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Klaus Gilgenmann

Das Ende der Konfliktexternalisierung Soziale Funktionen, historische Folgen und aktuelle Probleme religiöser Konfliktverarbeitungstechniken*

Kapitel 1: Einleitung 1.1 Eine soziologische Erklärung für die Ambivalenz der Religionen 1.2 Von der postheroischen Moderne zurück zu den Ursprüngen menschlicher Religiosität 1.3 Mikro- und Makrophänomene der Religiosität 1.4 Der Mechanismus der Konfliktexternalisierung 1.5 Religion und Sprache als symbolisch-diabolische Kommunikationsmittel

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Kapitel 2: Tribale Gesellschaften 2.2 Die grundlegende Bedeutung religiöser Konfliktvermeidungstechniken 2.3 Konfliktvermeidung in Praktiken des Austauschs

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Kapitel 3: Traditionelle Gesellschaften 3.1 Die Ausdifferenzierung religiöser Konfliktvermeidungstechniken 3.2 Die Umstellung der Religion auf schriftliche Offenbarung

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Kapitel 4: Die moderne Weltgesellschaft 4.1 Das Scheitern tradierter Konfliktexternalisierungstechniken in der Moderne 4.2 Globalisierung und Universalisierung 4.3 Differenzierung und Individualisierung 4.4 Wiederkehr oder Wandel der Religionen?

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Kapitel 5: Zur Zivilisierung der Religionen 5.1 Alternativen zum Mechanismus der Konfliktexternalisierung in der Moderne 5.2 Transformation der Konfliktvermeidungstechniken auf dem Weltmarkt der Religionen 5.3 Auf dem Weg zu einer globalen Zivilreligion? 5.4 Die moderne Schule als „Kirche“ der Zivilreligion?

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Kapitel 6: Zur Virulenz der Religionen 6.1 Krieg und Frieden 6.2 Sexualität und Fortpflanzung

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Literaturhinweise

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Anmerkungen und Materialien

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* Der vorliegende Text [Stand 30. Januar 2012] ist Teil eines Arbeitsvorhabens zur Theorie sozialer Differenzierung als Konfliktverarbeitung in der kulturellen Evolution. Die Fokussierung auf Religion hat der Vorbereitung eines Vortrags gedient, den ich aus Anlass des Internationalen Symposiums »Religionen und Weltfrieden. Zum Friedens- und Konfliktlösungspotential der Religionsgemeinschaften« in Osnabrück im Sozialwissenschaftlichen Kolloqium der Universität Osnabrück am 25.Okt. 2010 und in kürzerer Form noch einmal bei den Matreier Gesprächen der Otto-König-Gesellschaft 3.-7. Dez. 2010 gehalten habe. Diese Skizze ist in vieler Hinsicht noch unvollständig und dient nur der vorläufigen Fixierung einer Argumentation, die in Auseinandersetzung mit (den in den umfangreichen Anmerkungen z.T. schon zitierten) historisch-empirisch gehaltvollen Texten weiter ausgearbeitet werden soll. Wer es kurz und knapp haben will, kann sich die Vortragsfassung ansehen unter: http://www.home.uni-osnabrueck.de/kgilgen/archiv/kg-10-Reli-Vortrag-Matrei.pdf


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Kapitel 1: Einleitung1 Dass die Gruppe eine Einheit bildet, das wird, insbesondere in primitiveren Epochen, durch die Kampf- und Konkurrenzlosigkeit innerhalb ihrer, im Gegensatz zu allem Verhältnis zu Außerhalbstehenden, bewirkt oder markiert. Es gibt nun vielleicht kein Einzelgebiet, auf dem diese Existenzform des konkurrenzlosen Nebeneinander, die Gleichheit der Ziele und Interessen, sich so rein und restlos darstellte, wie auf dem religiösen. Der hervorgehobene Friedenscharakter des inneren Gruppenlebens ist doch nur ein relativer. Mit der Mehrzahl der Strebungen auch innerhalb dieser ist doch auch die Bemühung verbunden, Mitstrebende von dem gleichen Ziel auszuschließen, das Missverhältnis zwischen Wünschen und Befriedigungen möglichst, wenn auch auf Kosten Anderer, zu verbessern, zum Mindesten in dem Unterschied gegen Andere den Werthmaßstab eigenen Thuns und Genießens zu suchen. Georg Simmel, 1898, Zur Soziologie der Religion

Unbehagen an Religion in der Moderne ist in verschiedenen Ausdrucksformen zu beobachten, die sich häufig konträr zueinander verhalten: zum Einen als Unbehagen, das sich auf Konflikte konkurrierender Religionsgemeinschaften sowie zwischen ihnen und dem säkularen Staat bezieht und sich deshalb gegen Religion richtet, zum Anderen als Unbehagen, das sich auf die Unzulänglichkeit von Bindungskräften in der modernen Gesellschaft bezieht und ein Verlangen nach Religion zum Ausdruck bringt. Im Folgenden soll gezeigt werden, was beide Formen des Unbehagens trennt und was sie verbindet. Religion wird im Folgenden als ein natürliches und kulturelles Phänomen betrachtet: als evolutionäre Adaptation, die zentrale Funktionen für die kulturelle Erweiterung menschlicher Sozialsysteme hat. Seine frühesten Erscheinungsformen sind in Prozessen der Hominisation – gleichursprünglich mit dem Gebrauch symbolischer Formen der Kommunikation – also im Übergangsbereich zwischen natürlicher und kultureller Evolution zu suchen. In dieser Perspektive ist Religion kein Relikt vergangener Zeiten. Bestimmte historische Formen der Religion können veralten. Aber bis heute sind weder die natürlichen Dispositionen menschlicher Individuen zur Religiosität verschwunden noch die sozialen Probleme, für die sie Lösungsmöglichkeiten enthalten. Das gilt auch für die Risiken und Nebenwirkungen, die mit dem Gebrauch der Religion verbunden sind. Ich möchte eine im Kern sehr einfache - fast schon trivial zu nennende - These vortragen. Ich möchte erklären, warum es den tradierten Religionen in der Moderne nicht mehr gelingt, ihr zivilisatorisches Potential als Bindemittel der Gesellschaft zur Geltung zu bringen. Ich vermute, dass es daran liegt, dass dieses Potential auf einem Mechanismus der Externalisierung von Konflikten basiert, der nicht mehr funktionieren kann unter Bedingungen der globalen Ausdehnung der Gesellschaft und prinzipiell unbeschränktem Zugang zu ihren Wissensvorräten. Religiosität bedarf selbst der Zivili-

2 sierung. Das Heilmittel wird sonst zum Gift, das nur noch Konflikte entbindet. 1.1 Eine soziologische Erklärung für die Ambivalenz der Religionen Die Entwicklung der menschlichen Sozialität ist seit jeher durch religiöse Praktiken bestimmt. Der Nutzen der Religion als Bindemittel der Gemeinschaft war in allen historisch überlieferten Formen der menschlichen Gesellschaft fraglos gegeben. Erst die moderne Gesellschaft hat Formen der Religionskritik hervorgebracht, die auf eine tiefliegende Ambivalenz dieses Mittels verweisen. Im Prozess der Modernisierung ist zeitweise und weitgehend beschränkt auf Europa sogar die Erwartung aufgekommen, dass alle Religionen (i.S. des Bezugs auf außerweltliche Kräfte) verschwinden und ersetzt würden durch innerweltliche Mittel. Die Erwartungen, die in innerweltliche Heilslehren gesetzt wurden, sind allerdings in vieler Hinsicht enttäuscht worden. Infolgedessen wird heute – nun aber nicht mehr nur im Blick auf europäische Entwicklungen – von einer Renaissance der Religionen gesprochen. Zugleich ist jedoch die moderne Religionskritik nicht verschwunden. Vielmehr spaltet sich die Beobachtung dieser weltweiten Entwicklungen in das Lager Derjenigen, die in der Religion (entweder in einer ihrer historischen Ausprägungen oder in einer ökumenischen Synthese) erneut das Mittel zur Lösung sozialer Konflikte sehen, und das Lager Derjenigen, die in der Religion (aufgrund ihres polemogenen Charakters, der mehr oder weniger ausgeprägt in ihren verschiedenen historischen Gestalten erscheint) den wichtigsten Auslöser (das enthemmende Moment für die Austragung) sozialer Konflikte sehen. Im Folgenden soll untersucht werden, was diese (auf den ersten Blick inkompatiblen) Perspektiven verbindet und somit geeignet erscheint, die besondere Ambivalenz der religiösen Phänomene in der modernen Gesellschaft zu erklären. Die diesbezügliche Kernthese ist, dass Religion in allen historischen Formen der menschlichen Sozialität als ein Bindemittel fungiert hat, das sozialen Zusammenhalt nur um den Preis der Unterdrückung und Externalisierung der inneren Konflikte und der massiven Ausgrenzung von sozial Abweichenden ermöglicht hat und dass ebendieser Wirkungsmechanismus in einer global ausgedehnten und verdichteten Sozialwelt problematisch wird. Eine evolutionstheoretische Betrachtung muss jedoch die Möglichkeit einschließen, dass die soziale Funktion der Religion sich durch Anpassung an die veränderten Umweltbedingungen regeneriert. Diese Möglichkeit soll im Blick auf die Entstehung eines zivilgesellschaftlichen „Weltmarkts der Religionen“ und einer globalen Zivilreligion diskutiert werden. Um die Kernthese auszuführen, muss die zwiespältige Funktion der Religion in der Geschichte der Menschheit


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theoretisch rekonstruiert und empirisch belegt werden. Die Phänomene, an denen diese Funktion trotz der Verschiedenheit der religiösen Traditionen durch alle Zeiten hindurch sich empirisch belegen lässt, können in einer programmatischen Skizze, wie ich sie hier vortrage, nicht in befriedigender Weise entfaltet werden.2 Die theoretische Rekonstruktion kann hier nur im Rahmen einer groben historischen Skizze ein Stück weit vorangetrieben werden.3 Die Anfänge dieser historischen Entwicklung sollen – insoweit für soziologische Analysen unüblich – bis zu den natürlichen Ausgangsbedingungen der menschlichen Kultur im Tier-MenschÜbergang (in der Hominiden-Entwicklung) zurückverfolgt werden. Dabei geht es nicht darum, die Disposition zu religiösem Verhalten im genetischen Erbgut festzuhalten,4 sondern die enge Verflechtung religiöser Verhaltensmuster mit den grundlegenden Mechanismen der soziokulturellen Evolution und damit ihrer Kontinuierung bis in unsere Gegenwart aufzuzeigen.5 Es geht hier primär um die evolutionäre Funktion der Religionen, nicht um die Vielfalt ihrer Erscheinungsfomen in der Geschichte und auch nicht um einen Vergleich oder gar eine Bewertung ihrer konkurrierenden Formen in der Gegenwart.6 Diese evolutionäre Funktion sehe ich in der Stabilisierung menschlicher Sozialsysteme unter Bedingungen der Gruppenselektion. Die über die primordiale Verwandtschaftsgruppe hinausgehende Erweiterung menschlicher Sozialsysteme bedarf der Absicherung ihres inneren Zusammenhalts mit symbolischen Mitteln. Der evolutionäre Mechanismus, mit dem diese Funktion erfüllt werden kann, besteht in der Verankerung religiöser Emotionen auf der Ebene individuellen Verhaltens. Ich betrachte im Folgenden auch nicht das gesamte Spektrum der religiösen Verhaltensformen sondern nur einen Ausschnitt, dessen besondere Bedeutung in den adaptiven Vorteilen unter den Bedingungen menschlicher Gruppenselektion liegt: Anwendung eines moralischen Doppelstandards, demzufolge im Innenverhältnis mit Konfliktunterdrückung, im Außenverhältnis mit Steigerung der Konfliktbereitschaft gehandelt wird. Die evolutionstheoretische Betrachtungsweise schließt offenkundig auch Erscheinungsformen ein, die nach gängigem Verständnis nicht als religiös gelten: etwa Formen des Ethnozentrismus und des säkularisierten Nationalismus. Bei diesem Verfahren geht es nicht darum, den Selbstbeschreibungen der Hochreligionen gerecht zu werden, sondern Probleme der modernen Gesellschaft zu erklären, die mit der Wirkungsweise eines tradierten Mechanismus verbunden ist, der zumindest auch in allen bisherigen Erscheinungsformen von Religion befördert worden ist. In vielen Religionstheorien wird das konstitutive Problem der Religion allgemein in der kognitiven Konstruktion (bzw. Kontingenz) von Sinnbezügen gesehen.7 Sinn ist jedoch keine so knappe Ressource wie soziales Vertrauen. Eine Analyse religiöser Phänomene, in der Formen des Glaubens zurückgeführt werden auf kogni-

3 tive Operationen des (noch ungeprüften oder unprüfbaren) Fürwahrhaltens, geht an ihrem sozialen Kern vorbei.8 Deshalb ist eine soziologische der philosophischerkenntnistheoretischen Untersuchung von Religion vorzuziehen.9 Es geht in religiösen Angelegenheiten um Operationen des sozialen Vertrauens, die sich auf Unsicherheitsreduktion durch einen „unsichtbaren“ Dritten (ein transzendental verankertes Treuhandsystem) stützen.10 Nach einem Bonmot von Nietzsche kann man nur definieren, was keine Geschichte hat.11 Bestimmten Phänomenen kommt aber innerhalb der Geschichte der Menschheit eine so allgemeine, alle historischen Wandlungen übergreifende Bedeutung zu, dass man sie auf dieser Bedeutungsebene durch ihre Funktion für die Reproduktion der jeweiligen sozialen Einheit definieren kann.12 Im Hinblick auf eine Definition religiöser Phänomene orientiere ich mich an Luckmanns funktionalistischer Minimaldefinition von Religion,13 die ihrerseits in der Tradition der funktionalistischen Religionstheorie von Durkheim steht.14 Dieser Tradition folgend ist das Religiöse in allen Formen symbolisch generalisierter Kommunikation zu erkennen, die der Gemeinschaftsbildung (einschließlich der Markierung ihrer Grenzen und der Ausgrenzung abweichender Orientierungen) dienen.15 Bekanntermaßen gibt es viele Einwände gegen eine solche Minimaldefinition.16 In evolutionstheoretischer Perspektive ist es jedoch zweckmäßig, die Phänomene des Religiösen zunächst so allgemein zu fassen, dass das Gemeinsame daran über die gesamte Gattungsgeschichte hinweg beschrieben werden kann, um es dann für bestimmte historisch-kulturelle Konstellationen zu spezifizieren.17 Die Alternative dazu wäre ein umfangreiches Inventarverzeichnis religiöser Phänomene, dessen klassifikatorische Verästelung sich allen theoretischen Reduktionsbemühungen widersetzen würde. In dieser Hinsicht wäre – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – dann zu unterscheiden zwischen gemeinschaftlichen Praktiken (Opferkulten, Objekten der Verehrung, direkt oder hierokratisch vermittelt), symbolisch geteilten Formen subjektiver Überzeugungen (weltabgewandt oder zugewandt, innerweltlich oder außerweltlich verankert) und daraus abgeleiteten Vorschriften sozialen Verhaltens (Geboten und Verboten). Substantielle Definitionen von Religiosität beziehen ihre Plausibilität ausschließlich aus der Kommunkation über subjektives Erleben, sind also verankert auf der Ebene der individuellen religiösen Erfahrung.18 In den historisch verschiedenartigen Erscheinungsformen der Religion geht es stets um Lösungsangebote für das Problem der unberechenbaren Kontingenz sozialer Interaktionen, mit der Konkurrenzkonflikte ausgetragen werden. In vielen soziologischen Beschreibungen werden Heilserwartungen als Definitionsmerkmal von Religion angeführt. Diese Kennzeichnung erscheint so selbstverständlich, dass die Frage, was denn da geheilt


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werden soll - welches Unheil eigentlich abgewendet werden soll – oft gar nicht mehr gestellt wird. Soziale Konfliktkonstellationen, die der Suche nach religiösen Heilsmitteln zugrundeliegen, sollen im Folgenden zumindest in einem grob vereinfachenden DreistufenSchema19 zur Darstellung kommen : (1.) in der Verdrängung gewaltsamer Konkurrenz aus dem Inneren der Sozialsysteme in den frühesten Kulturformen, (2.) in der Verlagerung der Konflikte auf die Ebene der System-Konkurrenz in der Phase der traditionellen Hochkulturen und (3.) in der zivilisatorisch gezähmten Wiedereinführung der Konkurrenz in der Kultur der Moderne. In soziologischen Erklärungsversuchen für Probleme der Religionen kehrt auch die methodologisch umstrittene Frage wieder, ob bei der Erklärung soziokultureller Phänomene von der Ebene der Kollektive auszugehen sei (die Durkheim zugeschriebene Position20) oder von der Ebene der Individuen (die Max Weber zugeschriebene Position21). Dieser Streit macht in evolutionstheoretischer Perspektive wenig Sinn, weil hier gerade das Zusammenwirken von Faktoren beider Ebenen interessiert: Individuelle Organismen und Populationen von Organismen, die in einer bestimmten Umwelt miteinander verkehren und sich reproduzieren. Auch für eine Theorie der kulturellen Evolution sind beide Ebenen unverzichtbar und nicht aufeinander reduzierbar. Hier kommt als dynamisierendes Moment der Gebrauch symbolischer Kommunikationsmittel hinzu, der einerseits als kognitives Potential bei den Individuen verankert sein muss und andererseits emergente Strukturen der Sozialität ermöglicht, die beschränkend und entschränkend auf die Lebensbedingungen der Individuen zurückwirken. Dieser Zusammenhang muss den Individuen nicht bewußt sein, um darin handeln und erleben zu können. Allerdings spricht viel dafür, dass zunehmende Reflexivität – sowohl in Bezug auf die Individualität der Individuen wie auch im Bezug auf die (verborgenen) Strukturen ihrer Sozialität – zu den Merkmalen der kulturellen Entwicklung gehört. Dazu gehört auch die Reflexion über individuelle Religiosität und ihre kollektiven Formen. In vielen Untersuchungen über die historische Entwicklung der Religionen wird von einer zunehmenden Differenzierung zwischen ihrer Funktion für die Stabilisierung sozialer Ordnung und ihrer Funktion für die Kontingenzbewältigung im individuellen Lebenslauf gesprochen.22 Im Blick auf die Moderne wird gelegentlich sogar behauptet, dass die Funktion der Religion sich auf Letzteres - das individuelle Seelenheil - reduziere.23 Die lebensgeschichtliche Verankerung religiöser Motive bei den Individuen ist eine unabdingbare Voraussetzung für ihre grundlegende Funktion in der Evolution kultureller Sozialsysteme. Die generelle Annahme einer Dissoziation zwischen individuellen und kollektiven Funktionen ist evolutionstheoretisch unplausibel. Die Stabilisierungsleistung für Individuen muss in dieser Perspektive

4 als proximater Faktor, die eher latente Stabilisierungsfunktion für das Sozialsystem als ultimater Faktor bezeichnet werden.24 Nur unter dieser Voraussetzung ist zu erklären, warum in modernen Selbstbeschreibungen der Religionen die Unsicherheitsabsorption für Individuen25 im Vordergrund steht und nicht ihre Funktion für die Gesellschaft.26 Mit dem vorliegenden Beitrag ziele ich nicht auf die Entdeckung bisher unbekannter historisch-empirischer Gegebenheiten, sondern zunächst auf die theoretische Zusammenführung bisher konkurrierender Perspektiven: In Bezug auf Kulturtheorien ist das die evolutionäre Perspektive, in Bezug auf Evolutionstheorien ist es die Theorie der Gruppenevolution, in deren Rahmen Religion ein für die menschliche Kultur grundlegendes Moment darstellt (neben und vergleichbar nur mit Sprache). An dieser Stelle ist aber auch darauf hinzuweisen, dass es sich auf beiden Seiten dieser Synthese nicht um Mainstream-Positionen handelt: In der neodarwinistischen Tradition der Evolutionstheorie wird Gruppenselektion immer noch als Abweichung vom rechten Weg bekämpft.27 In der sozialwissenschaftlichen Tradition von Kulturtheorien wird ein evolutionstheoretischer Zugang immer noch als politisch unkorrekt abgelehnt.28 Viele Biologen betrachten religiöses Verhalten zwar als genetisch bedingt, jedoch nicht selbst als adaptiv sondern eher als Beiprodukt anderer adaptiver Errungenschaften.29 Diese Auffassung ist vermutlich motiviert durch die offensichtlich mangelhafte Adaptivität der Religionen unter den Bedingungen der Moderne. Stattdessen30 gehe ich hier in der Tradition der Durkheimschen Religionstheorie31 generell von der Adaptivität der Religion aus und versuche den Verlust ihrer adaptiven Vorteile aus den besonderen Bedingungen der Moderne zu erklären. Hier entsteht dann die Frage, ob diese Unangepasstheit der Religionen in der kulturellen Evolution sich noch einmal korrigieren lässt, wie mit der These von der Entstehung einer neuen „Zivilreligion“ im Kontext eines „Weltmarkts der Religionen“ unterstellt wird.32 Eine solche Entwicklung hätte historische Dimensionen, die nur mit dem Umbruch der religiösen Einstellungen und Praktiken von der Steinzeit zu den frühen Hochkulturen zu vergleichen wären.33 In sozialwissenschaftlicher Perspektive sehe ich meinen Beitrag im engeren Sinne an zwei Punkten: In der Erklärung der Problematik religiöser Konfliktverarbeitungstechniken in der Moderne als Folge der Globalisierung des soziokulturellen Binnenraums und in der Herausarbeitung evolutionärer Voraussetzungen, in denen sich der Möglichkeitsraum für andere Lösungen der Ordnungsprobleme der modernen Gesellschaft zeigt.34


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1.2 Von der postheroischen Moderne zurück zu den Ursprüngen menschlicher Religiosität Überall wo Leben ist, gibt es auch Konkurrenz und Konflikte um knappe Ressourcen.35 Aus dieser Beobachtung folgt keineswegs, dass individuelle Nutzemaximierung als das grundlegende Verhaltensmuster aller Lebewesen zu bezeichnen ist.36 Vielmehr lässt sich bereits in den Formen der Austragung von Konkurrenzkonflikten in der natürlichen Evolution beobachten, dass „egoistische“ und „altruistische“ Orientierungen in vielfältigen Formen koexistieren.37 Unter dem Aspekt der Konfliktaustragung wird mit Bezug auf die fortgeschrittensten Erscheinungsformen der modernen Gesellschaft auch von einem postheroischen Zeitalter gesprochen. Als heroisch gilt in dieser Hinsicht die Bereitschaft, individuelles Leben - eigenes und fremdes! - zugunsten der Erhaltung des eigenen Kollektivs zu opfern. Als postheroisch wird demgegenüber ein Verhalten bezeichnet, das sich am individuellen Vorteil orientiert und dafür bereit ist, sich den Regeln des friedlichen Wettbewerbs zu unterwerfen. Heroisches Verhalten wird durch religiöse u.a. Morallehren unterstützt, postheroisches Verhalten dagegen eher durch hedonistische Lehren, die ihre geistige Nahrung aus den Wohlstandsversprechen der modernen Wirtschaft ziehen. Die Gegenüberstellung dieser Verhaltensmuster ist als solche schon typisch modern und würde in tribalen, archaischen und traditionellen Formen der menschlichen Sozialität kaum verstanden werden. Andererseits ist zu erkennen, dass die Quellen des durch Negation des Heroismus - unterschiedenen Verhaltens tief in der Geschichte der menschlichen Art verankert sind. Im Hinblick auf ein tieferes Verständnis der Probleme der modernen Gesellschaft sollte es sich daher lohnen, die verschlungenen Pfade und Wechselwirkungen dieser Verhaltensmuster bis zu den Ursprüngen der menschlichen Kultur zurückzuverfolgen. Ein solches Programm kann hier aber nur in einer äußerst groben evolutionstheoretischen Skizze entworfen werden. Im folgenden Schema werden idealtypisch alternative Lösungen für Probleme sozialer Ordnung angedeutet, die in der kulturellen Evolution zwar historisch vielfältig kombiniert auftreten, aber auf kausal voneinander unabhängige Wirkungsketten zurückzuführen sind.38 Kooperations- und Konfliktbereitschaft sind in diesem Sinne als gleichursprünglich zu betrachten. So wäre im Folgenden zu zeigen, woher es kommt, dass in jeder sozialen Bindung schon Konfliktpotential, in jedem sozialen Konflikt aber auch Bindungspotential angelegt ist.

Natürliche Formen der Selektion Natürliche Konfliktmuster Natürliche Kooperationsmuster Kulturelle Formen der Selektion Kulturelle Bindungs- und Konfliktmuster

UmweltSelektion Konkurrenz um Überlebenschancen

Sexuelle Selektion Konkurrenz um Fortpflanzungschancen

Verwandtschaft

Reziprozität

Interne Unterdrückung und Externalisierung Opfer-Praktiken: Inklusion und Exklusion

Transformation in geregelten Wettbewerb Tausch-Praktiken: Freiheit und Gleichheit

Zu den auffälligsten Phänomenen im modernen Kulturbegriff gehört die Divergenz zwischen alltagssprachlichen Verwendungen, in denen Positivwertungen dominieren, und theoretisch reflektierten Aussagen, in denen der Begriff häufig in Verbindung gebracht wird mit Konfliktthemen. In evolutionstheoretischer Perspektive ist hier zunächst die alltagssprachliche Verwendung zu rehabilitieren. Die menschliche Kultur ist als Instrument der Befreiung vom Selektionsdruck der natürlichen Umwelt zu sehen. Kulturtheoretiker, die hierin primär Anlässe für Konflikte sehen, haben insofern nicht recht. Kultur ist nicht in erster Linie ein Instrument der Unterdrückung natürlicher Bedürfnisse, sondern ein Schutzschirm für deren Entfaltung.39 Andererseits ist nicht zu bestreiten, dass das soziokulturelle Gehäuse repressiv ist. Kulturtheoretiker, die auf grundlegende Konflikte in der menschlichen Sozialsystembildung abstellen, haben insofern auch recht. Denn in zweiter Linie ist zu erkennen, dass die Menschheit einen Preis für ihren sozialen Schutzschirm zu bezahlen hat, der sich in der internen Reproduktion des Selektionsdrucks zeigt (ein Preis, der in den Augen von Naturromantikern als zu hoch erscheint). Kultur ist demnach die Transformation der natürlicher Umweltselektion im Inneren menschlicher Sozialsysteme.40 Vor diesem Hintergrund ist die kulturelle Revolution der Moderne zu betrachten, mit der sich die theoretische Perspektive noch einmal ändert: Hier kommen Theorien über ein Unbehagen auf, das nicht primär auf soziale Repression und Selektionsdruck Bezug nimmt, sondern eher auf deren Lockerung und daraus resultierende Unsicherheiten. Dem Zeitgeist der Moderne entspricht es, dass Innovationen höher bewertet werden als Imitationen. Innovation erscheint als der Königsweg, um im Wettbewerb zu bestehen, Imitation als kostensparendes Verfahren, um nachzuziehen. In evolutionstheoretischer Perspektive ist jedoch zweierlei zu bedenken: Historisch sind die meisten Innovationen bis heute eher zufällig, ungeplant (und insofern auch ohne klar zurechenbare Kosten) zustandegekommen. In ontogenetischer Perspektive ist Imitation ein höchst aufwändiges und in entwickelter Form nur beim Menschen beobachtbares Verhalten. Nicht nur


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setzt jede echte Innovation bereits Nachahmung i.S. sozialer Tradierung voraus. Nachahmung selbst ist immer schon eine Innovation i.S. der Änderung des Eigenverhaltens im Anschluss an das Modellverhalten Anderer. Für die folgende Argumentation ist es von grundlegender Bedeutung, dass Nachahmung nicht nur die latente (deshalb häufig unterschätzte) Voraussetzung aller Innovationen ist, sondern auch das wichtigste Medium der Reproduktion und Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme.41 Nachahmung ist das kulturellsymbolische Pendant zur Replikation der Gene in Populationen lebender Organismen.42 Das menschliche Potential zur Nachahmung ist immer schon kooperativ und kompetitiv zugleich. Als Konkurrenzverhalten bildet es für jedes Sozialsystem einen potentiellen Sprengsatz.43 Durch Nachahmung entstehen die Netze, aus denen kulturelle Sozialsysteme gewebt sind und zugleich die symbolischen Markierungen, mit denen sie sich voneinander abgrenzen. Die kulturelle Ambivalenz der Religionen ist letztlich in Prozessen der Nachahmung verankert. Im Hinblick auf ein tiefergehendes Verständnis dieser Phänomene ist zunächst zu unterscheiden zwischen historischen Konstellationen, in denen Religion als restabilisierendes Moment eines sozialen Organismus fungierte, der jeweils als Einheit mit anderen Sozialsystemen konkurrierte, und der modernen Konstellation, in der mehrere Religionen, die ursprünglich aus territorial verschiedenen Sozialsystemen stammen, in einem global vernetzten Superorganismus miteinander konkurrieren. Religion ist ein Phänomen, das nur bei menschlichen Lebewesen vorkommt. Seine Ursachen müssen daher in der Anthropogenese, den natürlichen Bedingungen der soziokulturellen Evolution des Menschen gesucht werden.44 Die Suche nach einer genetischen Disposition für religiöses Verhalten kann jedoch zu keiner zureichenden Erklärung führen.45 In soziologischer Perspektive sind vor allem Phänomene der sozialen Systembildung – diesseits und jenseits der natürlichen Verwandtschaftsgruppe – und das Zusammenwirken von Mechanismen der natürlichen Umweltselektion und der sexuellen Selektion in diesem Zusammenhang zu untersuchen. Dass der tief in der Naturgeschichte verankerte Mechanismus der sexuellen Selektion auch zur Erklärung vieler kultureller Phänomene beim Menschen herangezogen werden kann, ist heute weithin anerkannt.46 Weniger anerkannt ist der Umstand, dass die sexuelle Selektion ihr kulturelles Potential erst unter dem Schutzschirm sozialer Systembildungen entfalten konnte.47 Zum Verständnis kultureller Phänomene (insbesondere der Sprache) gehört eine Theorie der Gruppenevolution48, die geeignet ist, Verlagerungen des Konkurrenzdrucks von den Individuen auf ihre Sozialsysteme zu erklären.49 Die evolutionären Vorteile, die sich aus der Schließung der Gruppe und der Bildung eines soziokulturellen Gehäuses50 gegenüber dem Selektions-

6 druck der natürlichen Umwelt (einschließlich um dieselben Ressourcen konkurrierender Gruppen der gleichen Art) ergeben, sind grundlegend für das Verständnis der Form und Funktion religiöser Phänomene.51 Damit sind zugleich Möglichkeitsbedingungen für verfeinerte Verkehrsformen im Selbst- und Fremdbezug menschlicher Sozialsysteme bezeichnet, die der einseitigen Sicht auf Gewalt in der Konstitution menschlicher Sozialsysteme entgegenstehen.52 Dass nicht nur die Starken überleben, sondern auch die Schwachen Schutz genießen, muss als grundlegendes Merkmal der soziokulturellen Evolution verstanden werden, das bereits in den natürlichen Formen der Gruppenevolution verankert ist. In Bezug auf Phänomene der Gruppenevolution gibt es auch in der darwinistischen Theorietradition einen andauernden Streit zwischen dualistischen Ansätzen und Solchen, die die Kontinuität zwischen natürlicher und kultureller Evolution herausstellen. Während Diejenigen, die den Menschen primär als Träger „egoistischer“ Gene beschreiben, die sozialen Züge der menschlichen Natur nicht angemessen (sondern nur dualistisch als kulturellen Austritt des Menschen aus der Natur) fassen können, fehlt bei Denjenigen, die den Menschen primär als „geselliges Tier“ beschreiben, häufig das Verständnis für die aggressiven Züge des Menschen. Moralität erscheint so bei den Einen immer nur als eine dünne Firnis, die durch kulturelle Erziehung, oder als Zuckerguss, der durch situativen Opportunismus über im Grunde antisoziale Verhaltensmuster gelegt wird. Bei den Anderen erscheint Moralität immer nur als empathisches und sympathisches Sozialverhalten und nicht mit ihrer ambivalenten Kehrseite, die in den sozial motivierten Konflikten mit konkurrierenden Gruppen zum Ausdruck kommt. Eine Mehrebenen-Theorie der Selektion53 wird benötigt, um zu erkennen, dass unsere natürliche Erbschaft mit den sozialen Bindekräften zugleich ein hohes Konfliktpotential einschließt.54 Nach Alexander kann sowohl die unwahrscheinliche Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme wie auch die unwahrscheinliche Entfaltung moralischer Orientierungen bei Menschen am besten durch den Selektionsdruck von Konflikten zwischen menschlichen Gruppen erklärt werden.55 Ein wesentlicher Bestandteil aller Formen der sozialen Gruppenevolution ist die Transformation von Formen der Überlebenskonkurrenz nach dem Muster der Umweltselektion in Formen der Fortpflanzungskonkurrenz nach dem Muster sexueller Selektion.56 Überlebenskonkurrenz findet zwischen allen Lebewesen statt, die in einer gegebenen Umwelt um dieselben Ressourcen kämpfen. Die Form ihrer Austragung ist daher nicht – oder nur soweit sie unter artgleichen Individuen stattfindet – geregelt. Die Fortpflanzungskonkurrenz findet nur unter artgleichen Individuen innerhalb einer Fortpflanzungsgemeinschaft statt. Sie ist daher durch genetisch und kulturell vererbte Dispositionen geregelt. Die


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kulturell erweiterten Regeln dieser Selektion werden im Folgenden ausführlicher zu betrachten sein. Die evolutionäre Errungenschaft der sexuellen Selektion wird primär mit ihrer Funktion der Durchmischung des Genpools zur besseren Abwehr von Infektionskrankheiten in einer Population erklärt.57 Um diese Funktion zu erfüllen, mussten auf der Ebene der Individuen Verhaltensmuster verankert werden, in denen eine Präferenz für andersartiges Erbgut zum Tragen kommt. Insofern kann der Mechanismus sexueller Selektion als natürliche Grundlage für die Bereitschaft zur Verbindung mit Fremdem – gewissermaßen als Gegengift zu der ebenfalls in der natürlichen Evolution (der primordialen Gruppenbildung) angelegten Fremdenfeindlichkeit – angesehen werden.58 Die soziokulturelle Evolution begünstigt und reproduziert bei den menschlichen Lebewesen zwei verschiedene Verhaltensmuster: Eines für die Innenbeziehungen, die Kooperationsformen im Schutz- und Schonraum der Gruppe, und eines für die Außenbeziehungen, die aus dem Innenraum nach Außen verlegten Formen der Konkurrenz der Gruppen (artgleicher und anderer Lebewesen) um knappe Ressourcen in einer geteilten Umwelt. Die zwiespältige Bedeutung der Religion soll im Folgenden aus ihrer Stellung zwischen dem äußeren Selektionsdruck natürlicher Umwelten und der internen (primordial sexuellen) Selektivität sozialer Umwelten erklärt werden. Im Vordergrund vieler kultur- und sozialwissenschaflichen Untersuchungen religiöser Phänomene steht – die Ambivalenzen verharmlosend – deren Bedeutung für die Individuen (ihr Seelenheil). Die soziale Funktion der Religion wird mit der individuellen Sinnsuche so eng verknüpft, dass deren grundlegende Bedeutung für soziale Systembildung gar nicht mehr in der Blick kommt. Diese Blindheit lässt sich damit erklären, dass die unangenehmen Aspekte der religiösen Wirkungsmacht in der modernen Gesellschaft weitgehend auf das staatliche Gewaltmonopol und das positive Recht übergegangen sind. So können sich die positiv erbaulichen Aspekte der religiösen Tradition scheinbar ohne ihre negativ gewaltbereite Seite entfalten.59 In evolutionstheoretischer Perspektive ist es jedoch zwingend, die individuellen und die sozialen Aspekte der Religion als zwei Seiten eines Wirkungszusammenhangs zu betrachten.60 Die Vorzüge der Religion für die individuelle Sinnorientierung sind als proximate Faktoren auf die ultimate Funktion der Stabilisierung soziokultureller Systeme zu beziehen.61 Die Heilung des sozialen Bandes hängt eben daran, dass die Heilsbotschaft sich nicht nur an Alle richtet, sondern auch jedem Einzelnen etwas zu bieten hat. Diese Motivationsebene (einschließlich aller damit verknüpften mystischen Erlebnisse) vorausgesetzt muss die soziale Funktion der Religion in Techniken der Konfliktverarbeitung gesehen werden.

