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Abschließung, Binnendifferenzierung, Ebenenbildung – Schutzschirme und Treibhäuser der kulturellen Evolution 1. Einleitung Die für den modernen Wissenschaftsbetrieb charakteristische Spezialisierung hat nicht nur die Ausdifferenzierung der Disziplinen sondern auch Anstrengungen zur theoretischen Synthese fachspezifisch verselbständigter Konzepte hervorgebracht. Das umfassendste Konzept, das sich in den Kultur- und Sozialwissenschaften dafür anbietet, ist die Evolutionstheorie, die ursprünglich in Biologie und Sozialwissenschaften parallel entwickelt wurde. Diese Entwicklung ist durch eine methodologische Gebietsaufteilung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zeitweise stillgestellt worden, inzwischen aber heftig wieder aufgebrochen. An die Stelle des methodologischen Dualismus sind imperialistische Bestrebungen des geisteswissenschaftlichen Konstruktivismus einerseits und des naturwissenschaftlichen Reduktionismus andererseits getreten, die sich in der Weiterentwicklung fachübergreifender Integrationsleistungen behindern. Im Folgenden soll ein Beitrag zur theoretischen Konzeptintegration umrissen werden, der davon ausgeht, dass das sozialwissenschaftliche Methodenproblem der Beschreibung von Übergängen zwischen Mikro- und Makrophänomenen der Sozialität als ein empirisches Problem zu betrachten ist, das mit den Mitteln der modernen Evolutionstheorie aufgeklärt und gelöst werden kann. 1 2. Probleme konkurrierender Ebenenunterscheidungen in den Sozialwissenschaften Ich beziehe mich im Folgenden auf Ebenenunterscheidungen, die in vielen sozialwissenschaftlichen Disziplinen Verwendung finden. Sie werden vorzugsweise analytisch-methodologisch und nicht empirischontologisch begründet. (Ich lasse hier beiseite eher normativ begründete Unterscheidungen wie Gesellschaft / Gemeinschaft, System / Lebenswelt.) Eine ontologische Begründung müsste m.E. historisch und evolutionstheoretisch verfahren. In diesem Sinne wird eine evolutionstheoretische Beschreibung von Prozessen der Systembildung, System- und Ebenendifferenzierung vorgeschlagen.

1 Die vorliegende Argumentationsskizze stellt einen Teil des Programms für eine umfangreichere Ausarbeitung zur Theorieintegration dar. Sie war ursprünglich als Beitrag zu einem Sonderband der Zeitschrift für Soziologie zur Diskussion über die Anschlussfähigkeit der Ebenenunterscheidung „Interaktion – Organisation – Gesellschaft― in der Luhmannschen Systemtheorie gedacht. Dazu habe ich 2011 unter dem Titel „Unterscheidungen, die einen sozialen Unterschied ausmachen – System- und Ebenendifferenzierung aus evolutionstheoretischer Sicht― erneut einen Beitrag erstellt (http://www.home.uni-osnabrueck.de/kgilgen/archiv/kg11-ZFS-Beitrag.pdf)

In der neueren Diskussion über das Makro-MikroMakro-Modell der erklärenden Soziologie wird der ontologische Status von Ebenenunterscheidungen problematisiert (Greve u.a. 2008). Dabei bleibt das Luhmannsche Modell allerdings weitgehend ausgeklammert.2 Luhmanns Unterscheidung von Systemebenen, die sich von der Mikro-Makro-Unterscheidung abgrenzt und von vornherein ontologisch ansetzt, krankt an der axiomatischen Selbstbeschränkung auf eine entwicklungslogische Binnenperspektive (AutopoiesisKonzept). Adaptation erscheint in dieser Theorie – wie bei lebenden Organismen – immer schon vorausgesetzt, obwohl man in historisch-genetischer Perspektive doch verstehen möchte, wie sie überhaupt möglich war – und mehr noch: ob und inwieweit sie auch anders möglich gewesen wäre. 3 Versuche, Soziales nur aus dem Verhalten von Individuen zu erklären, erscheinen ebenso verfehlt wie die Versuche, Soziales nur aus Sozialem zu erklären. Strikt individualistische Methodologie kann die operative Geschlossenheit und Binnendifferenzierung nicht erklären. Strikt funktionalistische Methodologie kann die Dynamik sozialer Systeme nicht erklären. Kombinationsversuchen, die am Vorrang der Mikro- oder der Makroebene festhalten, fehlt der übergreifende evolutionäre Bezugspunkt. Aus der Darwinschen Evolutionstheorie (i.S. der Lesart von E. Mayr) ist für die Sozialwissenschaften zu lernen, dass es keinen Sinn macht, sich zwischen reduktionistischen und emergentistischen Programmen zu entscheiden, sondern dass es möglich und zweckmäßig ist, beide Zugänge theoretisch zu integrieren. Anschlußmöglichkeiten für Theorien der kulturellen Evolution in der biologischen Evolutionstheorie waren lange Zeit blockiert durch die Bevorzugung der molekularbiologischen Perspektive und die Vernachlässigung von Selektionsprozessen auf der Ebene von Gruppen und Populationen (dagegen Sober/Wilson). 4 2 Mit Ausnahmen bei Heintz, Greshoff, Schützeichel. 3 In der Luhmannschen Gesellschaftstheorie lassen sich viele Anleihen bei biologischen Konzepten finden – jedoch keine Evolutionstheorie im Darwinschen Sinne. Zugespitzt könnte man sagen, dass es sich bei Luhmanns Evolutionstheorie um ein Konzept nach dem Modell organischer Entwicklung (Entwicklungsstufen), bei seiner Kommunikationstheorie um ein Konzept nach dem Muster von Dawkins Gen-Determinismus (Individuen als Vehikel, Zuschreibungen) und bei seiner Differenzierungstheorie um ein Konzept nach dem Muster von Linnés Klassifikation der Arten handelt. Es geht darin nicht um die Erklärung von Prozessen der Entstehung, des Wandels und Vergehens sozialer Phänomene, sondern nur um deren Unterscheidung und Bezeichnung. 4 Wenn die Darwinsche Begrifflichkeit nicht nur metaphorisch oder analogisch auf kulturelle Phänomene übertragen werden soll, wenn Diese vielmehr eingebettet in die Naturevolution betrachtet werden sollen, dann muss der erste Schritt darin bestehen, verschiedene Ebenen innerhalb der natürlichen Evolution zu unter-


