist, and therefore, that it is inappropriate to apply Darwinian ideas to culture. We think both camps have been misguided by an overly enthusiastic analogy between genes and culture.” Allerdings ist diese Argumentation – wie schon die der kritisierten Memetik selbst – zu sehr auf die psychologischen Aspekte der Reproduktion von Ideen focussiert und vernachlässigt den kommunikativ geschlossenen Charakter von Institutionen. [14] Vgl. Mayr 1979, 2001. [15] Mayr 1994b, 185. [16] Tatsächlich war ja auch das Autoritätsgefälle zwischen Bio- und Sozialwissenschaften nicht immer so klar, wie es gegenwärtig erscheint. Wissenschaftsgeschichtlich läßt sich ein ständiger Austausch von Theorieansätzen zwischen Biologie und Sozialwissenschaften seit Darwin und


Spencer rekonstruieren. [17] Die Entwicklung ökologischer Ansätze innerhalb der Biologie wird ideengeschichtlich auch als Reaktion auf das Vordringen molekularbiologischer Ansätze in der Biologie erklärt. Vgl. Collins, 2003, 273. Für ein darwinistisches Modell ist jedenfalls ein gewisses Maß an eigenständiger Verhaltenssteuerung der Lebewesen gegenüber der Umwelt, deren Selektionsdruck sie ausgesetzt sind, unabdingbar. [18] Dawkins, 1996 – ausführlicher zur Gen-Mem-Analogie Kap. 2. [19] Vgl. den Überblicksartikel von Dubiel, 1976. Diese Tradition wird abgestützt durch Ethnologie und Kulturanthropologie vgl. Malinowski, 1949, vgl. M. Douglas, 1986. [20] Die kausale Zuschreibung auf eine basale Einheit wird in sozialwissenschaftlichen Ansätzen v.a. dadurch erreicht, dass genetische und ökologische Erklärung im Modell des rationalen Wahlhandelns zu einer anthropologischen Konstante zusammengezogen werden. [21] Die Relevanz der Ebenendifferenz in normativ-praktischem Sinne ist beachtlich: was auf der Ebene der Interaktion unter Anwesenden als gut und richtig gilt, kann auf einer höheraggregierten Ebene kommunikativer Verknüpfungen als falsch und schädlich beschrieben werden (zB. „altruistisch“ motivierte Entwicklungshilfe) oder auch umgekehrt (politischer Machiavellismus). Möglicherweise muss ein Teil des gattungsgeschichtlich erworbenen Altruismus für die Teilnahme an Makrostrukturen der Kommunikation wieder abgestreift oder umgelenkt werden (funktionsbezogene Individualisierung). Hier sind dann ebenenspezifische Übersetzungsregeln für das normative Verhalten gefragt. Die (ansonsten einleuchtende) evolutionstheoretische Ethik-Erklärung von Ruse (1993) vernachlässigt m.E, dass es diese Ebenendifferenz selbst ist, die in der soziokulturellen Evolution ein ungebrochenes Festhalten an der kollektiven Illusion moralischer Überzeugungen verhindert. [22] „Wenn wir uns von einer naturwissenschaftlichen Metapher leiten lassen wollen, würde ich einer aus dem Bereich der Biologie den Vorzug gegenüber einer aus dem Bereich der Physik geben ... Gerade die Molekularbiologie zeigt uns, wie einige wenige Grundmechanismen - zum Beispiel die DNA der Doppelhelix ... - viele komplexe Phänomene erklären können.” So Herbert Simon, 1977, S.630. Auch Luhmann bezieht sich gelegentlich auf die Doppelhelix als Metapher für Mikrostrukturen der Kommunikation. In der Monographie über Wissenschaft spricht er von der "double helix" mit bezug auf die Doppelfunktion der Sprache für Kommunikation und Bewußtsein (1990, 51) [23] Douglass North spricht in dieser Hinsicht von einer Institutionen-Matrix (North , 1992, S. 164 u.a.) [24] Dennoch kann hier in methodologischer Hinsicht auch von einer Erklärung sozialer Makrophänomene im Rekurs auf Mikrophänomene gesprochen werden – allerdings unter der Voraussetzung, dass es sich auf beiden Ebenen um Phänomene der Kommunikation handelt. [25] Diese Umstellung hat älteren „sozialdarwinistischen“ Vorstellungen vom Überleben der „fittesten“ Individuen den Boden entzogen. [26] Die Bezeichnung als „Mikro-Makro-Problem“ stammt aus der Soziologie. Vgl. Alexander u.a. 1987. In der ökonomischen Theorietradition wird die Mikro-Makro-Unterscheidung weniger gegenstandsorientiert gehandhabt und stattdessen auf disaggregierte und aggregierte Daten bezogen. Das vergleichbare theoretische Problem wird hier in der Verknüpfung zwischen Partial- und Totalanalyse gesehen.) In der Perspektive des methodologischen Individualismus wird das Problem durch die Annahme verschärft, dass eine angemessene Erklärung sozialer Phänome auf Motive rekurrieren müsse, die nur in der Teilnehmerperspektive auf der Mikroebene zu verstehen sind. Vertretern strukturfunktionalistischer Ansätze wird deshalb vorgehalten, dass sie eine (genetische) Erklärung verfehlten.