7 1.3 Mikro- und Makrophänomene der Religiosität Wer Religion als natürliches Phänomen betrachtet, denkt vor allem an Emotionen, die Menschen miteinander - und eventuell darüberhinaus mit dem ganzen Kosmos - verbinden. Eine solche Sichtweise, die sich auf die enorme Vielfalt religiöser Erfahrungen stützen kann, ist heute sehr verbreitet. Die subjektive Erfahrung auf der Mikroebene der Individuen wird häufig sogar als einzige substantielle Beschreibung religiöser Phänomene akzeptiert. Religiosität erscheint in dieser Perspektive primär in Sozialisationsprozessen verankert. Sie lässt sich verknüpfen mit der empirischen Beobachtung der Nützlichkeit religiöser Einstellungen sowohl für das psychische Befinden der Einzelnen (mehr Gesundheit) wie auch für die jeweilige Gemeinschaft (mehr Altruismus, höhere Fortpflanzungsbereitschaft).62 Diese Sichtweise passt auch zu der modernen Auffassung, wonach Religion als Privatangelegenheit der Individuen zu behandeln sei. Eine solche (mikroskopische) Sicht auf Phänomene der Religion steht allerdings im Widerspruch zur soziologischen Theorietradition, in der Religion als objektivsoziales Phänomen und (eher makroskopisch) durch ihre Funktion für die Gesellschaft definiert wird. Dieser Widerspruch lässt sich jedoch auflösen, wenn man die Perspektive evolutionstheoretisch und paläontologisch erweitert. Dann kann man sehen, dass die auf der Mikroebene beobachtbaren religiösen Dispositionen zu den Makrostrukturen steinzeitlicher Gesellschaften passen. Sie lassen sich als natürliche Erbschaft aus der längsten Phase der Menschheitsgeschichte interpretieren. Was auf der Mikroebene der Individuen in religiöser Einstellung als eine von Außen kommende Inspiration erscheint, ist in der funktionalistischen Theorietradition als Wirkung der Gesellschaft gedeutet worden. Durkheim hat sich mit den Mitteln der Ethnologie von den vielfältig verschiedenen Selbstbeschreibungen traditioneller Hochreligionen distanziert und in den religiösen Praktiken australischer Stammesgesellschaften die elementaren Bindekräfte menschlicher Sozialität gesehen. In dieser Perspektive stellt auch die zunehmende Lockerung aller Gruppenbindungen in der Moderne kein Hindernis für die Verortung des Religiösen auf der Makroebene der Gesellschaft dar. Für Durkheim enthält der moderne Individualismus alle Voraussetzungen für einen religiösen Gemeinschaftskult. Diese Interpretation lässt sich nun zwanglos mit einer evolutionstheoretischen verbinden. Mikro- und Makroaspekte der Religiosität können darin als proximate und ultimate Faktoren der Erklärung verbunden werden (Tinbergen).63 Das auffälligste Phänomen der menschlichen Sozialität auf der Makroebene ist die - im Vergleich zu allen anderen Lebewesen - enorme Ausdehnung ihrer Sozialsysteme. Diese Ausdehnung wird im Innenverhältnis


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mit den Mitteln symbolischer Kommunikation gewährleistet. Hier ist zwischen räumlichen und zeitlichen Aspekten der Ausdehnung zu unterscheiden: In räumlicher Hinsicht erweitern die symbolischen Kommunikationsmittel den Schutzschirm der Gesellschaft für wachsende Populationsgrößen. Deshalb enthält kulturelle Evolution immer schon eine Distanzierung vom Selektionsdruck der natürlichen Umwelt. In zeitlicher Hinsicht erweitern die symbolischen Kommunikationsmittel den Wissensvorrat, der von Generation zu Generation tradiert wird. Deshalb verläuft kulturelle Evolution soviel schneller und variationsanfälliger als im Modus der Replikation genetischer Informationen. Jede Erweiterung der Sozialsysteme auf der Makroebene wird auf der Mikroebene der Individuen als Destabilisierung gewohnter Ordnung erlebt, die mit sozialen Konflikten und Anpassungszwängen einhergeht. Hier liegt das Problem, auf das mit den Mitteln der Religion eine Lösung gesucht wird. Beschreibungen, die nur am subjektiven Erleben von Religiosität auf der Mikroebene ansetzen, machen sich blind für die Ambivalenz der Konfliktverarbeitungstechniken, die mit der religiösen Regulierung sozialer Inklusion und Exklusion verbunden ist. 1.4 Der Mechanismus der Konfliktexternalisierung Die zentrale Funktion der Religion ist demnach zu erkennen in der Restabilisierung sozialer Ordnung in Folge der Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme in der kulturellen Evolution. Soziale Ordnung wird durch Differenzierung ermöglicht. Die Restabilisierungsfunktion der Religion hat es deshalb mit der Vermeidung von Ordnungsproblemen durch Befestigung von Unterscheidungen zu tun. In erster Linie (primordial) geht es dabei um die soziale Systembildung selbst (den Schutzschirm der Gruppe) und in zweiter Linie um die Binnendifferenzierung sozialer Systeme (den Schutzschirm von Teilsystemen innerhalb der Gesellschaft). Es geht also darum, Differenzen mit symbolischen Mitteln zu stabilisieren, indem sie zu unhinterfragbaren Prämissen der Kommunikation werden. Die Stabilisierungsfunktion der Religion ist selbst schon im (vor- und außersprachlichen) Gebrauch symbolischer Kommunikationsmittel verankert. Jeder Zeichengebrauch impliziert schon eine Doppelfunktion: die Zurechnung zur eigenen Gruppe, die diese Zeichen versteht, und die Abgrenzung von Anderen. Die Markierung von Zugehörigkeit und Abgrenzung ist eine adaptive Errungenschaft der Gruppenevolution. Die Divergenz zwischen ingroup- und outgroup-Verhalten ist keine Erfindung der Religionen, sondern ein tief in der Naturgeschichte verankerter Mechanismus64, der in der soziokulturellen Evolution mit symbolischen Mitteln aufgenommen und zum Kernbestandteil religiöser Praktiken und Lehren geworden ist.65 Der hiermit umrissene Wirkungszusammenhang kann als Mechanis-

mus der Konfliktexternalisierung beschrieben werden.66 Die Wirkung dieses Mechanismus beruht auf Negativselektionen (Auslöschungs- und Verlagerungsoperationen) in der Entstehung und Reproduktion kultureller Sozialsysteme. Die Wirkungsweise ist auf drei Ebenen67 zu beobachten: 1. auf der (in dieser Hinsicht grundlegenden) Makroebene die Grenzziehung zwischen Innen und Außen (anhand von symbolischen Markierungen der Zugehörigkeit68) und die Austragung von externen Konkurrenzkonflikten durch altruistische Selbstaufopferung („Heilige Kriege“),69 2. auf der Mikroebene der Interaktion unter den individuellen Teilnehmern die Pazifizierung interner Konkurrenzkonflikte durch Sakralopfer70 - Austreibung des Konfliktpotentials durch willkürliche Bestrafung von Abweichenden71 („Sündenböcke“), 72 3. auf einer (Mikro- und Makroebene symbolisch übergreifenden) Meta-Ebene die Auslagerung der Handlungsverantwortung (für die aktive Beseitigung von Konkurrenzkonflikten und das passive Erleiden von Opfern für die Gemeinschaft) auf übernatürliche Wesen („Gottheiten“).73 Da die beiden zuerst genannten Operationen nicht nur im Kontext explizit als religiös ausgewiesener Praktiken und Lehren vorkommen,74 kann bestritten werden, dass der Mechanismus der Konfliktexternalisierung75 zum funktionalen Kern von Religionen gehört.76 In erster Näherung genügt es aber zu zeigen, dass diese Konfliktverarbeitungspraktiken in allen Religionen vorkommen, um sie als funktional i.S. einer adaptiven Errungenschaft der kulturellen Evolution auszuweisen.77 Um nicht einem funktionalistischen Fehlschluss zu erliegen, muss die Wirkungsweise des Mechanismus historisch spezifiziert werden. Dies soll im Folgenden wenigstens in groben Schritten erfolgen. In stark vereinfachter Form lässt sich der historische Entwicklungspfad in einem Fünfsufenschema78 umreissen: Organisation

Konfliktverarbeitung

tribal

vorschriftlich

segmentär, nonkephal

Frauen- und Gabentausch, Gemeinschaftsrituale, Opfergaben an Verstorbene

archaisch

vorschriftlich

segmentär, kephal

Gemeinschaftskulte und polytheistische Opfergaben

traditionell

schriftlich

stratifikatorisch, imperialstaatlich,

Zurückdrängung der Opferkulte, monotheistische Priesterherrschaft

neuzeitlich

Buchdruck,

funktional, national-

Säkularisierte Opferpraktiken, Priva-

Sozialität

Medien


kg (Dez. 2010ff): Skizzen über Religion – 1. Einleitung

gegenwärtig

Zeitung

staatlich

tisierung der Religionen

Funk, TV, Internet

funktional, transnational-staatlich

Virulenz der Opferpraktiken, Zivilisierung der Religionen

Die hier umrissene Entwicklung der Opferpraktiken ist nicht als substitutive Abfolge aufzufassen, da die historischen Verwendungsformen des Konfliktexternalisierungsmechanismus heute auch nebeneinander existieren und miteinander in Konflikt geraten. In allen historischen Erscheinungsformen geht es um Lösungsangebote für das Problem der unberechenbaren Kontingenz und Gewaltsamkeit sozialer Interaktionen, in denen Konkurrenzkonflikte ausgetragen werden.79 Der für die folgende Untersuchung wichtigste Aspekt ist die Verlagerung von Konflikten in die Außenwelt jenseits der Grenzen des eigenen Sozialsystems – denn es ist primär dieser Teil des Mechanismus, der unter den Bedingungen der globalen Ausdehnung des Sozialsystems seine adaptive Funktion verliert und für den Alternativen im interreligiösen Austausch gesucht werden.80 Die Externalisierung interner Konflikte durch Sakralopfer ist schon im Übergang zu den Hochkulturen (der sogenannten Achsenzeit81) problematisch geworden und aus den Hochreligionen verbannt worden. Gerade dieser im Mikroverhalten fundierte Aspekt des religiösen Externalisierungsmechanismus kehrt aber in regressiver Form – als soziale Sündenbock-Konstruktion – in vielerlei Gestalten, so auch in den säkularen Heilslehren des 20. Jh. – immer wieder. Der unter dem Aspekt der Selbsterhaltung religiöser Sinnsysteme am wenigsten zur Disposition stehende Teil des Externalisierungsmechanismus ist die Projektion der menschlichen Handlungsverantwortung auf übernatürliche Wesen.82 Nach Durkheim ist dieses übernatürliche Wesen die menschliche Gesellschaft selbst.83 Die hinter den Dingen wirkende Macht der Götter ist Ausdruck der Macht, die die emergente Struktur der menschlichen Gesellschaft mit ihren symbolischen Mitteln und Traditionen über die Individuen hat.84 Je komplexer die Sozialsysteme desto stärker transzendieren kollektive Formen der Intentionalität jene Intentionen, die auf der Ebene der Interaktion unter Individuen zum Tragen kommen. Es geht hier allerdings nicht primär um kognitive Probleme, die dadurch gelöst werden, dass den unfassbaren Wirkungen kollektiver Intentionalität fassbare Namen gegeben werden, sondern um die Lösung sozialer Probleme, indem Konkurrenzkonflikte unter Berufung auf höhere Instanzen gelöst werden.85 Auch in dieser Hinsicht sind im Prozess der kulturellen Evolution sukzessive Einschränkungen des Externalisierungsmechanismus vollzogen worden – so im europäischen Kontext in der frühen Neuzeit durch die Beto-

9 nung der individuellen Gewissensentscheidung (Reformation). Zugleich sind aber mit der symbolisch verschärften Bifurkation zwischen sakraler und profaner Sphäre immer höhere Barrieren für weitere Anpassungen errichtet worden. Um die Fehladaptiertheit dieses Teils des Mechanismus unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft aufzuzeigen, genügt es nicht, die Auflösung der Innen-Außen-Differenz durch globale Ausdehnung der Sozialsysteme zu betrachten. In dieser Hinsicht sind komplementär die Folgeprobleme gesteigerter Binnendifferenzierung zu betrachten, die kognitiv nur mit einer gesteigerten Selbstverantwortung der Individuen verarbeitet werden können.86

1.5 Religion und Sprache als symbolisch-diabolische Kommunikationsmittel Kulturelle Evolution soll hier als eine Sonderfom der natürlichen Evolution betrachtet werden, in der sich Anpassungsprozesse nicht genetisch sondern symbolisch (im Medium von Sinn und daher ungleich rascher als in der natürlichen Evolution) vollziehen. In einem ersten Schritt soll deshalb auf die Formen und Mittel der Kommunikation Bezug genommen werden, die als Unterscheidungsmerkmal der Sozialsysteme von Menschen und der anderer Lebewesen gelten. Dass Menschen sich mit Lauten sprachlich verständigen können, ist nicht nur auffällig im Vergleich mit ihren nächsten Verwandten unter den Hominiden, sondern auch besonders folgenreich für die Herausbildung ihrer (über)großen und intern differenzierten Sozialsysteme. In Abgrenzung zu einer Vielzahl älterer Sprachentstehungstheorien hat Tomasello in seinen vielbeachteten Studien87 zum Vergleich der kommunikativen Kompetenzentwicklung bei Schimpansen und menschlichen Kleinkindern zweierlei gezeigt: Zum Einen, dass die Evolution kommunikativer Fähigkeiten bei den Hominiden nicht mit der Lautsprache, sondern mit der Zeichensprache beginnt88, und zum Anderen, dass im Übergang von der Zeichensprache zur Lautsprache jene kognitiven Fähigkeiten zur Nachahmung zu beobachten sind, die die kulturelle Sonderevolution menschlicher Sozialsysteme überhaupt erst möglich machen: die wechselseitige Wahrnehmung von Intentionen und die Ausbildung einer sozial geteilten Intentionalität.89 Sprache und Religion weisen viele ähnliche Merkmale auf, die auf ihre grundlegende Funktion für die Bildung menschlicher Sozialsysteme verweisen.90 Zunächst fällt auf, dass Vorformen religiöser und sprachlicher Phänomene bereits im Tier-Mensch-Übergang verortet werden und zwar an relativ früher Stelle, zugleich aber so, dass bei nichtmenschlichen Primaten vergleichbare Kompetenzen nur in wenig entwickelter Form zu beobachten sind. Das spricht dafür, dass es sich bei Religion und Sprache gleichermaßen um symbolische Kommunikationsmittel handelt, die den Übergang zu


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kulturellen Sozialsystemen markieren. Es handelt sich natürlich nicht um die einzigen symbolisch generalisierten Medien, die in der menschlichen Kultur zur Wirkung kommen, aber doch um die einzigen, an denen schon zu Beginn der menschlichen Kulturentwicklung oder zumindest in einem sehr frühen Stadium verschiedenartige Funktionen erkennbar werden.91 Wenn der religiösen Kommunikation eine eigenständige Funktion zukommt, dann müsste sich zeigen lassen, dass diese auch unabhängig von sprachlichen Formen zum Ausdruck kommen kann. Für die Beobachtung entsprechender Fomen bedarf es zunächst keiner paläontologischen Forschung, da nichtsprachliche Formen der Wahrnehmung (Bilder und Töne) und Kommunikation (Gesten und Laute) zum Bestand der heutigen Gesellschaft zählen.92 Zu den symbolischen Orientierungen für die ein sprachlich konstituierter Sinnhorizont nicht nötig ist, gehört zum Einen die akustische Dimension des menschlichen Wahrnehmungshorizonts und seine Verwendung in rhythmisierten Formen der Interaktion. Dazu gehört zum anderen – schon über die Formen der Interaktion unter Anwesenden hinausweisend – die kommunikative Verwendung von Zeichen, die sich auf eine bildhafte Erweiterung des gedächtnisgestützten Wahrnehmungshorizonts in der Raumdimension (Anwesende/Abwesende) und in der Zeitdimension (Vergangenheit/Zukunft) stützen. Vieles spricht dafür, dass die Funktion der Religion sich auf eine ältere – der Entwicklung des symbolischen Sprachgebrauchs vorhergehende – Schicht des menschlichen Kommunikationspotentials stützt. Hinweise auf eine kausal unabhängige Entwicklung religiöser Orientierungen lassen sich aus der Beobachtung von Protostrukturen der Kommunikation in imperativen Gesten ableiten.93 Die religiösen Gemeinschaftspraktiken zeigen vielerlei Ähnlichkeit mit dieser Art von Kommunikation.94 Hinzu kommt der Bezug auf die Handlungsintentionen Abwesender (Verstorbene, Götter) und die Entwicklung von Maßnahmen gegen soziale Abweichung in der Form von Ritualen und Opferkulten. Die ursprünglich starke und untergründig persistierende Bedeutung der vorsprachlichen Kommunikation für religiöse Orientierungen kommt negativ auch in den Bilder- und Musik-Verboten der Hochreligionen noch zum Ausdruck, die sich dann auf eine (durch Priesterschaft hierarchisch vermittelte) Auslegung heiliger Schriften stützen. Sprachen und Religionen weisen ähnliche Verbreitungsmuster und sowohl universelle (also vermutlich genetisch verankerte) Merkmale wie auch große kulturspezifische Unterschiede auf. Auf der einen Seite fällt auf, dass es mt den außersprachlichen Formen der Kommunikation (etwa in Formen der bildenden Kunst und der Musik95) viel leichter als mit sprachlichen Formen gelingt, die Grenzen soziokultureller Populationen zu überspringen. Auf der anderen Seite ist zu beobachten, dass Sprache die Unterschiede kultureller Populati-

10 onen unter ihren jeweiligen Umweltbedingungen eher passiv zum Ausdruck bringt. Sie fungiert nur als Medium und Merkmalsträger der Unterschiede, legt also nicht zwingend auf Abgrenzung fest.96 Religion zeigt darüberhinaus ein aktives Potential zur Ausbreitung des eigenen Symbolsystems, also nicht nur zur Unterscheidung und Abgrenzung von Anderen, sondern auch zu deren aggressiver Eliminierung. Hier ist also zu unterscheiden zwischen dem sozialen Erweiterungspotential, das in der menschlichen Sprache allgemein97 auf der Grundlage von individuellem Gedächtnipotential angelegt ist, und den symbolischen Markierungen, die anstelle der Markierung von Gruppengrenzen in der natürlichen Evolution treten.98 Solche vor- und protosprachlichen Markierungen sind bereits in der HominidenEntwicklung aufgetreten. Sie markieren bis heute eine grundlegende Differenz zwischen sprachlichen und religiösen Formen der Kommunikation.99 Im Rahmen einer Theorie der sozialen Gruppenevolution muss zwischen den durch äußeren Selektionsdruck ausgelösten Verhaltensmustern der Konkurrenz und den im Inneren der Sozialsysteme ermöglichten Verhaltensmustern der Kooperation unterschieden werden. Damit wird eine weitere Lesart der Beschreibungen Tomasellos möglich.100 Die von Tomasello beobachteten Fähigkeiten zur empathischen Nachahmung,101 die sich in den symbolischen Formen der Kommunikation entfalten, können als Produkte der sexuellen Selektion im Inneren der Sozialsysteme aufgefasst werden. Zeigegesten entfalten ein anderes Verhaltensmuster, eine andere Beziehungslogik102 als sprachliche Symbole: bei Ersteren dominiert der Sender, bei Letzteren der Empfänger.103 Charakteristisch für jede Form der symbolischen Kommunikation ist der Umstand, dass sie erst durch eine Selektion des Verstehens zustandekommt, die sich der Steuerungsmacht Derjenigen entzieht, die sie durch eine Mitteilung eingeleitet haben. Insofern liegt im Gebrauch der Sprache immer schon ein Gewaltverzicht.104 Symbolisch generalisierte Formen der Kommunikation vollziehen sich nach einem Muster, das die Anerkennung der (körperlichen und geistigen) Integrität des Anderen immer schon voraussetzt. Es hat seinen natürlichen Ursprung in den Formen der sexuellen Selektion.105 Dies festzuhalten ist nicht trivial, weil die der vorsprachlichen Kommunikation (durch Gesten und Laute) entsprechenden imperativen und alarmierenden Verhaltensmuster innerhalb der kulturellen Evolution nicht verschwinden, sondern mit den elaborierteren Formen der symbolischen Kommunikation konkurrieren und in bestimmten Situationen immer wieder dominant werden.106 Zu den interessantesten Ausführungen bei Tomasello gehört die Frage, warum es so viele verschiedene Sprachen und nicht nur eine Sprache der Menschheit auf dem Planeten gibt. Dieselbe Frage und dieselbe Antwort ließe sich in Bezug auf die Vielfalt der Religionen formulieren.107 Hier ist also eine strukturell analoge


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Funktion zu beobachten.108 Tomasello führt dies zunächst auf die raum-zeitlich lokalisierten Mechanismen der Konventionalisierung im Sprachgebrauch zurück.109 Erst am Ende zieht er auch in Betracht, dass dabei ein (im genetischen Erbe verankerter) Mechanismus der sozialen Abgrenzung eine Rolle spielen könnte.110 In dem Diskriminierungsmechanismus der Sprache wird die Kehrseite der zivilisatorischen Domestikation erkennbar: ihr „diabolisches“ Potential, das in den Religionen zugleich gepflegt und verdammt wird. Die Genese religiöser Verhaltensweisen ist mit der (imperativ-kooperativen) Doppelstruktur der menschlichen Kommunikation eng verbunden.111 Auf der einen Seite ist die Idee einer transzendenten Wirkungsmacht gar nicht denkbar ohne die Erweiterung des kognitiven Horizonts – die Transzendierung der Eins-zu-EinsBeziehung auf die Welt – mit den Mitteln symbolisch generalisierter Kommunikation. Auf der anderen Seite ist der religiöse Bezug auf das Wirken unsichtbarer Kräfte – etwa im Totenkult der Stammesgesellschaften – auch ein Ausdruck für die andauernde Gefährdung der durch symbolische Formen der Kommunikation konstituierten Sozialwelt durch innere und äußere Bedrohungen. Die religiösen Symbole und Praktiken selbst sind imprägniert von dieser Gefahr und reproduzieren deshalb laufend die Differenz zwischen den im Inneren entfalteten kooperativen Strukturen und den zum Schutz vor äußeren Gefahren aufgebauten imperativen Strukturen. Um die spezifische Funktion der Religion in menschlichen Sozialsystemen zu klären, ist also erneut auf ihre vermittelnde Stellung zwischen äußerem und innerem Selektionsdruck zu rekurrieren. Die Wahrnehmung von Manifestationen der menschlichen Kultur findet stets in der jeweiligen Gegenwart der Rezipienten statt. Die Rezeption ist ein Produkt aus aktueller Situationswahrnehmung und einem symbolsprachlich vermittelten Interpretationsrahmen, den die Rezipienten sich lebensgeschichtlich angeeignet und in dem sie ihre Wahrnehmung sozialisiert haben. Die evolutionäre Errungenschaft der menschlichen Sprache ermöglicht die Ablösung der Wahrnehmung von der Eins-zu-Eins-Beziehung auf ihre jeweilige Situation durch Abgleich der gegenwärtigen Wahrnehmung mit vergangenen Erfahrungen – einschließlich solcher, die in der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft als überlieferungsrelevant ausgezeichnet worden sind. Der Vergleich gegenwärtiger mit vergangenen Erfahrungen öffnet den Horizont der menschlichen Wahrnehmung für neue, noch nicht gemachte Erfahrungen – einschließlich kontrafaktischer Erwartungen (Kritikpotential) und der symbolischen Darstellung nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände (Abstraktionspotential).112 Das kognitive Potential symbolsprachlicher Kommunikation wird kulturell gesteigert – und zugleich gegenüber den Lebensprozessen der Individuen verselbständigt – durch technisch erweiterte Kommunikationsmit-

11 tel. Während der Umbruch von den archaischen zu den traditionellen Hochkulturen durch den Schriftgebrauch einer Herrschaftselite gekennzeichnet ist, erscheint der Umbruch zur Moderne, der sich mit der Verallgemeinerung des Schriftgebrauchs ankündigt113, gekennzeichnet durch die Wiedereinführung auditiver und visueller Darstellungsmittel, die sich in rascher Folge technischer Innovationen vom Buchdruck über Film, Funk und elektronische Netze vollziehen. Jede dieser Innovationen verändert die menschliche Wahrnehmung und das darin angelegte Verhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie stoßen deshalb in den jeweiligen Kommunikationsgemeinschaften (in ihrer kulturellen Tradition) auf je verschiedenartige Voraussetzungen ihrer Durchsetzung. Es spricht Vieles dafür, dass in der Moderne die Kommunikation selbst zum Objekt religiöser Einstellungen wird. Die Moderne kehrt damit in gewisser Weise zu den Anfängen der menschlichen Kultur zurück – allerdings nicht i.S. der Wiederherstellung einer ursprünglichen Einheit sondern eher i.S. eines verstärkten Auseinandertretens von Religion und Sprache.114 Dieser Aspekt der kulturellen Evolution soll in den Kap.4-5 mit Bezug auf neue Formen der Religiosität in der Moderne wieder aufgenommen werden. Im Hinblick auf ein tiefergehendes Verständnis religiöser Phänomene ist jedoch zunächst zu unterscheiden zwischen historischen Konstellationen, in denen Religion als restabilisierendes Moment eines sozialen Organismus fungierte, der jeweils als Einheit mit anderen Sozialsystemen konkurrierte (Kap.2-3) und der modernen Konstellation, in der mehrere Religionen, die ursprünglich aus territorial verschiedenen Sozialsystemen stammen, in einem global vernetzten Superorganismus miteinander konkurrieren.


kg (Dez. 2010): Skizzen über Religion – 2. Tribale Gesellschaften

Kapitel 2: Tribale Gesellschaften115 Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Castrationen), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Culte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) … Friedrich Nietzsche, 1887, Zur Genealogie der Moral

Die längste Phase in der Evolution menschlicher Sozialsysteme ist bestimmt durch religiöse Praktiken, die sich auf die symbolische Befestigung von vier Unterscheidungen beziehen: (1.) die Abgrenzung zwischen Angehörigen und Fremden (2.) die Abstammung zwischen Lebenden und Verstorbenen (3.) die Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern und (4.) die Wissenstradierung zwischen Alten und Jungen. Die strenge Regulierung der elementaren Verwandtschaftsbeziehungen, also der Beziehungen zwischen Individuen verschiedenen Geschlechts und verschiedener Generation gehört zu den auffälligsten Phänomenen, die uns über das Leben in einfachen (vorschriftlichen, nichtstaatlichen) Gesellschaften mitgeteilt werden.116 2.2 Die grundlegende Bedeutung religiöser Konfliktvermeidungstechniken Große Teile der modernen Literatur seit dem 18. Jahrhundert sind durchzogen von der romantischen Vorstellung, wonach das Leben in den einfachen und frühen Sozialformen der Menschheitsgeschichte friedlich und konfliktfrei organisiert gewesen sei.117 Neuere Studien zeigen, dass eher das Gegenteil der Fall ist: Je weiter wir in die Geschichte zurückblicken, desto höher ist der Anteil an kriegerischen Konflikten und der Anteil der (v.a. männlichen) Bevölkerung, der diesen Konflikten zum Opfer gefallen ist. Krieg ist in den vorstaatlich organisierten Gesellschaften kein Ausnahmezustand sondern die Regel gewesen.118 Der Kriegszustand ist deshalb sogar als Quelle der menschlichen Moralentwicklung bezeichnet worden.119 Dies ist zumindest für jene Tugenden plausibel, die in der Bereitschaft zur altruistischen Aufopferung für die jeweilige Gemeinschaft zum Ausdruck kommen – und das sind nicht gerade die friedlichen Verhaltensweisen. Tatsächlich gibt es gute Gründe für die Annahme, dass die menschliche Moralentwicklung von Anfang an durch die Ambivalenz zwischen Konfliktvermeidungstechniken im Inneren und Konfliktaustragungstechniken im Äußeren bestimmt war.120 Die Innen-AußenUnterscheidung ist als eine adaptive Errungenschaft der Gruppenevolution anzusehen, die ihrer symbolischen Überformung in der soziokulturellen Evolution vorausgeht. Die Divergenz zwischen ingroup- und outgroupVerhalten ist also keine Erfindung der Religionen, sondern ein tief in der Naturgeschichte (nicht nur in der kulturellen Evolution des Menschen sondern schon in

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der Evolution tierischer Gruppen) verankerter Mechanismus, der in der soziokulturellen Evolution mit symbolischen Mitteln aufgenommen und zum Kernbestandteil religiöser Praktiken und Lehren wird.121 Diese Art von Doppelmoral hat die soziokulturelle Evolution bis heute überdauert. Erst in der Moderne wird darin überhaupt ein Problem gesehen. In evolutionstheoretischer Perspektive muss gefragt werden, wie es dazu kommen konnte. Die eingangs formulierte These, in der das Problematischwerden religiöser Heilslehren auf die globale Ausdehnung und Verdichtung menschlicher Sozialsysteme zurückgeführt wird, muss zunächst respezifiziert werden i.S. einer fortschreitenden Transformation der von Anfang in der Religion steckenden (aber eben auch immer versteckten) Ambivalenz, die erst in der Moderne offen zutagetritt. Diese Spezifizierung kann vorgenommen werden im Anschluss an ethnologische und religionswissenschaftliche Untersuchungen über rituelle Opfer-Praktiken in den Stammesgesellschaften und ihre mythische Fortführung von den frühen Hochkulturen bis heute.122 Die Erhaltung des sozialen Schutzschirms der Gruppe vor dem Selektionsdruck der äußeren Umwelt setzt eine soziale Ordnung voraus, die die Differenz zwischen Innen- und Außenbeziehungen im Inneren des Sozialsystems reproduziert. Die innere Differenzierung entspricht im einfachsten Fall der geschlechts- und generationsspezifischen Ordnung: die Männer sind für die Außenbeziehungen (die Jagd und den Kampf mit konkurrierenden Gruppen), die Frauen für die Innenbeziehungen (die Nahrungsaufbereitung und die Aufzucht der Kinder) zuständig. Diese elementare Ordnung enthält bereits ein gravierendes Problem, durch das sie laufend bedroht wird: die Männer sollen einerseits die nötige Wildheit für die Überlebenskonkurrenz in den Außenbeziehungen aufbringen und sich andererseits den Regeln der Fortpflanzungskonkurrenz und des friedlichen Zusammenlebens im Inneren der Gemeinschaften unterwerfen. In den Anfängen der menschlichen Kultur123 ist für dieses Problem keine andere Lösung gefunden worden als das komplette Verbot der intersexuellen und intergenerativen Konkurrenz in der jeweiligen Gruppe. Hinsichtlich der Generationsbeziehungen ist der Vorrang der Alten vor den Jungen nicht selbstverständlich in Gesellschaften, in denen körperliche Stärke eine große Rolle spielte. Hierfür musste ein striktes Konkurrenzverbot im Inneren installiert werden. Ein Ausweg bestand in der Ablenkung des Aggressionspotentials der jungen Männer für die Zwecke der kriegerischen Austragung von Konkurrenzkonflikten mit anderen Populationen. Krieg ist in den vorstaatlich organisierten Gesellschaften kein Ausnahmezustand, sondern die Regel gewesen. Der Krieg ist deshalb auch als Quelle der menschlichen Moralentwicklung bezeichnet worden. Eine andere Quelle der menschlichen Moralentwicklung ergibt sich aus den Konkurrenzverboten, die für


kg (Dez. 2010): Skizzen über Religion – 2. Tribale Gesellschaften

die sexuellen Beziehungen in einfachen Sozialsystemen gelten. Hinsichtlich der Geschlechtsbeziehungen sind vor allem zwei Faktoren hervorzuheben: Erstens, dass zu den Praktiken, die das innere Sozialgefüge der Gruppen schützen sollten, fast immer und überall das Verbot des Inzests124 und damit der Zwang zur Exogamie gehört – und zweitens, dass zu den Praktiken, die die Außenbeziehungen der Gruppen bestimmen, die wechselseitige Anerkennung der Anderen in den Formen des Frauen- und Gabentauschs gehört.125 Da die Durchsetzung sozialer Regeln an die Sanktionsmacht der segmentären Herkunftsgruppen gebunden bleibt, kann jeder Verstoß eines Einzelnen zum Auslöser wechselseitiger Sanktionen zwischen den Gruppen führen. Die entscheidende Innovation, die zur Beendigung der zyklisch auftretenden Racheketten in segmentären Gesellschaften gefunden wurde, besteht in der mehr oder weniger willkürlichen Opferung Einzelner zugunsten des Friedens in der größeren Gemeinschaft. Die Opferpraxis dient hier der Überwindung der endogenen Instabilität der Tauschpraxis. Religiöse Opferpraktiken werden aber auch unter ganz anderen sozialen Bedingungen fortgesetzt. Die Regulierung des sexuellen Begehrens erscheint seit jeher und bis heute als ein starkes – und aus moderner Sicht besonders irrationales - Motiv aller Religionen. Es wäre jedoch ein oberflächliches Missverständnis, dieses Motiv auf sexuelle Obsessionen ihrer Agenten zurückzuführen. Hinter der Sexvergessenheit der Religionen steckt die ursprüngliche und traditionell weitergeführte Funktion der Eindämmung der sexuellen Konflikte, immer wieder aufbrechender Kämpfe um Fortpflanzungschancen im Inneren der Sozialsysteme, die deren Existenz und damit den Schutz vor dem Selektionsdruck der äußeren Umwelt gefährden. Mit dieser nach Innen gerichteten Regulierung ist die grundlegende Funktion der Religion in der Bildung menschlicher Sozialsysteme aber nur unvollständig beschrieben. Stets war ein erheblicher Teil der religiösen Energien auf die Außenbeziehungen gerichtet, die sich den Mechanismen der internen Konfliktregulierung entziehen. Die auf die kriegerische Austragung von Konkurrenzkonflikten im Äußeren gerichteten Investitonen wird im Inneren durch Auszeichnung der Kriegshelden belohnt. Durch ihre Bevorzugung in der Fortpflanzungskonkurrenz wird die männlich-juvenile Gewaltbereitschaft in den Populationen verstärkt. Neben und in gewissem Umfang unabhängig von dieser Form der Konfliktexternalierung zeigt sich eine andere Form der Regulierung der Außenbeziehungen einfacher Sozialsysteme auf der natürlichen Grundlage des Mechanismus sexueller Selektion.126 In Folge der kulturellen Etablierung von Inzestverboten und Exogamiegeboten müssen die primordialen Sozialsyteme sich öffnen gegenüber anderen Verwandtschaftsgruppen. Neben der kriegerischen Auseinandersetzung, die Vergewaltigung und Frauenraub einschließt, gibt es damit auch die

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friedliche Form des Frauentauschs. Dieser Austausch basiert auf der wechselseitigen Anerkennung der Tauschpartner (hier zunächst als Mitglieder der Familienclans). Auf diese Effekte sexueller Selektion könnte die auffällige Differenz zwischen der hierarchischen Struktur bei den affenähnlichen Vorfahren (Dominanz des Alphamännchens) und der egalitären Struktur in den menschlichen Jäger- und Sammler-Gemeinschaften zurückgeführt werden.127 So wie es im Interesse einer Koalition von Männern war, die Konkurrenz um Frauen in den Jäger-Sammler-Gesellschaften durch Inzesttabu zu externalisieren, so war es im Interesse von Frauen, die Exogamie statt durch männliche Raubzüge durch geregelten Tausch zu organisieren. Der Mechanismus, der den gleichberechtigten Status der Tauschpartner in vorstaatlichen Gesellschaften absichert, ist die reziproke Sanktionsmacht der Herkunftsgruppen.128 In segmentär differenzierten Gesellschaften, in denen die praktische Durchsetzung von Rechten (und die Bestrafung von Rechtsverstößen) von der Sanktionsmacht der segmentären Gruppen abhängt, entstehen Reziprozitätsprobleme, die in der Sprache der modernen Spieltheorie als Gefangenendilemmata bezeichnet werden.129 Damit ist das Problem der nicht endenden Vergeltungsketten zwischen sozialen Gruppen bezeichnet, das religiöse Lösungsangebote in vorstaatlichen Gesellschaften herausgefordert hat. Es geht dabei vorrangig um die Durchbrechung der Reziprozität des GewaltRache-Zyklus.130 Die Lösung besteht in der schon erwähnten (aber durch diverse Formen des Latenzschutzes der Beobachtung entzogenen) Doppelstrategie: Einerseits fortgesetzte Verlagerung der Gewalt in die Außenbeziehungen und in Konflikte mit Fremden, andererseits Reinternalisierung der Gewalt, ihre Wiedereinführung als höhere Gewalt, ursprünglich in der Form des Heiligen.131 Hier ist dann noch einmal zu unterscheiden zwischen dem Gründungsopfer, in dem typischerweise ein Mitglied der Gemeinschaft (oder ein Fremder, der zuvor aufgenommen wurde132) ausgestoßen wird, und dem Kriegsopfer, welches in der Konkurrenz mit anderen Sozialsystemen erbracht wird (eine Form der Konfliktexternalisierung, die ab ovo mit der Bildung von Sozialsystemen gegeben ist, aber auch immer wieder zur Verdrängung interner Konflikte benutzt werden kann.).133 Das gemeinsame Moment in beiden Ausdrucksformen religiöser Fundierung sozialer Identität bildet die Konstruktion des (inneren und äußeren) Feindes.134 Der soziale Kern dieser Konstruktion verschwindet jedoch in der Sakralisierung des Opfers.135 2.3 Konfliktvermeidung in Praktiken des Austauschs 136 Eine zunächst eher verborgene Nebenwirkung der Exogamiegebote, die als Lösung der Existenzprobleme tribaler Sozialsysteme evoluierte, nämlich die damit


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verbundene Öffnung der durch Verwandtschaft konstituierten Sozialsysteme über die Grenzen der natürlichen Verwandtschaftsgruppe hinaus, muss in der Perspektive einer Theorie der soziokulturellen Evolution als deren Hauptwirkung angesehen werden: ihre Ausdehnung. In der Tendenz zur Bildung immer größerer - mehrere Gruppen umfassender und in sich differenzierter - Sozialsysteme137 kann der wichtigste Auslöser von Problemen gesehen werden, auf die die kulturelle Evolution mit dem religiösen Mechanismus der Konfliktaustreibung - und erst in der Moderne auch mit anderen Lösungsangeboten - reagiert. Andererseits ist in den Formen des Frauen- und Gabentauschs das Grundmuster friedlicher Ausdehnung zu erkennen. Segmentär differenzierte Gesellschaften beruhen nicht auf der kriegerischen Eroberung sondern auf dem Zusammenschluss der Verwandtschaftsgruppen.138 Im Unterschied zu den religiösen Opferpraktiken, die auf der Innen-Außen-Differenz und damit auf der Internalisierung des Selektionsdrucks der Umwelt beruhen, kann in den Tauschpraktiken, die auf dem evolutionären Muster der sexuellen Selektion beruhen, eine kausal unabhängige Quelle sozialer Systembildung erkannt und beschrieben werden.139 Das Muster der sexuellen Selektion basiert auf einer Wahl, in der das Objekt sich freiwillig anbietet und auf Druckmittel gegenüber dem wählenden Subjekt verzichtet.140 Das zivilisatorische Potential dieses Interaktionsmusters liegt in der vorab schon respektierten Eigentümlichkeit und Gleichberechtigung des Anderen.141 Die Wahl des Fortpflanzungspartners erfolgt unter prinzipieller Anerkennung der Besitzrechte des Anderen an sich selbst und seinen Sachen – die im weiteren dann zur Voraussetzung für alle Formen des friedlichen Austauschs wird.142 Es ist dieses Muster friedlichen Verhaltens, das auch noch in den modernen Formen des Wettbewerbs in der Form von Leistungs- und Publikums-Rollen institutionalisiert wird.143 Das Publikum wählt aus und kann - sofern kein Monopol besteht - nicht gezwungen werden, einen bestimmten Leistungsträger zu wählen. In evolutionstheoretischer Perspektive ist also zunächst zu fragen, wie es überhaupt möglich war, dass die domestizierende Kraft der sexuellen Selektion sich in menschlichen Sozialsystemen entfalten und behaupten konnte gegenüber dem wilden Kampf um Überlebensvorteile.144 Die neodarwinistischen Vertreter der sexuellen Selektionstheorie haben dafür keine zureichende Erklärung.145 Das kulturelle Potential der Sexualität wird auf genetische Programme zurückgeführt, nach denen sich das Verhalten der Individuen (in mehr oder weniger magisch erscheinender Weise) richtet. Die Ursachen werden in die neuronale Ausstattung – die sogenannten Spiegelneuronen als Voraussetzung menschlicher Empathie – verlegt.146 So sehr die damit verbundene Korrektur der einseitigen Bevorzugung von Umweltselektion im Mainstream der neodarwinistischen Theorie zu begrüßen ist, so muss doch auch hier (wo nun das Gute

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und Schöne im Menschen als Wirkung weiblicher Selektion herausgestellt wird) vor einer romantischen Verklärung gewarnt werden. Auch in diesem gutgemeinten Rekurs auf natürliche Ursachen steckt die Gefahr einer Verdunkelung: dass nämlich die dunklen Seiten der menschlichen Kulturgeschichte, insbesondere das Gewaltpotential, das aller menschlichen Sozialsystembildung innewohnt, unterbelichtet und der Aufklärung entzogen bleiben. Einer solchen Einseitigkeit ist zu entgehen, wenn man die Effekte sexueller Selektion im Rahmen einer Theorie der sozialen Gruppenevolution interpretiert.147 Wenn man die kulturellen Phänomene des Inzesttabus und der Exogamie evolutionstheoretisch zu erklären versucht, kann man mithilfe der Unterscheidung zwischen ultimaten und proximaten Ursachen148 als deren ultimate Funktion zunächst die Durchmischung des Genpools und damit gesteigerte Widerstandsfähigkeit gegen Krankheitserreger und Anpassungsfähigkeit an veränderte Umweltbedingungen erkennen.149 Die Effekte der Stabilisierung des eigenen Sozialsystems durch Konkurrenzvermeidung, Befriedung im Inneren und Ausdehnung der Population auf Kosten Anderer müssen demgegenüber dann als proximate Ursachen betrachtet werden. Andererseits lassen sich soziale Phänomene, die in biologischer Perspektive als proximate Mittel erscheinen, in der Perspektive der soziokulturellen Evolution als ultimate Faktoren beschreiben. Nur so wird erklärbar, dass im sozialen Binnenraum ständig neue proximate Faktoren entstehen. An dieser Stelle ist auf einen folgenreichen Unterschied hinzuweisen, der sich durch den Wechsel der Ebenen von der Interaktion unter Individuen zur Interaktion unter Gruppen ergibt: Sexuelle Selektion auf der Mikroebene enthält eine Menge kultureller Entfaltungsmöglichkeiten von der Fortpflanzungsgemeinschaft bis zur Liebe als Passion. Ihr durch Exogamie erzeugter Effekt auf der Ebene konkurrierender Gruppen und Sozialsysteme impliziert wechselseitige Anerkennungsverhältnisse, Toleranzgebote – keinesfalls jedoch so etwas wie die Ausdehnung des individuellen Liebesvermögens – sei es der zwischen Gechlechtspartnern oder der zwischen Eltern und Kindern – auf ein soziales Supersystem.150


kg (Dez. 2010): Skizzen über Religion – 3. Traditionelle Gesellschaften

Kapitel 3: Traditionelle Gesellschaften151 Wie lange noch, Herr, willst du immerdar zürnen, soll brennen wie Feuer dein Ingrimm? Ergieße deinen Zorn über die Völker, die dich nicht kennen, und über die Reiche, die deinen Namen nicht anrufen! Psalm 79 Die Gründungsgewalt ermitteln heißt verstehen, daß das Heilige alle Gegensätze in sich vereinigt - und zwar nicht deshalb, weil es sich von der Gewalt unterscheidet, sondern weil die Gewalt sich von sich selbst zu unterscheiden scheint: bald stellt sie in ihrem Umkreis die Einmütigkeit wieder her, um Menschen zu retten und Kultur zu stiften, bald bemüht sie sich im Gegenteil verbissen darum, das von ihr Gestiftete wieder zu vernichten. … Die Verehrung der Gläubigen gilt nie der Gewalt selbst, die sie erstarren läßt, sondern immer der Gewaltlosigkeit. Gewaltlosigkeit erscheint als unentgeltliche Gabe der Gewalt, und diese Annahme ist nicht unbegründet. Die Menschen sind ja nur dann zur Versöhnung fähig, wenn diese auf Kosten eines Dritten geht. René Girard, 1972, Das Heilige und die Gewalt

Die Stabilitätsprobleme segmentärer Gesellschaften werden in traditionellen Hochkulturen durch Zentralisierung der Sanktionsgewalt gelöst. Das Gewaltmonopol geht über von den konkurrierenden Herkunftsgruppen auf eine Zentralinstanz, deren Legitimität auf einem geteilten Glauben beruht. In den frühen Formen staatlicher Gesellschaften ist gut zu erkennen, dass die noch instabile Monopolisierung der Sanktionsgewalt fortlaufend durch religiöse Opferpraktiken abgestützt werden muss, in denen die Person des Herrschers selbst von der Gemeinschaft als Gott verehrt wird. Eine stabilere Form staatlicher Herrschaft wird erst mit der für traditionelle Gesellschaften typischen Differenzierung erreicht, in der die Herrschaftsmacht einer politischen Funktionselite durch eine religiöse Funktionselite unter Berufung auf eine transzendente Macht abgesichert wird. 3.1 Die Ausdifferenzierung religiöser Konfliktvermeidungstechniken Die Theorie sozialer Differenzierung gehört zu den ältesten Bestandteilen der soziologischen Theorietradition. In ihrer religionssoziologischen Anwendung es zumeist darum, die Ausdifferenzierung religiöser Formen gegenüber anderen Formen der menschlichen Sozialität aufzuzeigen. Für die längste Zeit der Menschheitsgeschichte lässt sich eine formale Ausdifferenzierung von Religion gar nicht feststellen, da jeweils das gesamte Sozialsystem von einer einzigen Religion durchdrungen war. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass Religion nicht von Anfang an mit Differenzierung befasst war. Eine tiefergehender Zusammenhang zwischen Religion und Differenzierung zeigt sich, wenn die Bildung sozialer Systeme selbst als erste (oder primordiale) Form