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Der reale Prozess der Ausdehnung und Verdichtung sozialer Systeme geht immer (bottom up) von den Mikroprozessen aus – als Veränderung in der Masse von Mikroereignissen bzw. in den Merkmalen von Elementen – und erscheint dann über Aggregationseffekte (micro-causation) als emergentes Phänomen auf der Makroebene. Insofern ist es verkehrt, den Makrophänomenen einen eigenen Antrieb zur Veränderung zu unterstellen. Andererseits ist es jedoch (auch mit den modernsten Methoden der Statistik und der computergestützten Simulation) nicht möglich, die Summe der Ereignisse, die zu emergenten Phänomenen führen – also den Prozess der Aggregation – zu beobachten und zu beschreiben. Daher verläuft der Weg der wissenschaftlichen Beobachtung eher in umgekehrter Richtung (top down) als Rekonstruktion der Makrophänomene aus Veränderungen (des Sozialverhaltens) auf der Mikroebene und Anpassungen (der Regulierung) auf der Makroebene. Diese Umkehrung ist auch nicht nur ein analytischer Verfahrenstrick, sondern entspricht der tatsächlichen Verlagerung der informationellen Steuerungskapazitäten von der Mikro- zur Makroebene im Verlauf der kulturellen Evolution, die zur Bildung immer größerer Sozialsysteme und zur Verlagerung der Konkurrenz auf höhere Ebenen der Systembildung und der Umweltselektion (macro-causation) geführt hat. Sozialer Wandel ist also weder allein aus einer verselbständigten Eigendynamik der Sozialsysteme zu erklären wie im sozialwissenschaftlichen Holismus noch bloß aus der Aggregation von Mikroprozessen wie im sozialwissenschaftlichen Individualismus. 3. Zur Reformulierung sozialwissenschaftlicher Ebenenunterscheidungen mit evolutionstheoretischen Mitteln Unter den vielen Merkmalen, die in der kultur- und sozialanthropologischen Literatur zur Unterscheidung menschlicher von anderen Lebewesen herausgestellt werden, rangieren die Formen menschlicher Sozialität an vorderster Stelle. Dabei wird jedoch selten auf die unwahrscheinliche Größe menschlicher Sozialsysteme Bezug genommen, obwohl die Alleinstellung gerade dieses Merkmals nicht zu bestreiten ist. Es gibt keine scheiden. Phänomene der kulturellen Evolution sind nicht mit Phänomenen der Evolution auf der Ebene der Individuen innerhalb einer Population zu vergleichen, sondern mit Phänomenen der Evolution auf der Ebene von Gruppen und Populationen innerhalb einer ökologischen Nische. Was auf der Ebene der Individuen als scharfe Divergenz erscheint, kann auf der Ebene der Sozialsysteme als graduelle Differenz erscheinen – und umgekehrt. Die kulturelle Evolution des Menschen ist als Sonderfall sozialer Gruppenevolution zu betrachten. Mechanismen der Vererbung, Variation und Selektion sind nicht nur verschieden auf Individualund Sozialebene – sie haben häufig auch entgegengesetzte Wirkungen. Evolutionär erfolgreiche Sozialsysteme können Anpassungsmöglichkeiten auf der Individualebene beschränken, systemintern erfolgreiche Individuen den Erfolg ihrer Gruppen gefährden.