[27] Die hier angesprochene theoretische Präferenz für Mikrofundierung ist, wie im Folgenden deutlich wird,

nicht gleichbedeutend mit der Übernahme der methodologischen Prämissen von Rational Choice Ansätzen [28] S. zur Verwendung dieser Terminologie zuerst Campbell, 1965 [29] Es handelt sich hier um Aspekte materialer Sozialität, die menschliche Individuen mit anderen Lebewesen teilen. Im mainstream der Sozialwissenschaften wird von diesem Umstand häufig abstrahiert, indem der Begriff des Sozialen mit dem Menschen identifiziert wird. In der Soziobiologie wird hiervon auf andere Weise abstrahiert, indem die konkrete Vielfalt der Sozialität auf eine Tendenz der genetischen Ausstattung reduziert wird, die menschliche Individuen als Vehikel ihrer Ausbreitung zu nutzen. [30] Der Kulturbegriff wird entsprechend in Kap. 9 wieder aufgenommen [31] Luhmannn spricht mit Bezug auf Systembildung und andere evolutionäre Errungenschaften von Interdependenzunterbrechungen (Luhmann 1997, S.505) [32] Vgl. Giddens, 1992, S. 281ff


[33] Vgl. Steven J. Gould, 1998, S. 272f: „Natürliche Evolution beinhaltet kein Prinzp des vorhersagbaren Fortschritts oder der Bewegung in Richtung größerer Komplexität. Kultureller Wandel dagegen kann von Fortschritt oder wachsender Komplexität geprägt sein, weil die lamarckistische Vererbung durch unmittelbare Weitergabe zur Ansammlung vorteilhafter Neuerungen führt und weil die Vermischung der Traditionen für jede Kultur die Möglichkeit schafft zwischen den nützlichsten Erfindungen mehrer Gesellschaften zu wählen und sie zu vereinigen. ... [34] S. das Gould-Zitat in voriger FN – S. dagegen die Arg. bei Henrich, Boyd, Richerson, 2002 [35] Eine ausführlichere Argumentation zur Begründung für die Auffassung von für die Auffassung von institutioneller Replikation als primordiale Selektion und Variation in Kapitel 3 und für die Auffassung von institutioneller Restabilisierung als einem zweiten Mechanismus der Selektion in Kap. 9 . [36] Ich habe wiederholt mit anderen Einstiegsmöglichkeiten, insbesondere dem Einstieg beim Variationsmechanismus der Tradierung experimentiert, mich jedoch hier – u.a. zur Vermeidung von Doppeldarstellungen – für den Einstieg beim Replikationsmechanismus entschieden. [37] Dieses Problem, das als das Mikro-Makro-Problem der Sozialwissenschaften bezeichnet wird, ist schon in vielen Beiträgen i.S. einer zirkulären Verknüpfung behandelt worden, allerdings nur selten im Rahmen eines evolutionstheoretischen Ansatzes. Vgl. Coleman, 1991; Lindenberg/Wippler 1978; Weick, 1985, Collins, 1987; Giddens, 1992; Stichweh, 1995. In Abgrenzung von Rational Choice Ansätzen und im Anschluss an die sozialpsychologische Arbeiten von Weick schreibt Stichweh: „... Was darüber hinaus deutlich geworden ist, ist, daß wir es hier mit zirkulären Verhältnissen zu tun haben: Kommunikationen, die Unterscheidungen verwenden, die sie sowohl konstruieren, wie sie andererseits auch behaupten, daß diese Unterscheidungen für sie externe Constraints weiteren Prozessierens sind. Theorien - das sei hier nur en passant notiert - wären auch daran zu messen, wie sie mit zirkulären Verhältnissen dieses Typs umzugehen wissen. Ein gutes Beispiel für einen Lösungsversuch bietet Karl E. Weick in seinem "The Social Psychology of Organizing" von 1979, das 'enactment' als den Prozeß beschreibt, in dem Organisationen eine Umwelt schaffen, die für sie dann später die letztlich orientierungsrelevante Umwelt bildet. Wie es in einer der wiederkehrenden Formulierungen Weicks heißt: "People in organizations repeatedly impose what they later claim imposes on them.'' Als Modus des Umgangs mit Zirkularität fungiert bei Weick Evolutionstheorie, weil sie eine strikte Trennung der Mechanismen und zugleich Beziehungen der Rückkopplung unter Mechanismen zu denken erlaubt.“ Stichweh 1995, S. 401


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