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sozialer Differenzierung betrachtet wird. Hier geht es um die grundlegende Grenzziehung zwischen einer sozialen Innenwelt und einer asozialen (aus der Binnenperspektive desozialisierten) Außenwelt. Religion war stets an der Stabilisierung dieser Grenze beteiligt. Die symbolische Markierung zwischen Innen- und Außenwelt gehört zu ihrer Kernkompetenz. Diese Kompetenz bezieht sich dann mit der Ausdehnung der Gesellschaft nicht nur auf die Sicherung der Außengrenzen, sondern auch auf alle Formen sozialer Binnendifferenzierung, also die Wiederholung von Grenzziehungen im Inneren der Systeme. In der Phase der traditionellen Hochkulturen kommt die Funktion der Stabilisierung sozialer (zunächst stratifikatorischer) Binnendifferenzierungen hinzu. Häufig ist darin sogar die einzige Funktion von Religion gesehen worden.152 Erst in diesem Rahmen ist dann auch die Ausdifferenzierung religiöser Formen innerhalb der Gesellschaft zu verorten. Sie lässt sich in fünf Schritten umreissen153: 1. Differenzierung zwischen Religion und Herrschaftsverband (Altägypten) 2. Ausdifferenzierung mehrerer (konkurrierender) religiöser Gemeinschaften innerhalb eines größeren politischen Verbandes (Rom) 3. Rückbildung des politischen Herrschaftsverbandes auf kleinere Einheiten unter Bewahrung einer religiösen Großeinheit (Mittelalter) 4. Differenzierung der relígiösen Großeinheit entlang der politischen Einheiten (regio/religio, frühe Neuzeit) 5. Verlust der regionalen Monopolstellung der Religionen und Reduktion auf religiöse Funktion i.e.S. (Moderne) Diese Abfolge im historischen Auftreten ausdifferenzierter Formen der Religion ist nicht als Entwicklung zu verstehen. Alle diese Formen existieren auch gleichzeitig. Das gemeinsame und treibende Moment aller Formen sozialer Differenzierung ist die kollektive Verarbeitung des Selektionsdrucks der äußeren Umwelt. Insofern ist die soziale Systembildung selbst – die Bildung einer schützenden Grenze zwischen System und Umwelt schon die erste – gewissermaßen primordiale – Form sozialer Differenzierung. Bei der seit Durkheim als segmentär bezeichneten Form der Differenzierung von Stammesgesellschaften handelt es sich in historisch-genetischer Perspektive nicht um Differenzierung im Sinne einer Grenzziehung im Inneren sondern im Sinne einer Grenzerweiterung (nämlich durch Frauenund Gabentausch) in der dann die Grenzen der Verwandtschaftsgruppen als Formen der Binnendifferenzierung fortbestehen. Von Binnendifferenzierung im Sinne einer Ausdifferenzierung von Systemen im System kann eigentlich erst in den traditionellen Hochkulturen mit ihren stratifizierten Sozialsystemen gesprochen werden. Man könnte sogar sagen, dass es ausschließlich in dieser Form der Fall ist, wenn man den


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Umstand berücksichtigt, dass nur mit dieser Form der Binnendifferenzierung eine Vollinklusion bzw. – exklusion der Individuen verknüpft ist. Ebendies ist jedenfalls in der modernen Form der Binnendifferenzierung nicht mehr der Fall. Wenn von funktionaler Differenzierung gesprochen wird, dann handelt es sich nicht um Wiederholung von Gruppenbildung im Inneren, vielmehr um eine Differenzierung, die nicht nach Personen, sondern nach symbolisch konstituierten Sachen sortiert. Nur so ist es auch möglich, dass in dieser Form Praktiken des Austauschs (unter Anerkennung der Freiheit und Gleichheit der Tauschpartner) wieder eingeführt werden, die in den traditionellen Hochkulturen ausgeschlossen waren. Die aus der längsten Phase der Menschheitsgeschichte (den steinzeitlichen Jäger- und Sammler-Gesellschaften) stammende Dichotomisierung des kulturellen Verhaltensspektrums in eine soziale d.h. hier durch Verwandtschaft strukturierte Innenwelt und eine asoziale, d.h. durch ungeregelte Konkurrenz und kriegerische Auseinandersetzungen geprägte Außenwelt154 setzt sich in den archaischen und traditionellen Gesellschaften auf erweiterter Grundlage und in veränderten Formen fort. Die Erfindungen von Ackerbau und Viehzucht ermöglichen größere Populationen auf räumlich verdichteter Grundlage.155 Diese Entwicklung wird im Innenverhältnis stabilisiert durch die neuen stratifikatorischen Formen sozialer Differenzierung und im Innen- und Außenverhältnis durch Formen staatlicher Herrschaft. Anstelle segmentär gekoppelter Systeme mit einer starken Generations- und Geschlechterdifferenzierung tritt hier der Primat hierarchischer Differenzierung nach sozialen Schichten.156 Diese Veränderung kann (wie jede Form sozialer Differenzierung) unter dem Aspekt ihrer ökonomischen Vorteile (Skaleneffekte) durch Arbeitsteilung betrachtet und erklärt werden. Um dem Charakter traditioneller Gesellschaften gerecht zu werden, ist jedoch die primäre Funktion der Differenzierung in der Vermeidung von Konkurrenzkonflikten – also in der politischen Dimension zu sehen. Dies erhellt aus dem enormen Aufwand der in traditionellen Gesellschaften für die religiöse Legitimation der Schichtungsordnungen und Herrschaftsformen betrieben wird. 157 Ein wichtiger Aspekt dieser Umstellung ist die Differenzierung zwischen aktuell geltenden Handlungsnormen und tiefer gelegten Werten.158 Um die prekäre Ordnung menschlicher Sozialsysteme zu sichern, bedarf es offenbar einer stark aufgeladenen Deutungsmacht. Dabei geht es stets um die Unterscheidung zwischen einer aktuell erfahrenen Gewalt, die den inneren Frieden bedroht, und einer ultimativen Gewalt, die diese Bedrohung beenden soll. Die Paradoxie der Religionen in dieser Funktion besteht darin, dass die Unterscheidung vollzogen und zugleich dementiert wird. Die religiöse Einstellung ist zugleich angezogen und abgestoßen von sozialen Konflikten, von Fortpflanzungs- und Überlebenskonkurrenz, von Mord und In-

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zest. Sie überdeckt ihre diabolische Beteiligung durch Friedenssymbolik. Sie affirmiert die ultimative Gewalt und entzieht sie zugleich der menschlichen Kontrolle, indem sie einer höheren Macht zuschreibt, was doch von Menschen ausgeführt wird. Diese höhere Macht wird nun in den traditionellen Hochkulturen zunehmend unsichtbar – nicht mehr anschaulich repräsentiert in Opfern, Heiligen und Gottkönigen, sondern unangreifbar verschoben in eine andere Welt, ein Jenseits, das sich nur durch Interpretationen einer dafür speziell ausgebildeten Elite erschließen lässt, also in seiner Wirkung auf diesseitige Strukturen durch eine Priesterklasse verwaltet wird. Rituale, Gemeinschaftstänze und gemeinschaftlich verehrte Abbildungen, die in der längsten Phase der Menschheitsgeschichte zu den bevorzugten Mitteln der Stabilisierung gehörten, werden zunehmend aus den Arsenalen der Religion verdrängt.159 Der Bruch durchzieht (mit Bilder-, Tanz- und Musikverboten) alle hochkulturellen Religionen, und seine Dramatik wird vielleicht am deutlichsten dort, wo das Verdrängte in immer wieder neuen Formen wiederkehrt. 160 In evolutionstheoretischer Perspektive wird erkennbar, dass sich die aus den archaischen Sozialstrukturen stammende Dichotomie der Verhaltensmuster zwischen Innenwelt und Außenwelt der Sozialsysteme in traditionellen Hochkulturen verschärft und dass die Wirkung des Konfliktexternalisierungsmechanismus sich durch Binnendifferenzierung vervielfacht.161 Eine Verschärfung tritt vor allem dadurch ein, dass das für segmentäre Systeme typische zweite Moment der Strukturierung der Außenbeziehungen, der Frauen- und Gabentausch, weitgehend entfällt. Auf der einen Seite führt das zu einer gewissen Lockerung der Beziehungen in den Geschlechts- und Generationsbeziehungen auf der Mikroebene. Die evolutionäre Funktion des Exogamiegebots (die Durchmischung des Genpools und der symbolischen Wissensvorräte) kann nun - gewissermaßen ohne die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu fremden Sozialsystemen - im erweiterten Innenraum der Agrargesellschaften erfüllt werden. Die andere Seite dieser Entwicklung ist die schärfere Schließung der Sozialsysteme – sowohl im Inneren im Bezug auf die schichtspezifischen Subsysteme, wie auch im Äußeren im Bezug auf konkurrierende Gesellschaften. Die Schließung der sozialen Subsysteme erfolgt durch Mechanismen der Inklusion und Exklusion in Formen der Ausstoßung, Erniedrigung und Erhöhung von Individuen.162 Die Schließung nach Außen erfolgt in gesteigerten Formen der kriegerischen Konkurrenz163 einschließlich der Ausdehnung des eigenen Sozialsystems durch Eroberung, Unterwerfung fremder Bevölkerungen.164 Auf der Innenseite traditioneller Gesellschaften dominiert (von den frühen Hochkulturen bis weit in die Moderne hinein) eine politisch-religiöse Symbolik, die sich an die Verwandtschaftsstrukturen einfacher Sozialsysteme (Vaterland, Muttersprache, Brüderlichkeit etc.)


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anlehnt. In allen Hochreligionen (von der christlichen Bergpredigt bis zu den säkularisierten Heilslehren der Moderne) wird für die Innenbeziehungen eine Liebessemantik gepflegt,165 der man den angestrengten (dh. die natürliche Basis für individuelles Liebesempfinden überfordernden) Charakter anmerkt.166 Umso stärker tritt der Gegensatz zwischen der durch staatliche Sanktionsmacht abgesicherten Domestizierung des Verhaltens im Inneren und der kriegerischen Austragung von Konkurrenz im Äußeren zutage.167 Hier fehlt offenbar die pazifizierende Wirkung der wechselseitigen Abhängigkeit und Anerkennung als Tauschpartner, die erst in der Moderne wieder in Erscheinung tritt168 – dort aber unter wirtschaftlich und politisch stark veränderten Bedingungen.169 3.2 Die Umstellung der Religion auf schriftliche Offenbarung Die Ausdifferenzierung der religiösen Funktion in traditionellen Gesellschaften beruht auf der Erweiterung der kollektiven Wissensvorräte durch schriftliche Aufzeichnungen. Dadurch kann neben dem staatlichen Gewaltmonopol ein zweites Monopol entstehen, in dem die Tradierung außergewöhnlichen Wissens von Generation zu Generation verwaltet wird. (Das gewöhnliche Wissen wird natürlich weiter mündlich und interaktiv vermittelt.) Mit der Entstehung einer Funktionselite von Schriftgelehrten, die das religiöse Wissen verwaltet, wird religiöses Handeln und Erleben zunehmend entkoppelt, religiöse Gemeinschaftspraktiken (die sich stark auf außersprachliche Formen der Kommunikation stützen) werden zurückgedrängt und Religion auf Erleben in der Publikumsrolle ihrer Organisationen reduziert. Diese Entwicklung wird besonders deutlich in der sogenannten Achsenzeit (Jaspers, Eisenstadt) mit der Entstehung der monotheistischen Religionen, in denen das schriftgestützte Auslegungsmonopol für außeralltägliches Wissen zu einem universellen Wahrheitsanspruch gesteigert wird. Die Funktion der Religion für die Stabilisierung sozialer Ordnung wird damit in riskanter Weise kognitiv ausgedehnt. Abweichende Wahrnehmungen werden als solche schon zum Anlass von Exklusionspraktiken (s. Galilei). Dazu gehört dann auf der Mikroebene auch der gewaltbewehrte Ausschluss der gleichzeitigen Wahrnehmung anderer religiöser Angebote oder der Konversion zu anderen Religionsgemeinschaften, die auf der Makroebene miteinander konkurrieren. Die aus den Frühformen der Religion stammenden Opferpraktiken werden aus der offiziellen Lehre zwar zunehmend verbannt. Sie werden jedoch fortgeführt in den versteckten Formen der Diskriminierung von „Sündenböcken“ (exemplarisch in der langen Tradition des christlichen Antisemitismus) sowie in den offenen Formen der Legitimation von „gerechten Kriegen“ zwischen den Staaten. 170

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kg (Dez. 2010): Skizzen über Religion – 4. Moderne Weltgesellschaft

Kapitel 4: Die moderne Weltgesellschaft171 ... he and all the rest of mankind are one community, make up one society distinct from all other creatures, and were it not for the corruption and viciousness of degenerate men, there would be no need of any other, no necessity that men should separate from this great and natural community and associate into lesser combinations. John Locke, Two Treatises of Civil Government 172 Das Böse ist nicht etwas, das aus der eigenen Welt kommt: Es kommt von außen. Die Menschen sind nicht zugleich gut und böse; sie sind entweder gut oder böse. Die Lösung für die Existenz des Bösen besteht darin, dass es mit Gewalt eliminiert wird; am Ende gewinnt das Gute die Oberhand. Diese Grundstruktur ist aus HollywoodFilmen, Comics und Science-Fiction-Romanen bekannt … Hans G. Kippenberg, 2008, Gewalt als Gottesdienst

Die Kultur der modernen Gesellschaft ist vor allem durch zwei Entwicklungen bestimmt: Globalisierung und Individualisierung. Beide Tendenzen lösen starke Anziehungs- und Abstoßungskräfte aus. Es erscheint als Problem der Moderne, dass sie z.T. gegenläufige Verhaltensmuster (Disziplinierung und Hedonismus) erzeugen. Da es sich in beiden Hinsichten um langfristig in der kulturellen Evolution angelegte Tendenzen handelt, kann man mit Bezug auf die Moderne auch vom Ende der Globalisierung und vom Ende der Individualisierung sprechen. Die Tendenz zur räumlichen Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme mittels Buchdruck, Funk und neuen digitalen Netzen mündet in einer globalen Verdichtung der Kommunikation, die alle nationalen und kulturellen Beschränkungen überschreitet. Als Folge der globalen Netzverdichtung ist auf der Makroebene eine enorme Steigerung hierarchischer Strukturen (Mehrebenenregime) mit entsprechend verschärften Verhaltenserwartungen auf der Ebene der Individuen (Rollendisziplin) zu beobachten. Die Tendenz zur zeitlichen Ausdehnung der menschlichen Wissensvorräte mittels Buchdruck und neuen digitalen Gedächtnisspeichern mündet in einer Universalisierung des Wissens, die allen Individuen jederzeit Zugang zu allen (für sie selbst in der Konkurrenz mit Anderen) relevanten Informationen ermöglicht. Als Folge der Entgrenzung des Wissens entsteht auf der Metaebene eine neue Form sozialer Differenzierung, die nicht nach Personen sondern nach Sachen unterscheidet. Die funktionale Differenzierung auf der Metabene (öffentliche Sphäre) geht einher mit einer enormen Freisetzung der Individuen von Gruppenbindungen auf der Mikroebene (private Sphäre). Die Durchsetzung von Globalisierung und Individualisierung in der Moderne lässt uralte soziale Konflikte wieder aufbrechen. Tradierte Formen der religiösen Konfliktexternalisierung funktionieren nicht mehr oder wirken sogar konfliktverschärfend: Auf der Makroebe-

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ne scheitert der Mechanismus an dem Umstand, dass es in einem kulturell geschlossenen Sinne keine anderen Gesellschaften mehr gibt, auf die hin Konflikte projiziert werden können.173 Auf der Mikroebene scheitert der Mechanismus an dem Umstand, dass es unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung keine erfolgversprechende Möglichkeit mehr gibt, Individuen nach Gruppenmerkmalen zu inkludieren und zu exkludieren. Auf der Metaebene scheitert der Mechanismus an einer (durch die Erfolge der modernen Naturwissenschaften beflügelten) Auffassung von Wissen, die nicht nur Konsens sondern auch empirische Nachweise verlangt. Zu fragen ist also, ob die moderne Gesellschaft zu ihrer Stabilisierung neue Formen der Religiosität hervorbringt. Die Antwort ist in konkurrierenden Bewegungsformen zu erkennen: Säkularisierung und Fundamentalisierung (Kap. 5 und 6). 4.1 Das Scheitern tradierter Konfliktexternalisierungstechniken in der Moderne Auf den ersten Blick sind es vor allem zwei Phänomene, an denen sich der Unterschied zwischen traditionellen und modernen Sozialsystemen beobachten lässt. Das Eine ist ihre globale Ausdehnung und interne Vernetzung auf der Makroebene174, das Andere die Steigerung individueller Verhaltensspielräume auf der Mikroebene. An diesen beiden Phänomenen, die unter den Stichworten Globalisierung und Individualisierung beschrieben werden,175 machen sich auch die meisten sozialen Widerstände gegen die Kultur der Moderne fest, und vor allem in diesen – auf den ersten Blick weit auseinanderliegenden – Phänomenbereichen ist eine Wiederaufwertung religiöser Konfliktverarbeitungstraditionen zu beobachten. Für eine soziologische Erklärung erscheint es wichtig, die Wirkungsmechanismen in den Blick zu bekommen, die in diesen beiden Bereichen zum Tragen kommen.176 Die Binnendifferenzierung der modernen Gesellschaft ist gekennzeichnet durch eine (nochmalige) Steigerung der Differenz zwischen Mikro- und Makroebene (z.T. gegenläufige Verhaltenserwartungen) und eine dementsprechende Neuregelung von Inklusion und Exklusion auf der Metaebene (Menschen- statt Gruppenrechte). Die für die hier skizzierte Argumentation gravierendste Veränderung auf der Makroebene ist darin zu erkennen, dass es auf der Außenseite der modernen Gesellschaft keine anderen menschlichen Sozialsysteme mehr gibt. Dem entspricht auf der Mikroebene eine Form sozialer Differenzierung, die keine festen Gruppenzugehörigkeiten mehr zulässt. In allen Formen sozialer Systembildung177 – so der hier bisher skizzierte Argumentationsgang zur kulturellen Evolution – geht es zugleich um den Schutz der Gemeinschaft vor der äußeren Umwelt und um die Eindämmung von Konkurrenzkonflikten im Inneren der


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Gemeinschaft, die letztlich aus dem Selektionsdruck der äußeren Umwelt resultieren. Vor diesem Hintergrund müssen die Formen sozialer Differenzierung, die sich in der modernen Gesellschaft entwickelt haben, als besonders unwahrscheinliche evolutionäre Errungenschaften betrachtet werden. Funktionale Differenzierung dient als (vorerst) letzte (und jedenfalls flexibelste) Form der Eindämmung von Konkurrenzkonflikten im Inneren sozialer Systeme.178 Ihre besondere Flexibilität ergibt sich aus dem Umstand, dass sie die (nach dem Muster der sexuellen Wahl gezähmte, also Besitzrechte wechselseitig anerkennende) Wiedereinführung der Konkurrenz in sorgfältig gegeneinander abgeschirmten (dh. für die Individuen als Ganze nicht lebensbedrohlichen) Hinsichten ermöglicht. Auf der anderen Seite der hier skizzierten Evolution kultureller Differenzierungsformen ist die enorme Ausdehnung moderner Sozialsysteme weit über die natürliche Reichweite menschlichen Handelns und Erlebens zu konstatieren. Der soziale Schutzschirm, der die lebenden Individuen vor dem Selektionsdruck natürlicher Umwelten schützt (und in dem der äußere Druck durch kulturelle Druckmittel ersetzt wird) breitet sich tendenziell über die gesamte menschliche Population aus. Diese Ausdehnung, für die es in der Evolution anderer Lebewesen kein Beispiel gibt, verdankt sich der Dynamik und Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umweltbedingungen, die die moderne Gesellschaft aus der Auflösung traditioneller Regulierungen im Inneren der Gesellschaft und der Freisetzung natürlicher Verhaltensspielräume auf der Mikroebene bezieht. 179 4.2 Globalisierung und Universalisierung Als Ursache für die Umstellung sozialer Differenzierung in der Moderne wird bereits von Durkheim (1893) genannt: die Ausdehnung der Populationen, die Verdichtung ihrer Interaktionen mit den entsprechenden Kommunikationsmitteln und die Vermeidung von Konkurrenzkonflikten unter diesen Bedingungen. Was in Durkheims Diagnose noch fehlt (obwohl er die Weltgesellschaft schon im Blick hat) ist der Hinweis auf das Ende der Ausdehnung durch Globalisierung, also der Zwang zur Umstellung vom traditionellen Modus der Konfliktexternalisierung auf einen Modus der Austragung von Konkurrenzkonflikten im Inneren der Gesellschaft. Dieser Modus wird erreicht durch funktionale Differenzierung.180 Bestimmte Formen der Konfliktexternalisierung sind in der modernen Gesellschaft schon dadurch ausgeschlossen, dass es keinen Ort mehr gibt, der nicht (mit raumüberbrückenden Techniken) kommunikativ erreichbar wäre (so etwa Formen der Kriegsführung, in denen der anderen Seite der Status des Menschseins abgesprochen wird). Es gibt in der Umwelt der global ausgedehnten Gesellschaft keine konkurrierenden menschlichen Sozi-

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alsysteme mehr, auf die hin Konfliktdynamiken verlagert werden könnten.181 Die Probleme tradierter Konfliktexternalisierungstechniken in der Moderne sind allerdings durch den Bezug auf die globale Ausdehnung der Gesellschaft noch nicht vollständig beschrieben. Die Entgrenzung der Sozialität findet hier nämlich nicht nur in der räumlich-territorialen Dimension statt. Die aktuellen Probleme werden vollständig erst sichtbar, wenn auch die zeitliche Dimension der Entgrenzung des Sozialen betrachtet wird. Sie zeigt sich zum Einen in der Temposteigerung der Kommunikation, in der bestimmte Informationen sich blitzartig weltweit ausbreiten können, also in der Allgegenwart des Neuen. Sie zeigt sich aber auch in der Allgegenwart des Alten i.S. der ständigen Kopräsenz archivierter Informationen. Die Entgrenzung des Sozialen in der Zeitdimension, die heute durch computergestützte Techniken der Archivierung – Erinnerungsmaschinen, die nichts mehr vergessen können – ermöglicht wird, verändert den Umgang mit den Wissensvorräten, die als funktionales Äquivalent für den Genpool in der natürlichen Evolution und als deren Erweiterung für kulturelle Evolution zur Verfügung stehen. Diese Ausdehnung der Wissensvorräte hat ebenso gravierende Folgen für die tradierten Formen der Konfliktverarbeitung wie die territoriale Ausdehnung der Gesellschaft. Wenn das verfügbare Wissen prinzipiell nicht mehr exklusiv auf die partikularen Traditionen einer bestimmten Gruppe oder Gemeinschaft zurückgeführt werden kann, kann es auch nicht mehr als identitätssicherndes Abgrenzungsmerkmal verwendet werden. Die Entgrenzung des Sozialen in der Zeitdimension kann als Universalisierung bezeichnet werden. Tradierte Formen der Konfliktexternalisierung haben sich stets auf die Partikularität verfügbaren Wissens gestützt: In den tribalen Gesellschaften im Rückbezug auf das Wissen der Ahnen, in den Hochkulturen im Rückbezug auf Ursprungsmythen und im Vorwärtsbezug messianischer oder apokalyptischer Zukunftsaussichten. Der Bezug auf Vergangenes wird nun durch entmythologisierendes Geschichtswissen (einschließlich Paläontologie) und der Bezug auf Zukünftiges durch kontingenzbewußte Wenn-Dann-Szenarien abgelöst. Die Entgrenzung der menschlichen Sozialsysteme in der Zeitdimension führt also zu einer Universalisierung der Wissensvorräte der Weltgesellschaft, die beliebige Rückgriffe auf vergangenes Wissen und auf regional spezifiziertes Wissen in vergleichender Einstellung zulässt. Die Universalisierung der Wissensvorräte bringt auch den Zwang zur Respezifikation des tatsächlich individuell aneignbaren Teile des Wissens mit sich. Universalisierung bedeutet in dieser Hinsicht nicht nur, dass kein Individuum mehr davon ausgeschlossen werden kann, sondern auch, dass kein Individuum mehr ganz in dieses Wissen eingeschlossen werden (gewissermaßen als universaler Wissensträger fungieren)


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kann. Die symbolische Konstruktion von Sündenböcken zum Zwecke sozialer Systemstabilisierung scheitert auf der Mikroebene an dem Umstand, dass die soziale Differenzierung nicht mehr entlang ganzer Personen sondern (gewissermaßen durch sie hindurch) entlang funktionsspezifischer Rollen erfolgt.182 4.3 Differenzierung und Individualisierung Dass die religösen Bindemittel der modernen Gesellschaft sich nicht mehr auf partikulare Gruppenidentitäten sondern auf universelle Merkmal menschlicher Individualität stützen müsste, gehört ebenfalls schon zur Durkheimschen Diagnose der Moderne.183 Die Differenzierung in funktionsspezifische Teilsysteme, die weder wechselseitig substitutiv (wie in Stammesgesellschaften) und noch hierarchisch geordnet (wie in traditionellen Gesellschaften) sind, ist ein Merkmal der modernen Gesellschaft, das auch die Mikrostrukturen der Kommunikation tiefgehend verändert.184 Aus dieser Differenzierungsform ergibt sich eine Vervielfachung sozialer Ordnungssysteme im Inneren der Gesellschaft und zugleich eine Durchdringung der Gesellschaft mit konkurrierenden Organisationen, die gesteigerte Disziplinierungserwartungen an die teilnehmenden Individuen erzeugen. Die Rückwirkung der Organisationen auf die Verhaltensspielräume der Individuen ist ein wesentliches Moment der modernen Gesellschaft. Um ihre Dynamik zu verstehen, genügt es nicht, die funktionale Struktur ihrer Binnendifferenzierung zu betrachten.185 Es geht in dieser Formation nicht nur um Ungleichheiten zwischen verschiedenen (operativ geschlossenen) Teilsystemen, die – in räumlicher Metaphorik – als horizontale Differenzierung beschrieben werden können. Es geht immer auch um Ungleichheiten der lebendigen Individuen im sozialen Schutzraum des Systems, die als vertikale Differenzierung beschrieben werden können. Symbolische Grenzmarkierungen – die zur traditionellen Kompetenz der Religionen gehören - lassen sich nicht mehr an Personengruppen festmachen. Das Besondere an der vertikalen Differenzierung der modernen Gesellschaft besteht darin, dass nicht mehr zwischen Individuen (durch Schichtung, Stratifikation) differenziert wird sondern durch Individuen hindurch: mittels differenter Erwartungsstrukturen auf der Mikroebene der Interaktion und auf der Makroebene der Organisationen. Selbstverwirklichungsversprechen auf der Mikroebene konkurrieren mit Selbstdisziplinierungserwartungen auf der Makroebene. Mit dieser Form der Ebenendifferenzierung gehen also gesteigerte Anforderungen an die kognitiven und emotionalen Kompetenzen der Individuen einher, die konkurrierenden Erwartungen selbst auszubalancieren.186 Vorgefertigte Verhaltensmuster helfen nicht in neuen Lebenslagen, sondern verstärken situativ und biographisch Symptome der Überforderung. So entstehen neue, allerdings ungleich

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flexiblere Formen sozialer Ungleichheit187 über abweichende Bildungs- und Individualisierungsverläufe. Das im Vergleich mit der Lebenswelt in traditionellen Gesellschaften auffälligste Merkmal der modernen Gesellschaft ist die Steigerung individueller Freiheiten durch staatlich garantierte (und zunehmend auch international proklamierte) Gleichbehandlungsrechte (die sogenannten Menschenrechte). Diese Form sozialer Ordnung kann in erster Näherung als eine Kombination aus dem dezentral-familistischen Muster tribaler und archaischer Gesellschaften und dem zentraletatistischen Muster traditioneller Gesellschaften beschrieben werden. Anstelle der hierarchisch-religiösen Bindemittel tradierter Hochkulturen greift der moderne Nationalstaat zu seiner eigenen Stabilisierung wieder stärker auf die egalitär-religiösen Bindemittel der Stammesgesellschaften zurück. Im symbolischen Rekurs auf ethnische Formen der Religiosität produziert der moderne Nationalismus verschärfte Formen der Konfliktbereitschaft über Inklusion und Exklusion. Auf der einen Seite kommen hier natürliche Dispositionen wieder zum Zuge, die in archaischen Gesellschaften zum Kristallisationspunkt der Binnendifferenzierung wurden. Auf der anderen Seite kommen in verstärktem Umfang organisatorisch verselbständigte Mittel zum Zuge, die schon den Zusammenhalt von traditionellen Gesellschaften garantierten. Vorläufer der funktional differenzierten Organisationsgesellschaft sind zu sehen in Formen der staatlichen Zentralverwaltung, des Militärs und (zumindest in der europäischen Tradition) in den Organisationsformen der Kirchen und Sekten. Was die moderne Form sozialer Binnendifferenzierung jedoch grundlegend (von tribalen, archaischen und traditionellen Ordnungen) unterscheidet, ist der Umstand, dass nicht mehr Individuen (generations- und geschlechtsspezifisch) und auch nicht mehr ganze Gruppen von Individuen (schichtspezifisch) voneinander, sondern verschiedene Verhaltensorientierungen (divergente Muster für das soziale Verhalten auf der Mikround auf der Makroebene) innerhalb derselben Individuen getrennt werden.188 Der evolutionär riskante Charakter dieser Form ist u.a. darin zu erkennen, dass seine Folgelasten in höherem Maße (als in älteren Differenzierungsformen) von den Individuen selbst getragen werden müssen (also in gesteigertem Maße von ihren kognitiven und emotionalen Verarbeitungsfähigkeiten abhängen).189 Vor allem an diesen Folgelasten macht sich das häufig formulierte Unbehagen an der Moderne fest.190 Auf den ersten Blick könnte es als logischer Selbstwiderspruch erscheinen, wenn hier einerseits behauptet wird, dass die Moderne ihre Dynamik durch Differenzierung zwischen der Freisetzung natürlicher Dispositionen auf der Mikroebene und der Disziplinierung des Verhaltens auf der Makroebene bezieht, während andererseits auf der Ebene der Organisationen vielfältige Formen der Konkurrenz zu beobachten sind. Viele Kri-


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tiker formulieren ihr Unbehagen an der Moderne gerade mit Bezug auf das vermehrte Auftreten eines Konkurrenzverhaltens, mit dem tradierte Errungenschaften der Kultur vermeintlich durch das Wiederaufleben unserer primitivsten Instinkte bedroht werden. Die allgemeine These zur Erklärung der dynamischen Struktur der Moderne durch Ebenendifferenzierung kollidiert jedoch nicht mit der Beobachtung, dass die moderne Gesellschaft durch eine umfasssende (und immer noch zunehmende) Einführung von Wettbewerb auf der Makroebene bestimmt ist. Hier handelt es sich nicht um jene ungezügelte Konkurrenz ums Überleben, die vermeintlich die Verhaltensmuster der Individuen bestimmt hat, bevor sie durch kulturelle Sozialsysteme beschränkt und domestiziert wurden. Vielmehr handelt es sich um die Wiedereinführung und Generalisierung jenes Wettbewerbsverhaltens, das in den frühen Gesellschaftsformen des Menschen primär in den (durch Exogamiegebote gesteuerten) Geschlechterbeziehungen praktiziert wurde. Dieses Verhalten war schon in den primitiven Gesellschaften von vornherein gesteuert durch Regeln der Sozialsysteme (Inzesttabu und Exogamie) und dies auch der Fall in der generalisierten Form ihrer Wiedereinführung in der Moderne auf der Ebene des Wettbewerbs von Organisationen. In der modernen Form der Austragung von Konkurrenz funktionsspezifischer Organisationen, paradigmatisch im Falle wirtschaftlicher Unternehmen wird die subjektive Motivation der beteiligten Individuen ersetzt durch formale Mitgliedschaftsregeln (Teilnahmemotivation gegen Geld, Unterwerfung unter die Disziplin der Hierarchie). Woher beziehen diese Formen der Konkurrenz ihre Dynamik? Hier kommen die jeweiligen Märkte, die Publikumsbeziehungen der Organisationen in den Blick. Auf den Märkten entscheiden wiederum die Präferenzen von Individuen (bei Investitionsgütern allerdings gebündelt in den Entscheidungsorganen anderer Kollektivakteure) über den Erfolg oder Misserfolg der organisierten Leistungsanbieter. Die natürlichen Quellen der modernen Verhaltensformen sind in den evoluierten Verhaltensmustern primordialer Sozialität zu erkennen. Das grundlegende Muster ist bereits in den Mechanismen der sexuellen Selektion und in den durch Exogamieregeln gesteuerten Außenbeziehungen einfacher Sozialsysteme angelegt. Wenn Organisationen ihr Publikum nicht durch Monopolbildung zur Annahme ihrer Leistungen zwingen können, sondern ihr Erfolg sich aus den Entscheidungen anonymer Marktteilnehmer ergibt, dann handelt es sich um Beziehungen, die der weiblichen Wahl in der sexuellen Selektion ähneln und kulturell auf der wechselseitigen Anerkennung der Teilnehmer basieren. Der komplementäre Mechanismus, der in der Evolution kultureller Sozialsysteme als Reaktion auf den Selektionsdruck der äußeren Umwelt, die Inklusion und Exklusionverhältnisse der Individuen und Gruppen regelt, wird in der modernen Gesellschaft zunehmend proble-

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matisch. Diese Problematik ist (i.S. der eingangs formulierten These) als wichtigste Ursache für den Rückgang religiöser Orientierungen in den kulturell fortgeschrittensten Regionen der modernen Gesellschaft anzusehen. Mit der globalen Ausdehnung und internen Verdichtung der Gesellschaft in der Moderne wird der in tribalen, archaischen und traditionellen Gesellschaft in vielfältigen Formen entwickelte Mechanismus der Externalisierung sozialer Konflikte zunehmend unbrauchbar. Die Verlagerung der Konkurrenzkonflikte von den Innen- in die Außenbeziehungen kommt logisch und empirisch an ihr Ende, weil es dafür kein Außen mehr gibt. In dem globalisierten Netzwerk der modernen Gesellschaft gibt es nur noch lokale Konflikte und solche, die die Menschheit insgesamt bedrohen. Mehr und mehr müssen die (in den kontinuierten Formen von Nationalstaaten tradierten) Außenbeziehungen geregelt, verrechtlicht und wechselseitige Anerkennungsverhältnisse global geregelt werden. Dies gilt nun nicht mehr nur für die Kollektivrechte der konkurrierenden Sozialsysteme (Völkerrechte) sondern zunehmend auch für die Individualrechte der Menschen (Menschenrechte).191 Anstelle der religionsgestützten Zwangsmittel traditioneller Gesellschaften tritt in der modernen Gesellschaft der Staat selbst als domestizierende Macht gegen die Wiederkehr ungeregelter Konkurrenz ums Überleben (des Hobbesianischen Kampfs Aller gegen Alle). Das staatliche Gewaltmonopol selbst wird gezähmt durch positives Recht und institutionalisierte Gewaltenteilung.192 Unter dem Schutzschirm des modernen Staates findet eine Wiedereinführung von Konkurrenz in Formen des geregelten Wettbewerbs (entlang der Unterscheidung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit193) statt. Diese Lösung der sozialen Ordnungsprobleme hat einige gut erkennbare Vorteile - sowohl für das Anpassungspotential der Sozialsysteme gegenüber ihrer Umwelt wie auch für das subjektive Befinden der Individuen.194 Das mehrstufig differenzierte Ordnungssystem der Moderne ist aber in evolutionärer Perspektive höchst riskant und als kulturelle Errungenschaft nicht gefeit gegen Rückfälle in primitivere und gewaltsamere Mechanismen der Regulierung von Konkurrenzkonflikten. Es ist vor allem auch unvollständig in dem unter den Bedingungen der Globalisierung entscheidenden Sinne, dass transnationale staatliche Regulierungsinstanzen der Konflikte noch weitgehend fehlen.195 4.4 Wiederkehr oder Wandel der Religionen? Die Rede von einer Wiederkehr (oder Renaissance) der Religionen wird in der neueren Religionssoziologie wird schon deshalb abgelehnt, weil sie auf einer unzulässigen Verallgemeinerung der europäischen Entwicklung zur Moderne basiere, während weltweit offenkundig von einem Rückgang der Religionen nicht die Rede


kg (Dez. 2010): Skizzen über Religion – 4. Moderne Weltgesellschaft

sein kann. Das ersatzlose Verschwinden der Religion ist eine Projektion der europäischen Aufklärung, deren regional begrenzte Plausibilität sich auch nur der Einengung der Beobachtung auf kirchliche Organsationsformen verdankt. Andererseits wird eingeräumt, dass der in Europa entstandene Prozess der Säkularisierung durchaus einen angemessenen Interpretationsrahmen für weltweite Entwicklungen abgeben kann.196 In Abgrenzung vom europäischen Modell der staatlichen Monopolisierung religiöser Organisationen197 wird in dem US-amerikanischen Modell des Wettbewerbs der Religionsgemeinschaften ein Muster der Entwicklung der Religionen in der globalen Gesellschaft gesehen.198 Hier handelt es sich nicht um eine Modellvorstellung aus den Think-Tanks wissenschaftlicher Politikberatung sondern um ein evolutionäres Modell i.S. der besonderen historischen Konstellation der USA als Einwandungsgesellschaft, in der keine Religionsgemeinschaft über die Macht zur Erringung eines staatlichen Monopols verfügte und sich deshalb in eine staatlich regulierte Konkurrenz einfügen musste. Die Rede von einem „Weltmarkt der Religionen“199, in der diese historische Konstellation als verallgemeinerbar angesehen wird, ist auch evolutionstheoretisch nicht unplausibel. Es fällt ja auf, dass in diesem Wettbewerb zumindest keine kriegerischen Auseinandersetzungen im traditionellen Sinne mehr stattfinden. Als Kehrseite dieser internen Freisetzung von (religiöser) Gruppenkonkurrenz muss nun allerdings (wie schon am Beispiel der USA200) das gesteigerte Gewaltpotential in den Binnenstrukturen betrachtet werden. Die Virulenz religiöser Einstellungen, die durch die Dysfunktionalität des Konfliktexternalisierungsmechanismus in der Moderne ausgelöst wird, hat ihre auffälligste Erscheinungsform in der Zunahme fundamentalistischer Bewegungen.201 Als Fundamentalismus in diesem Sinne ist der Versuch zu verstehen, die durch globale Ausdehnung und Verdichtung der sozialen Netze verlorengegangenen kulturellen Sicherheiten (im Gruppenkonsens gegen Fremde, Andersgläubige, Zweifler etc.) wiederherzustellen. Da dies unter den Bedingungen der Moderne kaum noch möglich ist, enden diese Versuche in diffusen Gewaltexzessen und Selbstexklusion.202 Sowenig man in der Beobachtung und Beschreibung der modernen Gesellschaft pauschal von einer „Wiederkehr“ der Religionen sprechen kann, sowenig kann auch die immer wiederkehrende Bereitschaft zur Gewaltlegitimation durch Religionen einfach als „Regression“ erklärt werden, die hinter ihre „eigentliche“ Botschaft zurückfällt.203 Die theologische Unterscheidung zwischen wahrer Lehre und unwahrer Empirie204 ist ungeeignet für soziologische Beobachtungen. Ähnliches gilt für die apologetische Behauptung eines „Mißbrauchs“ der Religion durch Politik.205 Zur Dialektik des Scheiterns tradierter Konfliktexternalisierungstechniken gehört der Umstand, dass durch

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immer wieder aufbrechende Konkurrenzkonflikte zwischen den tradierten Hochreligionen206 – so zB. durch den Streit darüber, ob der Islam oder nur die christlichjüdische Tradition zur deutschen oder europäischen Kultur gehöre -– öffentlichkeitswirksam verdeckt wird, dass fast alle politischen Errungenschaften der Moderne (v.a. Demokratie, Rechtsstaat und individuelle Freiheitsrechte) gegen die Organisationsmacht der traditionellen Religionen erkämpft worden sind. Die Wiederkehr religiös fundierter Lösungsangebote für Probleme sozialer Ordnung lässt sich in zwei Bereichen der modernen Gesellschaft beobachten, die als Sinnprovinzen auseinanderdriften: Zum einen auf der Mikroebene in den von staatlicher Regulierung freigegebenen Freiheitsräumen der Individuen – und zwar vor allem dort, wo sich die Individuen von den Individualitätssteigerungsanforderungen der modernen Gesellschaft überfordert zeigen (und Bildungsprozesse in Familie207 und Schule scheitern208) – und zum anderen auf der Makroebene in den vom säkularen Staat nicht (oder noch nicht) regulierten Zwischenräumen der internationalen Politik (wo neue Formen des Krieges entstehen).209 In den beiden folgenden Kapiteln soll zunächst auf die Bedingungen der Möglichkeit für zivilisiertere Formen der Konfliktverarbeitung eingegangen werden, bevor abschließend die zunehmende Virulenz andauernder Formen religiöser Intervention in der Moderne herausgestellt wird.210


kg (Dez. 2010): Skizzen über Religion – 5. Zivilisierung der Religionen

Kapitel 5: Zur Zivilisierung der Religionen211 Part of man's problem is that his intergroup responses are still crude and primitive, and inadequate for the extended extraterritorial relationships that civilization has thrust upon him. Wilson 1975, 565 Das Alte Testament sagt uns, wir sollten unseren Nachbarn lieben, im Neuen werden wir aufgefordert, unsere Feinde zu lieben. Die moralische Begründung lautet offenbar: Liebe deine Nachbarn und Feinde, dann bringst du sie nicht um. Aber ehrlich gesagt, liebe ich meinen Nachbarn nicht, von meinen Feinden ganz zu schweigen. Besser ist demnach folgender Gedanke: Töte deine Nachbarn oder Feinde selbst dann nicht, wenn du sie nicht liebst. Pinker 2011, 876f.