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andere Art von Lebewesen auf dem Planeten, die sich als eine einzige gigantische Population reproduziert, deren Individuen durch keinerlei natürliche Grenzen des Austauschs voeinander getrennt sind. Die räumliche und zeitliche Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme erscheint als Prämisse soziologischer Untersuchungen, über die normalerweise gar nicht mehr reflektiert wird. Nur der Vergleich mit den Sozialsystemen anderer Lebewesen macht klar, dass es sich nicht nur bei der Komplexität sondern bereits bei dem Größenwachstum menschlicher Sozialsysteme um ein evolutionär höchst unwahrscheinliches Phänomen handelt, das vor dem Hintergrund natürlicher Beschränkungen der kognitiven (und emotionalen) Ausstattung des Menschen durchaus zum Problem werden kann. Es ist vor allem dieses Problem, das in Ebenenunterscheidungen zum Ausdruck kommt. Es ist also zunächst zu fragen, wie es überhaupt möglich, dass Menschen Sozialsysteme entwickeln konnten, die ihre natürlichen Dispositionen für Sozialverhalten (die in Steinzeit-Gesellschaften entwickelten Orientierungen des Verwandtschaftsaltruismus, der Reziprozität etc.) überschreiten und damit vor entsprechende Lernprobleme (Anpassung nicht nur an die äußere Natur sondern an die soziale Umwelt) stellen. Wenn man sich in dieser Hinsicht nicht mit einer Antwort zufrieden gibt, die auf die Flexibilität des menschlichen Lernvermögens (sein Gehirnpotential) abstellt, dann sind in dieser Hinsicht (1.) proximate Ursachen und (2.) ultimate Ursachen zu unterscheiden: also zum einen Motive der Ausdehnung des je eigenen Bereichs auf Kosten Anderer (wie sie alle Lebewesen haben) und zum anderen adaptive Vorteile, die aus der Bildung eines kollektiven sozialen Schutzraums für die Population und ihre Individuen entspringen. - Gleichursprünglichkeit von Individuen und Sozialsystemen In evolutionstheoretischer Perspektive kann Sozialität – anders als im methodologischen Individualismus – nicht als emergentes Phänomen im Verhältnis zu den Individuen aufgefasst werden. Daher ist auch die Ableitung von (menschlicher) Sozialität aus monadischen, dyadischen oder triadischen Ur-Konstellationen zurückzuweisen. 5 Damit soll keineswegs zur Setzung von Sozialität (als historisch nicht hinterfragbarer Gegebenheit) i.S. der Durkheim-Tradition zurückgekehrt werden. Es geht vielmehr gerade darum, die phylogenetischen Voraussetzungen menschlicher Sozialität und deren andauernde Relevanz auch in ihren kulturellen 5 Zu monadischen Konstruktionen s. Tarde, Latour u.a. (hier wäre noch zu prüfen, ob zumindest Tardes Konzept, das ja keine Robinsonade darstellt, i.S. eines evolutionären Mehrebenenkonzepts interpretierbar ist.). Zu dyadischen Konzepten im mainstream von Parsons über Mead zu Luhmann und Esser (Theorem der doppelten Kontingenz, Kopräsenz des Anderen). Zu triadischen Konzepten s. Lindemann, Fischer, Wetzel u.a. im Anschluss an Plessner (Mitwelt).


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Ausformungen herauszuarbeiten. Im Gegensatz zu methodologischen Konzepten, die von einer protosozialen, Sozialität erst fundierenden Bedeutung der Interaktion menschlicher Individuen (in typischen Ur-Szenen) ausgehen, ist in evolutionstheoretischer Hinsicht von der Gleichursprünglichkeit von Individuum und Sozialsystem auszugehen. Alle methodologischen Reflexionen über derartige Konstellationen werden vor diesem Hintergrund als Rückprojektion moderner (durch die reflexive Steigerung der Differenz von Individualität und Sozialität erzeugter) Problemlagen erkennbar. Individuen und Sozialsysteme sind gleichermaßen 6 schon Bestandteile der natürlichen Evolution. Von Emergenz soll im Folgenden nur im Verhältnis zwischen Mikro- und Makrophänomenen der Sozialität g. 7 Das Verhältnis Individuum / Sozialität ist der Unterscheidung von Mikro- und Makrophänomenen logisch und historisch vorausgesetzt. Insofern geht es bereits auf der Mikroebene um soziale Phänomene (Interaktionen, Handlungen, Kommunikationen) und nicht um Individuen (oder gar Teilaspekte wie Bewußtsein, psychische Systeme etc.) als Entitäten oder um protosoziale Strukturen. Es geht einerseits um solche Phänomene, die in allen Formen der menschlichen Sozialität gegeben sind, andererseits aber auch um Solche, die erst unter den Bedingungen der Ausdifferenzierung einer Makroebene i.S. einer Rückwirkung (macro-causation) ausgeformt wurden. Auf der Makroebene geht es um reale (vom Handeln und Erleben der Einzelnen unabhängig gegebene) soziale Phänomene, die durch evolutionäre Prozesse der Ausdehnung menschlicher Populationen entstanden sind und auf das Handeln und Erleben der Individuen kausal zurückwirken. (Es geht also nicht bloß um handlungsleitende symbolische Konstrukte oder gar folgenlose Fiktionen.) Die Emergenz dieser Phänomene ist evolutionstheoretisch erklärbar (sie sind insofern epistemologisch reduzibel, ontologisch aber irreduzibel). Mit dem Bezug auf emergente Makrophänomene ist nicht die Annahme eigenständiger Bewegungsgesetze (weder i.S. allgemeiner Gesetze noch historischer Quasi-Gesetzlichkeiten) verbunden. Die Dynamik ihrer Veränderung ist immer auf das Handeln und Erleben der Individuen auf der Mikroebene (micro-causation) zurückzuführen. Evolutionäre Mechanismen wirken kausal unabhängig von einander auf verschiedenen Ebenen. 8 In der biolo6 Individuen und soziale Systeme unterscheiden sich grundlegend in Bezug auf ihre elementaren Operationen: die Organisation von Körperzellen und die Organisation von lebendigen Individuen. Was sie in der kulturellen Evolution verbindet, liegt in der symbolischen Reflexion ihrer Identitäten: Jede Identität ist Produkt einer Erzählung, die sich aus Selbst- und Fremdbeschreibungen speist. 7 Die Bezeichnung von Emergenz ist nicht auf soziokulturelle Organisation beschränkt. Jeder natürliche Organismus kann schon als emergentes Phänomen bezeichnet werden. 8 Die kausale Unabhängigkeit evolutionärer Mechanismen im Darwinschen Sinne zeigt sich u.a. darin, dass der Mechanismus der