Das Neue erscheint oft im Gewand des Alten, oft aber auch als dessen größter Feind. So ist der Prozess der Säkularisierung im Zuge der europäischen Aufklärung zunächst (von Gegnern und Befürwortern) als Gegensatz zu aller Religion verstanden worden. Das Mißverständnis ist auch dadurch befördert worden, dass sich im Zuge der Herausbildung moderner (den Nationalstaat zugleich affirmierender und transzendierender) Politikformen innerweltliche Heilslehren entwickelten, deren Aggressionspotential das der tradierten Religionen in den Schatten stellte. Erst im 20. Jahrhundert hat die Einsicht an Gewicht gewonnen, dass es sich bei der Säkularisierung um eine Form der Umstellung der religiösen Orientierungen auf die Bedingungen der modernen Gesellschaft handelt, deren Anfänge – mit der Schwächung des kirchlichen Weltauslegungsmonopols durch Buchdruck und Reformation – bereits in der frühen Neuzeit zu erkennen sind. So konnte M.Weber in der protestantischen Ethik eine Quelle des modernen Kapitalismus, und so konnte E.Durkheim im modernen Individualismus den Kern einer neuen Religion sehen. Diese Vorstellungen sind in der Religionssoziologie weiterentwickelt worden i.S. einer religiösen Evolution, deren Beschreibung sich nicht mehr am westfälischen Friedensmodell der Staatskirchen und auch nicht mehr am römischen Modell der Universalkirche orientiert. Stattdessen stützt sich das Konzept auf das im historischen Kontext der USA als Einwanderungesellschaft entstandene Modell eines Wettbewerbs der Religionsgemeinschaften, das ergänzt wird durch die Herausbildung einer übergreifenden „Zivilreligion“.212 In diesem Modell werden die partikularistischen Merkmale der religiösen Tradition mit den universalistischen Merkmalen der modernen Zivilisation verbunden. Die wichtigste Voraussetzung des Wettbewerbs ist die säkulare Ordnungsmacht zur Domestizierung der Konkurrenz. Der wichtigste Bestandteil der Zivilreligion ist der Glaube an die „Unantastbarkeit“ der Menschenrechte, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind und in vielerlei Formen laufend erweitert werden.

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Das skizzierte Konzept der Entwicklung religiöser Bindemittel der modernen Gesellschaft hat allerdings eine offenkundige Schwachstelle in den ungelösten Problemen staatlicher Ordnungsmacht auf der globalen Ebene. Diese Macht ist sowohl im Hinblick auf die Regulierung des Wettbewerbs der Religionen wie auch im Hinblick auf den Schutz der Menschenrechte in vieler Hinsicht nicht oder nur unvollständig gegeben. 5.1 Alternativen zum Mechanismus der Konfliktexternalisierung in der Moderne Der moderne Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Abweichend von der üblichen Lesart dieses vielzitierten Spruchs213 sind die damit gemeinten Voraussetzungen jedoch nicht allein in den tradierten Formen der Religion sondern viel allgemeiner in den – wenn man die durkheimianischallgemeine Definition zugrundelegt auch religiös zu nennenden – Bindekräften der soziokulturellen Evolution zu sehen.214 Die Antwort auf die Frage, ob es angesichts der zunehmenden Probleme tradierter Konfliktverarbeitungstechniken in der Moderne möglich ist, den tief in der menschlichen Gattungsgeschichte verankerten Konfliktexternalisierungsmechanismus – die Austreibung interner Konflikte, die Vertreibung externer Konkurrenten und die Auslöschung der Handlungsverantwortung215 – außer Kraft zu setzen, hängt u.a. davon ab, ob sich zeigen lässt, dass in der Geschichte der Menschheit (oft in Kombination mit dem Mechanismus der Konfliktexternalisierung, aber kausal davon unabhängig) noch andere Konfliktverarbeitungstechniken entstanden und zur Wirkung gekommen sind. Dafür gibt es in evolutionstheoretischer Perspektive, wie in den vorangehenden Abschnitten wiederholt angedeutet, viele Anhaltspunkte, auf die ich hier noch einmal zusammenfassend verweise.216 In Beschreibungen der menschlichen Kulturgeschichte, die sich auf die Darwinsche Evolutionstheorie stützen, wird zumeist davon ausgegangen, dass das kulturelle Potential zur Ausdehnung menschlicher Sozialität über den Kreis der Verwandtschaftsgruppe hinaus von der Verwendung von Symbolen abhängt, die die Differenz zwischen Innen und Außen in den erweiterten Sozialsystemen markieren.217 Diese symbolischen Markierungen, die in den Steinzeitgesellschaften (also in der längsten Phase der Menschheitsgeschichte) die Schutzwirkung der erweiterten Sozialität vor dem Selektionsdruck der natürlichen Umwelt absichern, indem sie Inklusion und Exklusion regulieren, sind wahrscheinlich schon lange vor der Entwicklung menschlicher Sprachen in der Phase der Hominisation entstanden.218 Es spricht also viel dafür, dass das ingroup-outgroupSchema auch beim Menschen eine genetische Verankerung aufweist und allen kulturellen Formen der Konfliktexternalisierung zugrundeliegt. Es wäre jedoch


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verkehrt, daraus den Schluss zu ziehen, dass es sich um eine unüberwindbare Schranke für die Entwicklung friedlicher Formen der Austragung sozialer Konflikte in der kulturellen Evolution handelt.219 In der neodarwinistischen Literatur ist lange Zeit ignoriert worden,220 dass bereits Darwin in der Konkurrenz um Fortpflanzungschancen unter den in einer Population zusammenlebenden Individuen einen zweiten Mechanismus der Selektion in der natürlichen Evolution entdeckt hat, der unter den Bedingungen kultureller Gruppenevolution besondere Wirkungen entfalten kann. Während der Selektionsdruck der natürlichen Umwelt in kulturellen Sozialsystemen durch Opfer- und Disziplinierungspraktiken verarbeitet wird, die sich letztlich auf physische Gewaltmittel stützen, geht es bei der sexuellen Selektion um eine Ressource, die nur erlangt werden kann, wenn sie freiwillig gegeben wird. Damit ist eine Ordnungsmacht entstanden, die neben und unabhängig von den Machtquellen physischer Gewalt besteht.221 Schon in biologischer Hinsicht basiert die sexuelle Attraktion auf der Andersheit des Anderen.222 Sie stützt sich auf ein Begehren, das nur erfüllt werden kann unter Anerkennung der körperlich-geistigen Selbstbestimmung des Anderen. Wie war es möglich, dass aus einer Kraft, die Mann und Frau verbindet, eine Kraft wurde, die menschliche Gruppen verbindet? Schon in den Stammesgesellschaften der Steinzeit ist aus dieser Quelle eine Struktur entstanden, die das ingroup-outgroup-Schema transzendiert und die Bildung erweiterter (segmentär differenzierter) Sozialsysteme ermöglicht hat. Gerade weil die primordiale Verwandtschaftsgruppe interne Konflikte nicht tolerieren kann und deshalb strikte Sexualverbote (Inzesttabu) errichtet, muss der Frauentausch mit anderen Stämmen (Exogamie) institutionalisiert werden. Das der sexuellen Selektion inhärente Prinzip der Anerkennung des Anderen erweitert und transformiert sich so zur wechselseitigen Anerkennung der Herkunftsgruppen.223 Die durch die Macht der Herkunftsgruppen geschützte Anerkennung der (sexuellen) Selbstbestimmung als Person, schließt unter diesen Bedingungen nicht nur das Besitzrecht am eigenen Körper sondern auch Sacheigentum ein.224 Person und Sache sind so eng miteinander verknüpft, dass aus jeder Weitergabe einer Sache sich eine Schuld zur Gegengabe und damit ein System wechselseitiger Abhängigkeiten ergibt, in dem der, der am meisten geben kann, seinen Rang im Sozialsystem steigert. Das aus den familialen Herkunftsgruppen durch Frauentausch gebildete Sozialsystem stabilisiert sich durch Gabentausch.225 Allerdings bleibt die Ordnung dieser Gesellschaften immer gefährdet durch Verstöße, die RacheZyklen zwischen den Herkunftsgruppen auslösen. Mehr oder weniger willkürliche Opfer-Bestrafung wird zum Mechanismus der Vermeidung bzw. Unterbrechung selbstdestruktiver Rache-Zyklen, da die segmentär differenzierten Gesellschaften noch über keinen zentralen

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Sanktionsmechanismus (kein staatliches Gewaltmonopol) verfügen.226 Tausch- und Opferpraktiken liegen in den Stammesgesellschaften noch eng beeinander.227 Nach Mauss haben die Gaben an Menschen und an Götter (mit der Zwischenform an Verstorbene) die gleichen Motive bzw. Ursachen: Es geht immer darum, Frieden zu erkaufen – also Konkurrenzkonflikte zu vermeiden. Das dominante Verhalten in diesen Praktiken ist orientiert am Erhalt der internen Geschlossenheit der Gruppe. Das gilt ja auch für die Durchsetzung von Inzestverboten und Exogamiegeboten. Alles dient (in proximater Hinsicht) der Verringerung des Selektionsdrucks der äußeren Umwelt auf die Individuen und sorgt zugleich (in ultimater Hinsicht) für deren Verlagerung auf die Ebene der Sozialsysteme – mit der Folge von Gruppenselektion auf der Makroebene und sozialer Binnnenselektion auf der Mikroebene. Die allmähliche Differenzierung zwischen Tausch- und Opferpraktiken – die kulturelle Aufwertung der Ersteren und die kulturelle Abwertung bzw. Verdrängung228 Letzterer – kann vor diesem Hintergrund als ein unbeabsichtigter Nebeneffekt der Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme betrachtet werden. Wir haben es bei der Entstehung der Tauschpraktiken mit einer Form der Konfliktexternalisierung zu tun, in der sich die Quellen des Konflikts in Quellen des friedlichen Umgangs mit Anderen verwandeln.229 Dies ist jedoch keineswegs immer und unter allen Umständen der Fall. In allen Formen des Austauschs ist das unkalkulierbare Zusammenwirken von Mechanismen der Umweltselektion und der sexuellen Selektion zu beobachten. In den stammesgesellschaftlichen Formen des Frauen- und Gabentauschs mit ihren teuren Signalen230 kommt unter dem Druck der Gruppenschließung in besonderer Weise die sexuelle Selektion zum Zuge. Der moderne auf Interessenausgleich basierende Tauschhandel stellt sich eher umgekehrt (ohne direkten Zusammenhang mit den Verhaltensmustern sexueller Wahl) als eine friedliche Form der Reinternalisierung des Selektionsdrucks der Umwelt dar.231 Sogar in der Entwicklung einer globalen Gesellschaftsordnung auf der Basis der wechselseitigen Anerkennung nationalstaatlicher Regime232 reproduziert sich ein Ordnungsmuster, dessen Ursprünge bereits in den vorstaatlichen Stammesgesellschaften der Steinzeit liegen. In evolutionstheoretischer Perspektive wird erkennbar, dass ein Potential für friedliche Verkehrsformen in der menschlichen Gattungsgeschichte schon angelegt ist.233 Auch in der Moderne reproduziert sich in idealtypischen Formen die Dichotomie der Verhaltensmuster zwischen Innen- und Außenbeziehungen menschlicher Sozialsysteme. Die funktional differenzierende Ordnung der modernen Gesellschaft ist eine Errungenschaft der kulturellen Evolution, die von (religiös aufgeladenen) Entdifferenzierungsprozessen immer wieder gefährdet, also laufend erneuerungsbedürftig ist.234 Im


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Hinblick auf die Außenbeziehungen gibt es als romantisch-entdifferenzierten Gegenentwurf zu dem zivilisatorischen Projekt der Aufklärung (der politischen Freisetzung und Selbstkontrolle menschlicher Antriebe) die Idee einer friedensschaffenden Ausdehnung des Liebesverhaltens auf die ganze Menschheit.235 Die Zulassung von Konkurrenz in den geregelten Formen des Wettbewerbs auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Funktionsbereichen der modernen Gesellschaft wird von vielen Zeitgenossen als Bedrohung ihrer kulturellen Werte wahrgenommen (und als Freisetzung menschlichen Raubtierverhaltens ziert236). Die kulturpessimistische Klage beruht allerdings auf einer mangelhaften Wahrnehmung der Ebenenunterscheidungen, die mit der modernen Gesellschaft evoluiert sind. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Wiederkehr der Konkurrenz zugleich mit dem dynamisierenden Effekt der Freisetzung natürlicher Dispositionen menschlichen Verhaltens auch das Risiko der Entdifferenzierung und des Rückfalls in barbarische Verhaltensweisen steigert. Es wäre jedoch verkehrt, dieses Risiko einseitig dem modernen Liberalismus und Individualismus anzulasten. Dieser ist nur symbolischer Ausdruck und Reflexionsform einer Form von Sozialität, in der die traditionell verfemte Konkurrenz der Individuen und Gruppen in der zivilisierten Form des Wettbewerbs in die menschlichen Sozialsysteme wiedereingeführt wird. Friedliche Formen der Konfliktaustragung dienen der sozialen Integration nachhaltiger als konfliktverleugnende Mechanismen der Externalisierung. Was die moderne Gesellschaft benötigt, sind also konflikttolerante Formen der Zivilreligion, die diesen Prozess (global wirksam) abstützen. 5.2 Transformation der Konfliktvermeidungstechniken auf dem Weltmarkt der Religionen Die bisher skizzierte Argumentation zielte darauf ab, Probleme religiöser Orientierungen in der modernen Gesellschaft im Rekurs auf evolutionäre Funktion und historische Formen der Religion zu erklären. Mit der These, dass die tradierten Formen religiöser Konfliktverarbeitung unter Bedingungen der globalen Ausdehnung und Verdichtung des sozialen Netzwerks der Gesellschaft nicht mehr funktionieren, ist nicht die Behauptung verbunden, dass Konfliktexternalisierung empirisch nicht mehr vorkommt, sondern nur, dass der Mechanismus nicht mehr den friedensstiftenden Effekt im Inneren der Sozialsysteme hat, den er in langen Phasen der Menschheitsgeschichte hatte. Die erfolgreichen Krieger werden nicht mehr zu Helden, wenn sie nach Hause kommen, sondern sie haben Integrationsprobleme. Sie müssen sich eventuell sogar wegen Menschenrechtsverletzung vor einem internationalen Gerichtshof verantworten. Auch die Opferung von Sündenböcken für Probleme der Gemeinschaft wird nicht mehr als heilsam, sondern immer häufiger als Ablenkungsmanö-

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ver verstanden. Kurz gesagt: Die Konfliktexternalisierung funktioniert nicht mehr, weil der Konflikt auf die eine oder andere Weise vagabundierend ins Innere der Gemeinschaft zurückkehrt. Die „Rückkehr der Religionen“ fällt also zusammen mit der Rückkehr der Konflikte. Die These von der zunehmenden Dysfunktionalität der Religionen in der Moderne ist (bereits eingangs) ergänzt worden durch die These einer Transformation – deren Dimension nur vergleichbar mit der Umstellung von Jäger/Sammler-Gesellschaften zu frühen Hochkulturen.237 Eine solche Transformation kann im Außenverhältnis nur unter Anerkennung des Primats funktionaler Differenzierung und in der zivilisatorischen Form eines friedlichen Wettbewerbs der Religionsgemeinschaften stattfinden, der unter den Bedingungen der Globalisierung transnationale Formen der Regierung voraussetzt. Im Innenverhältnis geht es um die Domestizierung der (den sozialen Zusammenhalt gefährdenden) Konkurrenzkonflikte auf allen Ebenen: von den Geschlechts- und Generationsbeziehungen bis hin zu den internationalen Beziehungen. Die religiöse Fundierung müsste ohne den selbstdestruktiv gewordenen Externalisierungsmechanismus auskommen: also ohne moralische Disqualifkation von Außenstehenden, ohne symbolische Konstruktion von Sündenböcken und ohne Flucht aus der Verantwortung für das eigene Handeln in der Gesellschaft und ihrer natürlichen Umwelt in eine symbolische Hinterwelt. Ob und inwieweit die organisierten Religionsgemeinschaften zu einer solchen Adaptation an ihre veränderten Umweltbedingungen fähig sind, muss als offene Frage behandelt werden. Die moderne Gesellschaft unterminiert kulturelle Selbstverständlichkeiten und zwingt zur bewußten Entscheidung.238 Religiöser Fundamentalismus ist zu verstehen als der Versuch, die verlorene Selbstverständlichkeit wiederherzustellen – eine Paradoxie, die nur mit totalitärer Gewalt aufgelöst werden kann.239 Im Sinne der bisher skizzierten Argumentation sind zwei Aspekte der modernen Gesellschaft hervorzuheben: Erstens, dass es sich in der Form ihrer Organisation (auf der Makroebene) nicht mehr nur um einen einzigen kollektiven Leistungsanbieter (den staatlichen Herrschaftsapparat) sondern um ein funktional ausdifferenziertes Spektrum untereinander konkurrierender Organisationen handelt. Und zweitens, dass diese Organisationen auf funktionsspezifisch ausdifferenzierten Märkten konkurrieren, die sich mit technisch erweiterten Mitteln weit über den Horizont der Interaktion unter Anwesenden ausdehnen. Der Umstand, dass diese Funktionssysteme sich in der modernen Gesellschaft auch über das durch den modernen Nationalstaat kontrollierte Territorium hinaus ausdehnen, muss zugleich als wesentliche Ursache für die mangelnde Adaptivität religiöser Lösungsvorschläge für soziale Ordnungsprobleme in der modernen Gesellschaft betrachtet werden. 240


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In dieser Hinsicht ist gefragt worden, welche objektiven Prozesse jenseits des normativ Wünschbaren der Zivilisierung sozialer Ordnung auf globaler Ebene entgegenkommen.241 Antworten auf diese Frage sind in zweierlei Richtung zu suchen: Zum einen im Bezug auf gegenwärtig erkennbare und in die Zukunft verlängerbare Entwicklungen der modernen Weltgesellschaft,242 zum anderen aber auch rückblickend im Rekurs auf natürliche Ausgangsbedingungen und bisher ungenutzte oder verschüttete Potentiale innerhalb der kulturellen Evolution. Es geht in beiden Hinsichten darum zu zeigen, dass zivilisierte Formen der Konkurrenz und des Austauschs möglich sind. 5.3 Auf dem Weg zu einer globalen Zivilreligion? Die Chance einer Erneuerung der Religion in der modernen Gesellschaft ergibt sich auch aus den enttäuschenden Erfahrungen mit den säkularen Heilslehren des 20. Jahrhunderts, in denen der alte Externalisierungsmechanismus sich blindwütig reproduziert hat. Neue, zivilisiertere Formen der Weltreligion sind jedoch allenfalls in Ansätzen sichtbar.243 Hinweise auf die Entstehung neuer Formen der Religiosität in der Moderne und wichtige Anstöße zu ihrer Untersuchung hat Luckmann in seinem Buch über die „Unsichtbare Religion“ (1967) gegeben.244 In der Rede von der Unsichtbarkeit spiegelt sich noch die Perspektive ihrer tradierten Organisationsformen. In der soziologischen Perspektive auf das Alltagsverhalten der Individuen sind neue Formen der Religiosität heute vielfältig sichtbar.245 Im Anschluss an Luckmann hat Bellah (1986) seine Theorie der Zivilreligion entwickelt.246 Unter diesem Begriff werden v.a. zwei konkurrierende Modelle angeführt: 1. das europäische Modell des Verfassungspatriotismus, eine Art säkularer Ersatzreligion, die von Rousseau als Desiderat des modernen Nationalstaats formuliert wurde, in der Rezeption bei Durkheim aber schon global angelegt ist247 - so jüngst auch bei Habermas (2005a) als europäisches Modell einer räsonnierenden Öffentlichkeit. 2. das US-amerikanische Modell der Zivilreligion, in dem die Konkurrenz der Religionen – im Schatten der Staatsmacht - in friedlichen Wettbewerb transformiert und durch eine alle Religionen übergreifenden öffentlichen Glauben ergänzt wird. Diesem zuerst von Bellah so bezeichneten Modell, ist von Casanova (2010) das vergleichsweise höhere Potential für eine globale Durchsetzung attestiert worden.248 Der im Blick auf das friedensstiftende Potential der Religionen entscheidende Punkt ist keineswegs nur deren innere (kirchlich organisierte und theologisch rationalisierte) Verfassung,249 sondern der – dem religiösen Selbstverständnis äußerliche – Umstand, dass die Formen ihrer Konkurrenz nicht – wie in den alten und neuen Kriegen – jenseits, sondern diesseits der Reichweite von staatlicher Regulierung als friedlicher Wettbewerb ausgetragen werden. Die zivilisatorische Form

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des Wettbewerbs setzt eine regulierende (und mit den entsprechenden Sanktionsmitteln ausgestattete) Instanz voraus. Religionsfreiheit, Anerkennung weltanschaulicher Pluralität und wechselseitige Toleranz sind nur mit den Mitteln des säkularisierten Staates gegen die Ansprüche der Religionsgemeinschaften durchzusetzen. Wie bei anderen Formen staatlicher Regulierung in der Moderne geht es natürlich auch hier darum, die Macht dieser Instanz zu beschränken durch Formen der Gewaltenteilung und demokratischen Kontrolle. In der Institutionalisierung dieser Kontrollen liegt das noch ungelöste Problem für global wirksame Regulierungen.250 Casanova hat auf das liberal-individualistische Modell sozialer Ordnung Bezug genommen, als er (in Abgrenzung vom europäischen Weg staatlich regulierter Religionsmonopole) im US-amerikanischen Modell des Wettbewerbs der Religionsgemeinschaften ein passendes Modell für die Entwicklung der Religionen in der globalen Gesellschaft sah. Er hat damit nicht nur dem (latenten) Anti-Individualismus religiös fundierter Kritik an der modernen Gesellschaft251 widersprochen, sondern implizit auf ein Problem aufmerksam gemacht, das in vielen anderen Untersuchungen und theoretischen Reflexionen über die Entwicklung der Religion in der modernen Gesellschaft vernachlässigt wird252: das Desiderat einer transnationalen staatlichen Regulierung des Wettbewerbs als Voraussetzung für friedliche Austragungsformen.253 Casanova hat von Luckmann die Idee der Sakralisierung des Individuums254 übernommen und als Kernelement der neuen Formen der Religiosität ausgezeichnet.255 Hier handelt es sich um hochindividualisierte Formen der Sinnsuche und der Entwicklung moralischer Urteile, die sich aus der Struktur funktionaler Differenzierung ergeben256 und mit der traditionellen Doppelmoral, insbesondere der auf kriegerische Opferbereitschaft gerichteten Außenseite, nicht mehr vereinbar sind. Für eine global ausgedehnte Menschenpopulation, die in ihrer Umwelt keine Sozialsysteme gleicher Art mehr vorfindet, könnte der Kult der menschlichen Individualität, in dem alle strengen Gruppenbindungen aufgelöst und durch Individualrechte ersetzt werden, die passenden moralischen Orientierungen zur Verfügung stellen.257 Als Erweiterung gegenüber der von Luckmann, Bellah, Casanova u.a. im Anschluß an Durkheim vorgebrachten Focussierung auf das Individuum als Objekt neuer Formen der Religiosität ist jedoch auch auf die eigentümliche Überhöhung (und Mystifikation) zu verweisen, die die menschliche Kommunikation in ihren vielfältigen (technisch erweiterten) Formen in der Moderne genießt.258 Vermutlich sind die Steigerungsformen der Individualität und der Kommunikation gleichermaßen (komplementär) Elemente der neuen Zivilreligion.259 In vielen Beiträgen zur Diagnose des Wandels der Religiosität in der Moderne zeigt sich die Gefahr einer


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Überfrachtung der Erwartungen, die an diese neuen Formen gerichtet werden. In evolutionstheoretischer Perspektive ist aber nicht zu erwarten, dass der mit dem modernen Nationalstaat eingeschlagene Pfad der Differenzierung ordnungsstiftender Wirkungskräfte zwischen Religion und Politik auf der globalen Ebene, wo die weltliche Supermacht (noch) fehlt, noch einmal rückgängig gemacht werden könnte.260 Es wäre eine trügerische Hoffnung, Weltfrieden durch eine neue diffusreligiöse Supermacht erlangen zu wollen.261 In dieser Hinsicht wäre es schon ein Gewinn, wenn sich ein zivilisierter Wettbewerb der Religionen durchsetzen ließe. Die Mobilisierung religiöser Einstellungen mag für die Stabilisierung sozialer Verhaltensmuster in der Zivilgesellschaft unersetzlich sein. Eine den Bedingungen der Globalisierung angemessene Ordnung – eine Zivilisationsökumene262 - kann aber nicht auf dem familistischüberdehnten Liebesideal (der totalen Inklusion, die Exklusionen immer schon voraussetzt) beruhen, sondern nur auf dem politisch-rechtlichen Ideal wechselseitiger Anerkennung in Gleichheit und Freiheit.263 Das Potenzial für eine soziale Ordnungsmacht, die auf Externalisierungsopfer verzichten kann, ist auch auf globaler Ebene nur im Zusammenwirken mit einem weltlichen Regime zu erkennen. Das evolutionstheoretische Argument der Untrennbarkeit von individueller und sozialer Ebene für die Erklärung religiöser Phänomene muss also für die moderne Gesellschaft spezifiziert werden. Grundsätzlich gilt auch hier, dass die soziale Bindungsfunktion (der kosmopolitisch angelegten Zivilreligion) nicht auskommt ohne die Ressourcen, die sie aus den religiösen Einstellungen bezieht, die sich auf der Ebene der Individuen entwickeln und regenerieren.264 Andererseits sind diese Einstellungen in der Moderne aber einem erhöhten Selektionsdruck durch den Wettbewerb der privatisierten Konfessionen in der öffentlichen Wahrnehmung ausgesetzt. So ergibt sich gerade aus der relativen Entkoppelung zwischen subjektiv-individuellen Einstellungen und den politisch wirksamen Bindungsformen der Religion eine erhebliche Dynamik zur Anpassung an die veränderten Umweltbedingungen in der modernen Weltgesellschaft.265 5.4 Die moderne Schule als „Kirche“ der Zivilreligion? Bis zum Beginn der Moderne waren die Mittel der Sozialisation und Erziehung stets in regional-kulturspezifischen Formen und Praktiken der Religion eingebettet. Der globale Ausbreitungserfolg der modernen Schule übertrifft aber heute bereits den der sogenannten Weltreligionen. Die Organisation der Schule kann insofern als „Kirche“ des Individualitätsglaubens betrachtet werden, die der Unsicherheitsabsorption unter den veränderten Bedingungen der Moderne dient.266

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Die bisherigen Ausführungen zum Verhältnis zwischen proximaten und ultimaten Faktoren in Bezug auf die Erklärung religiöser Phänomene müssen vor diesem Hintergrund erweitert und spezifiziert werden. Zweifellos wäre es zu schematisch, in den religiösen Orientierungen auf der Ebene der Individuen nur ein inneres Belohnungssystem für das auf der Makroebene erwartete Verhalten zu sehen. Man kann das Verhältnis auch in umgekehrter Perspektive betrachten: Die Praktiken und Lehren der Religion wären insofern nur die äußeren Formen267 der Stabilisierung jener Innenorientierung, die Menschen ontogenetisch in ihrer (unwahrscheinlich lang dauernden) Primärsozialisation erwerben und die ihnen phylogenetisch zur Ablösung für instinktgesichertes Verhalten (die Muster der Koppelung zwischen Organismus und Umwelt bei anderen Arten) bzw. als deren kulturelles Äquivalent gedient haben und immer noch dienen.268 Eine solche Betrachtungsweise ist bereits in Durkheims Vorlesungen über Erziehung, Moral und Gesellschaft (1984) angelegt.269 Sie wird auch gestützt durch Luckmanns These über die „unsichtbare Religion“ (1991), wonach basale Formen religiöser Welterfahrung in wiederkehrenden Prozessen der Sozialisation verankert sind.270 In dieser Perspektive lässt sich nun auch die Frage nach den basalen Replikationseinheiten kultureller Evolution präziser beantworten. Gegen die von Dawkins vorgeschlagene Bestimmung genäquivalenter Replikationseinheiten in der kulturellen Evolution ist m.E. zu Recht eingewandt worden, dass der Begriff des Mems zu weit gefasst ist und zu wenig gegen beliebige Umwelteinflüsse geschützt erscheint. Diesem Einwand kann aber Rechnung getragen werden, wenn man den kulturellen Replikationsmechanismus an die intergenerative Tradierung, also ein Durchlaufen von Sozialistionsprozessen bindet. Dabei stellt besonders die primäre Sozialisation einen Filter gegen allzu komplizierte Memkomplexe dar. Dies ist nun der Sache nach vor allem bei der Weitergabe von religiösen Orientierungen der Fall. Kulturelle Replikationseinheiten sind insofern immer schon die Quellen der Regeneration von Religiosität.271 Das moderne Bildungswesen besteht allerdings nicht nur aus elementaren Sozialisationserfahrungen und ihrer (pädagogisch überhöhten) Verlängerung in Formen des „lebenslangen Lernens“, sondern auch in den meritokratischen Formen des Konkurrenzschutzes durch Bildungsdiplome. Hierin ist kein „Rückfall“ in ständische Formen der Monopolisierung von Lebenschancen zu sehen, sondern eine individualisierende Einübung friedlicher Formen des Wettbewerbs unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung.272 Im Hinblick auf zivilreligiöse Funktionen des modernen Bildungssystems wäre hier auch das Zusammenspiel von Beziehungs-, Sozialisations- und StatuskonfliktAspekten in der Entwicklung der menschlichen Individualität einzubeziehen.273


kg (Dez. 2010): Skizzen über Religion – 6. Virulenz der Religionen

Kapitel 6: Zur Virulenz der Religionen274 Die ganze Geschichte der Menschheit durchzieht … ein harter Kampf gegen die Mächte der Finsternis, ein Kampf, der schon am Anfang der Welt begann und nach dem Wort des Herrn bis zum letzten Tag andauern wird. Zweites Vatikanisches Konzil, 1965, Gaudium et spes

Der religiöse Fundamentalismus ist ein neues Phänomen, das im Gewande alter Formen auftritt, die in der Moderne so nicht mehr kontinuierbar sind. Er verdankt seine Existenz und globale Ausbreitung ungelösten Problemen der modernen Gesellschaft hinsichtlich der Zivilisierung von Konkurrenzkonflikten. Fundamentalistische Tendenzen setzen sich in den Problemzonen staatlicher Regulierungsmacht fest: auf der Mikroebene in scheiternden Bildungsprozessen der Individuen (zerfallende Familien und demotivierende Schulen), auf der Makroebene in scheiternden Bildungsprozessen von Organisationen (zerfallende Staaten und korrupte Netzwerke).275 Fundamentalistische Heilslehren sind als Versuche zu verstehen, die verlorengegangene Selbstverständlichkeit vergangener Ordnungsmuster wiederherzustellen. Sie versprechen eine ungebrochene Kontinuität in der Wahl ihrer Zwecke und Mittel: Auf der Mikroebene strenge Regulierung der Geschlechtsbeziehungen zugunsten der Vermehrung der eigenen Gruppe (demographische Aufrüstung) und auf der Makroebene gerechten Frieden durch geheiligte Kriege. Tatsächlich sind sie jedoch in der Wahl ihrer Mittel typisch modern. Jeder Versuch, die alten Ordnungsmuster innerhalb der Moderne wiederherzustellen ist voluntaristisch und führt in offene Gewaltkonflikte.276 6.1 Krieg und Frieden Als Grundmuster religiös fundierter Lösungen für Probleme sozialer Ordnung zeigt sich in der bisherigen Geschichte der Menschheit vorzugsweise die moralische Doppelstrategie: friedlich nach Innen, kriegerisch nach Außen.277 Dieses Verhaltensmuster lässt sich unter den Bedingungen der globalen Ausdehnung und internen Verdichtung der modernen Gesellschaft nicht mehr problemlos fortsetzen.278 Allerdings ist zu beobachten, dass auch unter den Bedingungen der globalisierten Gesellschaft ein wesentliches Moment des (ambivalenten) Beitrags der Religionen im Verhältnis von Krieg und Frieden erhalten bleibt: Das ist die Möglichkeit zur Identifikation des inneren Feindes, die Exklusion von Individuen und Gruppen, die sich zum Sündenbock für Probleme der Gemeinschaft, also für die stellvertretende Externalisierung (im Sinne des archaischen Opfers) eignen. In dieser Hinsicht erwachsen den Religionen neue Resonanzbedingungen im Weltinnenraum der Politik279 - insbesondere in jenen Zwischenräumen, die durch die modernen Formen des staatlichen Gewaltmonopols nicht oder noch nicht erreicht werden.280 Bei

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zwei Drittel aller gegenwärtig beobachtbaren Kriege geht es um ethnisch-national-religiöse Identitätsprobleme, die sich – ähnlich wie in den segmentär differenzierten Gesellschaften – in ununterbrochenen Ketten reziproker Gewaltausübung reproduzieren.281 Korruption und mafiöse Netzwerke sind Beispiele für mißlingende Externalisierung eines konfliktiv abweichenden Handelns, das in der modernen Gesellschaft zugleich aus- und doch eingeschlossen ist. Korruption ist das normativ Ausgeschlossene, das sich wie ein Parasit in den bestehenden Strukturen der Sozialität reproduziert, diese unterläuft und evtl. sogar zerstört.282 Hier ist zunächst zu konstatieren, dass die Definition dessen, was normativ als Korruption gilt, sich mit der Ausdehnung und Binnendifferenzierung der Gesellschaft erweitert und spezifiziert wurde, heute also nicht nur auf politisches sondern auch auf wirtschaftliches Handeln bezogen wird. Ein nicht nur juristischer sondern soziologischer Korruptionsbegriff muss sich auf die Struktur sozialer Binnendifferenzierung beziehen. In diesem Sinne wäre natürlich auch religiöser Fundamentalismus ein Fall von Korruption, auch wenn dies in den internationalen Korruptionsindices so bisher nicht auftaucht. Obwohl die generelle Teilnahmemotivation an Organisationen in der modernen Gesellschaft zunehmend durch die Sanktionsmittel der Hierarchie ersetzt wird, ist nicht zu bestreiten, dass Phänomene der Konkurrenz auf der Makroebene von kulturell verdrängten Motiven der Individuen auf der Mikroebene angetrieben werden, die in immer wieder neuen Formen auftauchen.283 Das ist leicht zu erkennen in den alten und neuen Austragungsformen der kriegerischen Konkurrenz zwischen Stämmen und Staaten. Keine solche Auseinandersetzung kommt aus ohne eine religiöse (ethnozentrierte, hochkulturell-missionarische oder national-zivilreligiöse) Aufladung der Motive auf der Mikroebene.284 Der virulente Effekt religiöser Einstellungen in der modernen Gesellschaft ist in besonderer Weise an den „Neuen Kriegen“ zu beobachten.285 In dieser Hinsicht ist zwischen partikularistischen und universalistischen Formen der Kriegsführung unter den Bedingungen der globalen Ausdehnung der modernen Gesellschaft zu unterscheiden. Erstere sind in den staatlich nicht regulierten Zwischenräumen der modernen Gesellschaft zu beobachten, Letztere hingegen entwickeln sich als Teil einer globalen Konfliktkonstellation. Sie sind von Huntington als Bruchlinienkriege bezeichnet worden.286 Das Neue an den partikularistischen Formen ist in einer parasitären Beziehung zu den alten Formen zu erkennen, die sich unter den Bedingungen des modernen Nationalstaats mit stehendem Heer und politischem Gewaltmonopol entwickelt haben. Diese Formen des Krieges sind durch den sogenannten Rüstungswettlauf nur noch für wenige Supermächte und Staatenbündnisse mit Aussicht auf Erfolg zu führen. Die neuen Kriege finden gewissermaßen im Schatten der globalen Hochrüstung mit den Abfallprodukten der Waffenproduktion


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statt. Typisch für diese neuen Kriege ist die Verbindung arachaischer Formen der Konfliktaustragung – Clanherrschaft, Warlords, Rache-Zyklus – mit modernsten Formen der Ressourcengewinnung. Anders als in modernen Kriegen, die sich aus wirtschaftlichen Gründen nicht lohnen, aber auch anders als in den vormodernen Kriegen, die sich (nicht nur mental – im Rachezyklus sondern auch physisch durch Auspressung der okkupierten Bevölkerung) von selbst ernähren, verhindert hier der Anschluss an den modernen Weltmarkt in Form der globalen Schattenwirtschaft (Diamantenhandel, Kokain- und Heroinhandel, Frauenprostitutionsund Migrationshandel u.a.) das natürliche Austrocknen der materiellen Ressourcen der Kriegsführung. In einer gängigen These (aus marxistischer Theorietradition) wurde behauptet, dass Kriege aus wirtschaftlichen Interessen geführt würden. Dies trifft jedoch nur in sehr eingeschränktem Maße zu: nämlich für diejenigen Teile der Wirtschaft, die kriegstaugliche Waffen produzieren, und im übrigen für Staaten, die wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig sind. In makroökonomischer Perspektive ist längst nachgewiesen, dass der Krieg kein erfolgversprechendes Geschäftsmodell ist. Kriege werden deshalb auch nicht von Staaten mit prosperierender Wirtschaft angefangen, sondern eher von denjenigen, die in der Konkurrenz zu unterliegen drohen. Daher auch hier die Wichtigkeit politisch erweiterter Wirtschaftsräume – wie in der EU – die die wirtschaftliche Konkurrenz in Formen des friedlichen Wettbewerbs überführen (und auch den wirtschaftlich schwächeren Mitgliedern das Überleben garantieren). Sicherheit vor gewaltsamen Konkurrenzkonflikten ist auch im globalen Zusammenhang ein Kollektivgut, von dem niemand ausgeschlossen werden kann. Daher werden Verträge zwischen Staaten geschlossen, um die Erosion der Sicherheit durch Trittbrettfahrer zu vermeiden. Wenn die These, dass die moderne Wirtschaft zu den Kriegsgewinnlern gehört, als widerlegt gelten kann, wie steht es in dieser Hinsicht mit der Religion?287 Unter den Bedingungen der durch staatliches Gewaltmonopol und sicherheitsproduzierende Staatenbündnisse erweiterten sozialen Binnenräume ist zu erkennen, dass die religiösen Organisationen, die sich traditionell stets nach Innen als Friedensstifter, nach Außen aber als Kriegstreiber288 betätigt haben, zu Friedensverlierern werden. Sie verkünden zwar weiter ihre Friedensbotschaften, nunmehr nicht nur für die eigene Klientel sondern auch auf interreligöse Dialog-Kongresse, haben jedoch kaum mehr Einfluß auf die tatsächlichen Konfliktverläufe. Sie verfügen weder über die Glaubwürdigkeit noch über die Sanktionsmacht, um ihre Friedensbotschaften vermitteln zu können. Ersteres nicht, weil der Dialog immer noch auf der Grundlage unteilbarer Wahrheitsansprüche geführt wird, Letzteres nicht, weil sich die transnationalen Formen der Staatlichkeit nicht mehr auf die Legitimation einer privilegierten Religionsgemeinschaft stützen können.289

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Es gibt jedoch in dieser Hinsicht offenkundig auch neue Resonanzmöglichkeiten für die alten Botschaften.290 Sie werden dort (noch oder wieder) benötigt, wo im Schatten der globalen Sicherheitszonen neue Kriege ausbrechen, die an archaische Formen der Konfliktaustragung – Warlords, Clan-Herrschaft, Rache-Zyklus – wiederanknüpfen291 und dabei in parasitärer Form sich der Ressourcen der modernen Weltwirtschaft bedienen.292 Hier handelt es sich häufig um marodierende Akteure, die sich vom Krieg ernähren und sich dabei sozialer Konfliktthemen nur als Legitimationsfassade bedienen, um den tatsächlichen Konflikt zwischen sich und der Zivilbevölkerung zu verdecken. Ähnliches gilt auch für den Terrorismus, der als neue Form des globalen Bürgerkriegs sich religiöser Legitimationsmuster bedient.293 Hier interessiert vor allem die Frage, warum und inwieweit diese Legitimationsmuster noch funktionieren. Im Bezug auf die neuen, globalisierten Formen des Konflikts wird sich zeigen müssen, ob die Religionen den evolutionären Sprung zur Orientierung an einem global befriedeten Binnenraum schaffen, oder ob sie in dem obsolet gewordenen Innen-Außen-Schema verharren.294 6.2 Sexualität und Fortpflanzung Mit dem Ende der Externalisierbarkeit der Konflikte und der Wiedereinführung der Konkurrenz im Innenraum der Gesellschaft löst sich auch die traditionelle Diversifikation der Geschlechtsrollen auf.295 Es gibt keine Verwendung mehr für die Arbeitsteilung zwischen kriegerischen Samurais und sanften Geishas. Was aber bleibt – und in der Kultur der Moderne neu interpretiert werden muss – ist das natürliche Fundament der Geschlechtsrollen, das sich funktional auf Fortpflanzung und Aufzucht des Nachwuchses bezieht, aber in der kulturellen Evolution eine Vielzahl weiterer Bedeutungsmuster transportiert.296 In Bezug auf diese Funktionen entbrennen immer wieder Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit. Hier liegt ein weiteres Feld für die Wiederkehr religiöser Einstellungen in der unmittelbaren Lebenswelt297 der Individuen. Religiösfundamentalistische Bewegungen können vor allem dort Fuß fassen, wo die durch die komplexe Binnenstruktur der modernen Gesellschaft geforderten Bildungs- und Individualisierungsprozesse scheitern. Die Attraktivität religiöser Regulierungen des Sexualverhaltens ist angelegt in der in archaischen und in traditionellen Gesellschaften verstärkten Funktion für die Binnenstabilisierung der Gemeinschaften und für die Entfaltung eines Bevölkerungsüberschusses zur kriegerischen Konkurrenz mit anderen Gesellschaften.298 In allen älteren Gesellschaften besteht das Problem, die in der sexuellen Selektion (der weiblichen Wahl unter Anerkennung der Besitzrechte am eigenen Körper) angelegten zivilisatorischen Potentiale nicht erodieren zu lassen durch die ständig drohende Wiederkehr der


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Bereitschaft zu gewaltsamer Aneignung des Anderen (seines Körpers und seines Eigentums) i.S. der Überlebenskonkurrenz. Wo immer nun die moderne Gesellschaft nicht für eine soweit zureichende Verteilung der Ressourcen sorgt, dass das – im Prinzip auf Verschwendung angelegte – Verhaltensmuster der sexuellen Selektion praktiziert werden kann (wo also die Ressourcen fehlen, um sich in der sexuellen Konkurrenz gleichberechtigt einzubringen) bricht die (zumeist männlich-juvenile) Gewaltbereitschaft wieder hervor – und komplementär dazu erscheinen die traditionellen Mittel der Unterdrückung sexuellen Verhaltens wieder attraktiv. In einer ausführlicheren Argumentation wäre hier von dem („ultimaten“) evolutionstheoretischen Kriterium des Fortpflanzungserfolgs ausgehend das Paradox aufzulösen, dass in der Moderne gerade die kulturelltechnisch erfolgreichsten (Teil-) Gesellschaften in dieser Hinsicht zurückfallen. Dieses Paradox lässt sich – eine Theorie der Gruppenevolution vorausgesetzt - in zwei Schritten auflösen.299 Erstens handelt es sich um ein einziges (binnendifferenziertes) Sozialsystem - es existiert also gar keine Konkurrenz verschiedener Gesellschaften. Zweitens kann der Verzicht auf Nachwuchs bei einem Teil der Population (wie schon in tierischen Sozialsystemen zu beobachten oder bei zölibatären Priestern) als Beitrag zum Überleben des Gesamtsystems interpretiert werden.300 Der enorme Fortpflanzungserfolg der menschlichen Art – ihre globale Ausbreitung auf Kosten vieler anderer Arten - kann auch als Beleg dafür angesehen werden, dass die kulturelle Sonderevolution, mit deren Mitteln dieser Erfolg ermöglicht wurde, letztlich den Imperativen der Naturevolution folgt.301 Allerdings zeigt sich in den kulturell fortgeschrittensten Teilen der modernen Weltgesellschaft ein Rückgang der Geburtenraten, der einer solchen Deutung zu widersprechen scheint. Die generell zu beobachtende Korrelation zwischen religiöser Bindung und relativ höheren Geburtenraten hat manche Autoren sogar dazu verführt, Religion als natürliches Heilmittel (gegen die in den sinkenden Geburtenraten zutagetretenden Dekadenzerscheinungen) der modernen Gesellschaft zu empfehlen.302 Es handelt sich bei solchen Empfehlungen m.E. um eine Wiederkehr jenes Missbrauchs der Darwinschen Evolutionstheorie, der in den säkularen Heilslehren des 20. Jahrhunderts verwendet und (missverständlich) als „Sozialdarwinismus“ bezeichnet wurde.303 Es ist auch kein Zufall, dass dieser Missbrauch im Gewande der fundamentalistischen Erneuerung der traditionellen Heilslehren der Religion auftritt. Denn diese haben seit jeher die Ausbreitung der eigenen Gemeinschaft auf Kosten Anderer über das Recht des Einzelnen gestellt. Dazu gehörte immer auch die „demographische Aufrüstung“304 mit den Mitteln des Verbots individueller Geburtenkontrolle. In evolutionstheoretischer Perspektive ist es jedoch weder möglich, sinkende Geburtenraten

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als widernatürlich zu bezeichnen, noch gar die politische Intervention dagegen als naturgemäß zu legitimieren. Es handelt sich bei dieser Art von moralischer Aufrüstung – angesichts der globalen Überbevölkerung des Planeten – um Waffen in einem Weltbürgerkrieg.305 Die Wiederkehr religiöser Regulierungen der Sexualität und Fortpflanzung ist mit neuen Formen der Gewalt verbunden. Im Rahmen der hier skizzierten Theorie sozialer Gruppenevolution ist zu erkennen, dass die religiös legitimierten Gebote und Verbote in Bezug auf die Fortpflanzung keineswegs dem evolutionären Muster der sexuellen Selektion folgen, aus dem sich die kulturellen Formen der Anerkennung von Gleichheit und Freiheit entwickelt haben. Sie folgen vielmehr einseitig dem Muster der Umweltselektion und machen Argumente der Überlebenskonkurrenz geltend, die an den Realitäten der modernen Weltgesellschaft weitgehend vorbeigehen. Die religiöse Fortpflanzungsmoral zeigt ihren im Kern unfriedlichen Charakter nicht nur im Außenverhältnis (im Verhältnis zu anderen Fortpflanzungsgemeinschaften, die in der modernen Weltgesellschaft nur noch als ethnische Fiktionen existieren) sondern vor allem im Innenverhältnis: in der Bekämpfung jener Freiheits- und Gleichheitsrechte – von denen die kulturelle Evolution weitgehend getragen ist: im Recht der Frauen, über ihren Körper, der Männer und Frauen über die Früchte ihres sexuellen Verkehrs zu entscheiden. Wo das Recht des ungeborenen Lebens höher bewertet wird, als der Anspruch lebender Individuen darauf, von ihren Eltern gewollt und geliebt zu werden (wo sogar das durch Vergewaltigung erzeugte Lebewesen ausgetragen werden soll) stellt die diffuse Liebessemantik nur einen Deckmantel für entdifferenzierende Formen der Gewaltausübung dar. Stärker noch als die archaische Opfer-Rhetorik zeigen die religiösen Fortpflanzungsgebote ihre Funktion im Dienst der Ausdehnung der je eigenen Population und auf Kosten zivilisatorischer Errungenschaften hinsichtlich der Rechte und Selbstverantwortlichkeit der Individuen.306 Andererseits zeigt sich gerade an den sinkenden Geburtenraten (insbesondere, aber nicht nur in den kulturell fortgeschrittensten Ländern307 und bei den gebildeteren Schichten) die zunehmende Unfähigkeit der Religionen, das Verhalten der Menschen noch in angemessener Weise zu verstehen und zu beeinflussen. Wenn man einer idealistischen Geschichtsauffassung folgen würde, könnte man eine List der Vernunft darin erkennen, dass die Völker, die im Inneren ihrer Sozialsysteme dem in der sexuellen Selektion angelegten Prinzip der Gewaltfreiheit nachgeben und Frauen die Selbstbestimmung über ihren Körper und damit auch die Fortpflanzung überlassen,308 zunehmende Unfähigkeit zu demographischer Aufrüstung und Kriegsführung im Äußeren aufweisen. Als hervorragendes Merkmal der Kultur der Moderne und (in der kulturellen Evolution angelegte) Alternative


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zu allen Formen der gewaltsamen Konfliktexternalisierung wurde die Wiedereinführung von Konkurrenz in den zivilisatorisch gezügelten Formen des friedlichen Austauschs und Wettbewerbs betrachtet. Komplementär dazu müssen auch die modernen Formen der Individualisierung – insbesondere die Umstellung von Kollektivauf Individualrechte – als Beiträge zur Entschärfung traditioneller Konfliktverarbeitungstechniken angesehen werden. Beide Errungenschaften sind jedoch riskant und von gegenläufigen Tendenzen bedroht. Globalisierung und Individualisierung werden häufig als Auslöser des „Unbehagens an der Moderne“ und als Ursachen der andauernden Nachfrage nach tradierten Mustern religiöser Konfliktverarbeitung beschrieben. Die moderne Gesellschaft hat es so mit der unaufgelösten Paradoxie zu tun, dass dieselben Kräfte, die den zunehmenden Wettbewerb im Inneren beklagen, den ungezügelten Konkurrenzkampf der Religionen um die Seelen (bzw. Handlungsmotive) ihrer Anhänger befeuern.309

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kg (Dez. 2010): Skizzen über Religion – Literaturhinweise

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kg (Dez. 2010): Skizzen über Religion – Anmerkungen & Materialien

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Anmerkungen und Materialien 1

ad 1. Einleitung

1.1 Eine soziologische Erklärung für die Ambivalenz ... 2 In den folgenden Anmerkungen wird auf umfangreiche Beiträge zur Theorie der soziokulturellen Evolution verwiesen, die entsprechende Belege enthalten und auch auszugsweise schon zitiert werden. 3 Wenn man nicht mit Materialbeschreibungen beginnt, handelt man sich leicht den Vorwurf ein, HistorischEmpirisches nur danach auszusuchen, wie gut es in kategorial vorgefertigte Schubladen passt. Dagegen ist einzuwenden, dass der Einordnung des Materials nach Strukturkategorien ja immer schon eine Lebens- und Beobachtungspraxis (in normativer Einstellung) vorausgegangen ist, die die Komplexität des Gegenstands im Hinblick auf bestimmte Problemwahrnehmungen reduziert. Das Problem, um das es hier geht, ist das des sozialen Friedens, und die wissenschaftliche Fragestellung, die hieran anschließen soll, ob (und wenn ja wie) Religionen etwas zur Sicherung des sozialen Friedens beitragen. Im Hinblick auf das gewählte Thema wäre es ziemlich aussichtslos, vor einer Entscheidung, mit welchen Mitteln eine angemessene Formulierung des Problems zu machen wäre, zunächst religiöse Phänomene aus 60.000 Jahren Menschheitsgeschichte durchzugehen. 4 Die natürliche Disposition, ohne die die universelle Verbreitung religiöser Verhaltensmuster kaum zu erklären wäre, wird hier vorausgesetzt, obwohl die Entdeckung eines Religions-Gens (so wenig wie die eines Sprach-Gens) ernsthaft zu erwarten ist. Die Epigenetik lässt in dieser Hinsicht neue Erklärungsmöglichkeiten zu. 5 Zur kulturellen Evolution der Religionen mit umfangreichen historischen Belegen s. E.O.Wilson 2007, und als Überblick Wade 2009. 6 Hieraus ergibt sich auch eine Distanzierung von Untersuchungen, in denen der einen oder anderen Religion (oder auch den monotheistischen im Vergleich mit polytheistischen Religionen) ein besonders hohes Gewaltpotential attestiert wird. Solchen Zuschreibungen liegt m.E. eine Überschätzung der Eigenbedeutung von Religionen zugrunde. Dagegen ist hier in der Tradition der Durkheimschen Theorie daran festzuhalten, dass es sich stets um das Gewaltpotential der Gesellschaft handelt, das in den Religionen gebunden oder freigesetzt wird. Wenn durch Binnendifferenzierung der Gesellschaft die Schwellen zur offenen Austragung von Konkurrenzkonflikten höher geworden sind, bedarf es zweifellos auch „höherer“ Anstrengungen, um das Gewaltpotential gegen intern Abweichende oder konkurrierende Gesellschaften zu remobilisieren. Hier zeiegn sich zweifellos Unterschiede. Es ist jedoch irreführend, hieraus auf ein höheres Gewaltpotential bestimmter Religionen zu schließen. 7 Als Beispiel für eine – trotz evolutionstheoretischer Ansätze – kognitivistisch verkürzte Religionstheorie s. Burkert 1998; 213ff. der in dieser Hinsicht (S.41) an Luhmann 1977 anschließt. 8 Dies wird auch von Religionskritikern wie Dawkins (2007) verkannt, die primär an der Widerlegung von Irrtümern religiöser Weltauslegungen ansetzen.

9 Allerdings wird die Einsicht in den sozialen Funktionszusammenhang in den monotheistischen Offenbarungsreligionen durch die Leitunterscheidung Wahrheit / Lüge und ihre theologische Selbstbeschreibung als Vernunftreligion verstellt. (Vgl. Assmann 2003). Tatsächlich hat diese Theologie wohl dem modernen, auf empirische Wissenschaft gegründeten Vernunftbegriff den Weg bereitet. An dessen Ende musste sich aber die in den Hochreligionen gepflegte Kombination aus Erkenntnis- und Bindungsinstrument wieder auflösen und funktional ausdifferenzieren (Durkheim 1984, 576f). Bellah weist daraufhin, dass schon für Kant das primäre Bezugsproblem der Religion nicht im kognitiven sondern im moralischen Verhalten liegt: „Indem er die Problematik der traditionellen metaphysischen Basis aller Religionen enthüllte, machte er klar, daß es nicht nur die zwei Welten gibt, sondern ebensoviele, wie es Modi gibt, sie zu erfassen. Damit rückte er das gesamte Problem der Religion in ein völlig neues Licht. Wie simpel auch immer das unmittelbare Resultat seines Versuchs war, die Religion eher in der Struktur ethischen Lebens zu begründen, als in einer kognitive Adäquanz beanspruchenden Metaphysik: die Richtung, in die moderne Religion gehen würde, war damit deutlich aufgewiesen. Die gesamte moderne Religionsforschung, die wichtigsten Entwicklungen der gegenwärtigen Theologie eingeschlossen, ist seither auch dann gezwungen, die Religion als in der menschlichen Situation selbst gegründet anzusehen, wenn sie die enge rationale Ethik Kants ablehnt.“ (Bellah 1973, 294f) 10 In der Figur des unsichtbaren Dritten ist eine Konvergenz mit älteren und neueren Theorien vom Dritten als konstutiver Bedingung von Sozialität zu sehen. In pragmatischer Hinsicht ist hier zu erkennen, warum religiöse Sinnangebote in der Moderne mit der „sichtbaren Hand“ des Staates, vor allem mit den Freiheitsgarantien des Rechtsstaates kollidieren. 11 Hinweis aus einer FAZ-Rezension von H. Mayer – Quelle noch nicht gefunden. 12 Ich halte hier an der sehr allgemein gehaltenen funktionalistischen Definition von Religiosität in der DurkheimTradition fest, die sich gegen eine kognitiv verengte Religionskritik (Überwindung der Religionen durch wissenschaftliche Aufklärung) richtet und auch die säkularen Alternativen zu den religiösen Konfliktvermeidungstechniken selbst noch unter den Begriff der Religion zu fassen erlaubt. Diese Position lässt sich auch evolutionstheoretisch gut begründen. In theorietechnischer Hinsicht ist das Problem einer rein funktionalistischen Definition, dass gewissermaßen beliebige funktionale Äquivalente benannt werden können und offen bleibt, was sie (über die Verarbeitung des Problems hinaus) gemeinsam haben. Das komplementäre Problem einer substantiellen Definition ist, dass es fast immer (funktional relevante) Phänomene gibt, die dann nicht mehr darunter subsumierbar erscheinen. Die hier angestrebte Lösung liegt in einer funktionalistischen, also auf ultimate Faktoren ausgerichteten Definition, in der bezüglich der proximaten Faktoren der Erklärung zwischen historisch-spezifischen und universellen Momenten unterschieden wird. Die historischen Spezifikationen in der Wirkungsweise des Mechanismus umfassen sehr verschiedenartige Phänomene, die in ihrer Wirkung als funktional


kg (Dez. 2010): Skizzen über Religion – Anmerkungen & Materialien

äquivalent zu beschreiben sind. Die über alle historischen Umbrüche hinweg gleichbleibenden (insofern universellen) Momente sind demgegenüber in der Verankerung des proximaten Mechanismus in psychischen Dispositionen der Individuen zu sehen, die immer wieder gleichartige Emotionen mobilisieren. Zur Unverzichtbarkeit funktionalistischer Definitionen im Rahmen evolutionstheoretischer Untersuchungen s. D.S.Wilson 1973, 220-230 13 Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von >Die unsichtbare Religion< fasst Knoblauch Luckmanns Definition wiefolgt zusammen: „In der Religion transzendiert der Mensch sein biologisches Wesen und wird so erst zum Menschen. Religion ist nicht nur ein Komplex von Jenseitsvorstellungen; das Religiöse zeitigt sich schon in der Vergesellschaftung des einzelnen, in der Objektivierung subjektiver Erfahrungen und in der Individuation zum einzelnen.“ (Luckmann 1991, 12) Es handelt sich bei Luckmanns Definition des Religiösen um eine Kombination aus Durkheimschem Funktionalismus und Philosophischer Anthropologie hinsichtlich der Verankerung in der menschlichen Natur. Die einzige Spezifikation bildet der Bezug auf Außeralltägliches, das dann zur Instiututionenbildung führt (i.S. Oevermanns handelt es sich um den Bezug auf Krisenerfahrungen, die zu Routinen verarbeitet werden). Luckmann rechtfertigt seine funktionalistische Methode in der Definition des Religiösen durch Abgrenzung von substantialistischen Definitionen, die sich implizit an den in der europäischen Tradition dominanten Erscheinungsformen kirchlich organisierter Religiosität orientieren: „Wenn wir einen Vergleich anstellen, bemerken wir, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum jemand ernsthaft bezweifeln würde, daß wirtschaftliche oder politische Phänomene universale Elemente des gesellschaftlichen Lebens sind; sie finden sich - in empirisch beschreibbaren und analysierbaren Formen - selbst in solchen Gesellschaften, in denen wirtschaftliche und politische Phänomene, die denen der Marktwirtschaft oder der Staatsnation vergleichbar sind, fehlen - und sogar in solchen Gesellschaften, in denen voll entwickelte wirtschaftliche und politische Institutionen überhaupt nicht existieren. In diesem Fall aber müssen wirtschaftliche und politische Phänomene eher durch funktionale als durch substantielle Kriterien bestimmt werden. Einige der Schwierigkeiten der Religionssoziologie sind auf den Umstand zurückzuführen, daß diese Vorgehensweise nicht allgemein auf die Religion angewendet wurde. Ist Religion erst einmal substantiell definiert, dann kann man - ängstlich oder voller Hoffnung - die Frage aufwerfen, ob sie eine Ausnahmeerscheinung ist oder geworden ist. Wenn wir den Vorschlag, den Durkheim gemacht hat oder der doch zumindest in seinem Werk enthalten ist, aufnehmen und Religion durch ihre universale soziale Funktion definieren, wird diese Frage sinnlos. Um jedoch für die soziologische Theorie von Nutzen zu sein, muß dieser Vorschlag genauer ausgeführt werden. Das wirft einige Schwierigkeiten auf, die wir zu überwinden versuchen werden. Eines aber kann hier zuversichtlich behauptet werden: Eine funktionale Definition der Religion umgeht sowohl die übliche ideologische Befangenheit wie die »ethnozentrische« Enge der substantiellen Religionsdefinitionen.“ (Luckmann, 1991, 78 - Kursivhervorhebung kg)

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Nassehi kritisiert Luckmanns Religionskonzept als soziolgisch unzulänglich: „Luckmann trägt also der unbestreitbaren Tendenz zur Individualisierung von Lebensformen Rechnung, indem er Religiosität völlig von gesamtgesellschaftlichen Problembezügen abkoppelt und sie in die individuelle Unendlichkeit von einzelnen hineinverlagert, die aus dem Warenlager gesellschaftlicher Sinnangebote das für sie gerade Passende als letzte Bedeutung und damit als heiligen Kosmos ihres Lebens auswählen. Die begriffs- und theoriestrategische Richtung dürfte deutlich geworden sein: Luckmann kann diese neuen Formen der Religiosität als funktionale Äquivalente für die vormodeme Sozialform der Religion behandeln, weil ihm seine anthropologische Basis letztlich als theoretisches Verbindungsglied dient. Er erzielt damit ein paradoxes Ergebnis: Zum einen läßt sich mit seiner Theorie vermeiden, die Existenz von Religion in der Moderne schon aus theoretischen Gründen bestreiten zu müssen. Zweitens aber wird ein soziologischer Begriff der Religion doch völlig destruiert, da es letztlich kein soziologisches Kriterium mehr für das gibt, was wir Religion nennen könnten. Allein die anthropologische Annahme einer Bedeutungshierarchie subjektiver Relevanzen reicht dafür sicher nicht aus, da eine gesellschaftstheoretische Fragestellung ja gerade die gesellschaftlichen Antezedenzbedingungen subjektiver Relevanzen aufzudecken bemüht ist. Luckmann bezahlt also seine gesellschaftstheoretische Sensibilität mit dem Verlust eines soziologischen Religionsbegriffs.“ (Nassehi, S… in Wohlrab-Saar, 1995) M.E. unterschätzt Nassehi hier jedoch den soziologischen Kerngehalt in den der Anthropologie zugerechneten Annahmen Luckmanns. 14 Durkheim kommt zu der grundlegenden Definition: „Religion is first and foremost a system of ideas by means of which individuals imagine the society of which they are members and the obscure yet intimate relations they have with it.“ (Zit. nach Wade aus engl. Ausg. 1995, S. 227 – Stelle in der dt. Ausg. raussuchen!) Demgegenüber erscheint die bei Max Weber und Simmel zu beobachtende Scheu, Religion für wissenschaftliche Zwecke zu definieren, wie eine letzte Geste der Reverenz gegenüber den Beschreibungsverboten, die um heilig geltende Gegenstände errichtet worden sind. Die von Durkheim selbst vorangestellte Definition lautet: „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören. Das zweite Element, das in unserer Definition auftaucht, ist nicht weniger wichtig als das erste; denn wenn man zeigt, daß die Idee der Religion von der Idee der Kirche nicht zu trennen ist, dann kann man ahnen, daß die Religion eine im wesentlichen kollektive Angelegenheit ist.“ Dass diese von Durkheim vorangestellte Definition seltener zitiert wird, liegt vermutlich daran, dass der metaphorische Gebrauch des Begriffs Kirche darin missverständlich bleibt, solange man ihn nicht in dem Kontext elementarer Formen des Religiösen versteht, auf deren Beobachtung in australischen Stammesgesellschaften Durkheim sich stützt. (Durkheim 1981, 75 – Kursivhervorhebung kg)


kg (Dez. 2010): Skizzen über Religion – Anmerkungen & Materialien

Zur grundlegenden Bedeutung der Durkheimschen Religionstheorie s. auch Collins 2004, 32-40. Eine grafische Darstellung von Durkheims Modell des Ursprungs der Religion aus Turner/Maryanski 2008, 149:

Im Unterschied zur Durkheimschen Theorietradition, in der die Funktion der Religion ursprünglich mit sozialer Systembildung zusammenfällt, wird in der Weberschen Tradition Religion von vonherein als besondere Sinnprovinz und immer schon in historisch – insbesondere schichtspezifisch - konkurrierenden Ausprägungen beschrieben. (Dazu vergleichend Tyrell, 2010). Von Max Weber stammt die Umschreibung des Religiösen als Verarbeitungsform von zwei Konfliktthemen: das Theodizee-Problem und das Soteriologie-Problem. In eine Theorie der kulturellen Evolution würden diese Probleme wiefolgt übersetzt: (1.) Das Böse kommt daher, dass soziale Systeme zwischen systemkonformem und nicht systemkonformem Verhalten unterscheiden. (2.) Das Böse wird eliminiert durch Exklusion der betreffenden Individuen (dh. Unterdrückung des nichtkonformen Verhaltens durch Bestrafung inklusive Tod) und durch Externalisierung der Konflikte, die diesem Verhalten zugrundeliegen (dh. Transformation dieses Verhaltens in systemkonformes Verhalten – etwa in Kriegen). 15 Bei Luckmanns Definition des Religiösen handelt es sich um eine Kombination aus Durkheimschem Funktionalismus und Philosophischer Anthropologie hinsichtlich der Verankerung in der menschlichen Natur. Die einzige Spezifikation bildet der Bezug auf Außeralltägliches, das dann zur Instiututionenbildung führt (i.S. Oevermanns handelt es sich um den Bezug auf Krisenerfahrungen, die zu Routinen verarbeitet werden). Bei Berger kommt hinzu: der Bezug auf Übernatürliches (womit aber nicht der Bezug auf ein Leben nach dem Tod gemeint ist – s.Anm. u.) In meiner Darstellung ist der Bezug auf Übernatürliches aufgenommen in dem 3. Aspekt des KEM. 16 So u.a. von seinem wisssenssoziologischen Ko-Autor P.Berger, der in substantieller Hinsicht den Bezug auf Übernatürliches hinzufügt (womit aber nicht der Bezug auf ein Leben nach dem Tod gemeint ist – s.Anm. u.) Auch von mir wird in der folgenden Darstellung der Bezug auf Übernatürliches aufgenommen in dem 3. Aspekt des KEM. Hinweise auf die kritische Auseinandersetzung mit Luckmanns Definition in der Einleitung von H. Knoblauch zu Luckmann 1991, S. 12f. Nach Oevermann 1995a, 31f. ist die „Universalität von Religiosität … nicht mehr der Unterstellung einer anthropolo-

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gisch invarianten Grundausstattung geschuldet, die entweder auf einen trivialen Biologismus hinausläuft oder empiristisch in einer banalen klassifikatorischen Feststellung von kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten der menschlichen Gattung stehenbleibt, sondern eine Funktion der zwingend universalen, die Lebenspraxis konstituierenden Sachgesetzlichkeit.“ Aber woher stammt denn diese Sachgesetzlichkeit, wenn nicht aus natürlicher und sozialer Selektion? 17 Es ist wohl fast unvermeidlich, dass eine so allgemeine Definition mit der Binnenperspektive spezifischer Religionsgemeinschaften kollidiert. 18 Zu der Unterscheidung zwischen kollektiven und individuellen Aspekten der Religiosität, die schon bei Durkheim eine große Rolle spielt (1981, S.218f) weiter unten. Diese Unterscheidung korrespondiert mit der der in Evolutionstheorien häufig verwendeten Unterscheidung zwischen proximaten und ultimaten Faktoren der Erklärung - s. Tinbergen 1963. So ist z.B. der Bezug auf ein Leben nach dem Tode typisch für die sogenannten Erlösungsreligionen, aber keinwegs Merkmal aller Religionen. Die Perpetuierung des Lebens auf kollektiver Ebene ist ein bestimmendes Element aller Religionen – das Versprechen individuellen Weiterlebens hingegen nicht. Es kommt in den archaischen Religionen überhaupt nicht vor. Es handelt sich hierbei ersichtlich um ein historisch kontingentes Moment auf der Mikroebene also einen proximaten Faktor in der Erklärung religiöser Phänomene. 19 Statt des in der soziologischen Theorietradition üblichen Drei-Stufen-Schemas wäre evtl. auf das Fünf-Stufenschema von Bellah 1973 zurückzugreifen, das zusätzlich mit der idealtypischen Unterscheidung zwischen primitiven und archaischen, sowie zwischen frühmodernen und modernen Phänomenen operiert. S. mein Versuch zu einer entsprechenden Schematisierung im folgenden Abschnitt. 20 König (2002, 2008) weist zurecht daraufhin, dass diese Zuordnung fragwürdig ist – insbesondere wenn man Durkheims Versuch einer mikrosoziologischen Fundierung durch elementare Formen der Religisität einbzieht. 21 Dass eine solche – in der Genealogie von Rational Choice Theorien vorgenommene - Zuschreibung auch Max Weber nicht gerecht wird, braucht hier nicht ausgeführt zu werden. 22 An dieser Differenz wird manchmal auch der Unterschied zwischen einer an Durkheim oder an Max Weber orientierten Religionssoziologie festgemacht. Dabei werden allerdings zwei Unterscheidungen vermengt, die noch zu unterscheiden wären: Erstens die methodologische Unterscheidung zwischen funktionsspezifisch allgemeinen und historisch spezifischen Strukturen (also zwischen funktionalen und genetischen Erklärungen) und zweitens die evolutionstheoretische Unterscheidung (aus der Ethologie von Tinbergen 1963) zwischen ultimaten (am evolutionären Erfolg orientierten) und proximaten (an der Motivation der Individuen orientierten) Faktoren. Eine Beschreibung religiöser Phänomene in der kulturellen Evolution kann weder auf die Spezifikation historischer Konstellationen noch auf die Spezifikation individuell wirksamer Motive verzichten, jedoch fällt das Eine mit dem Anderen nicht zusammen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die proximat wirksamen Faktoren in der kulturellen Evolution – infolge des so-


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zialen Schutzschirms vor dem selektionsdruck der Umwelt – in erheblichem Maße an Eigenwert und Eigendynamik gewinnen. 23 Die wunderbaren Beschreibungen von W. James (1997) über die „Vielfalt religiöser Erfahrung“ können als prominenter Beleg für die moderne Reduktion der Religion auf ihre subjektive Seite verstanden werden. S. hieran anschließend „beliefs about beliefs“ von Stanley Fish, 2001, S. 279ff. Zur Reduktion der Religion auf ihre Ordnungsfunktion im individuellen Lebenslauf s. Wohlrab-Sahr 1995 (s. darin insbes. Oevermann 1995a). Diese Reduktion auf steht aber im Gegensatz zu der soziologischen Perspektive Durkheims, die im Rekurs auf die Riten und Mythen archaischer Gesellschaftsformen zu gewinnen ist. In diesem Sinne auch Malinowski 1986, 168: „All diese Religionsformen, ob wir sie Totemismus oder Zoolatrie nennen, Religion des Mana oder Präanimismus, erreichen ein einziges Hauptziel. Sie humanisieren die Außenwelt; sie versetzen den Menschen in Harmonie mit Umwelt und Schicksal; sie vermitteln ihm die dunkle Ahnung einer Vorsehung, die in dem ihn umgebenden Universum wirkt.“ 24 Zur Unterscheidung proximater und ultimater Faktoren aus der evolutionären Ethologe s. Tinbergen 1963 - Zur Anwendung auf Religion s. Wilson 2003, 67f., 74f., 170177. 25 S. dazu den (vorgesehenen) Abschnitt über das moderne Bildungssystem in Kap.5 unten. 26 Vgl. Wade 2009 S. 11f - Diese Frage soll im 2. Teil wieder aufgenommen werden unter dem Aspekt der globalen Herausbildung eines regulierten Wettbewerbs privatisierter Konfessionen einerseits und einer kosmopolitisierten Zivilreligion anderseits. 27 In einer ausführlicheren Darstellung zur Theorie der Gruppenselektion wäre hier noch einmal zu unterscheiden zwischen dualistischen Ansätzen, die kulturelle Gruppenevolution einräumen, für natürliche Evolution aber (mit Ausnahme von kin selection und reciprocity) bestreiten und solchen, die auch hinsichtlich der Effekte von Gruppenevolution eher die Kontinuität zwischen natürlicher und kultureller Evolution betonen (wie E.O.Wilson, Sober/Wilson). Im Sinne Letzter zusammenfassend: Sober/Wilson 1998, 99f: “The group selection controversy concerns not only the evolution of altruism but also the interpretation of groups and other higher-level entities as organismic units. As Williams (1966) stated long ago, group-related adaptations can evolve only by a process of group-level selection. If Hamilton had presented his theory in the form of the Price equation in 1963, evolutionary biologists would have been forced to conclude that group selection is a significant evolutionary force that partially justifies the interpretation of groups as organismic units. The vagaries of history should not prevent us from reaching that same conclusion today. Neither should the existence of other frameworks that look at the process of multilevel selection in different ways. Nature exists as a nested hierarchy of units, and the process of natural selection operates at multiple levels of the hierarchy. Other frame-works may examine these facts from different perspectives but they are just plain wrong if they deny them as facts.” - Einwände s. Trivers, 1998. – S. dazu auch schon die emphatische Posi-

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tionierung der Gruppenselektionstheorie gegen die neodarwinistische Orthodoxie durch den (von D.Claessens wiederentdeckten) H. Miller: “It is impossible to overstress the fact that what has been so widely promulgated as orthodox Darwinian doctrine was never the teaching of Darwin himself; nor should one lightly exempt from scientific censure those who in the name of Darwin distorted his theory in such a way as wholly to defeat his thought. It is a reproductive or sexual adaptation, and no mere adaptation to their changing habitats, that makes individuals fecund and fertile, that binds them into living groups, and that keeps their species integral, adaptable, and viable so that life may persist under environmental change. Is it not evident that except for this reproductive adaptation there could have been no evolution of species? Nor could there have been the evolutionary progress that was always directed toward modes of sexual reproduction keeping species adaptable and viable, a progress advanced through the wholesale replacement of what had become poorly associated by those few species still able to persist and multiply because they were still adequately associated. This actual evolution never resulted from, and is consequently not to be causally explained through, any selection of individuals better fitted to survive, it resulted wholly from the selection of living groups better integrated and longer able to persist; and that orthodox doctrine was in truth nothing but a superstitious scholastic tabu which effectually forbade any productive study of evolutionary change, precluded all causal inquiry into living processes, and professionally disbarred any scientist who would pursue such inquiry.” H. Miller 1964, S.16. 28 Dazu Burkert 1998, 21: „Die Auseinandersetzung läuft seit mehr als hundert Jahren. Philosophen, Historiker und Soziologen haben angesichts des Triumphes der Naturwissenschaften ihre Verteidigungslinien aufgebaut; ein Schlagwort der Abwehr ist der Vorwurf des ,Biologismus', des ,biologischen Reduktionismus', sobald geistigkulturelle Phänomene mit Biologie in Zusammenhang gebracht werden, als sollte Geistiges simplifizierend auf Materielles zurückgeführt werden. Dabei ist moderne Biologie nicht einfacher, sondern eher weit komplexer als irgend eine Geisteswissenschaft.“ Vgl. dazu schon T. Parsons: “After a brief and somewhat superficial flirtation of social science with the idea of evolution, under the impact of Darwinism in the biological sciences (the names of Spencer, Ward, and Summer come to mind), there developed among social scientists a sharp reaction against the idea of evolution. The evolutionary conception has made little progress in social science since Weber's time, since much of the work of historians has been particularistic, while for an entire generation most of the comparative research was carried out hy anthropologists, whose thought was militantly anti-evolutionary. But it is significant that Weber and his great contemporary Emile Durkheim, the other most important founder of modern sociology, both thought in evolutionary terms.” (Parsons 1967, 43). Die bis heute in den Sozialwissenschaften andauernden Denkblockaden sind (besonders in Deutschland) durch den Mißbrauch der Darwinschen Theorie für faschistische Rassenpolitik verstärkt worden. Es geht hier also auch darum,


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die durch einen politischen Zivilisationsbruch gestörte Kontinuität der Theorietradition wiederherzustellen. Da sich die Forschungsergebnisse der modernen Evolutionsbiologie und –Psychologie über natürliche Dispositionen des menschlichen Verhaltens kaum mehr (i.S. des klassischen tabula rasa Konzepts) bestreiten lassen, haben sich viele Sozialwissenschaftler auf die Position zurückgezogen, dass es für die Zwecke sozialwissenschaftlicher Erklärungen keinen Unterschied mache, ob man natürliche Veranlagung und Vererbung annehme oder nicht: Welche Probleme auch immer aus natürlichen Anlagen resultieren - Kultur ist immer die Lösung! Dabei wird jedoch übersehen, dass Vorannahmen über von Natur aus angelegtes oder „nur“ erlerntes Verhalten einen erheblichen Unterschied dafür machen, welche Lösungen zur Vermeidung von sozial unerwünschtem Verhalten – etwa der Gewaltbereitschaft junger Männer - gesucht werden. In diesem Sinne Pinker 2002, S.420: „Richard Herrnstein und Charles Murray (die Autoren des Buchs The Bell Curve) meinten, die Erblichkeit von Intelligenz müsse die Linke dazu aufrütteln sich stärker für eine soziale Gerechtigkeit nach Rawls'schem Muster einzusetzen.5 Wäre Intelligenz ausschließlich erworben, genügte eine Politik für Chancengleichheit, um eine gleichmäßige Verteilung von Besitz und Macht zu garantieren. Wenn jedoch einigen Menschen das Unglück zuteil wird, mit weniger befähigten Gehirnen geboren zu werden, können sie selbst in einem vollkommen gerechten System wirtschaftlichen Wettbewerbs ohne eigenes Verschulden in Armut geraten. Heißt soziale Gerechtigkeit, sich um die Geschicke der Benachteiligten zu kümmern, verlangt die Anerkennung genetischer Unterschiede nach einer Umverteilung des Wohlstands.“ Eine emphatische Umkehrung der kultur- und sozialwissenschaften Naturverleugnung bei Chomsky (1970, S. 22): „Wäre der Mensch ein unendlich formbares, vollkommen plastisches Wesen, ohne angeborene geistige Strukturen, ohne die inhärenten Bedürfnisse eines kulturellen oder sozialen Charakters, wäre er in der Tat ein geeignetes Objekt für die »Verhaltensformung« durch Staat, Unternehmen, Technokraten oder Zentralkomitees. Wer ein bisschen Vertrauen in die Menschheit hat, hofft, dass es sich anders verhält, und versucht, die angeborenen Eigenschaften zu bestimmen, die den Rahmen für die geistige Entwicklung, die Entfaltung von moralischem Bewusstsein, kulturellen Leistungen und Teilhabe an einer freien Gemeinschaft bilden.“ 29 S. u.a. Euler 2004, Dawkins 2007 – zur Kritik s. Wilson 2007. Wenn es sich bei Religion nicht bloß um ein Beprodukt anderer Adapatationen handelte, wäre es für Dawkins auch nicht mehr so einfach, die als Täuschung oder Wahn zu entlarven. 30 Zu dieser Alternative s. ausführlich Wade 2009, Kap. 3 31 "Was die sozialen Implikationen primitiver Religion betrifft, so erscheint Durkheims Analyse noch immer weitgehend zutreffend. Der Ritualismus bestärkt immer aufs neue die Solidarität der Gesellschaft und führt den Neuling in die Normen des Stammeslebens ein.” Bellah, 1973, 282 32 S. dazu meine Ausf. in Kap.5. 33 Zur Zukunft der Religion in diesem Sinne Wade, 2009, 276ff - Diese Argumentation muss im Folgenden noch (evtl. im Rekurs auf Assmann) abgegrenzt werden im Blick

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auf die (von Jaspers/Bellah/Joas herausgestellte) Wende in der Achsenzeit durch Umstellung auf Transzendenz. 34 Die auf Probleme tradierter Formen der Religion unter Bedingungen der Globalisierung in der Moderne bezogene These ist hier die Hauptthese, die auch empirisch gut belegt werden kann. Der in diesem Kontext unternommene Versuch, einen evolutionären Pfad für alternative Formen sozialer Ordnung im Rekurs auf Mechanismen sexueller Selektion und ihre kulturelle Transformation in Tauschpraktiken herauszuarbeiten, ist dagegen eher spekulativ und die Frage noch offen, ob daraus eine ähnlich gut belegbare These werden kann. 1.2 Von der postheroischen Moderne zurück ... 35 Mit der im Folgenden immer wiederkehrenden Verknüpfung der Begriffe Konkurrenz und Konflikt ist nicht die Behauptung verbunden, dass alle sozialen Konflikte als Konkurrenzkonflikte zu verstehen sind, sondern nur, dass hier primär solche Konflikte interessieren, in denen Selektionsdruck durch – materiell oder symbolisch - knappe Ressourcen ausgelöst wird. Das Potential zur Austragung von Konkurrenzkonflikten ist auf der Ebene der Individuen zunächst und ganz überwiegend im Dominanzverhalten der männlichen Exemplare ausgebildet. (Dazu zusammenfassend Pinker, 2003, Kap.18). Der Begriff des Konkurrenzkonflikts verweist hier nicht nur auf ein Problem, sondern auch auf die evolutionären Vorteile, die konkurrrierende Sozialsysteme aus Mechanismen der internen Konfliktvermeidung und damit aus gelingender Kooperation ziehen. Soziologische Erklärungen können am Erfolg oder Mißerfolg der historisch evoluierten Formen der Konfliktregulierung ansetzen. Um die grundlegende Bedeutung von Konkurrenzkonflikten zu bestreiten, wird der evolutionstheoretischen Argumentation häufig ein negatives Menschenbild unterstellt. Die Kritik beruft sich also auf ein besseres Menschenbild i.S. natürlicher Kooperationsbereitschaft. In evolutionstheoretischer Perspektive ist es jedoch unnötig, sich auf ein bestimmtes Menschenbild festzulegen. Es ist nur nötig zu sehen, dass es Konflikte gibt, wo immer lebendige Individuen oder (intern konkurrenzvermeidende) Gruppen von Individuen es mit beschränkten Ressurcen zu tun haben. Auch hier ist mit dem theoretischen Bezug auf den Begriff der Konkurrenz keine Aussage über eine konstitutive Priorität gegenüber Kooperation verbunden. Dieser Begriff steht hier nur aus thematischen Gründen - im Blick auf die Konfliktvermeidungstechniken der Religionen - im Vordergrund. Kooperation und Konflikt sind gleichermaßen Formen primordialer Reziprozität und grundlegende Momente der kulturellen Gruppenevolution. Daher sind diese beiden Begriffe nicht gegeneinander auszuspielen - sei es i.S. einer Vorrangigkeit, einer strikten Unvereinbarkeit oder eines Nullsummenspiels. Dies macht in evolutionstheoretischen Erklärungen sowenig Sinn, als ob man Evolution ausschließlich über Variation oder Selektion erklären wollte. Evtl. wäre in einem gesonderten Unterabschnitt zu begründen, warum hier nicht die Unterscheidung zwischen Konkurrenz und Konflikt (s. Werron 2010) sondern die zwischen geregelter und ungeregelter Konkurrenz als grundle-


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gend angesehen wird. Konkurrenzen treten in historisch vielfältigen partikularen Erscheinungsformen auf. Prototypische Formen regulierter Konkurrenz zeigen sich in der gruppeninternen Fortpflanzungskonkurrenz, soweit sie durch weibliche Wahl (und nicht durch Raub und Vergewaltigung) bestimmt wird. Erst in der Moderne tritt als eine universale, zugleich aber höchst vorausetzungsreiche und riskante Form menschlicher Konfliktverarbeitung der in öffentlicher Form organisierte Wettbewerb hervor. S. dazu schon Elias 1976, mit seiner ganz auf die Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten durch Monopolbildung abstellenden Theorie der Zivilisation. Anm. unten. Abweichend von der hier bevorzugten Unterscheidung zwischen Konkurrenz und Wettbewerb definiert Max Weber, in § 8 seiner soziologischen Grundbegriffe bereits den Begriff der Konkurrenz als friedliche Form und unterscheidet dann etwas mißverständlich zwischen natürlicher und sozialer Auslese: „Kampf soll eine soziale Beziehung insoweit heißen, als das Handeln an der Absicht der Durchsetzung des eignen Willens gegen Widerstand des oder der Partner orientiert ist. »Friedliche« Kampfmittel sollen solche heißen, welche nicht in aktueller physischer Gewaltsamkeit bestehen. Der »friedliche« Kampf soll »Konkurrenz« heißen, wenn er als formal friedliche Bewerbung um eigne Verfügungsgewalt über Chancen geführt wird, die auch andre begehren. »Geregelte Konkurrenz« soll eine Konkurrenz insoweit heißen, als sie in Zielen und Mitteln sich an einer Ordnung orientiert. Der ohne sinnhafte Kampfabsicht gegen einander stattfindende (latente) Existenzkampf menschlicher Individuen oder Typen um Lebens- oder Ueberlebenschancen soll »Auslese« heißen: »soziale Auslese«, sofern es sich um Chancen Lebender im Leben, »biologische Auslese«, sofern es sich um Ueberlebenschancen von Erbgut handelt. ... Nur wo wirklich Konkurrenz stattfindet, wollen wir von »Kampf« sprechen. Nur im Sinn von »Auslese« ist der Kampf tatsächlich, nach aller bisherigen Erfahrung, und nur im Sinn von biologischer Auslese ist er prinzipiell unausschaltbar. »Ewig« ist die Auslese deshalb, weil sich kein Mittel ersinnen läßt, sie völlig auszuschalten. Eine pazifistische Ordnung strengster Observanz kann immer nur Kampfmittel, Kampfobjekte und Kampfrichtung im Sinn der Ausschaltung bestimmter von ihnen regeln. Das bedeutet: daß andere Kampfmittel zum Siege in der (offenen) Konkurrenz oder – wenn man sich (was nur utopistischtheoretisch möglich wäre) auch diese beseitigt denkt – dann immer noch in der (latenten) Auslese um Lebens- und Ueberlebenschancen führen und diejenigen begünstigen, denen sie, gleichviel ob als Erbgut oder Erziehungsprodukt, zur Verfügung stehen. Die soziale Auslese bildet empirisch, die biologische prinzipiell, die Schranke der Ausschaltung des Kampfes.“ (1972 S. ...) Zu Definitionsproblemen mit dem Begriff der Konkurrenz s. zusammenfassend schon Rammstedt 1976. 36 Im Sinne einer genetisch verankerten Strategie der individuellen Nutzenmaximierung – s. Dawkins Metapher von den egoistischen Genen. 37 S. meine Hinweise zu Gruppenevolution oben und ausführlicher im Folgenden.