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gischen Evolutionstheorie wird zwischen individuellen Organismen und Populationen von Organismen in einer Weise unterschieden, die es nicht erlaubt, das Eine auf das Andere zu reduzieren. In ähnlicher Weise ist auch innerhalb der kulturellen Evolution des Menschen von einer ontologischen Irreduzibilität dieser Entitäten auszugehen. In evolutionärer Perspektive sind Individuen selbst schon emergente Makrophänomene. Deshalb sind soziologische Menschenmodelle, die vom Individuum als Elementareinheit auf der Mikroebene ausgehen, häufig unterkomplex und für viele Erklärungszwecke unzulänglich. Und deshalb sind Ebenenunterscheidungen innerhalb der kulturellen Evolution für Individuen und Gesellschaften gesondert zu beschreiben. Auf der Seite der Individuen kommen damit sowohl die individuellen Motive wie auch die symbolisch generalisierten Konstrukte in den Blick, die es ihnen erlauben, die Kluft zwischen ihren spontan verfügbaren Nahorientierungen und den mit technischen Mitteln erweiterten Formen der Sozialität zu überwinden. Sozialität

Individualität

Makroebene

Technisch-organisatorisch erweiterte Sozialsysteme

Geteilte Überzeugungen (symbol. Generalisierungen)

Metaebene

Mikroebene

Einfache (interaktionsbasierte) Sozialsysteme

Individuelle (lebensgeschichtlich ererbte und erworbene) Motive

Mikroebene

- Quellen der Ebenendifferenzierung Die Unterscheidung von Ebenen in der Luhmannschen Theorie sozialer Systeme weist gewisse Ähnlichkeiten, aber auch signifikante Unterschiede zu den Ebenenunterscheidungen in der biologischen Evolutionstheorie auf. Zu Erklärungszwecken lässt sich die Unterscheidung von drei Ebenen auf zwei reduzieren, wenn man die emergenten Phänomene der mittleren Ebene jeweils als Explanandum, die Phänomene der Mikro- und Metaebene hingegen als Explanans betrachtet. 9 Wenn mit einem verallgemeinerten Begriff von GesellUmweltselektion nichts „weiss― über die anderen Mechanismen (insbes. Replikation und Variation), die am Zustandekommen evolutionärer Prozesse und Phänomene beteiligt sind. Dem Selektionsmechanismus ist es gleichgültig, ob die Merkmale bestimmter Individuen oder Gruppen, die durch bestimmte Umweltbedingungen bevorzugt oder benachteiligt werden, auf natürlichem Wege vererbt oder künstlich erzeugt worden sind. Dem Vererbungsmechanismus ist es gleichgültig, ob sein Erfolg oder Mißerfolg durch natürliche Umweltbedingungen oder durch kulturelle Einrichtungen beeinflusst worden ist. 9 Im Hinblick auf evolutionsbiologische Anschlussmöglichkeiten läge es nahe, für die mittlere Ebene die Bezeichnung als – die artspezifische - Mesosphäre aufzugreifen. Ich bleibe hier jedoch bei der in den Sozialwissenschaften eingeführten Mikro-MakroBezeichnung und verwende für die übergeordnete Ebene der kulturspezifischen symbolischen Repräsentationen, die Bezeichnung als Metaebene. Hinsichtlich prozessualer Wirkungszusammenhänge liesse sich das o.a. Schema i.S. eines rekursiven Kreislaufs erweitern.


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schaft i.S. Luhmanns nur noch die virtuelle Größe aller möglichen kommunikativen Verbindungen bezeichnet wird (durch irgendeine Operation abgegrenzt gegen Andere), dann handelt es sich dabei nicht um ein Sozialsystem i.S. der evolutionären Abschließungs- und sozialen Nischenbildungsthese, sondern um ein rein symbolisches Konstrukt der Metaebene. Alle wirklichen Sozialsysteme – von der primordialen Familie bis zu internationalen Organisationen einschließlich ihrer wechselseitigen Beobachtungs- und Publikumsbeziehungen – sind im Spektrum zwischen Mikro- und Makroebene angesiedelt. Dies ist die Sphäre, die Menschen im organisch-physiologischen Sinne nicht überschreiten können, und zugleich die Sphäre ihrer kulturellen Evolution, die sie durch das Aufspannen einer Metaebene symbolisch generalisierter Vorstellungen und durch reflexive Selbstbeschränkung auf der Mikroebene ermöglicht haben. Die Einheit und Besonderheit von natürlicher und kultueller Evolution kann in Begriffen einer Theorie der Kommunikation (besser als mit jeder Handlungstheorie) beschrieben werden. Die Besonderheit der kulturellen Evolution lässt sich dann anhand der Variation und Selektion technisch erweiterter Kommunikationsmittel historisch spezifizieren. Der Ausgangspunkt dieser Beschreibung ist allerdings nicht bei der gesprochenen Sprache (von oralen zu Schriftkulturen etc.) sondern bereits bei der gestischen Kommunikation anzusetzen, die in der Sozialität vieler Lebewesen Verwendung findet und auch zum Fundament der menschlichen Kommunikation gehört. Der take-off der kulturellen Sonderevolution ist dann im Übergang von gestischer zu symbolischer Kommunikation zu beobachten (die bei jedem Menschen ontogenetisch nachvollzogen 10 wird). Die Reproduktion kultureller Sozialeinheiten wird primär durch Prozesse der Nachahmung auf der Mikroebene gesichert. Um die Einheit des Sozialen unter Absehung von menschlichen Individuen zu beschreiben, könnte man sich auf „Gesetze der Nachahmung― (Tarde) oder die Replikation der „Meme― (Dawkins) stützen. Die Beschreibung der Individuen, die an diesen Prozessen beteiligt sind, könnte sich somit auf allen gemeinsame sensomotorische und kognitive Eigenschaften beschränken und von ihrer Besonderheit abstrahieren. Sobald man jedoch sozialen Wandel beschreiben will, ist es unvermeidlich, auch die Besonderheit der Individuen als aktive Replikatoren jener nichtflüchtigen Elemente der Kommunikation einzubeziehen, aus denen der kulturelle Wissensvorrat besteht.