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38 Kritiker der Theorie der Gruppenselektion in der Biologie argumentieren hier zumeist dualistisch. Für kulturelle Evolution räumen sie Gruppenselektionseffekte ein. Für die natürliche Evolution wollen sie diese Effekte aber auf kin selection und reciprocity beschränkt wissen (so auch noch DeWaal, 2008, obwohl er sich im Hinblick auf Moralentwicklung gegen dualistische Ansätze wendet). Die in dieser Hinsicht entscheidende Frage ist aber, warum die natürliche Evolution zwei Formen sozialer Bindung hervorgebracht hat, warum nicht nur eine? Sicher wird man nicht behaupten können, dass das zweite Prinzip (Reziprozität) nur menschentypisch ist – also den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Der Unterschied besteht wohl nur in der Verfeinerung der entsprechenden Wahrnehmungen (s. Spiegelneuronen, Empathie, Anerkennungsbedürfnis etc.) Das kann man aber vermutlich auch für das Prinzip der Verwandtschaftsselektion sagen (im Blick auf ihre enorme Ausdehnungsfähigkeit). 39 Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf neuere Theorien der Gruppenevolution (Sober/Wilson 1998) die in älterer Form (mit der Insulationsthese von H. Milller 1964) bereits von D. Claessens in die Soziologie eingeführt wurde: „Mit „Insulation" ist zuerst — gemäß der Intention von HUGH MILLER (1964; siehe auch das entsprechende Kapitel von D. CLAESSENS 1970 a) ein allgemein im Bereich des Lebendigen, zuerst der Pflanzen-, dann der Tierwelt auftretendes Phänomen gemeint: das enge Zusammenstehen von Pflanzen schafft unmittelbar innerhalb eines Bewuchses veränderte klimatische Bedingungen. Hinter und unter Pflanzen, die der Sonne ausgesetzt sind, herrscht mehr Schatten, mehr Kühle, kann mit mehr Feuchtigkeit gerechnet werden. Wichtiger: Hier sind neue Bedingungen entstanden für das Aufwachsen anderer Pflanzenvarianten, nämlich solcher, die auf mehr Schatten, Kühle, Feuchtigkeit angewiesen sind. Oder: Die Auseinandersetzung (Verwirklichung) von Leben mit Umwelt schafft unter solchen Bedingungen (gruppenartiges Zusammensein) neue Wirklichkeit — ein Schritt der „Selbstproduktion des Lebens". MILLER stellt fest, daß es sich hier um einen äußerst wichtigen Schritt, eine wichtige Möglichkeit zur Entwicklung neuer Formen handelt, für die die Mutationstheorie vorerst nicht bemüht zu werden braucht. Jedes, dem unmittelbaren Realitäts- und Außendruck ausgesetzte, nicht gruppengeschützte Wesen muß sich dem Außendruck anpassen. Es unterliegt der „selektiven Pression". Hier gilt das Wort vom „survival of the fittest". Innerhalb einer „Gruppe", d.h. innerhalb eines Aggregates zusammenstehender Pflanzen gilt der Außendruck nicht mehr uneingeschränkt, erfährt, wie oben angedeutet, wichtige Veränderungen. Die „Gruppe" schafft also ein Gebilde, für dessen Konsequenzen das Wort von der „Insulation gegen selektive Pression"gilt. … Eine Gruppe, d.h. ein Mechanismus der Insulation gegen selektive Pression, enthüllt sich damit als Schutz gegen den Druck der Aussenwelt auf das Individuum, als Produzent neuer Verhaltenslagen, darunter Bedürfnisse, und als ein Anspruch, ein neuer Anspruch gegenüber den Mitgliedern. Die Gruppe wird nicht zur Gruppe ohne Kosten, die durch die Mitglieder zu zahlen sind. Damit entsteht unmittelbar das Problem von Freisetzung und Einengung durch „Kultur". ….


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Zu erwähnen ist noch, daß der Schutz der Gruppe gegen den simplen körperlichen Anpassungsdruck der umgebenden Natur, d.h. gegen körperliche Spezialisierung neben dem Aufbau sich steigernder Bedürfnisse (ein historisch dann sehr langsamer Vorgang) noch andere Nebenfolgen hat. Zuerst erbringt das Domestikationsklima in der Gruppe eine Entfremdung gegenüber der alten Natur. Man fürchtet sich nun in ihr, kann in ihr nicht allein sein. Man hat vor ihr Angst, eine, neue Angst. Aber die Genossen sind sich andererseits auch nicht nur (gegenseitig) Schutz, sondern in ihren Erwartungen gegenseitig Anspruch, ja Bedrohung: Fügt man sich nicht dem Gruppenzusammenhang, dann besteht die Gefahr, daß man ausgestoßen wird. So gewinnt man in der Gruppe eine neue, aber auch gruppenabhängige Identität.“ (Claessens 2000, 157-159.) 40 Dies ist auch der Grund, warum die Entwicklung kultureller Pänomene – wie v.a. Religion – sich der intentionalen Planung und zielbewußten Organisation weitgehend entziehen und als Evolution beschrieben werden kann. Es handelt sich hier nicht nur um die analoge Anwendung eines theoretischen Modells von einem Gebiet auf ein anderes. 41 Hier evtl. ein Hinweis auf G. Tarde, mit empirischer Untermauerung bei Tomasello, Donald u.a. 42 Hinweis auf Richerson/Boyd 2005. 43 Hinweis auf Girard 1994 mit Bezug auf mimetische Konkurrenzkonflikte. Girards Verwendung der (Tardeschen) Nachahmungstheorie ist heilsam v.a. gegenüber neueren, auch biologisch begründeten Ansätzen, in denen aus dem menschlichen Potential zur Nachahmung vorschnell eine natürliche Tendenz zu sozialverträglichem Verhalten abgeleitet wird. S. Tomasello 2009 oder in popularisierender Form Rifkin 2010. Ich zitiere aus einer zusammenfassenden Darstellung von Girards theoretischer Konstruktion durch Lutz Niethammer (2011, Gewalt und Gesellschaft. Klassiker modernen Denkens neu gelesen S. 333f.): „Die neuzeitlichen Diskussionen über die Natur des Menschen sind obsolet, denn jenseits seiner physischen Reproduktion ist alles und besonders seine Subjektivität kulturell bestimmt. Sein Begehren folgt nicht einem inneren Bedürfnis oder natürlichen Trieb, sondern - jenseits der Befriedigung der Grundbedürfnissedem Begehren anderer (Mimesis) und daraus folgt ein Wettbewerb um knappe Güter und Positionen, der in evolutionsgeschichtlich frühen Phasen der Gesellschaft - also noch vor der Ausbildung von Institutionen besonders des Rechts - in gewalttätige Konflikte und ihre Weiterzeugung im Zirkel selbstzerstörerischer Blutrache münden muss. Will sich die Gesellschaft vor ihrer Selbstzerstörung durch eskalierende Blutrache schützen, muss ein Ersatz mit der Schuld beladen und geopfert, ausgetrieben oder getötet werden. Als Sündenbock wird in der Regel ein Fremder oder Zugewanderter, hilfsweise ein sozial Schwacher aus der eigenen Gesellschaft, zum Beispiel eine alleinstehende Frau, gewählt, welcher der Mob in einer wahnhaften Projektionsdynamik die Schuld an der Gewalttat auflädt. Die Lynchjustiz am unschuldigen Außenseiter entlastet die Gesellschaft von beidem: dem selbstzerstörerischen Mechanismus der Rache und der Einsicht in die Gewaltpotentiale ihrer eigenen Konfliktstruktur. Der nachfolgende gesellschaftliche Konsens beruht also auf Lüge und Mord und

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währt nur bis zum nächsten Gewaltausbruch aufgrund der strukturellen Unlösbarkeit der innergesellschaftlichen Konflikte. Soll er andauern und soll die Unkalkulierbarkeit periodischer Gewaltabfuhr des Mobs eingehegt werden, bedarf es einer wiederholbaren Deckerinnerung. Dies ist die Rolle des Heiligen, also der Mythen und Riten in den archaischen Kulturen: In ihnen werden die Opfer der uranfänglichen Gewaltexzesse in kollektiven Herkunftsnarrativen bis zur Unkenntlichkeit divinisiert oder sonstwie geheiligt, und eine regelmäßige Abfuhr der sich immer wieder in den Begehrenskonflikten aufstauenden Gewalt wird in sozial unschädliche Bahnen gelenkt, besonders durch die ersatzweise Schlachtung von Tieren und die Adressierung der Opfer an die Götter, aber auch durch einen zunehmenden Prozess der Ritualisierung und Symbolisierung. Wenn die Deckerinnerung durch Mythen und Riten aber nicht hält und der Gewaltstau der mimetischen Krise nach Entladung sucht, spricht Girard von der Krise des Opferkultes und findet im antiken Theater funktionale Äquivalente der Entlastung: in den Tragödien der griechischen Klassik werden die mythisierten Konstellationen sozusagen in gottmenschlichen Familienromanen konkretisiert und durchgespielt. In der Sache ändert das wenig, aber die Quellen sind habhafter.“ 44 Tatsächlich spricht viel für die Annahme, dass religiöses Verhalten ein grundlegender Bestandteil der menschlichen Natur ist. Dies war so entscheidend für den Erfolg menschlicher Populationen – für die soziale Gruppenbildung in den frühesten menschlichen Kulturen – dass Populationen, die nicht über diese Verhaltensmuster verfügten, in der Konkurrenz nicht überlebten. S. auch Wade (Kap.1) und hinsichtlich des Zusammenspiels zwischen genetischen und Umweltfaktoren der instruktive Vergleich mit Sprache. 45 Hier evtl. noch Literaturhinweise zum „Religions-Gen“: Derartige Erklärungsversuche sind das Ergebnis der molekulargenetisch verengten Perspektive, die im mainstream des Neodarwinismus zu einer einseitigen Fixierung auf Phänomene der Umweltselektion, zur Vernachlässigung von Phänomenen der sexuellen Selektion und insbesondere von Phänomenen der sozialen Evolution jenseits der engsten Verwandtschaftsgruppe geführt haben. Dazu Wade 2009, S.43f: „The universality of religious behavior suggests that, as with language, it is mediated by specialized structures in the brain. Language is known to be supported by neural circuitry in certain regions of the brain because, if these regions are damaged even minutely, specific defects appear in a patient's linguistic abilities. No such dedicated regions have yet been identified with certainty for the neural circuitry that may underlie religious behavior. Excessive religiosity is a well-known symptom of temporal lobe epilepsy and could reflect the activation of neural circuits associated with religious behavior. But there is no agreement on this point, and the search for such circuitry in people who don't suffer from epilepsy is "suggestive but not conclusive," according to the neurologist Steven Schachter. It could be that religious behavior itself does not require a dedicated brain region large enough to be detectable by present methods. … In the absence of direct evidence about the genes underlying religious behavior, its evolutionary basis can be assessed only indirectly. The effect of cultural learning in religion is clear enough, as


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shown by the rich variety of religions around the world. It's the strong commonalities beneath the variations that are the fingerprints of an innate learning mechanism. These common features seem very unlikely to have persisted in all societies for the 2,000 generations that have elapsed during the 50,000 years since the ancestral human population dispersed from its African homeland, unless they have a genetic basis. This is particularly true given the complexity of religious behavior, and its rootedness in the emotional levels of the brain.” 46 S. zusammenfassend Wilson 1975, 569: „Fox (1972), following a suggestion by Chance (1962), has argued that sexual selection was the auxiliary motor that drove human evolution all the way to the Homo grade. His reasoning proceeds as follows. Polygyny is a general trait in huntergatherer bands and may also have been the rule in the early hominid societies. If so, a premium would have been placed on sexual selection involving both epigamic display toward the females and intrasexual competition among the males. The selection would be enhanced by the constant mating provocation that arises from the female's nearly continuous sexual receptivity. Because of the existence of a high level of cooperation within the band, a legacy of the original Australopithecus adaptation, sexual selection would tend to be linked with hunting prowess, leadership, skill at tool making, and other visible attributes that contribute to the success of the family and the male band. Aggressiveness was constrained and the old forms of overt primate dominance replaced by complex social skills. Young males found it profitable to fit into the group, controlling their sexuality and aggression and awaiting their turn at leadership. As a result the dominant male in hominid societies was most likely to possess a mosaic of qualities that reflect the necessities of compromise: "controlled, cunning, cooperative, attractive to the ladies, good with the children, relaxed, tough, elo¬quent, skillful, knowledgeable and proficient in self-defense and hunting." Since positive feedback occurs between these more sophis¬ticated social traits and breeding success, social evolution can proceed indefinitely without additional selective pressures from the environ¬ment.“ 47 S. die Theorie der teuren Signale von Zahavi, 1998, und insbesondere die theoretische Rekonstruktion von Darwins Thesen zur sexuellen Selektion bei G. Miller, 2000, und ihre diversen Anwendungen in der evolutionären Psychologie. Leider operieren die meisten dieser Anwendungen auf dem aus der molekulargenetischen Ausrichtung des Neodarwinsimus stammenden Prämisse, wonach nur Gene und Individuen zu Objekten der Umweltselektion werden. Auch Miller, der in kongenialer Weise Darwins Theorie der sexuellen Selektion wieder anschlussfähig gemacht hat, vermeidet die naheliegende Verbindung zu der (auch bei Darwin schon vorfindlichen) Theorie der Gruppenselektion. Die Theorie der sexuellen Selektion bzw. das HandicapPrinzip stehen jedoch nicht im Gegensatz zur Theorie der Gruppenselektion – sie stellen vielmehr nur proximate Faktoren für die Durchsetzung der ultimaten Vorteile von Gruppenselektion dar. Individuen verhalten sich altruistisch, weil das ihr Prestige innerhalb der Gruppe und damit ihre Fortpflanzungschancen vermehrt. Der Nebeneffekt des

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individuellen Verhaltens ist der Haupteffekt auf der Gruppenebene. 48 Zur Rekonstruktion der Darwinschen Theorie der Gruppenevolution allgemein s. Sober/Wilson 1998 S. 132-158 In einer Fussnote dazu: “A detailed history of this fascinating era in evolutionary biology remains to be written. Our discussions of sex ratio and kin selection in this book are the most detailed published accounts. The earlier history of group selection is reviewed by Wilson (1983) and Wade (1978). The work of the Chicago school between the two world wars is examined by Mitman (1992). The sociological aspects of the controversy from the 1960s to the present have never been carefully documented and studied. We encourage historians of science to study the group selection controversy as an example of the problems associated with scientific change.” Zur Anwendung auf religiöse Phänomene Wilson 2007: “Explaining religions as primarily group-level adaptations does not make them benign in every respect. The most that group selection can do is to turn groups into superorganisms. Like organisms, super-organisms compete, prey upon each other, coexist without interacting, or engage in mutualistic interactions. Sometimes they form cooperative federations that work so well that super-super-organisms emerge at an even larger spatial scale.” 49 Die Anfänge menschlicher Kultur in der HominidenEntwicklung sind in vieler Hinsicht nur spekulativ zu erschließen. Wegen der unsicheren Datenlage gibt es viele konkurrierende Erklärungsansätze. Alle ernstzunehmenden Ansätze beziehen sich aber auf Phänomene der Gruppenevolution. . Die kulturelle Evolution des Menschen ist in jedem Fall soziokulturelle Evolution wie schon bei vielen höherentwickelten Lebewesen plus menschentypische Besonderheiten wie Nischensuche / Nischenausbau, Neotenie/Pflege, Symbolbildung / Sprache, Nachahmung / Innovation, die in verschiedenen Ansätzen oft konkurrierend herausgestellt werden. S. dazu in soziologischer Perspektive v.a. Richerson/Boyd 2005. Dazu in psychologischer Perspektive Donald, 2008, 271:„Meine zentrale Hypothese ist, dass sich die kognitive Evolution der Hominiden im Lauf der Zeit mehr und mehr mit der Kultur verzahnt hat. …Die enge Kopplung zwischen Gehirn und Kultur beschleunigte das Tempo der menschlichen Evolution. Kollektive wurden immer geschickter darin, Wissen zu speichern und weiterzugeben. Sie entwickelten eine Strategie, mit der sie in den normalerweise nur sehr langsam voranschreitenden Prozess der natürlichen Auslese eingreifen und ihn beschleunigen konnten. Kulturen verstehen sich viel besser als Individuen darauf, die Anpassungsvorteile von Genvarianten zu nutzen, die ansonsten vielleicht gar keinen nennenswerten Effekt hätten. …Das Evolutionstempo des menschlichen Gehirns verdoppelte sich nicht nur aufgrund seines außerordentlichen Lernvermögens, sondern auch aufgrund seiner Fähigkeit, das Wissen, das sich in verteilten Netzwerken mit ungeheurer Geschwindigkeit ansammelte, gemeinsam mit anderen zu nutzen.“ Schon bei den einfachsten menschlichen Sozialsystemen handelt es sich also nicht um eine bloße Ansammlung gleichartiger Lebewesen auf einem natürlich begrenzten


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Territorium, sondern immer schon um eine symbolisch konstituierte Gemeinschaft (population vs. group). 50 Zur immer wiederkehrenden Metaphorik des Hauses und ihrer Bedeutung im Rekurs auf den Prozess der Hominisation s. Sloterdijk 2001, 25-57. 51 Abweichend vom mainstream des Neodarwinismus ist in der Soziobiologie von E.O.Wilson Gruppenselektion zur Erklärung der Evolution religiöser Praktiken herangezogen worden: „Human beings are absurdly easy to indoctrinate—they seek it. If we assume for argument that indoctrinability evolves, at what level does natural selection take place? One extreme possibility is that the group is the unit of selection. When conformity becomes too weak, groups become extinct. In this version selfish, individualistic members gain the upper hand and multiply at the expense of others. But their rising prevalence accelerates the vulnerability of the society and hastens its extinction. Societies containing higher frequencies of conformer genes replace those that disappear, thus raising the overall frequency of the genes in the metapopulation of societies. The spread of the genes will occur more rapidly if the metapopulation (for example, a tribal complex) is simultaneously enlarging its range. Formal models of the process, presented in Chapter 5, show that if the rate of societal extinction is high enough relative to the intensity of the counteracting individual selection, the altruistic genes can rise to moderately high levels. The genes might be of the kind that favors indoctrinability even at the expense of the individuals who submit. For example, the willingness to risk death in battle can favor group survival at the expense of the genes that permitted the fatal military discipline. The group-selection hypothesis is sufficient to account for the evolution of indoctrinability. The competing, individual-level hypothesis is equally sufficient. It states that the ability of individuals to conform permits them to enjoy the benefits of membership with a minimum of energy expenditure and risk. Although their selfish rivals may gain a momentary advantage, it is lost in the long run through ostracism and repression. The conformists perform altruistic acts, perhaps even to the extent of risking their hves, not because of self-denying genes selected at the group level but because the group is occasionally able to take advantage of the indoctrinability which on other occasions is favora ble to the individual. The two hypotheses are not mutually exclusive. Group and individual selection can be reinforcing. If war requires spartan virtues and eliminates some of the warriors, victory can more than adequately compensate the survivors in land, power, and the opportunity to reproduce. The average individual will win the inclusive fitness game, making the gamble profitable, because the summed efforts of the participants give the average member a more than compensatory edge.“ Wilson 1975, 562. 52 Gegenüber der einseitigen Betonung der Gewaltimprägniertheit menschlicher Sozialsysteme ist hier also in evolutionstheoretischer Perspektive als primär deren Funktion als Schutzschirm und Möglichkeitsbedingung für verfeinerte Verkehrsformen (Empathie etc.) herauszustellen – s. u.a. Elias 1976 und mit einem Akzent auf Luxus und Dekadenz Sloterdijk 2001, 47. Das seit Hobbes in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit

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gerückte Problem der Gewaltprävention ist damit keineswegs zu bestreiten. S. dazu auch das Zitat aus Antweiler, 2007, 184f in Anm. unten. Der Ausbruch von Gewalt sollte jedoch nicht – wie bei Girard (in Anschluss und Abgrenzung zu Freud) – als eine Art Ursünde oder Gründungsakt menschlicher Sozialsysteme, sondern eher als Nebenfolge der Ausdehnung kultureller Sozialsysteme über ihre natürlichen Beschränkungen verstanden werden. 53 In dem Modell der Mehrebenenselektion, das von Wilson und Sober (1994) vorgestellt wurde, sind es Individuen und Gruppen, über die sich genetische Eigenschaften von Generation zu Generation vererben. Die Wechselwirkung zwischen Individuen entspricht dabei dem Darwinschen Konzept der natürlichen Selektion. Die Wechselwirkung zwischen Gruppen stellt dann eine Form der Selektion dar, in der der sich die Konkurrenz von der Individualebene auf die Gruppenebene verlagert. Diese Verlagerung wird mathematisch in der sogenannten Price-Gleichung abgebildet: Individualselektion überwiegt, wenn sich Individuen der Gruppe stärker voneinander unterscheiden, als sich die Gruppen voneinander unterscheiden, Gruppenselektion überwiegt, wenn sich die Individuen einer Gruppe ähneln, die Gruppen aber stark voneinander unterscheiden. (Price, 1970) 54 In diesem die Konflikthaltigkeit der Gruppenselektion herausstellenden Sinne formuliert De Waal: „Darüber hinaus sollte festgehalten werden, dass der für unsere moralischen Tendenzen verantwortliche Evolutionsdruck überhaupt nicht nett und positiv gewesen sein muss. Moralisches Verhalten ist schließlich zu weiten Teilen ein gruppenspezifisches Phänomen. Menschen behandeln Fremde generell viel schlechter als Mitglieder ihrer eigenen Gemeinschaft: De facto scheinen moralische Regeln für Außenstehende kaum zu gelten. Sicher, heutzutage gibt es die Tendenz, den Geltungsbereich der Moral auszuweiten und sogar Kriegsgegner mit einzubeziehen - zum Beispiel mit dem 1949 angenommenen Genfer Abkommen —, aber wir alle wissen, wie leicht solche Anstrengungen zum Scheitern verurteilt sind. Moralisches Handeln entwickelte sich vermutlich gemeinsam mit anderen gruppenspezifischen Kapazitäten wie Konfliktlösung, Kooperation und Teilen als gruppeninternes Phänomen. Die oberste Loyalität eines jeden Individuums gilt zunächst jedoch nicht seiner Gruppe, sondern sich selbst und seiner Verwandtschaft. Mit zunehmender sozialer Integration und verlässlicher Kooperation müssen gemeinsame Interessen an die Oberfläche gelangt sein, so dass die Gemeinschaft als ganze zum Thema wurde. Der größte Schritt in der Evolution der menschlichen Moralität bestand dann darin, statt interpersonaler Beziehungen das große Ganze in den Brennpunkt zu rücken. Bei Menschenaffen können wir die Anfänge davon beobachten, wenn sie die Beziehungen zwischen anderen geschmeidig gestalten. So bringen etwa weibliche Tiere nach einem Streit die daran beteiligten Männer wieder zusammen, um eine Versöhnung einzuleiten, und hochrangige Männer beenden auf unparteiische Weise einen Kampf zwischen anderen, um den Frieden in der Gruppe zu wahren. In solch einem Verhalten spiegelt sich für mich die »Sorge um die Gemeinschaft« (de Waal 1996), welche wiederum reflektiert, welches Interesse jedes Gruppenmitglied an einer kooperativen Atmosphäre hat.


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Die meisten Individuen würden viel verlieren, wenn die Gruppe auseinanderfiele, daher sind ihnen Integrität und Harmonie wichtig. Bei der Diskussion ähnlicher Themen fügte Boehm (1999) noch die Rolle des sozialen Drucks hinzu, zumindest bei Menschen: Die gesamte Gemeinschaft funktioniert so, dass ein die Gruppe förderndes Verhalten belohnt und ein die Gruppe schädigendes Verhalten bestraft wird. Am meisten wird ein Gemeinschaftsgefühl natürlich durch einen gemeinsam äußeren Feind gestärkt. Er zwingt Elemente zur Einmütigkeit, die sonst nicht miteinander auskommen. Im Zoo ist das vielleicht nicht so einfach zu erkennen, aber definitiv ist dies bei wild lebenden Schimpansen ein wichtiger Faktor, bei denen es zu tödlicher Gewalt zwischen verschiedenen Gruppen kommen kann (Wrangham und Peterson 1996). Bei unserer eigenen Spezies ist nichts offensichtlicher, als dass wir uns gegen Widersacher zusammenrotten. Im Verlauf der menschlichen Evolution verstärkte der Zusammenhalt gegen gruppenfremde Feinde die Solidarität innerhalb der Gruppe so sehr, dass sich Moralität auszubilden begann. Statt lediglich die Beziehungen um uns herum zu verbessern, wie Menschenaffen das tun, kennen wir explizite Lehren über den Wert der Gemeinschaft und den Vorrang, den sie vor den individuellen Interessen hat beziehungsweise haben sollte. In all diesen Belangen gehen Menschen sehr viel weiter als Menschenaffen (Alexander 1987), und deswegen haben wir ganze Moralsysteme und Affen nicht. Und so ist es eine böse Ironie, dass unsere nobelste Errungenschaft - Moral - ihre evolutiven Wurzeln in unserem primitivsten Verhalten hat - dem Krieg. Den für Erstere notwendigen Gemeinschaftssinn lieferte Letzterer. Als wir am Scheideweg zwischen konkurrierenden Einzel- und gemeinsamen Interessen standen, erhöhten wir den sozialen Druck, um sicherzustellen, dass jeder seinen Beitrag zum großen Ganzen leistete.“ (De Waal 2008, 73ff) - Ausführlicher zu Gruppenkonkurrenzkonflikten als konstitutivem Moment in der Naturgeschichte der menschlichen Moral Alexander 1978 s. nächste Anm. 55 Dazu zusammenfassend Alexander : „I have already noted that group living entails automatic costs to individuals, which must be overcompensated by specific benefits if group living is to evolve; this view could not develop until the nature and relative potency of selection at individual and genie levels had been explained (Williams, 1966a; Lewontin, 1970; Alexander, 1974; Dawkins, 1976; Alexander and Borgia, 1978). Larger groups involve greater costs to individuals, and this fact causes us to realize that, even if cooperative group hunting was the original context of human grouping, it cannot explain much of the history of human sociality. As hunting weapons and skills improved, group sizes should have decreased. Cooperative group hunters among nonhumans tend to live in small groups (canines, felines, cetaceans, some fish, and pelicans), and large groups are typically what Hamilton called "selfish herds," whose evolutionary raison d'etre is security from predation. Even groups evidently evolved to cooperate against predators are typically small (chimpanzees, baboons, musk ox). If an external threat is invoked to explain human social groupings— as appears necessary—the only one adequate

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to the task is other groups of humans (Alexander, 19711985). This proposition is immediately satisfying, for it can explain any size of group (as parts of balance-of- power races); it accords with all of recorded human history; it is consistent with the fact that humans alone play competitively group- against-group on a large and complex scale; and it accords with the ecological dominance of humans as a species. In effect, organized in competitive groups, humans have become their own principal "hostile force of nature." Most of the evolution of human social life, and I will argue the evolution of the human psyche, has occurred in the context of within- and between-group competition, the former resulting from the latter. Without the pressure of between-group competition, within- group competition would have been mild or nonexistent—or else dramatically different—because groups would have been smaller and would have required less unity and cooperativeness. Strate (1982) supported this view when he concluded from a crosscultural study that defense against other human groups accounts for variations in social organization better than any alternative. No other sexual organisms compete in groups as extensively, fluidly, and complexly as humans do. No other organisms at all play competitively group-against-group. Most importantly, so far as we know, in no other species do social groups have as their main jeopardy other social groups of the same species—therefore, the unending selective race toward greater social complexity, intelligence, and cleverness in dealing with one another (see Alexander, 1979a, and references therein). To make the above argument requires some way of distinguishing primary causes of social grouping and secondary responses to it. On the other hand, one must also consider that any cooperative cause of group living cannot be expected to last and be elaborated unless it leads to increased reproductive success among all participants, which by definition means in relation to members of other groups, thereby establishing at least an indirect intergroup competition. No one, I think, imagines that humans—given their recorded history of interactions—have evolved to be a kind of organism that tends to allow such competition to be indirect and mild. We have consistently done the opposite. Despite my earlier remarks that indirect reciprocity may be unique to humans, we cannot ignore the possibility that there may be a parallel to morality in many nonhuman social groups that cooperate—canines, for example. Is it not possible that in such cooperative social groups any individual who deviates too far from some behavioral pattern or repertoire may be punished, ostracized, or killed by essentially any individual or subgroup of individuals within the whole group? Baboon babies are said to play silently (Irven DeVore: Film on baboon ecology and social behavior, Univ. of Calif.), and we can suppose that the significance of this fact lies in the possibility that noises attract predators. It would be interesting to see who does what in the case of noisy juvenile baboons. If the arguments in this book are correct, rudimentary moral systems (indirect reciprocity) will appear where outside threats most powerfully dictate group cohesion, when such threats are combated best by complex social organization within the group, and when the actions of single individuals or small subgroups


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can threaten, from within, either the group as a whole or its most powerful elements. The theory of moral systems that I am espousing is obviously contractarian, as opposed to utilitarian (cf. Grant, 1985; Rawls, 1971); it is also a particular form of contractarian theory in which (1) individuals seek their own interests; (2) their interests are ultimately reproductive hence, include to varying and predictable degrees the interests of relatives and those with whom relatives are shared (such as spouses); (3) interests of individuals can be furthered by cooperating with others— both relatives and nonrelatives; (4) the mechanisms are direct and indirect reciprocity, the latter involving a very complex significance of reputation or status; and (5) the rules consist of restraints on particular methods of seeking self-interests, specifically on activities that affect deleteriously the efforts of others to seek their own interests. What is new in this theory is that (a) interests are seen as reproductive, not as individual survival, and, accordingly, pleasure and comfort are postulated to have evolved as vehicles of reproductive success, and (b) the mechanism of indirect reciprocity is made explicit as the central feature. These are not trivial refinements, since together they can account for aspects of beneficence that have perplexed philosophers, theologians, and all students of morality who have previously postulated either contractarian or utilitarian models.” (Alexander 1978, 79-81) 56 In diesem Sinnne Alexander 1987, 81: “… interests are seen as reproductive, not as individual survival, and, accordingly, pleasure and comfort are postu¬lated to have evolved as vehicles of reproductive success, and … the mechanism of indirect reciprocity is made explicit as the central feature.” 57 Darüberhinaus sind weitere Vorteile für Populationen mit mehr genetischer Variation für die Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungenzu nennen. S. dazu nochmal Diamond, G. Miller. 58 „Unter allen Trieben ist der Geschlechtstrieb der einzige, der zu seiner Definition die Stimulation durch den Anderen braucht" deshalb hat auch Lévi-Strauss angenommen, dass sich der „Übergang zwischen Natur zu Kultur (...) vorzugsweise auf dem Gebiet des Geschlechtslebens vollziehen muss" (1993, 57). – Der Zusammenhang zwischen Erotik und Fremdheit ist auch bereits von Simmel bemerkt worden: „In diesem Sinne kommt leicht auch in die engsten Verhältnisse ein Zug von Fremdheit. Erotische Beziehungen weisen in dem Stadium der ersten Leidenschaft jenen Generalisierungsgedanken sehr entschieden ab: eine Liebe wie diese habe es überhaupt noch nicht gegeben, weder mit der geliebten Person noch mit unsrer Empfindung für sie sei irgend etwas zu vergleichen.“ 1992, S. 767. 59 Die stärksten Anregungen für die Aufdeckung der gewaltsamen Seite religiöser Phänomene – und damit auch für die folgende Formulierung des Mechanismus der Konfliktexternalisierung – habe ich aus dem Werk von Girard (1988, 1994) bezogen. Das Anregende schließt in dieser Hinsicht freilich auch die Abstoßungseffekte ein, die sich für mich dadurch ergeben, dass Girard sich selbst als Träger einer Heilsbotschaft versteht, indem er das Gewaltproblem in der soziokulturellen Evolution durch die christliche Liebesethik prinzipiell für gelöst erklärt.

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Dazu die treffende Formulierung von Pinker 2011, 876, die ich unten als Motto zu Kap. 5 zitiere. 60 Nach Oevermann ist in der Differenz zwischen der Endlichkeit des individuellen Lebens und der Unendlichkeit der Welten, in die es eingebettet ist, sogar der „zwingende“ Grund für alle Formen von Religiosität zu erkennen: „Diese Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Diesseits und Jenseits des Lebens liegt nicht nur am Grunde jeglicher Erscheinungsform von Religiosität, sondern sie erzwingt universell Religiosität. So ist selbst dort noch diese erzwungene Struktur von Religiosität nachweisbar, wo tatsächlich die säkularisierende Verdiesseitigung der Identitätsformationen so weit gediehen ist, daß alle religiösen Inhalte dieser Formationen getilgt sind.“ (Oevermann 1995a, 36) Konfliktexternalisierungstechniken könnte man im Anschluss an Oevermann auch als Routinen bezeichnen, die auf eine lebenspraktische Krise reagieren. Allerdings macht das Oevermannsche Strukturmodell m.E. nicht genügend deutlich, dass es sich um einen Effekt handelt, der nicht auf der Mikroebene individuellen Handelns und Erlebens sondern immer schon auf der Makroebene des Sozialsystems ansetzt. 61 Zur Unterscheidung zwischen proximaten und ultimaten Faktoren in der Erklärung natürlichen Verhaltens s. Tinbergen 1963 - Zur Explikation dieser Unterscheidung an Phänomen der Religiosität Wade 2009, 14 : “Faith brings personal rewards but it is as a social force that religion carves its place in history.” … “Communities would not gain the social benefits of religious behavior unless people had strong personal motivations to participate. And indeed religion is attractive because it does bring many deep personal satisfactions. It is the source of some of the deepest emotions of which people are capable, such as feelings of awe, of exaltation, of transcendence, of rightness and harmony with the world. It gives people hope in adversity, because the faithful believe that through prayer and ritual they can exert some measure of control over unpredictable disasters like disease or bad weather.” 1.3 Mikro- und Makrophänomene der Religiosität 62 So wurden die Vorzüge der religiösen Orientierung in einer Studie des MIT berechnet:„Die Quote des Gottesdienstbesuchs zu verdoppeln erhöht das Haushaltseinkommen um 9,1 Prozent und senkt den Sozialhilfebezug um 16 Prozent“ Gruber 2005 (Hinweis aus FAZ 22.12.2010 S. N3) 63 Die hier und im Folgenden skizzierten Aussagen über das Zusammenwirken proximater und ultimater Faktoren in religiösen Phänomenen sind noch zu überprüfen und zu erweitern. S. dazu schon die Ausführungen über die Funktion des Bildungssystems in 5.4 unten. 1.4 Der Mechanismus der Konfliktexternalisierung 64 „In der Gruppe lebende Tiere behandeln gruppenfremde Artgenossen in der Regel nicht mit ausgesuchter Freundlichkeit. Der >Fremde< wird zunächst beschnuppert und nur allmählich akzeptiert oder überhaupt gleich davongejagt. Eine geschlossene Gruppe von Tieren ist eine mehr oder weniger stabile Einheit, die »fremde Elemente< nicht duldet. Ein Wolf, der seine Gruppe verlässt, wird nicht von


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jedem anderen Rudel gleich aufgenommen. Bei den staatenbildenden Insekten sind vor allem Ameisen und Bienen extrem intolerant gegenüber Artgenossen, die nicht zu ihrer Kolonie gehören, sodass sie sogar eigene sogenannte Soldaten haben, die für Gruppenkonflikte ausgestattet sind.“ (Wuketits 2001, 129 – Hinweis aus Schmidt-Salomon 2010). 65 Dazu Voland, 2007, 27f. „Doppelte Moral ist kein Unfall der Evolution, kein Erbschaden also, sondern zwangsläufiges Ergebnis eines an sich einfachen Zusammenhangs: Je kooperativer Gesellschaften sind, je enger ihre Mitglieder durch eine sie verpflichtende Binnenmoral zusammengehalten werden, desto kampfesstärker vermögen diese nach außen hin aufzutreten. Moral wird erst dann als Moral verstanden, wenn sie einen Feind, gleichsam einen lebenspraktischen Gegenentwurf zu sich selbst, konstruiert. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass die lautesten Moralisten nicht anders können, als immer wieder Feindbilder zu schüren und den Kampf gegen die anderen für das vermeintlich Gute und Gerechte zu predigen. Moral tritt zwangsläufig als Doppelmoral in Erscheinung, weil sie gerade und vor allem in sozialen Auseinandersetzungen mit Andersinteressierten zur Gewinnstrategie wird. Je höher die Binnenmoral, desto kohäsiver die Gruppen und desto größer das Durchsetzungsvermögen nach außen.“ (Hinweis aus Schmidt-Salomon 2010, 70ff.) Noch ein Hinweis aus Schmidt-Salomon 2010, 70f „Schon 1885 hatte der russische Ethnologe Michail Kulischer diesen bemerkenswerten »Dualismus der Ethik« festgestellt. In seiner Auswertung der Reiseberichte früher europäischer Völkerkundler kam Kulischer zu dem Ergebnis: »Aus allen bisher angeführten Tatsachen leuchtet hervor, dass auf den primitiven Kulturstufen und auch später zwei diametral entgegengesetzte Sittensysteme sich geltend machen: Das erste umfasst die Angehörigen einer Gemeinschaft und regelt die Verhältnisse der Mitglieder derselben gegeneinander. Das andere beherrscht die Handlungsweise der Mitglieder jeder anderen. Das erste schreibt Milde, Güte, Solidarität, Liebe und Frieden vor, das andere — Mord, Raub, Hass, Feindschaft. Das eine gilt für die Zugehörigen, das andere — gegen die Fremden.« (Kulischer 1885, zit. nach Voland 2007, 119) 66 Die hier skizzierte Argumentation über den Konfliktexternalisierungsmechanismus (»KEM«) wäre i.S. eines einfachen soziologischen Erklärungsmodells auszuführen. Soziologische Analysen, die auf dem Nachweis sozialer Mechanismen basieren, setzen die Identifikation einzelner Komponenten voraus, die in ihrem Zusammenspiel das interessierende Phänomen hervorbringen. Mechanismen können folglich als abstrahierende Erklärungen verstanden werden, die Aufschluss darüber geben, auf welche Weise bestimmte Ereignisse und Konstellationen regelmäßig zu spezifischen sozialen Phänomenen führen. Zu mechanismischen Erklärungsmodellen in der Soziologie s. R. Hedström, Mayntz, M.Schmid, sowie das Lehrbuch von Neckel u.a. (2010) über „wegweisende Theoriemodelle des soziologischen Denkens“. Das wichtigste Vorbild für den hier skizzierten Mechanismus der Konfliktexternalisierung ist der von Norbert Elias beschriebene Mechanismus der staatlichen Monopolbil-

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dung (Elias 1976, 226-250, dort auch als „Königsmechanismus“ bezeichnet). 67 Die hier verwendete Ebenenunterscheidung macht nur Sinn in einem naturalistischen Theoriekonzept (also nicht in einer Sozialtheorie, die ausschließlich auf Sinnkonstrukte abstellt). Der springende Punkt der Unterscheidung zwischen Mikro- und Makrophänomenen ist dann in der evolutionär unwahrscheinlichen Ausdehnung der menschlichen Sozialität über das bei anderen Lebewesen und in der längsten Phase der Menschheitsgeschichte beobachtbare Maß hinaus zu sehen. Alles was menschliche Sozialsysteme mit den Mitteln symbolisch generalisierter und technisch erweiterter Kommunikation in räumlicher und zeitlicher Hinsicht darüber hinaus treibt, ist der Makroebene zuzurechnen: also jede Form von Organisation von der Verwaltung mesopotamischer Kornkammern bis zu den global players der Moderne. 68 „Ein Klan ist im wesentlichen eine Vereinigung von Individuen, die den gleichen Namen tragen und die sich um das gleiche Zeichen [Totem] versammeln. Nimmt man den Namen und das Zeichen weg, das ihn materialisiert, dann ist der Klan nicht mehr vorstellbar.“ Durkheim, 1981, 319 Anders als Durkheim sieht Gehlen im Totem-Kult nicht nur ein Symbol der Gruppe sondern auch eine Bewunderung des Tiers als überlegenes Wesen: »...: im Tier bewundert der Mensch eine ihm nicht gegebene Weise des ungestörten, unbeeinflußbaren Daseins, also der >Macht< - eine nicht menschliche und von seiner Phantasie als übermenschlich ausgelegte Vollkommenheit. Mit anderen Worten: die ganze konstitutionelle Disharmonie und Belastung der menschlichen Existenz - den Antriebsüberschuß, den Zwang zur Selbstführung, die Not der Arbeit, die Sorge der Voraussicht und das ewige Sterbensehen - alle diese vitalen, riskanten Komplikationen sieht man in der mühelosen, sicheren, stillen Lebendigkeit des Tieres gerade nicht, und darin unterscheidet sich der Mensch selbst vom Tiere, das >göttlich< ist im Hinblick auf die gelassene, geheime Mächtigkeit seines Daseins. Hier ist die Religion noch >vegetativ<, eine Aussage des Lebendigen über sich, indem es sich in anderes Lebendige versetzt.« (Gehlen, 353) [Zit aus Claessens IPG, S.37 – Stelle bei Gehlen noch nicht gefunden – s. aber zu Totemismus: Der Mensch, 1972, 394ff.] 69 Wade 2009, S.282: „Religion evolved as a response to warfare. It enabled groups to commit themselves to a common goal with such intensity that men would unhesitatingly sacrifice their lives in the group's defense. Because this remarkable behavior has become engraved in human nature, people throughout history have died in defense of their religion and their fellow believers, putting their own and their family's interests second to what they considered a higher cause.” - Wenn der grundlegende Mechanismus in der Grenzziehung zwischen einer friedlichen Innen- und einer feindlichen Außenwelt besteht, dann ist im kriegerischen Heldentum allerdings auch eine Form der ReInternalisierung des Konfliktpotentials zu erkennen. S. dazu auch nochmal M.Weber, Sumner, Elias. 70 In der Aufdeckung dieses Aspekts des religiösen Externalisierungsmechanismus liegt m.E. das Hauptverdienst der Schriften Girards. Der Sache nach wird der Mechanismus schon bei Nietzsche (1887) beschrieben:


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„Immer mit dem Maasse der Vorzeit gemessen (welche Vorzeit übrigens zu allen Zeiten da ist oder wieder möglich ist): so steht auch das Gemeinwesen zu seinen Gliedern in jenem wichtigen Grundverhältnisse, dem des Gläubigers zu seinen Schuldnern. Man lebt in einem Gemeinwesen, man geniesst die Vortheile eines Gemeinwesens (oh was für Vortheile! wir unterschätzen es heute mitunter), man wohnt geschützt, geschont, im Frieden und Vertrauen, sorglos in Hinsicht auf gewisse Schädigungen und Feindseligkeiten, denen der Mensch ausserhalb, der „Friedlose“, ausgesetzt ist … Der Verbrecher ist ein Schuldner, der die ihm erwiesenen Vortheile und Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt, sondern sich sogar an seinem Gläubiger vergreift: … Der Zorn des geschädigten Gläubigers, des Gemeinwesens giebt ihn dem wilden und vogelfreien Zustande wieder zurück, vor dem er bisher behütet war: es stösst ihn von sich, — und nun darf sich jede Art Feindseligkeit an ihm auslassen. Die „Strafe“ ist auf dieser Stufe der Gesittung einfach das Abbild, der Mimus des normalen Verhaltens gegen den gehassten, wehrlos gemachten, niedergeworfnen Feind, der nicht nur jedes Rechtes und Schutzes, sondern auch jeder Gnade verlustig gegangen ist; also das Kriegsrecht und Siegesfest des vae victis! in aller Schonungslosigkeit und Grausamkeit: — woraus es sich erklärt, dass der Krieg selbst (eingerechnet der kriegerische Opferkult) alle die Formen hergegeben hat, unter denen die Strafe in der Geschichte auftritt.“ (Genealogie der Moral, II. Abhandlung, 9.Abschnitt) 71 Hier sind traditionell immer auch eingeschlossen Sanktionen gegen das Verlassen der jeweiligen Gemeinschaft – also ein auf der Mikroebene verankertes Verbot zur Wahrnehmung der religiösen Angebote von Gemeinschaften, die auf der Makroebene konkurrieren. 72 Die Ausstoßung abweichender Individuen aus der Gruppe wird auch unter dem Fachterminus Ostrazismus untersucht. S. dazu Gruter & Master, 2002 (abstract): “Ostracism refers to the general process of rejection and exclusion, observed in human groups and in many other species. It occurs as “shunning” in small homogenous groups like the Amish or as rejection among children. Ostracism in various forms is also deeply embedded in our own legal tradition, and is used in the formal and informal legal procedures of other cultures, used to maintain order, to punish deviance, and to increase social cohesion. Hence, it is plausible to hypothesize that human ostracism may have physiological substrates or biological functions in addition to cultural, moral, and legal dimensions. Biological research shows that human emotions (anger, fear, reassurance, self-confidence) involve responses of the limbic system as well as ideas or thoughts in the cerebral cortex and that human behavior continually integrates biological and cultural factors. The legal system expresses and channels human behavior. For this reason laws should be more effective if their functions complement (rather than ignore) the function of the behavior being regulated. To look at law as it affects human behavior in the light of the life sciences does not imply the intention of finding a universally valid “natural law,” akin to theological or ideological doctrine. On the contrary, we find that humans can form radically different social systems due to the plasticity of their behavior. However, an interdisciplinary analysis of ostracism as a common area of

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behavior, combining biology, law, and the social sciences can produce insights that none of these fields alone can provide. Such an approach should increase our understanding of human nature and the functions of law.” 73 Die bekannteste Ausprägung dieses Mechanismus liegt vor im religiös überhöhten Freund-Feind-Denken, wie es C.Schmitt affirmativ für die Politik vertreten hat. Assmann führt diese Denkweise auf die monotheistischen Religionen zurück: „Die politische Theologie der Gewalt läßt sich auf eine ganz einfache Formel bringen. Sie besteht in der Theologisierung der Unterscheidung von Freund und Feind. Eine politische Theologie der Gewalt liegt dann vor, wenn diese Unterscheidung, die als solche nur politisch ist, theologisch gedeutet wird, so daß der politische Feind zum Gottesfeind erklärt wird.“ (Assmann 2000, 161 - s. dort auch Lit. zu Schmitt) 74 Selbstverständlich ist in einer historisch-empirischen Untersuchung von Konfliktexternalisierungsmechanismen zu berücksichtigen, dass es - wenn eine enge Definition des Religiösen zugrunde gelegt wird - neben religiösen auch ethnische, national-staatliche und andere kulturelle Identitätsmarkierungen gibt, die sich wechselseitig verstärken, aber auch schwächen können. Zu dem komplexen Wechselspiel s. Roy 2010, 45-206. 75 Ich spreche hier also nur von einem (allerdings folgenschweren) Wirkungsmechanismus der Religion, nicht von allen ihren Wirkungen und schon gar nicht von allen ihren Erscheinungsformen, bestehe allerdings in evolutionstheoretischer Perspektive auch darauf, dass es möglich sein muss, von Religion im Allgemeinen zu sprechen und nicht nur von verschiedenen Religionen, die jeweils ihre eigene Definition verlangen. . 76 Um Mißverständnisse auszuschließen, sei ausdrücklich angemerkt, dass häufig auch der Bezug auf „Natur“ i.S. des religiösen Konfliktexternalisierungsmechanismus zur Verlagerung von Handlungsverantwortung auf ein transzendentales Quasi-Subjekt gebraucht wird. In diesem Sinne formuliert Norbert Elias: „Das Erwachsenwerden der Menschheit ist ein schwieriger Prozeß. Die Lehrzeit ist lang; schwere Fehler sind unvermeidlich und die Gefahr der Selbstzerstörung, der Vernichtung der eigenen Lebensbedingungen im Zuge der Lehrzeit ist groß. Aber diese Gefahr verschärft und erhöht sich nur dadurch, daß Menschen in der Haltung von Kindern verbleiben, für die jemand anderes ganz von selbst alles das tut, was nur sie allein zu tun vermögen. Die Vorstellung, daß die Natur, wenn man sie nur sich selbst überläßt, das für Menschen, also auch für deren Zusammenleben, Richtige tun werde, ist ein Beispiel. Es zeigt die Abschiebung von Entscheidungen, die Menschen allein zu treffen vermögen, und von der Verantwortung, die damit Hand in Hand geht, von Menschen auf eine imaginäre Mutterfigur, auf die >Natur<. Die sich selbst überlassene >Natur< aber ist für Menschen voll von Gefahren. Gewiß bringt auch die Verarbeitung der >Natur< durch Menschen große Gefahren mit sich. Aber Menschen können von ihren Fehlern lernen. Außermenschliche Naturabläufe sind unbelehrbar. Sicherlich ist die menschliche Gesellschaft selbst eine Entwicklungsstufe der Natur. Aber sie unterscheidet sich von allen vorangehenden Stufen unter anderem dadurch, daß Menschen auf Grund von gemeinsamen und persönlichen Er-


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fahrungen, also von Lernprozessen, ihr Verhalten und Empfinden in weit höherem Maße und auch in anderer Art und Weise verändern können als andere Geschöpfe. Diese Fähigkeit zur Veränderung könnte einen außerordentlichen Wert für Menschen haben. Aber das Verlangen der Menschen nach Unsterblichkeit verführt sie immer von neuem dazu, Symbolen der Unveränderlichkeit, also zum Beispiel der als unveränderlich gedachten >Natur<, einen höheren Wert beizumessen als sich selbst, als der Entwicklung ihres eigenen Zusammenlebens und den sich wandelnden Bereichen und Mustern ihrer Kontrolle über die >Natur<, die >Gesellschaft< und die eigene Person.“ (Elias 2002, 82) 77 Dass Formen der Konfliktexternalisierung wie die Suche nach Sündenböcken für Probleme sozialer Ordnung und die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenmoral (s. Ethnozentrismus) auch als anthropologische Konstanten betrachtet werden können, stellt m.E. keinen zwingenden Einwand gegen diese Beschreibung dar, weil ja auch Religion hier nur als eine Konstante menschlichen Sozialverhaltens betrachtet werden soll. Es ist dann eine Frage der Definition, ob es sich um dasselbe Phänomen handelt. 78 Für die Zwecke meiner Argumentation konstruiert im Anschluss an das fünfstufige Schemas bei Bellah, 1973. Im Unterschied zu dem dreistufigen Schema der soziologischen Theorietradition unterscheidet Bellah noch zwischen tribalen und archaischen Gesellschaften (tribal=face-toface-group, archaisch= vorschriftliche Hierarchien) sowie zwischen Umbrüchen der frühen Neuzeit und der Gegenwart. 79 Im Hinblick auf die Verwendung von physischer Gewalt in Konkurrenzkonflikten sind (wiederum grob gesagt und nicht als historische Abfolge gemeint) drei Formen oder Ebenen der Austragung zu unterscheiden: 1. die spontane Orientierung – an mehr oder weniger stark wirkenden natürlichen Dispositionen zur reziproken Sanktionierung sozialschädlichen Verhaltens orientiert 2. die normative Orientierung - am mehr oder weniger starken Gehorsam gegenüber biographisch internalisierten Normen und Werten orientiert 3. die zweckrationale Orientierung - an mehr oder weniger langfristigem Nutzen orientiert, inklusive der Vermeidung von Sanktionen Empirische Forschungsergebnisse zum Vorkommen von gewalttätigem Handeln fasst Antweiler 2007, 184f. zusammen: „In allen bekannten Kulturen finden wir physische Gewalt und Tötungen von Menschen. Absolut universal scheint Mord aus dem Motiv der Rache heraus zu sein und insbesondere Blutrache als Antwort auf unbegründete Tötung eigener Verwandter. Dies gilt synchron und auch quer durch die Geschichte. Aufgrund einer umfassenden Sichtung historischer und rezenter empirischer Daten kommen Martin Daly & Margo Wilson zum Schluss, dass „... lethal retribution is an ancient and cross-culturally universal recourse of those suspected to abuse (Daly & Wilson 1988, 226). Weltweit existieren gleiche Muster bezüglich Gewalt, Aggression und Geschlechtszugehörigkeit. Die stärkere männliche Aggressivität ist eine der am besten dokumentierten universalen Aussagen der Emotionsforschung (Whiting & Whiting 1975). Hierbei decken sich Ergebnisse von Kulturvergleichen und Artvergleichen (interspecies comparison). In allen Kulturen begehen Männer mehr Ge-

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walttaten als Frauen, Morde eingeschlossen (Wright 1996:166). Gewalt ist am häufigsten unter Männern: Männer sind in allen Kulturen eher als Frauen in Aggression verwickelt, sei es als Täter oder als Opfer. Dies gilt beim Menschen als auch bei anderen Primaten. Mord und Totschlag sind in allen bekannten Kulturen unter Männern um ein Vielfaches höher als unter Frauen. Bei nichtmenschlichen Primaten werden Tötungen von Artgenossen fast ausnahmslos durch Männchen ausgeführt (Roth 2003:89). In allen bekannten Gesellschaften finden sich vor allem bei Männern Angeberei, Duelle, aggressionsbetonte Wettbewerbe, Kampfspiele und Kampfsport. Fast überall ist männliche Aggressivität positiv bewertet (Murdock 1967; Lopreato & Crippen 2002:153). Das gewalttätigste Alter ist die Kleinkindphase. „In allen Kulturen vergnügen sich Jungen bei spielerischen Raufereien, die offenbar Training für den Ernstfall sind. Sie bilden auch Koalitionen, die aggressiv miteinander konkurrieren" (Pinker 2003:439).“ 80 Die Rückwirkung von Konkurrenzkonflikten der Makroebene auf die Lebensbedingungen der Individuen auf der Mikroebene hat N. Elias im Rahmen seiner Theorie der Zivilisation betont: „Unsere Verhaltenstafeln sind so widerspruchsreich und so voll von Disproportionalitäten, wie die Formen unsere Zusammenlebens, wie der Bau unserer Gesellschaft. Die Zwänge, denen heute der einzelne Mensch unterworfen ist, und die Ängste, die ihnen entsprechen, sie sind in ihrem Charakter, ihrer Stärke und Struktur entscheidend bestimmt durch die spezifischen Verflechtungszwänge unseres Gesellschaftsgebäudes, von denen oben die Rede war: durch seine Niveaudifferenzen und die gewaltigen Spannungen, die es durchziehen. ... Weit mehr als der einfache Zwang der Zusammenarbeit sind es diese Zwänge, Spannungen und Verstrickungen dieser Art, die heute ständig Ängste in das Leben des Einzelnen werfen. Die Spannungen zwischen den Staaten, die im Zwange des Konkurrenzmechanismus miteinander um die Vormacht über größere Herrschaftsgebiete ringen, äußern sich für die Individuen in ganz bestimmten Versagungen und Restriktionen; sie bringen den einzelnen Menschen einen verstärkten Arbeitsdruck und eine tiefgreifende Unsicherheit. Alles das, Entbehrungen, Unruhe und Arbeitslast nicht weniger als die unmittelbare Bedrohtheit des Lebens, zeugt Ängste. Und nicht anders verhält es sich mit den Spannungen innerhalb der verschiedenen Herrschaftseinheiten. Die irregulierbaren, die monopolfreien Konkurrenzkämpfe zwischen den Menschen der gleichen Schicht auf der einen Seite, auf der anderen die Spannungen zwischen verschiedenen Schichten und Gruppen, sie wirken sich ebenfalls für den Einzelnen in einer beständigen Unruhe, in ganz bestimmten Verboten oder Beschränkungen aus; und auch sie zeugen ihre spezifischen Ängste: Ängste vor der Entlassung, vor dem unberechenbaren Ausgeliefertsein an Mächtigere, vor dem Fall an die Hunger- und Elendsgrenze, wie sie in den unteren Schichten vorherrschen, Ängste vor dem Absinken, vor der Minderung des Besitzes und der Selbständigkeit, vor dem Verlust des gehobenen Prestiges und des gehobenen Standes, die im Leben der mittleren und oberen Schichten eine so große Rolle spielen.“ (Elias 1976, 448) 81 S. dazu Joas 2010 im Anschluss an Jaspers und Eisenstadt. 82 In dieser Hinsicht könnte natürlich auch bestritten werden, dass es sich auf der Metaebene überhaupt um einen – mit


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den Wirkungen auf der Makro- und auf der Mikroebene vergleichbaren Bestandteil des Konfliktexternalisierungsmechanismus handelt, da hier ja kein realer Konflikt sondern gewissermaßen „nur“ die Handlungsverantwortung ausgelagert wird. Von der Wirkung her ist jedoch diese symbolische Verlagerung höchst real: Der Konflikt wird dadurch pazifiziert, dass die Beteiligten sich einer vermeintlich höheren Instanz beugen. 83 „Die Religion hört auf, eine unerklärliche Halluzination zu sein. Sie gründet vielmehr in der Wirklichkeit. Wir können in der Tat sagen, daß sich der Gläubige keinen Täuschungen hingibt, wenn er an die Existenz einer moralischen Kraft glaubt, von der er abhängt und von der der den besten Teil seiner selbst bezieht: diese Macht existiert; es ist die Gesellschaft.“ Durkheim 1981, 308f. Freilich wird man den besonderen Wirkungskräften der Religion kaum gerecht, wenn man sie mit der Wirkung menschlicher Sozialität insgesamt gleichsetzt. In dieser Hinsicht fehlt bei Durkheim – trotz seines Rückgriffs auf ethnologische Studien – die evolutionstheoretische Dimension. In dieser Hinsicht ein weiterführender Hinweis bei Claessens 1968, 145 f.: „So ist das Heilige das »Heile«, d. h. das, was der Mensch getrieben ist zu suchen, aber nicht finden kann; was ihm also in der Konstruktion überlegen ist; es ist der funktionierende »Plan«. Aber ein »Plan«, der vom Menschen unabhängig funktioniert; die Geborgenheit in der Aktion und Aktion in Geborgenheit. ... Man kann daher vermuten, daß es kein Zufall ist, wenn die signalisierenden Auffälligkeiten in Instinktsystemen und die nach R. Otto dem »Heiligen« zugeschriebenen Ingredienzien so große Verwandtschaft aufweisen. ... »Instinkte« sind per »Organisatoren« (d. h. im Tier angelegten Verhaltensweisen und Drängen) »hyperspatiale Systeme« d. h. über Zeit und Raum wirksame Systeme. Solche Systeme werden offenbar an Punkten errichtet, die mit dem Begriff des »point of no return« bezeichnet werden können. In jeder Entwicklung gibt es Knotenpunkte, deren Fixierung ein »nicht mehr zurück« bedeutet. (Ein soziologisches Theorem zu dieser Behauptung steht noch aus!) Für den Menschen, dem solche Fixierungen nicht mehr vorgegeben, sondern »frei« als Aufgabe gestellt sind, der zwar zu »Organisation« befähigt, ja angelegt ist, dem Organisationen aber nicht ab origine legitimiert werden, ergibt sich die neue Aufgabe, die Legitimation »organisierender« Institutionen »zu besorgen«. Der nächste Weg hierzu ist der, ihre wegen ihrer neuen Entscheidungskraft sowieso vorhandene »Originalität« (!) einzusetzen, d. h. die ihnen gegenüber zu empfindenden Gefühle einfach zu bejahen und eventuell zu unterstreichen. Dann können Institutionen »heilig« sein und sind als »Organisatoren« fixiert.“ Was in diesem Hinweis noch unterbelichtet bleibt, ist die Konfliktkonstellation, auf die die Semantik des Heils und der Heilung doch verweist. 84 Dazu noch einmal Durkheim 1984, 567:„Wenn wir in der Religion eine im wesentlichen soziale Sache sehen, so wollen wir keinesfalls sagen, daß sie sich begnügt, die materiellen Formen der Gesellschaft und ihre unmittelbaren Vitalinteressen in eine andere Sprache zu übersetzen. … [D]as kollektive Bewußtsein ist etwas anderes als eine einfache abgeleitete Erscheinung seiner morphologischen Ba-

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sis, so wie das individuelle Bewußtsein etwas anderes ist als eine einfache Effloreszenz des Nervensystems. Damit das kollektive Bewußtsein auftaucht, muß eine Synthese sui generis der einzelnen Bewußtseine entstehen. Diese Synthese hat aber die Wirkung, eine ganze Welt von Gefühlen, Ideen und Bildern hervorzubringen, die, wenn sie einmal vorhanden sind, Gesetzen gehorchen, die ihnen eigen sind.“ Im Sinne Durkheims formuliert es auch Elias (1939): „Oft genug erschien und erscheint es den Menschen so, als seien die Gebote und Verbote, durch die sie ihr Verhalten zueinander regeln, und ihnen entsprechend auch die Ängste, die sie bewegen, etwas Außermenschliches. Je weiter man sich in die geschichtlichen Zusammenhänge vertieft, in deren Verlauf sich Verbote, wie Ängste bilden und umbilden, desto stärker drängt sich dem Nachdenkenden eine Einsicht auf. die für unser Handeln ebenso, wie für das Verständnis unserer selbst nicht ohne Bedeutung ist; desto klarer zeigt sich, in welchem Maße die Ängste, die den Menschen bewegen, menschen-geschaffen sind. Sicherlich ist die Möglichkeit, Angst zu empfinden, genau, wie die Möglichkeit. Lust zu empfinden, eine unwandelbare Mitgift der Menschennatur. Aber die Stärke, die Art und Struktur der Ängste, die in dem Einzelnen schwehlen oder aufflammen, sie hängen niemals allein von seiner Natur ab, und, zum mindesten in differenzierteren Gesellschaften, auch niemals von der Natur, in deren Mitte er lebt; sie werden letzten Endes immer durch die Geschichte und den aktuellen Aufbau seiner Beziehungen zu anderen Menschen, durch die Struktur seiner Gesellschaft bestimmt; und sie wandeln sich mit dieser.“ (1976, 446) 85 Auch für Hobbes, der das erste moderne Modell der Konfliktverarbeitung formuliert hat, geht es bei den Ursachen von sozialen Konflikten primär um knappe Ressourcen: „So finden wir in der Natur des Menschen drei Hauptursachen für die Konflikte: erstens Konkurrenz, zweitens Unsicherheit, drittens Ruhmsucht. Die erste veranlaßt die Menschen, wegen des Gewinns anzugreifen, die zweite wegen der Sicherheit und die dritte wegen des Ansehens. Die ersten gebrauchen Gewalt, um sich zum Herrn von anderer Menschen Personen, Frauen, Kindern und Vieh zu machen; die zweiten, um sie zu verteidigen; die dritten wegen Bagatellen wie ein Wort, ein Lächeln, eine unterschiedliche Meinung und jedes andere Zeichen von Unterschätzung, die entweder ihre eigene Person betreffen oder ein schlechtes Licht auf ihre Verwandten, ihre Freunde, ihre Nation, ihren Beruf oder ihren Namen werfen. . .“ (1996, S. 104) S. die Ausf. von Steven Pinker im Anschluss an dieses Hobbes-Zitat (2004, 441-465 ) 86 J.R.Harris (2007) hat gezeigt, dass das Statussystem, in dem gruppeninterne Konkurrenzkonflikte regelmäßig ausgetragen werden, zu den grundlegenden Bedingungen der Individualitätsentfaltung beim Menschen gehören. 1.5 Religion und Sprache ... 87 Tomasello 2003, 2009. 88 Donald 2008, 264ff, geht in seiner Rekonstruktion der Sprachentwicklung noch eine Stufe weiter zurück auf die Formen sozialer Aufmerksamkeitssteuerung. „Die Idee eines in der Kultur verankerten und vom Exekutivsystem des Gehirns gesteuerten Selbstaufbaus lässt sich mit Mehrebe-


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nen-Theorien der Evolution vereinbaren, weil sie vorsieht, dass für die Reproduktion notwendige Informationen in mehr oder weniger großem Umfang in die Kultur ausgelagert werden. Zunächst speicherten die Hominiden nur wenig, im Laufe der Evolution aber immer mehr Wissen in der Kultur. … Die Speicherung in der Kultur ist über Rückkopplungsmechanismen mit anderen Ebenen der Speicherung verbunden, etwa mit den Genen oder mit epigenetischen Prozessen. Unser mächtigstes kulturelles Speicherinstrument ist die Sprache (wobei dies eher ihre impliziten Codes als ihre expliziten Bedeutungen betrifft). Sprache ist aber keineswegs das einzige Medium, das wir nutzen, um kulturelle Informationen zu speichern. Wir bewahren sie auch in vielen anderen Formen auf, unter anderem in Sitten und Gebräuchen, Institutionen und Gegenständen. Alle diese Instrumente sind Teil der kulturellen Reproduktionsmechanismen unserer kognitiv hochentwickelten Spezies.“ Donald, 2008, S. 279 - S. dazu auch die Thesen von Dunbar 2003 zur Koevolution von Gehirn und Sozialität bei Primaten. 89 Zusammenfassend Tomasello 2009, S. 339-365 - Zum Vergleich evtl. die Unterscheidung kognitiver Stufen episodisch / mimetisch / mythisch / theoretisch bei M. Donald 2008 heranziehen. 90 In vielen Kulturtheorien wird auf Sprache und Religion Bezug genommen, um die menschlichen Sozialität von den Sozialformen anderer Lebewesen abzugrenzen. In evolutionstheoretischer Perspektive geht es darum, in diesen Phänomenen die Verbindungsstücke zwischen natürlicher und kultureller Evolution zu entdecken. In dieser Perspektive kann das gemeinsame Moment von Sprache und Religiosität in der Transzendierung natürlicher Beschränkungen der Weltwahrnehmung gesehen werden. S. in diesem Sinne, Luckmann 1991, 77ff. In Untersuchungen, die auf die Schlüsselfunktion von Sprache für kulturelle Evolution Bezug nehmen, besteht allerdings auch die Tendenz, die Funktion der Religion auf die Lösung kognitiver Probleme zu verengen. (S. zB. Burkert, 37ff, Luhmann, 1977, 182ff) Für die Sprache mag zutreffen, dass sie evolutionär unwahrscheinliche Formen der Sozialität ermöglicht, indem sie kognitive Probleme löst. Für die Religion ist aber nicht kognitive Komplexität sondern soziale Kontingenz das Ausgangsproblem. 91 Die Ähnlichkeit der Funktionen von Sprache und Religion auf der Ebene kultureller Gruppenselektion hat schon Kant gesehen: „die Natur … bedient sich zweier Mittel, um Völker von der Vermischung abzuhalten und sie abzusondern, der Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen.“ (1795, Erster Zusatz. Von der Garantie des ewigen Friedens – Punkt 2) 92 Da diesen Formen im Kontext sprachlicher Kommunikation häufig eine unterstützende und absichernden Funktion zukommt, liegt der Fehlschluss nahe, sie als sprachlich abgeleitete Formen misszuverstehen. – Zu einer modellartigen Beschreibung des Übergangs von gestischer zu sprachlicher Kommunikation s. nochmal G.H.Mead. In umgekehrter Perspektive s. dazu auch Habermas Formulierung von der „Versprachlichung des Sakralen“. 93 S. dazu Tomasello 2009, 71ff, 123ff. – Des weiteren wäre in dieser Hinsicht reflexionslos ausgeübten Formen der Kommunikation wie Tanz und Gesang nachzugehen. Na-

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türlich stellt auch die Sexualität eine Form der Kommunikation dar, die – trotz Cyrano von Bergerac – prinzipiell an Sprache nicht gebunden ist. 94 In den ursprünglichen Formen des Tanzes sind die akustischen Formen der Gemeinschaftsbildung bereits verbunden mit den Formen gestisch-bildhafter Wahrnehmung. H. Miller (1964, Kap.X S. 171ff.) sieht in den religiösen Gemeinschaftspraktiken sogar den Ursprung der Sprache angelegt: “We have been told that "in the beginning was the Word"; but it was not at the beginning, to shape and inform a creation still to be begun, it was only much later, to bring some intellectual comprehension of a creation well ad-vanced, that came the word. As these human millennia followed one another, and each new generation religiously reenacted the guarded rite and exactly transmitted to the next its behavorial pattern, with chant and dance mimicking the call and motion of the totemic beast or simulating the sway and rustle of the totemic plant, certain repeated sounds came to be nouns that named the totemic property with the repeated exhibition of which the sounds were exactly synchronized, while other sounds became verbs which symbolized the mimetic movements, and the single rhythmic cadence of both chant and dance provided the scansion that would become the sentential syntax of a nascent language.” 95 Hinweise auf genetisch angelegte Formen der bildhaften und akustischen Wahrnehmung, die in universellen Formen der bildenden Kunst und Musik zum Ausdruck kommen – s. Pinker 2003, 552-578. 96 Claessens hat bereits darauf hingewiesen, dass die seit der Romantik beliebte Hypothese einer menschlichen Universalsprache mit dem Umstand kollidiert, dass die menschliche Sprache empirisch nur im Plural und auch als Unterscheidungsmerkmal konkurrierender Sozialsysteme vorkommt: „Mit „Sprache" wird in der Regel die verbalisierte Kommunikation gemeint. „Kommunikation" und „Leben" sind zwei sich gegenseitig definierende Begriffe. Nichtverbale Kommunikation instinktiver Herkunft oder deutlicher „beabsichtigter", d.h. bewußter Art (hier ist wohl nur sehr schwer zu trennen) tritt überall bei den „Tieren" auf. Da man immer mehr Einsicht darein bekommt, daß „Tiere" höher lernfähig sind, als man noch vor kurzem dachte, muß der Grad des „Beabsichtigt-Seins" höher als gängig angesetzt werden. Darüber hinaus zieht sich „symbolhafter" Ausdruck durch alle non-verbale Kommunikation, d.h. Beziehungsaufnahme und -Unterhaltung auf vielen Stufen der Evolution. Das Losreißen des „Wortes" und die Konstruktion einer anspruchsvolleren Syntax aus dem Gegebenen hat dann mindestens seit HERDER zur Definition des Menschen beigetragen. Dem Menschen wurde seither, zuletzt mit dem Begriff „Kompetenz", das Vermögen, sich sprachlich artikulieren zu können — sozusagen ab ovo — zugeschrieben. Alle Menschen „können" das „Sprechen". Diese Definition hat allerdings einen kleinen Haken: Sie wird nur möglich dadurch, daß alles menschliche Sprechen auch für Sprache gehalten wird; eine Konvention, die seit längerem, nicht seit langem!, akzeptiert wird, weil nämlich kein Mensch „die" Sprache spricht. Die Entwicklung des Menschen in tausenden von Kulturen und damit das Herausbilden von tausenden von „Sprachen" hat es unmöglich gemacht, an einem menschlichen Individuum die „reine" Sprachkompetenz nachzuweisen. Es müßte dann ja eben


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auch die „reine" Sprache sprechen. Man übersieht aber diesen Mangel in der Beweisführung, definiert im Zirkel: „der Mensch hat Sprachkompetenz, d.h. die Kompetenz zum Sprechen in menschlicher „Sprache", und läßt es dabei – klugerweise – bewenden . Praktisch tritt das Sprechen nur in einer „Sprache" auf, d.h. einer spezifischen Ausformung der – unterstellten – Kompetenz. Innerhalb dieses Rahmens allerdings ist die Behauptung überzeugend, „weiß" sogar ein Kind doch unmittelbar, ob ein Wort, ein Satz zur eigenen Sprache gehören könnten, auch wenn es dieselbe überhaupt noch nicht „beherrscht". (Claessens 2000, 155) 97 Auch Luckmann weist darauf hin, dass die menschliche Sprache ein symbolisch konstituiertes Mittel der Überschreitung natürlicher Grenzen der Sozialität darstellt: „Während wir zum Ausdrucksverhalten nur in Face-toFace-Situationen Zugang haben, dienen Objektivierungen als Anzeichen für einen solchen Sinn, der die engen Begrenzungen von Raum und Zeit überschreitet.“ (1991, 81) 98 Zu der Funktion symbolischer Markierungen von Gruppengrenzen in der Evolution menschlicher Sozialsysteme programmatisch Richerson/Boyd: “The cultural transmission of ordinary adaptive information has advantages in the highly variable environments of the Pleistocene, and the hominine line diverged from the last common ape ancestor in developing a massive dependence on adaptive social and technological traditions. Some of these processes have the effect of making group selection on cultural variation possible and the use of cultural cues to structure populations common. As cultural group selection began to produce primitive patterns of ingroup cooperation and outgroup hostility, human cognitive capacities and emotional responses, presumably coded in large measure by genes, responded to adapt people to living in culturally defined cooperative groups. Cultural transmission is a little like the haplodiploidy of the social insects. It tweaks the evolutionary process in a way that happens to make the evolution of ultra-sociality possible. It is quite unlike haplodiploidy in that it leaves the genetic system of inheritance itself unaltered. Thus human ultra-sociality arose by adding a cultural system of inheritance to a genetic one that normally supports small-scale societies based on kinship and reciprocity.” (Richerson/Boyd 1998 S.71f – Hervorhebung kg) „Human societies are a spectacular anomaly in the animal world. They are based on the cooperation of large, symbolically marked in-groups. Such groups have economies based on substantial division of labor and compete with similarly marked out-groups. This is obviously true of modern socie¬ties, in which enormous bureaucracies like the military, political parties, churches, and corporations manage complex tasks, and in which people depend on a vast array of resources produced in every corner of the globe. But it is also true of hunter-gatherers, who have extensive exchange net¬works and regularly share food and other important goods outside the family and the residential group.“ (Richerson/Boyd 2005 p. 195) „Finally, there is much evidence that symbolic markers of group boundaries motivate important behavior. Tribal instincts cause people to use sym¬bolic markers to define the boundaries of in-groups and establish, for ex¬ample, who is eligible for empathy, who should excite suspicion, and, in some horrible cases, who should be killed. Evidence

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suggests that ethnolinguistic boundaries among foragers are symbolically marked, and that stylistic marks of group membership are highly salient. Anthropologist Polly Wiessner collected arrow points from a number of Kalahari San Bushmen groups, including groups unknown to the !Kung San, the people she studied. Wiessner asked !Kung San men for comments on the distinctive styles. Confronted by unfamiliar arrow points, !Kung men guessed that their makers were very different people from themselves. They reported that they would be alarmed to find these points in their territory, because they certainly would have been lost by people unknown to the !Kung and therefore potentially dangerous. On the other hand, exchange of stylistically familiar beadwork and other valuables within groups is used to build up a notion of the !Kung social universe and to build a web of relationships that link people within the ethnolinguistic unit. In simple band-scale societies like the !Kung, the institutions that link members of a tribe are informal but very important. In a harsh and unpre¬dictable world, succor in times of disas-ter may often mean the difference be¬tween life and death. Using gift exchanges, ceremonial activities, and rules of exogamy to create a large group of trusted friends and affines is an effective form of insurance. These data, together with the appearance of stylistic artifacts at least one hundred thousand years ago, indicate that expressive symbolic displays have been part of human strategies for managing social life for a respectable period. At the proximal psychological level, the "minimal group" experimental system developed by social psychologist Henri Tajfel provides interesting insights into the cognitive mechanisms involved in the use of symbols to demarcate groups, and the actions people take based on group membership. In social psychological experiments, as in real life, members of groups favor one another and discriminate against out-groups. The social psychologists in Tajfel's tradition were interested in separating the effects of group membership per se from the personal attachments that form in-groups. Social psychologist John Turner, for instance, contrasts two sorts of hypotheses to explain group-oriented behavior. Functional social groups might be composed entirely of networks of individuals that are linked by personal relationships, objective shared fate, or other individualcentered ties. Groups could be a collection of individuals bound together by mutual interpersonal attraction reflecting some degree of functional interdepen¬dence and mutual aid. The alternative hypothesis is that identity symbols alone are sufficient to induce humans to accept membership in a group, acting positively toward in-group members and negatively toward out-groups.“ (Richerson/Boyd 2005 p. 221) 99 Roy beschreibt die Differenz zwischen sprachlicher und religiöser Kommunikation am Beispiel der protestantischen Sekten: „In ihrem Extrem kommt diese Haltung in dem berühmten »Reden in Zungen«, der Glossolalie, der Pfingstler zum Ausdruck: Wie die Apostel zu Pfingsten (daher der Name der Bewegung) beginnen die Gläubigen unter dem Einfluss des Heiligen Geistes, Töne zu artikulieren, die jeder in seiner Sprache versteht. Das bedeutet nicht, dass sie plötzlich Chinesisch, Tagalog oder Hebräisch sprechen können, sondern dass sie durch eine Lautäußerung, die


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nichts mit Sprache zu tun hat, verstanden werden. Hier gibt es weder theologisches Wissen noch linguistisches, noch kulturelles, vielmehr handelt es sich um eine Präsenz, die nicht durch Wissen vermittelt wird. Es ist der typische Fall, dass der Buchstabe in dem Wort verschwindet, welches direkt eindringt, ohne Vermittlung der Sprache.“ Roy 2010, 203f. 100 Tomasellos Beobachtungen über die Beschränkung der Kommunikation bei Schimpansen auf Imperative legen nahe, dass der Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Kommunikationspotentials in der Übertragung des Mechanismus der sexuellen Selektion auf die symbolische Ebene bestehen könnte. S. entsprechende Hinweise bei G.Miller 2000, 385-438. 101 Diese werden in der Gehirnforschung auch auf natürliche Disposition durch sogenannte Spiegelneurone zurückgeführt – s. Rizzolatti 2008 102 An dieser Stelle wäre evtl. über die vorsprachliche Form von Zeigegesten hinausgehend der Frage nachzugehen, inwieweit sie ihrer evolutionären Funktion nach weniger der Sprache als vielmehr der Technik zuzurechnen sind: im Hinblick auf jene Techniken der Umweltdistanzierung, mit deren Hilfe im Prozess der Hominisation der aktive Ausbau des ökologischen Nische zu einem Schutzschirm vor dem Selektionsdruck der natürlichen Umwelt und die Vermeidung von organischer Anpassung gelungen ist. (Vgl. Claessens und Popitz im Rekurs auf Paul Alsberg, Das Menschenrätsel, Dresden 1922) 103 S. dazu auch Fellmanns Interpretation der biblischen Sündenfallerzählung mithilfe der Sprachtheorie von C.S.Peirce (Fellmann, 2005, 138ff). 104 Deshalb hat sich auch Habermas emphatisch auf Tomasellos Untersuchungen bezogen. 105 Während in der gestischen Kommunikation mit der Beschränkung auf Imperative eine „männliche Wahl“ (ausgehend vom Sender und ohne Rücksicht auf die Individualität des Empfängers) dominiert, entfaltet sich in der symbolischen Kommunikation eine „weibliche Wahl“, die erst durch die Verstehensleistungen der Empfänger zustande kommt. So könnten in der durchschnittlich größeren Sprachbegabung der Frauen noch Spuren dieses phylogenetischen Ursprungs der menschlichen Sprache zum Ausdruck kommen. 106 Zum Zusammenhang zwischen der Entstehung des ersten Zeichens, des ersten Symbols und der ersten Gemeinschaftsbildung durch die am Anfang der menschlichen Kultur vorgenommene Bezeichnung eines Sündenbocks s. mit Literaturhinweisen – Vollmer 2009, S.88 107 Zur historischen Entwicklung der Vielfalt der Religionen Schurz (2011: 207): „Gemäß einer Schätzung von Wilson (1998, 325) gab es in der Geschichte der Menschheit etwa 100 000 verschiedene religiöse Glaubenssysteme, während es heute, abgesehen von einigen Tausend kleiner Stammesreligionen, die fünf „Weber'schen" Weltreligionen des Christentums, Konfuzianismus, Hinduismus, Buddhismus und Islams sowie einige verwandte Formen wie jüdische Religion, Taoismus und Bahai gibt.“ 108 Hinweise auf strukturelle Parallelen in der evolutionären Funktion von Sprache und Religion auch bei Wade 2009, S. 9ff 109 s. Tomasello 2009, 6. Kap.