10 Während Tomasello (2009) den Übergang von einfacher Gestenkommunikation zu symbolsprachlicher Kommunikation bei Primaten und menschlichen Kleinkindern gezeigt hat, hat Cruse (2003) in Computermodellen gezeigt, dass bereits kognitiv sehr einfach ausgestattete künstliche Agenten bei zureichender Zahl von gestischen Interaktionen zu übereinstimmendem Symbolgebrauch kommen.

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Ähnlich wie die aus einer fundamental-reduktionistischen Auffassung der Darwinschen Theorie hervorgegangene Idee von den genetischen Replikationseinheiten als selbständigen Agenten der Selektion („selfish genes―) basiert die systemtheoretische Behauptung sich selbst (autopoietisch) verändernder Strukturen der Kommunikation auf einer Verwechslung (der Ebenen) von Informationsverarbeitung („Buchführung―) und Selbststeuerung („Organisation―). - Kulturelle Mehrebenenselektion Selektion kann auf ganz verschiedenen Ebenen stattfinden. Dies ist eine Folge der Emergenz höherer Ebenen der Sozialität als Folge von aktiven Anpassungsprozessen der Individuen durch soziale Organisation. 11 Variation hingegen – das Rohmaterial für selektive Adapation an sich verändernde Umweltbedingungen – kann nur auf der Ebene lebendiger Individuen (für biotische Evolution auch schon auf der Ebene ihrer Gene, Zellen und Organe) stattfinden. Kulturelle Evolution kann nicht erklärt werden, ohne den Mechanismus der Variation, der in der Verschiedenheit der Individuen innerhalb einer Population zum Ausdruck kommt, und nicht ohne den Mechanismus der Selektion, der in der Interaktion der Individuen mit ihrer jeweiligen Umwelt zum Ausdruck kommt. Nur die abweichenden Leistungen der Individuen (und ihrer kollektiven Organisationsformen) eröffnen kulturell neue Anpassungsmöglichkeiten unter verschiedenen Umweltbedingungen. Phänomene der Konkurrenz und Kooperation werden in vielen Sozialtheorien als Formen des sozialen Handelns vergleichend oder in polemischer Absicht gegenübergestellt. In evolutionstheoretischer Perspektive werden sie dagegen kausal miteinander verknüpft: Konkurrenz (gleich welcher Einheiten - Individuen oder Kollektive) um knappe Ressourcen (gleich welcher Art - materielle oder geistige) ist immer der antreibende Faktor zur Kooperation (gleichgültig, ob dies den kooperierenden Einheiten bewußt ist oder nicht). Der Selektionsdruck, der von der Knappheit der Ressourcen in einer gegeben Umwelt ausgeht, ist immer der erklärende Faktor für die Formen sozialer Ordnung, in denen sich Kooperation stabilisiert. Hinsichtlich der Entstehung solcher Ordnungsgewinne lassen sich – grob vereinfacht - drei Prozesse unterscheiden: 1. Konkurrierende Einheiten verbünden sich miteinander. Die Konkurrenz unter den Beteiligten wird zeitweise eingestellt. Es bilden sich lockere Formen von Sozialsystemen (Vertragsformen). 2. Konkurrierende Einheiten unterwerfen sich einem gemeinsamen Herr11 Im Sinne der Theorie der Mehrebenenselektion (Sober/Wilson) ist die Bezeichnung von Sozialsystemen als Superorganismen durchaus zutreffend. Irreführend wird die Organismus-Metapher, wenn sie nicht bloß zur Beschreibung der Struktur der Sozialsysteme sondern auch ihres Wandels (Entstehens und Vergehens) verwendet wird. Die Evolution sozialer Systeme lässt sich eben nicht nach dem vorangepassten Entwicklungsmuster von Organismen beschreiben.


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schaftsorgan. Die Konkurrenz unter den Beteiligten wird dauerhaft eingestellt. Es bilden sich rigide Formen von Sozialsystemen (Hierarchieformen). 3. Konkurrierende Einheiten unterwerfen sich einem gemeinsamen Herrschaftsorgan, das Konkurrenz innerhalb das Sozialsystems in binnendifferenziert geregelten Formen zulässt. Es bilden sich dynamische Formen von Sozialsystemen (Wettbewerbsformen). 4. Zur evolutionstheoretischen Erklärung sozialer Differenzierung Vertretern der Theorie funktionaler Differenzierung in den Sozialwissenschaften wird gelegentlich der Vorwurf gemacht, dass sie das problematische Erbe von Fortschrittstheorien des 19. Jahrhundert mitschleppten, in der soziologische und biologische Sozialtheorien in enger Koppelung entstanden. Sowohl dem soziologischen Funktionalismus wie auch der biologischen Evolutionstheorie wird der Vorwurf des funktionalistischen Fehlschlusses gemacht. Dabei wird allerdings übersehen, dass die moderne Evolutionstheorie dieses methodologische Problem überwindet, indem sie funktionalistische und genetische Erklärungen verknüpft und damit dem in den Sozialwissenschaften häufig beklagten Dilemma entgeht, zwischen holistischer und individualistischer Methode entscheiden zu müssen. Funktionale Differenzierung ist - wie alle Formen der Binnendifferenzierung - als Mittel zur Steigerung der adaptativen Fitness eines Sozialsystems in der Konkurrenz mit anderen Sozialsystemen zu betrachten. Die Besonderheit funktionaler Differenzierung ist darin zu sehen, dass das Prinzip der Binnendifferenzierung als Mittel zur Erfolgssteigerung Gesamtsystems hier reflexiv wird. Alle Formen sozialer Differenzierung sind zu erklären aus den evolutionären Vorteilen der Selbstabschließung durch Gruppenbildung (Gruppenevolution nach H. Miller, E. Mayr, Sober/Wilson) i.S. einer mehrstufigen Verlagerung von äußerem Selektionsdruck nach Innen – also i. S. der Ausdifferenzierung einer inneren Umwelt – nicht zuletzt im Inneren der Individuen selbst. Genauer betrachtet sogar zuerst im Inneren der Individuen denn die Verankerung des äußeren Selektionsdrucks in den Verhaltensmustern der Individuen geht der Entwicklung ihrer Sozialsysteme natürlich voraus - mit der Ausdifferenzierung dieser Systeme entstehen jedoch neue Verhaltensspielräume für die Individuen in der kulturellen Sonderumwelt. Zu unterscheiden ist zwischen der proximaten (historisch-genetischen) Funktion der Differenzierung als „Schutzschirm― vor äußerem und innerem Selektionsdruck und der ultimaten Funktion als „Treibhaus― evolutionär unwahrscheinlicher, aber der jeweiligen Einheit insgesamt Konkurrenzvorteile bietenden Sonderformen.

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Ebenenbildung12 ist zu beschreiben als evolutionär besonders unwahrscheinliche, historisch erst in der Moderne voll zur Geltung kommende intentionale Form der Differenzierung von Beschränkungs- und Freisetzungstendenzen und der (riskanten) Beschleunigung kulturellen Wandels durch deren Rekombination. Die Ausdifferenzierung einer populationsspezifischen Lebenswelt aus dem Kontinuum der Welt und ihrer operativen Schliessung als Innenwelt gegenüber einer Aussenwelt ist Voraussetzung sowohl für Binnendifferenzierung wie auch für Ebenendifferenzierung. Ihre grundlegende Funktion besteht in der Verringerung und internen Modifikation des Selektionsdrucks der Aussenwelt. Binnendifferenzierung und Ebenendifferenzierung sind gleichermaßen Formen der internen Verarbeitung des äusseren Selektionsdrucks. Ihr Unterschied kann – jenseits ihrer konkret-historischen Ausformungen – aus den evolutionären Prozessen der Ausdehnung und Abschliessung sozialer Systeme abgeleitet werden: o Binnendifferenzierung stellt eine Wiederholung der operativen Schließung im Inneren der populationsspezifischen Sozialsysteme (Systembildung im System) dar. Sie bildet noch einmal einen Schutzschirm für die Individuen – nunmehr vor der internen Reproduktion des äußeren Selektionsdrucks in Formen der innersystemischen Konkurrenz. So konkurriert nicht mehr Jeder mit Jedem sondern in regional, stratifikatorisch und funktional geordneten Bahnen. o Ebenendifferenzierung stellt eine interne Reaktion auf die operative Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme mit technischen Mitteln dar. Ihr Ursprung liegt in der Unterscheidung zwischen Anwesenden und Abwesenden, deren Bedeutung mit dem Größenwachstum der Populationen zunimmt. Jede Art von Binnendifferenzierung kann in dieser Perspektive als Wiederholung von Technisierung im Inneren der Sozialsysteme (Organisation) und damit zugleich als Einschränkung des Spielraums für Variationen beschrieben werden. Ebenendifferenzierung sorgt demgegenüber für das kreative Treibhaus der kulturellen Evolution. So können die Sozialsysteme sich auf der Makroebene ausdehnen, ohne das Variationspotential der Population zu gefährden, das in der Kreativität der Individuen auf der Mikroebene verankert ist. Ebenendifferenzierung erscheint in zweifacher Hinsicht als Signum der Moderne. Zum Einen als Folge der Umstellung von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung, zum Anderen als Folge der Verlagerung des äußeren Selektionsdrucks der Gesellschaft ins Innere der Individuen. Die arbeitsteilig-funktionale Differenzierung der Moderne bedeutet Umstellung von vertikaler zu horizontaler Differenzierung in Bezug auf alle

12 Ich bevorzuge diese Bezeichnung wegen ihrer Nähe zur HausMetaphorik und um den Begriff der Emergenz im Verhältnis der Individuen zu ihrer Sozialität zu vermeiden.


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Formen sozialer Anerkennung – und ist zugleich Quelle einer neuen Vertikalspannung zwischen Mikro- und Makro-Phänomenen des menschlichen Sozialverhaltens, die sich i.S. der Auftrennung der Sphären des Öffentlichen und Privaten in die Strukturen der Metaebene einschreibt. Es handelt sich um eine evolutionär höchst riskante, stets durch Entdifferenzierungstendenzen gefährdete Form sozialer Ordnung, die zu ihrer eigenen Stabilisierung einer Koevolution auf der Ebene des Bewußtseins der Individuen bedarf. Die Verlagerung des äußeren Selektionsdrucks ins Innere der Gesellschaft wird in der modernen Gesellschaft abgesichert durch eine Verankerung der Ebenendifferenzierung im Inneren der Individuen. 13 Anders als die jederzeit reversible Rangdifferenzierung in Wettbewerbskonstellationen wird diese Form der vertikalen Differenzierung stabilisiert durch den Latenzschutz der intergenerativen Tradierung. Hinsichtlich des für die Reproduktion menschlicher Sozialsysteme grundlegenden kulturellen Wissens ist zwischen horizontal-räumlichen und vertikal-zeitlichen Formen der Weitergabe zu unterscheiden. Allen Formen der menschlichen Kommunikation ist die Tendenz zur Ausdehnung der Wissensvorräte inhärent. Ihre Ausdehnung in der zeitlichen Dimension ist jedoch – längst bevor technisch erweiterte Kommunikationsmittel ins Spiel kommen – ausgezeichnet durch besondere Formen der intergenerativen Tradierung. Nur hier (in Prozessen der Internalisierung und Sozialisation) wird jenes latenzgeschützte „inviolate level― erreicht, das zur Bildung stabiler Wissensstrukturen (ähnlich dem Genvorrat einer Population) benötigt wird. 5. Eine These über das Unbehagen an der Moderne „Nichts in der Kultur macht Sinn außer im Licht der Evolution!― – Diese für die Standard-Soziologie völlig abwegige These von Richerson/Boyd (2005) ist vor dem Hintergrund der Entkoppelung der genetisch ererbten Verhaltensdispositionen von den natürlichen und sozialen Umwelten in Folge der technisch-kulturellen Expansion menschlicher Sozialsysteme zu verstehen. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage unter zwei Aspekten zu spezifizieren: 1. Institutionell tradierte und formal gesetzte Regeln, deren Funktion im wesentlichen darin besteht, Probleme zu lösen, die aus der Unangepasstheit der in Steinzeitgesellschaften entstandenen kognitiv/emotionalen Dispositionen an die expandierten Sozialsysteme der Hochkulturen und der Moderne stammen. 2. Institutionelle und organisatorische Regelungen, die dem Schutz unserer natürlich ererbten Dispositionen (der individuellen Freiheit) vor der zerstörerischen Eigendynamik der expandierten Sozialsysteme dienen.

13 In der von S. Freud beschriebenen Ebenendifferenz als Steuerung des Ich in der Balance zwischen Es und Über-Ich.

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Das vielzitierte Unbehagen an (oder in) der Moderne ist in polemischer Verkürzung auch als „Furcht vor der Freiheit― interpretiert worden. Es handelt sich bei genauerer Betrachtung um das Problem des Auseinandertretens von zwei Seiten des menschlichen Freiheitspotenzials. Die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit liegen in der Doppelnatur des Menschen als individuelles und soziales Lebewesen und im Besonderen in seiner kulturellen Evolution. Aus der kulturellen Evolution ist Beides abzuleiten: zum einen die Freiheit des Willens und zum anderen die Freiheit des Handelns. Die Willensfreiheit 14 des Menschen ist ein Produkt seiner kulturellen Evolution im Sinne der Distanzierung von angeborenen Steuerungsmechanismen und ihrer Ersetzung durch soziokulturelle Steuerungsmechanismen (Sozialisation und Enkulturation). Handlungsfreiheit ist ebenfalls ein Produkt der kulturellen Evolution im Sinne der Distanzierung von sozialen Zwängen durch Binnendifferenzierung der Sozialsysteme und Steigerung der individuellen Wahlmöglichkeiten (Ebenendifferenzierung und Individualisierung). Das Problem, das im Unbehagen an der Moderne (vage) zum Ausdruck kommt, besteht darin, dass beide Seiten des menschlichen Freiheitspotenzials unabhängig voneinander gesteigert oder vermindert werden, also auseinandertreten können. Der tiefere Grund für das Unbehagen ist im Wiederaufbrechen eines Problems zu sehen, das tief in der Menschheitsgeschichte verwurzelt ist: Es ist das Problem der Überlebenskonkurrenz unter den Individuen einer Population unter dem Selektionsdruck ihrer natürlichen Umwelt. Thesenhaft formuliert: Das Unbehagen entzündet sich an der (Wieder)Einführung dieser Konkurrenz im Inneren moderner Sozialsysteme. 15 Der erste Teil der These besagt, dass alle Sozialsysteme der Menschheit die Funktion hatten und haben, den Selektionsdruck der natürlichen Umwelt auf die Einzelnen abzufangen und durch kulturelle Binnenorganisation auf die Ebene der Sozialsysteme selbst abzuleiten. Diese Problemlösung impliziert zum einen Souveränitätsverzichte der Mitglieder zugunsten des kollektiven Organismus und zum anderen die Verlagerung der Überlebenskonkurrenz auf die Ebene der Sozialsysteme. Die Verlagerung des Selektionsdrucks von den Einzelnen auf die Gruppenebene (Externalisierung) wird begleitet vom Aufbau kulturspezifisch systemeigenen Selektionsdrucks im Inneren (Internalisierung). Der zweite Teil der These besagt, dass diese Form der Problemlösung – über viele Zwischenstufen der kultu14 Willensfreiheit ist hier natürlich nicht als Freiheit von Ursachen sondern nur als Freiheit von inneren Zwängen zu verstehen. 15 Die Verdrängung des Konkurrenzkampfs aus den Gemeinschaften ist das zentrale Motiv der Opferrituale, die bei Freud und Girard als Anfänge menschlicher Kulturentwicklung gedeutet werden. Anders als in der Freudschen Urszene soll hier jedoch nicht auf die Fortpflanzungskonkurrenz in der Gruppe sondern auf die Überlebenskonkurrenz (i.S. Hobbes) rekurriert werden. Evolutionstheoretisch ist abweichende Replikation vorausgesetzt.


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rellen Evolution – mit der globalen Ausdehnung und Verdichtung der Sozialsysteme und der Verschärfung 16 ihrer Konkurrenz in der Moderne an ihr Ende gekommen ist, und dass sich nunmehr als einzige Option im Umgang mit dem Selektionsdruck der äußeren Umwelt eine Form der Problemlösung abzeichnet, die als Umkehrung der bisher dominanten Tendenz erscheint: Beschränkung der Überlebenskonkurrenz auf der Ebene der Sozialsysteme – Ächtung des Krieges (die Fortsetzung der Konkurrenz mit systemischen Mitteln) – und kulturelle Wiedereinführung der Konkurrenz auf der Ebene der Individuen (und Organisationen diesseits und jenseits der Staaten) in Formen des friedlichen Wettbewerbs. In dem durch die Wiederkehr der internen Konkurrenz ausgelösten Unbehagen kann ein Hauptgrund17 für die mehr oder weniger offene Ablehnung der Darwinschen Theorie in vielen Sozialtheorien der Moderne gesehen werden. Da sich die dahinterstehende Tendenz evolutionstheoretisch nur als Mehrebenenselektion erschließt, könnte dies auch der Grund für die von den meisten Anhängern der Darwinschen Theorie vertretene Ablehnung von Gruppenselektion sein. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Ablehnung der Evolutionstheorie wegen des Verdachts der Legitimationshilfe für sozialdarwinistische Politik und der Dominanz der molekulargenetischen Perspektive, obwohl die Vertreter des Neodarwinismus sich von solcher Politisierung abgrenzen. Ich sehe das Hauptproblem für eine Theorie der kulturellen Evolution aber in der Beschränkung auf die genetische Perspektive und nicht in ihrem Bezug auf Individuen und auf Phänomene der Konkurrenz. Wenn man die Evolution des Menschen verstehen möchte, ist es nicht zweckmäßig, die bottom-up-Perspektive der Molekulargenetiker einfach umzukehren und die kulturellen Phänomene nur noch in der top-down-Perspektive – in ihrer allgemeinsten und ausgedehntesten Erscheinungsform – zu betrachten. Letzteres ist in strukturfunktionalistisch-systemtheoretischen Versionen von Evolutionstheorie der Fall, die von Phänomenen der Konkurrenz weitgehend abstrahieren. Wer behauptet, die Darwinsche Evolutionstheorie sei im Kern individualistisch und konkurrenzbasiert und daher keine geeignete Grundlage für eine Sozialtheorie reisst den Zusammenhang der verschiedenen Ebenen – 16 Hier geht es um den oft übersehenen Umstand, dass die Bevorzugung altruistischer Verhaltensmuster in der bisherigen Entwicklung kultureller Sozialsysteme eine Komplementärfunktion der gesteigerten Konkurrenz in ihren Außenbeziehungen darstellt. Mit der globalen Steigerung militärischer Vernichtungsmöglichkeiten stellt sich die Frage, ob und wie die fatale Komplementarität zwischen Individual- und Gruppenebene sich auflösen und durch friedlichen Wettbewerb auf beiden Ebenen ersetzen lässt. 17 Ein Nebengrund muss in dem legitimationsideologischen Mißbrauch evolutionstheoretischer Argumente gesehen werden, der im 20. Jh. zur politischen Gewalt wurde, aber mit den Hauptlinien der darwinistischen Theorietradition unvereinbar ist.

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Gene, Individuen, Populationen und ihre Sozialsysteme – auseinander, in dem Evolution sich abspielt. Konkurrenz findet auf allen drei Ebenen statt und ist insofern auch ein genuin soziales Phänomen. Um die Konkurrenz der Gene zu beschränken, bilden sich Organismen, um die Konkurrenz der Individuen zu beschränken, bilden sich Sozialsysteme, um die Konkurrenz der Sozialsysteme untereinander zu beschränken, bilden sich Staaten und internationale Systeme, vielleicht sogar eine „Weltgesellschaft―. 6. Schluss Die hier skizzierte Argumentation schließt an differenzierungstheoretische Beschreibungen der modernen Gesellschaft i.S. Luhmanns an, versucht jedoch deren systemtheoretische Prämissen (das AutopoiesisKonzept) durch evolutionstheoretische zu ersetzen. Die Inkompatibilität des systemtheoretischen Konzepts von Evolution mit Darwinischen Ansätzen kann aufgelöst werden durch Reformulierung der Systemtheorie als Theorie der Selbstabschließung sozialer Einheiten gegenüber dem Selektionsdruck natürlicher Umwelten und der Differenzierungstheorie als Theorie der Entlastung sozialer Einheiten vom internen Selektionsdruck durch System-in-System-Bildung. Statt individuelle Motive und Entscheidungen aus der Erklärung des Zustandekommens und der Reproduktion sozialer Strukturen auszuschließen, ist in der Natur menschlicher Individuen das entscheidende Verbindungsglied (missing link) zwischen kultureller und natürlicher Evolution zu erkennen. Die operative Schließung sozialer Systeme als Schutzschirm und Treibhaus kultureller Evolution erfolgt nicht als Automatismus ohne die Antriebsmotive lebendiger Akteure, ohne die Identifikation ihrer Teilnehmer. Statt die Mikro-MakroUnterscheidung durch eine teleologisch von oben verknüpfte System-Typologie zu unterlaufen, ist sie evolutionstheoretisch als Ebenendifferenzierung menschlicher Sozialität zu rekonstruieren. Die Kombination organisationstypischer Verhaltensmuster der Makroebene mit den tradierten und natürlichen Ressourcen der Interaktion auf der Mikroebene ist so als evolutionär unwahrscheinliche Errungenschaft, als emergentes Phänomen der Moderne zu erkennen. Mit dem hier skizzierten Instrumentarium soll ein Beitrag geleistet werden, um in methodologischer Hinsicht die Alternative zwischen Mikro- und Makrofundierungsstrategien zu überwinden und in gegenwartsdiagnostischer Hinsicht der Alternative zwischen Kulturpessimismus und Systemoptimismus zu entgehen. Literaturhinweise Alexander, Jeffrey C., Bernhard Giesen, Richard Münch und Neil J. Smelser (f Jg.), 1987: The Micro-Macro-Link. Berkeley: University of California Press. Blute, Marion (1979): Sociocultural Evolutionism: An Untried Theory. Behavioral Science 24, 46-69.


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