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110 Dass Tomasello die diskriminierende Seite der Sprache nur am Rande einbezieht, hat wohl mit einer gewissen Voreingenommenheit für Kooperation statt Konflikt in seiner Beschreibung der condition humana zu tun. 111 Daß Sprache ein »mächtiges Symbol der sozialen Solidarität all derer [sei] ..., die diese Sprache sprechen.« zeigt schon E. Sapir (Die Sprache, in: Kulturanthropologie, Hrsg. W. E. Mühlmann, E. Müller, Köln-Berlin 1966, S. 117) S. auch die Hinweise bei Wade auf Analogien zwischen Sprache und Religion. Beide haben konstitutive Funktionen für menschliche Sozialsysteme, beide weisen sowohl universelle (also vermutlich auch genetisch verankerte) Merkmale wie auch große kulturspezifische Unterschiede auf. Wichtig ist aber auch ein Unterschied: Während Sprache die Unterschiede kultureller Populationen unter ihren jeweiligen Umweltbedingungen nur mehr oder weniger passiv zum Ausdruck bringt (also als Medium und Merkmalsträger der Unterschiede fungiert) scheint die Funktion der Religion darüberhinausgehend ein aktives Potential zur Ausbreitung, also nicht nur zur Unterscheidung und Abgrenzung von Anderen, sondern auch zur aggressiven (kriegerisch-physischen und/oder missionarischsymbolischen) Unterwerfung der Anderen zu besitzen. 112 Hinsichtlich des Abstraktionspotentials wäre noch darauf einzugehen, wie durch sprachliche Erzähltechniken Unbekanntes in Bekanntes verwandelt und damit die sinnhafte Überschreitung der Nahwelt ermöglicht wird. Hierauf verweist Sloterdijk (2001, 56) im Anschluss an Heidegger und Blumenberg: „Als Heidegger die Sprache als das »Haus des Seins« bezeichnete, bereitete er die Einsicht vor, daß die Sprache das universale Organon der Übertragung ist. Mit ihr navigieren die Menschen in den Räumen der Ähnlichkeit. Jedoch ist an ihr nicht nur wichtig, daß sie die nahe Welt aneignet, indem sie vertrauten Dingen, Personen und Qualitäten zuverlässige Namen zuordnet und sie in Geschichten und Vergleiche verstrickt. Entscheidend ist noch mehr, daß sie das Fremde und Unheimliche »nähert«, um es einzubeziehen in eine bewohnbare, verstehbare, mit Einfühlung auskleidbare Sphäre.“ 113 Die im Gebrauch symbolischer Kommunikationsmittel latent immer schon mitgeführte Diabolik – die Wahrnehmung von Kontingenzen – wird in der religiösen Weltauslegung verstärkt durch deren Versprachlichung. Die Verallgemeinerung der Schriftsprache durch den Buchdruck führt zu einer Ablösung der religiösen Orientierungen der Individuen vom Auslegungsmonopol der Kirchen. 114 In den neuen religiösen Bewegungen unter Bedingungen der Globalisierung wird erkennbar, dass Sprache und Religion wieder deutlich auseinandertreten. Roy (2010, 30f) weist darauf hin, dass die in den Hoch- und Offenbarungsreligionen entstandene Verbindung zwischen Religion, Schrift und mündlicher Auslegung sich in den neuen religiösen Bewegungen auflöst in Richtung kontextunabhängiger Zeichen und Gesten. 115

ad 2. Tribale Gesellschaften

116 Der Eindruck der Strenge ist natürlich relativ zu der Lockerheit der entsprechenden Beziehungen in der modernen Gesellschaft, der die ethnologischen Beobachter entstammen.


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2.2 Die Bedeutung religiöser Konfliktvermeidungsstrategien 117 Auch erhebliche Teile der soziologischen und ethnologischen Literatur sind noch von dieser romantischen Vorstellung motiviert. S. z.B Malinowski in seiner Arbeit über den Krieg im Laufe der Jahrhunderte (1947) und M.Mauss in seinen moralischen Schlussfolgerungen aus der Untersuchung über den Gabentausch. 118 Dazu Wade 2009, 30: “Darwin's thesis about the evolution of morality raises a seriously disturbing possibility. He is saying that morality, viewed by some as man's noblest achievement, arose from warfare, the least noble, and that the brisker the pace of warfare the more rapidly would morality have blossomed. This suggests that people were highly aggressive in the distant past. Many social scientists are reluctant to believe that people were more violent in the past than they are today. Archaeologists, seeking to avoid glorification of war, have contrasted the carnage of modern wars to the peaceable behavior of human foragers before agriculture and the birth of cities. Only recently has a careful survey shown how constant and merciless was the warfare between pre-state societies, much of it aimed at annihilating the opponent.” Ergänzende Ausführungen und Literaturhinweise bei Sanderson 2001, 324f: Shaw and Wong (1989) offer … another type of biomaterialist explanation of war. They root band and tribal warfare in ethnocentrism, which is itself driven by xenophobia, or fear of and hostility to strangers. In state-level societies warfare is driven by nationalism and ethnic mobilization, which are modern expressions of ethnocentrism. A large literature has now accumulated (e.g., van den Betghe, 1981a; Reynolds, Falger, and Vine, 1986) which provides strong evidence that ethnocentrism is an evolutionary adaptation. In the ancestral environment strong attachment to one's group and willingness to fight in defense of it would have been highly adaptive. On the whole and in the long run, individuals who behaved in such a fashion would have more often lived to fight another day, and to acquire mates and leave offspring, compared to individuals with weaker group attachments. Darwin himself saw ethnicity and ethnocentrism as evolutionary adaptations. He said that a "tribe including many members who, from possessing in a high degree the spirit of patriotism, fidelity, obedience, courage, and sympathy, were always ready to aid each other and to sacrifice themselves for the common good would be victorious over other tribes." Darwin even made the connection between ethnocentrism and warfare explicit: Ingroup amity and out-group enmity go together as two sides of the very same coin. In support of Shaw and Wong, it must be recognized that in preindustrial societies, band and tribal societies in particular, in-group attachments are usually intense and out-groups are not only regarded as inferior, but are often vilified as the very essence of evil (Reynolds, Falger, and Vine, 1986). Under such circumstances, it is no wonder that war among bands and tribes is so common. Shaw and Wong's position fits very well with Wrangham's analysis of chimp-human similarities. Chimpanzees seem to show the same xenophobia that is so characteristic of humans in societies that approximate the ancestral envi-

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ronment. The extreme forms of in-group amity and outgroup enmity that we observe in so many human societies dovetail with the neo-Hobbesian position on war (Keeley, 1996), or at least with one fundamental aspect of the neoHobbesian position: The condition of war is normal in the absence of a state. Of course, war is also common in the presence of a state, but it is a very different type of war (to be discussed in a moment). The basic point is that it is extremely difficult to stop war in prestate societies once it gets going, and it gets going with remarkable ease. 119 Zum Zusammenhang zwischen Kriegsmoral und Gruppenevolution Wilson 1975, 572ff: „Throughout recorded history the conduct of war has been common among tribes and nearly universal among chiefdoms and states. When Sorokin analyzed the histories of 11 European countries over periods of 275 to 1,025 years, he found that on the average they were engaged in some kind of military action 47 percent of the time, or about one year out of every two. The range was from 28 percent of the years in the case of Germany to 67 percent in the case of Spain. The early chiefdoms and states of Europe and the Middle East turned over with great rapidity, and much of the conquest was genocidal in nature. The spread of genes has always been of paramount importance. For example, after the conquest of the Midianites Moses gave instructions identical in result to the aggression and genetic usurpation by male langur monkeys: Now kill every male dependent, and kill every woman who has had intercourse with a man, but spare for yourselves every woman among them who has not had intercourse. (Numbers 31)

And centuries later, von Clausewitz conveyed to his pupil the Prus¬sian crown prince a sense of the true, biological joy of warfare: Be audacious and cunning in your plans, firm and persevering in their execution, determined to find a glorious end, and fate will crown your youthful brow with a shining glory, which is the ornament of princes, and engrave your image in the hearts of your last descendants.

The possibility that endemic warfare and genetic usurpation could be an effective force in group selection was clearly recognized by Charles Darwin. In The Descent of Man he proposed a remarkable model that foreshadowed many of the elements of modern group-selection theory: Now, if some one man in a tribe, more sagacious than the others, invented a new snare or weapon, or other means of attack or defence, the plainest self-interest, without the assistance of much reasoning power, would prompt the other members to imitate him; and all would thus profit. The habitual practice of each new art must likewise in some slight degree strengthen the intellect. If the invention were an important one, the tribe would increase in number, spread, and supplant other tribes. In a tribe thus rendered more numerous there would always be a rather greater chance of the birth of other superior and inventive members. If such men left children to inherit their mental superiority, the chance of the birth of still more ingenious members would be somewhat better, and in a very small tribe decidedly better. Even if they left no children, the tribe would still include their blood-relations, and it has been ascertained by agriculturists that by preserving and breeding from the family of an animal, which when slaughtered was found to be valuable, the desired character has been obtained.

Darwin saw that not only can group selection reinforce individual selection, but it can oppose it—and sometimes prevail, especially if the size of the breeding unit is small and average kinship corre¬spondingly close. Essentially


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the same theme was later developed in increasing depth by Keith (1949), Bigelow (1969), and Alexander (1971). These authors envision some of the "noblest" traits of mankind, including team play, altruism, patriotism, bravery on the field of battle, and so forth, as the genetic product of warfare. By adding the additional postulate of a threshold effect, it is possi¬ble to explain why the process has operated exclusively in human evolution (Wilson, 1972a). If any social predatory mammal attains a certain level of intelligence, as the early hominids, being large pri¬mates, were especially predisposed to do, one band would have the capacity to consciously ponder the significance of adjacent social groups and to deal with them in an intelligent, organized fashion. A band might then dispose of a neighboring band, appropriate its territory, and increase its own genetic representation in the meta-population, retaining the tribal memory of this successful episode, repeating it, increasing the geographic range of its occurrence, and quickly spreading its influence still further in the metapopulation. Such primitive cultural capacity would be permitted by the possession of certain genes. Reciprocally, the cultural capacity might propel the spread of the genes through the genetic constitution of the meta¬population. Once begun, such a mutual reinforcement could be irreversible. The only combinations of genes able to confer superior fitness in contention with genocidal aggressors would be those that produce either a more effective technique of aggression or else the capacity to preempt genocide by some form of pacific maneuvering. Either probably entails mental and cultural advance. In addition to being autocatalytic, such evolution has the interesting property of requiring a selection episode only very occasionally in order to pro¬ceed as swiftly as individual-level selection. By current theory, geno¬cide or genosorption strongly favoring the aggressor need take place only once every few generations to direct evolution. This alone could push truly altruistic genes to a high frequency within the bands (see Chapter 5). The turnover of tribes and chiefdoms estimated from atlases of early European and Mideastern history (for example, the atlas by McEvedy, 1967) suggests a sufficient magnitude of differential group fitness to have achieved this effect. Furthermore, it is to be expected that some isolated cultures will escape the process for generations at a time, in effect reverting temporarily to what ethnographers classify as a pacific state.” 120 In diesem Sinne der Hinweis von Wade (2009, 32) auf Frans de Waal (1996, 18) und Richard Alexander : "The function or raison d'étre of moral systems is evidently to provide the unity required to enable the group to compete successfully with other human groups. Only in humans is the major hostile force of life composed of other groups in the same species, …" 121 Wilson 1975, 561f.: „An increasingly sophisticated anthropology has not given reason to doubt Max Weber's conclusion that more elementary religions seek the supernatural for the purely mundane rewards of long life, abundant land and food, the avoidance of physical catastrophes, and the defeat of enemies. A form of group selection also operates in the competition between sects. Those that gain adherents survive; those that cannot, fail. Consequently, re-

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ligions, like other human institutions, evolve so as to further the welfare of their practitioners. Because this demographic benefit applies to the group as a whole, it can be gained in part by altruism and exploitation, with certain segments profiting at the expense of others. Alternatively, it can arise as the sum of generally increased individual fitnesses. The resulting distinction in social terms is between the more oppressive and the more beneficent religions. All religions are probably oppressive to some degree, especially when they are promoted by chiefdoms and states. The tendency is intensified when societies compete, since religion can be effectively harnessed to the purposes of warfare and economic exploitation. The enduring paradox of religion is that so much of its substance is demonstrably false, yet it remains a driving force in all societies. Men would rather believe than know, have the void as purpose, as Nietzsche said, than be void of purpose. At the turn of the century Durkheim rejected the notion that such force could really be extracted from "a tissue of illusions." And since that time social scientists have sought the psychological Rosetta stone that might clarify the deeper truths of religious reasoning. In a penetrating analysis of this subject, Rappaport (1971) proposed that virtually all forms of sacred rites serve the purposes of communication. In addition to institutionalizing the moral values of the community, the ceremonies can offer information on the strength and wealth of tribes and families. Among the Maring of New Guinea there are no chiefs or other leaders who command allegiance in war. A group gives a ritual dance, and individual men indicate their willingness to give military support by whether they attend the dance or not. The strength of the consortium can then be precisely determined by a head count. In more advanced societies military parades, embellished by the paraphernalia and rituals of the state religion, serve the same purpose. The famous potlatch ceremonies of the Northwest Coast Indians enable individuals to advertise their wealth by the amount of goods they give away. Rituals also regularize relationships in which there would otherwise be ambiguity and wasteful imprecision. The best examples of this mode of communication are the rites de passage. As a boy matures his transition from child to man is very gradual in a biological and psychological sense. There will be times when he behaves like a child when an adult response would have been more appropriate, and vice versa. The society has difficulty in classifying him one way or the other. The rite de passage eliminates this ambiguity by arbitrarily changing the classification from a continuous gradient into a dichotomy! It also serves to cement the ties of the young person to the adult group that accepts him. To sanctify a procedure or a statement is to certify it as beyond question and imply punishment for anyone who dares to contradict it. So removed is the sacred from the profane in everyday life that simply to repeat it in the wrong circumstance is a transgression. This extreme form of certification, the heart of all religions, is granted to the practices and dogmas that serve the most vital interests of the group. The individual is prepared by the sacred rituals for supreme effort and self-sacrifice. Overwhelmed by shibboleths, special costumes, and the sacred dancing and music so accurately keyed to his emotive centers he has a "religious ex-


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perience." He is ready to reassert allegiance to his tribe and family, perform charities, consecrate his life, leave for the hunt, join the battle, die for God and country. Deus vult was the rallying cry of the First Crusade. God wills it, but the summed Darwinian fitness of the tribe was the ultimate if unrecognized beneficiary. It was Henri Bergson who first identified a second force leading to the formalization of morality and religion. The extreme plasticity of human social behavior is both a great strength and a real danger. If each family worked out rules of behavior on its own, the result would be an intolerable amount of tradition drift and growing chaos. To counteract selfish behavior and the "dissolving power" of high intelligence, each society must codify itself. Within broad limits virtually any set of conventions works better than none at all. Because arbitrary codes work, organizations tend to be inefficient and marred by unnecessary inequities. As Rappaport succinctly expressed it, "Sanctification transforms the arbitrary into the necessary, and regulatory mechanisms which are arbitrary are likely to be sanctified." The process engenders criticism, and in the more literate and self- conscious societies visionaries and revolutionaries set out to change the system. Reform meets repression, because to the extent that the rules have been sanctified and mythologized, the majority of the people regard them as beyond question, and disagreement is defined as blasphemy.“ 122 Zu der mehr oder weniger verdeckten Wiederkehr von Gründungskonflikten und ihrer religiösen Verarbeitung in traditionellen Gesellschaften und in der Moderne zusammenfassend Vollmer 2009, Kap.8. Hier evtl mehr Ausführungen zu den archaischen Praktiken des Gründungs- und Versöhnungsopfers – im Anschluss an Girard, 1994 u.a. - Zitate: S. 18: „Das Opfer tritt nicht an die Stelle dieses oder jenes besonders bedrohten Individuums, es wird nicht diesem oder jenem besonders blutrünstigen Individuum geopfert, sondern es tritt an die Stelle aller Mitglieder einer Gesellschaft und wird zugleich allen Mitgliedern der Gesellschaft von allen ihren Mitgliedern dargebracht. Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt [...]. Die Opferung zieht die überall vorhandenen Ansätze zu Zwistigkeiten auf das Opfer und zerstreut sie zugleich, indem sie sie teilweise beschwichtigt.“ S.32: „In einer Welt, in der der geringste Konflikt, ähnlich der kleinsten Verletzung bei einem Bluter, verheerende Folgen haben kann, führt die Opferung die aggressiven Tendenzen auf wirkliche oder gedachte, belebte oder unbelebte Opfer ab, von denen nie angenommen werden muß, sie könnten je gerächt werden, und die auf der Ebene der Rache ausnahmslos neutral und steril sind. Sie liefert dem Drang nach Gewalt, der durch den Willen zur Enthaltsamkeit allein nicht zu bewältigen ist, einen partiellen, wenn auch vorläufigen, aber stets erneuerbaren Ausweg; es gibt über dessen Wirksamkeit zu viele übereinstimmende Zeugnisse, als daß sie einfach vernachlässigt werden könnten. Das Opfer verhindert, daß sich der Keim der Gewalt entwickelt. Es hilft den Menschen, die Rache im Zaum zu halten.“ S. 76: „Die Krise des Opferkults, d.h. der Verlust des Opfers, ist der Verlust der Differenz zwischen unreiner und reinigender Gewalt. Wenn diese Differenz verloren geht,

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dann ist keine Reinigung mehr möglich, und die unreine, ansteckende, d.h. gegenseitige Gewalt breitet sich in der Gemeinschaft aus. Die opferkultische Differenz, der Unterschied zwischen dem Reinen und dem Unreinen, kann nicht aufgehoben werden, ohne alle Unterschiede einzureißen. Es handelt sich hier um ein und denselben Prozess der Überflutung durch die gewalttätige Reziprozität. Die Krise des Opferkults ist also als die Krise der Unterschiede zu definieren und damit als Krise der kulturellen Ordnung insgesamt. Diese kulturelle Ordnung ist nämlich nichts anderes als ein organisiertes System von Unterschieden; es ist dieses graduelle Gefälle von Unterschieden, das den Individuen ihre ,Identität' zueinander ermöglicht.“ Girard vernachlässigt hier aber die stabilisierenden Effekte sozialer Binnendifferenzierung – worauf auch schon Luhmann in seiner Religionssoziologie hingewiesen hat (1977, S.121) 123 Im auffälligen Unterschied zu den Formen des sexuellen Austauschs bei anderen Primatengruppen. Evtl. wäre auf diese Differenz noch einzugehen. S. ethologische Primatenforschung. 124 Innerhalb der natürlichen Evolution ist das grundlegende Phänomen nicht das Inzestverbot sondern die sexuelle Selektion, deren Funktion (Variation im Genpool) durch das Inzesttabu verstärkt wird. Zur Verankerung des Inzesttabus in der Evolution der Organismen s. Bischof, 1985 S. 81ff. Die kulturelle Fixierung des Tabus in Exogamieregeln geht darüber hinaus. Nach Levi-Strauss ist das „Inzestverbot gleichzeitig an der Schwelle zur Kultur, in der Kultur und, in gewissem Sinne die Kultur selbst" (1993, 57). Auch für De Waal ist die Universalität des Inzesttabus „ein Ausdruck für das geglückte Zusammenwirken von Natur und Kultur“ (2005, 272). 125 S. ethnologische Literatur zu Frauentausch, Gabentausch etc. s. Mauss, Malinowski, Levi-Strauss, Sahlins, Antweiler und ihre soziol. Rezeption bei Durkheim, Mauss, Bourdieu, Paul u.a. - Hinweise auf Reziprozität der Gewalt in der Theorie des Gabentauschs bei Vollmer S.58 Die Kulturtheorie der Gabe (Mauss 1978) zeigt bereits für die Stammesgesellschaften drei Arten der Konfliktverarbeitung durch Externalisierung, die (in anderen Formen) in allen traditionellen Formen der menschlichen Sozialität praktiziert werden: 1. die Vermeidung von Fortpflanzungskonkurrenz in der eigenen Gruppe (duch Frauentausch), 2. die Vermeidung von Gruppenkonkurrenz durch Ausdehnung der Reziprozität (durch Gabentausch) und 3. die Verlagerung der Sanktionsgewalt zur Vermeidung von Konkurrenzkonflikten auf die Metaebene (durch Opfergaben an überirdische Mächte). Ein normativer Kurzschluss der Gabentheorie zeigt sich allerdings, wenn das aus der Literatur über segmentär differenzierte Gesellschaften destillierte Konfliktverarbeitungsmuster zur Lösung von Ordnungsproblemen der modernen Gesellschaft empfohlen wird. Damit wird verkannt, dass die Bindungswirkung des Gabentauschs zu einer Gesellschaft gehört, die primär auf Kleingruppenidentät basiert. Sobald die Ausdehnung der Gesellschaft auf eigenen (technischen und smbolischen) Grundlagen steht, tritt an die Stelle des sozialverbindlichen Gabentauschs der nutzenmaximierende Tauschhandel, und das dominante Konfliktverarbeitungsmuster wird auf Binnendifferenzierung umgestellt.


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126 Zum Wiederanschluss an die Darwinsche Theorie der sexuellen Selektion s. Zahavi 1998, G.Miller 2000. Bei Miller nochmal nachlesen Hypothesen zur kulturellen Evolution von Tausch, Wettbewerb, Egentumsrechten, Freiheitsrechten aus sexueller Selektion. Leider ignoriert Miller die naheliegende Verbindung zur Gruppenevolution. – Was für die Verknüpfung der Praktiken des Gabentauschs mit dem Mechanismus der sexuellen Selektion spricht, ist nicht die Exogamie (die eine Folge der internen Konkurrenzverbote ist) sondern die Nichtanwendung von Gewalt im Außenverhältnis (das damit zum erweitertes Innenverhältnis wird) und das „Prinzip der edlen Verschwendung“ (Mauss,1978, 127) das hierin implementiert ist. 127 S. dazu zusammenfassend Wade, Kap.3 128 Es handelt sich hier also um eine Form der Ausdehnung des reziproken Altruismus – s. Trivers 1971 129 Gefangenendilemmata lassen sich nur auflösen, wenn man eine Möglichkeit findet, die Regeln zu ändern oder aus dem Spiel auszusteigen. Pinker 2003 spricht in dieser Hinsicht von Hobbesianischen Dilemmata: „Auf Grund der Abschreckungslogik sind Kämpfe um die persönliche oder nationale Ehre nicht so idiotisch, wie sie erscheinen mögen. In einem feindseligen Milieu müssen Menschen und Länder ihre Bereitschaft signalisieren, jeden zur Rechenschaft zu ziehen, der ihre Rechte in irgendeiner Weise schmälert mit anderen Worten, sie müssen sich den Ruf zulegen, sich für jeden Übergriff zu rächen, egal, wie geringfügig er ist. …Uns, die wir Leviathan auf den Plan rufen können, indem wir den Notruf wählen, ist diese Mentalität fremd, aber diese Option steht nicht immer zur Verfügung. Sie stand den Menschen in vorstaatlichen Gesellschaften nicht zur Verfügung, nicht den Grenzern in den Appalachen oder im Wilden Westen, nicht den Bewohnern des Schottischen Hochlands, den Menschen im Balkan oder in Indochina. Genauso wenig steht sie den Leuten zur Verfügung, die die Polizei nicht rufen können, weil sie den falschen Beruf haben, etwa den Alkoholschmugglern während der Prohibition, den Drogendealern in den Slums und den Mafiosi. Auch in den Beziehungen zwischen Nationalstaaten steht sie nicht zur Verfügung.“ (2003, 452) 130 Die Rache ist mein – so schon der Gott des alten Testaments. Die alttestamentarische Tradition, in der das Verhältnis zwischen Mensch und Gott bereits als vertragliches Rechtsverhältnis gedacht wird (»Alter Bund«) kann als eine historische Kombination von Opfer- und TauschPraktiken gedeutet werden. – „Vertragsbildung ist mehr als eine kulturelle Universalie. Sie ist ein ebenso charakteristisches Merkmal unserer Spezies wie Sprache und abstraktes Denken - hervorgebracht sowohl vom Instinkt als auch hoher Intelligenz." (Wilson 1998:231) 131 S. Girard 1994 – hier evtl. noch weitere Ausf. zum Gründungs- und Versöhnungsopfer. Wobei anzumerken, dass die Theorien der Gründungsgewalt die kulturermöglichende Funktion der sexuellen Selektion - via Exogamieregeln etc. – fast durchgängig vernachlässigen. 132 „Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst, nicht anders als die Armen und die mannigfachen "inneren Feinde" - ein Element, dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein Außerhalb und Gegenüber einschließt.“ Simmel, 1992, 764

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133 S. schon meine Ausf. zu den drei Aspekten des religiösen Externalisierungsmechanismus im oben. Vgl Ausf. von Vollmer Kap.7 im Anschluss an Juergensmeyer. 134 So auch Vollmer 2009 S. 50. im Anschluß an Batailles Theorie der Religion, s. dazu evtl. auch die Politische Theologie von C.Schmitt. 135 S. mein Fünf-Stufen-Schema zur Evolution der Opferpraktiken am Schluß von Kap.3 2.3 Konfliktvermeidung in Praktiken des Austauschs 136 Dieser Abschnitt ist noch zu überarbeiten im Rekurs auf Ethnologie. Zu evolutionsbiologischen Voraussetzungen von Austausch und Teilen s. Wilson 1975 S. 551ff und mit Bezug auf primordiale Reziprozität, Trivers 1971. Für die weitere kulturelle Evolution ist insbesondere die These zu prüfen und auszuführen, dass sich aus den Exogamieregeln primitiver Gesellschaften die evolutionären Errungenschaften wechselseitiger Anerkennung ableiten lassen, und dass darin eine von religiösen Opfer-Praktiken unabhängige Quelle friedlichen Austauschs und die Evolution von Strukturen wechselseitiger Anerkennung zu entdecken ist. S. schon bei Wilson den vorgreifenden Hinweis auf Geld als eine Form des reziproken Altruismus. Zur Bedeutung dieses Argumentationsstrangs im Kontext der Konfliktexternalisierungsthese s. auch zusammenfassend dazu nochmal in Kap. 5 137 Hier geht es noch einmal (s. schon Kap. 1) darum, Nachahmung als grundlegenden Mechanismus der Reproduktion und Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme zu verstehen. Girard knüpft in dieser Hinsicht an das grundlegende Werk von G. Tarde an. Er arbeitet in seinen religionssoziologischen Reflexionen stärker als Tarde die Konflikthaftigkeit von Nachahmungsprozessen heraus, vernachlässigt aber die Funktionen und Folgen technisch erweiterter Nachahmungsketten, die bei Tarde schon im Blick sind. Zur Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme durch kulturelle Replikationsmechanismen s. auch Richerson-Boyd 2005. 138 Deshalb ist eigentlich schon die Rede von segmentärer Differenzierung missverständlich, sofern man damit in genetischer Hinsicht einen Prozess der Binnendifferenzierung verbindet s. Ausf. in 1.7 139 Der hier skizzierte Versuch, alternative kulturelle Konfliktverarbeitungsmuster im Anschluss an die den naturgeschichtlich verankerten Mechanismus sexueller Selektion zu rekonstruieren, hat gerade im Übergang zu den Frühformen menschlicher Kultur eine noch unaufgelöste Schwachstelle: Werden die proximativ-alternativen Verhaltensmuster der sexuellen Selektion – die Fortpflanzungserfolg nur unter Respektierung der körperlich-geistigen Selbstbestimmung des Anderen zulassen - nicht gerade dadurch ausgehebelt, dass die sexuellen Paarungen zwischen den Herkunftsgruppen (also durch die Stammesältesten und über die Betroffenen hinweg) ausgehandelt werden? – Viele Hinweise aus der enthnologischen Forschung lassen allerdings darauf schließen, dass die sexuelle Wahl schon stattgefunden hat, bevor es zu den Verhandlungen und zeremoniellen Bestätigungen der Verbindung zwischen den Geschlechtspartnern aus verschiedenen Herkunftsgruppen kommt. Dazu Malinowski, 1979: „Die Frau hat keinen wirtschaftlichen Anlaß zur Heirat und gewinnt weniger als der Mann


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an Bequemlichkeit und gesellschaftlichem Ansehen; sie wird in der Hauptsache durch persönliche Neigung und den Wunsch nach ehelich geborenen Kindern zur Heirat bestimmt.“ (71) … „Ist ein Dauerverhältnis auf dem Punkt angelangt, wo es zur Heirat heranreift, so wird es im Dorfe bekannt und besprochen; für die Familie des Mädchens, die bisher keinerlei Interesse an ihren Liebesgeschichten genommen, sich vielmehr ostentativ unbeteiligt gezeigt hat, ist nunmehr der Zeitpunkt gekommen, zu dem geplanten Ereignis Stellung zu nehmen und sich darüber klar zu werden, ob sie damit einverstanden ist oder nicht.“ (73) … „Wenn die Eltern der Heirat geneigt sind und ihr freudiges Einverständnis durch die Bitte um ein kleines Geschenk des Zukünftigen kundgetan haben, so müssen die Verlobten noch eine Weile warten, um die nötige Zeit für die Vorbereitungen zu gewinnen. Eines Tages jedoch, statt am Morgen in ihr Elternhaus zurückzukehren, bleibt das Mädchen bei ihrem Mann, nimmt die Mahlzeiten im Hause seiner Eltern ein und begleitet ihn den ganzen Tag. Dann spricht es sich herum: «Isepuna und Kalogusa sind schon verheiratet.» Diese Vorgänge machen die Eheschließung aus. Kein anderer Ritus, keine besondere Zeremonie kennzeichnet den Beginn des Ehelebens. Seit dem Morgen, da sie bei ihrem Bräutigam blieb, ist das Mädchen mit ihm verheiratet, vorausgesetzt natürlich, daß die Eltern ihre Einwilligung gegeben haben. Ohne diese Einwilligung ist, wie wir gesehen haben, die Handlungsweise des jungen Paares nur ein Versuch zur Heirat. Diese Handlung - daß nämlich das Mädchen beim Manne bleibt, offen eine Mahlzeit mit ihm teilt und unter seinem Dache wohnt - hat trotz ihrer äußersten Einfachheit gesetzlich bindende Kraft; es ist die hergebrachte Art der öffentlichen Eheverkündung. Sie hat ernste Folgen, denn sie ändert das ganze Leben der beiden Partner und legt der Familie des Mädchens umfängliche Verpflichtungen auf, die wiederum mit Gegenverpflichtungen von Seiten des jungen Ehemannes verbunden sind.“ (75f.) Dass die sexuelle Selektion trotz der Exogamie-Regeln von der Frau ausgeht, wird durch folgende Beobachtung Malinowskis bei den Trobriandern belegt: „Die wirkliche Bedeutung des Clans in Vorstellungswelt und Gesellschaftsordnung der Eingeborenen wird an einer interessanten sprachlichen Unterscheidung klar. Das Eingeborenenwort für «Freund» ist lubaygu und bedeutet «der Mann, mit dem ich aus freier Wahl verkehre, weil ich ihn gern habe». Lernt ein Europäer die Eingeborenensprache, so wendet er dieses Wort unweigerlich falsch an. Wenn er nämlich zwei Männer viel zusammen sieht, die gut miteinander auskommen und offenbar befreundet sind, so beschreibt er ihre Beziehung mit dem Wort lubayla (sein Freund), ohne sich erst zu vergewissern, ob die beiden verwandt sind. Doch dieses Wort darf nur auf einen Freund aus einem anderen Clan angewendet werden; es ist nicht nur inkorrekt, sondern auch unschicklich, es von einem Verwandten zu sagen.“ (387) Dass die Vorschriften zur Exogamie primär als soziale Institution verstanden werden und die Mechanismen sexueller Selektion nicht aushebeln, wird auch am folgenden Resumé deutlich: „Die Vorschrift der Exogamie ist also keineswegs eindeutig und unterschiedslos in ihrer Wirkung und wird zum Beispiel auf Ehe und Geschlechtsverkehr verschieden angewendet; die öffentliche Meinung gibt ei-

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nen gewissen Spielraum frei, und den übernatürlichen Strafen kann man ausweichen. Dies mußte in allen Einzelheiten festgestellt werden, um einen klaren Begriff vom Wesen und Wirken der Exogamie zu vermitteln.“ (394) 140 Der Zusammenhang zwischen Gabentausch und sexueller Selektion wird bei Mauss unausgesprochen erkennbar in den folgenden Formulierungen (S.138): „All dies sind gleichzeitig juristische, wirtschaftliche, religiöse, sogar ästhetische und morphologische Phänomene. Juristisch sind sie darin, daß sie privates und öffentliches Recht betreffen, organisierte und diffuse Moral; sie können streng obligatorisch sein oder einfach dem Lob oder Tadel unterliegen; sie sind politisch und zugleich familial, da sie sowohl gesellschaftliche Klassen wie Clans und Familien angehen. Sie sind religiös - im Sinne von Religion, Magie, Animismus und diffuser religiöser Mentalität. Sie sind ökonomisch, weil die Begriffe des Wertes, Nutzens, Interesses, Luxus, Reichtums, Erwerbs und der Akkumulation einerseits und die des Verbrauchs und der reinen und rein verschwenderischen Ausgabe andererseits überall gegenwärtig sind, wenn auch vielleicht nicht in ihrem modernen Sinn. Zudem haben diese Institutionen auch einen bedeutenden ästhetischen Aspekt, den wir hier bewußt ausgeklammert haben; doch die wechselseitig aufgeführten Tänze, die Gesänge und Schaufeste aller Art, die dramatischen Vorführungen, die von den Lagern oder den Verbündeten einander gegeben werden, die mannigfaltigen Gegenstände, die man herstellt, benutzt, schmückt, poliert, sammelt und mit Liebe weiterreicht, alles, was man mit Freude empfängt und mit Triumph wegschenkt, die Feste, an denen jedermann teilnimmt - all dies, Nahrungsmittel, Gegenstände, Dienste (selbst der »Respekt«, wie die Tlingit sagen), ist eine Quelle ästhetischer und nicht nur moralischer oder interessebestimmter Gefühle. Das gilt nicht allein für Melanesien, sondern spezieller für das Potlatsch-System der Nordwestamerikaner und noch mehr für die festlichen Märkte der indoeuropäischen Welt. Und schließlich handelt es sich auch deutlich um morphologische Phänomene. Alles, was im Laufe von Versammlungen und Märkten oder auf Festen geschieht, setzt Gruppierungen voraus, die länger dauern als die Zeiten gesellschaftlicher Konzentration, z. B. der Winter-Potlatsch der Kwakiutl oder die wenigen Wochen der überseeischen Expeditionen der Melanesier. Außerdem muß es Straßen geben, Meere oder Seen, auf denen man sich in Frieden fortbewegen kann, und es bedarf tribaler, intertribaler und internationaler Bündnisse - commercium und connubium.“ 141 Wenn das zur Wahl stehende Objekt einseitig seine Liebe zum Anderen erklärt, übt es schon Druck aus, der das Interaktionsmuster zerstören kann. Die herkömmlich Göttern vorbehaltene Botschaft „Ich liebe Euch doch Alle“ wird wohl nicht zufällig vom obersten Staatssicherheitsagenten Mielke wiederholt. 142 Frauentausch und Gabentausch sind ursprünglich aufs Engste miteinander verknüpft. Deshalb wird in den von M.Mauss untersuchten Stammesgesellschaften kein Unterschied gemacht zwischen Person und Sache. Soziale Bindung wird durch den Tausch der Sachen hergestellt, die als beseelte Bestandteile des Persönlichen verstanden werden. Wenn Mauss von einer „Vermischung“ von Person und Sache spricht (S.38f), operiert er mit einer normativen Unter-


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scheidung, die erst in der Moderne Sinn macht. Tatsächlich könnte die Idee der Unverletzlichkeit der Person aus der Verbindung von Gruppenbildung und sexueller Selektion (Exogamie, Frauentausch) stammen. Dasselbe gilt dann aber auch für die Idee der Unverletzlichkeit des Eigentums. In beiden Fällen ist der Faktor der sexuellen Selektion – also einer Wahl, die die Besitzrechte des Anderen anerkennt – immer schon mit Umweltselektion verknüpft durch die Gruppenbildung – also mit der Verringerung des Selektionsdrucks der natürlichen Umwelt durch erweiterte Systembildung. Alle Formen des Gabentauschs sind zurückzuführen auf Techniken der Konfliktvermeidung – sind also Zeichen eines zugrundeliegenden sozialen Problems. Das gilt nicht nur für die noch ritualisierten Formen im Geschäftsleben und in losen Besuchsketten, sondern eben auch in den scheinbar selbstverständlichsten Formen in Familien, bei Weihnachtsgeschenke für die Kinder und Verwandten, Blumen o.ä. unter Ehegatten. Nur Liebende benötigen das nicht. 143 Hier oder später die Formen des Wettbewerbs (paradigmatisch: Sport, s. dazu Elias …) als moderne Alternative zu der traditionellen Aufspaltung in Konkurrenzverbot im Inneren und ungeregelte Konkurrenz im Äußeren. 144 Nach Mauss haben die Gaben an Menschen und an Götter (mit der Zwischenform an Verstorbene) die gleichen Motive/Ursachen: Es geht immer darum, Frieden zu erkaufen – also Konkurrenzkonflikte zu vermeiden. Hier wäre also zu klären, ob die Opferpraktiken nur religiös überhöhte Sonderformen der Tausch-Praktiken sind. Lässt sich die Sonderform dann mit der besonderen Bedrohung durch den Rache-Zyklus zwischen lose gekoppelten Gruppen erklären? Oder besser allgemein i.S. Girards durch die in aller Sozialsystembildung enthaltene Gründungsgewalt? Zu klären wäre hier noch, ob es im Gabentausch Unterschiede zwischen Gruppen und zwischen Personen innerhalb derselben Gruppe gibt. Handelt es sich bei dem Geschenkewettbewerb innerhalb der Gruppe um eine Art Reinternalisierung des zunächst in den Beziehungen zwischen den Gruppen evoluierten Musters, das dann zu ersten Formen der Hierarchisierung führt? Da Tausch- und Opferpraktiken unter den Bedingungen der Stammesgesellschaften noch weitgehend zusammenfallen, wäre es wichtig herauszuarbeiten, wann und wodurch deren Differerenzierung ausgelöst wird. Dabei wäre auch noch einmal die These zu prüfen, dass die Tauschpraktiken eigenständige Quellen in der sexuellen Selektion haben. Der Zwangscharakter, den der Tausch in primitiven Gesellschaften hat, ist zunächst auf den Selektionsdruck der Umwelt zurückzuführen. Was dann für die Verknüpfung des Gabentauschs mit dem Mechanismus der sexuellen Selektion spricht, ist nicht die Exogamie (die eine Folge der internen Konkurrenzverbote ist) sondern die Nichtanwendung von Gewalt im Außenverhältnis (das damit zum erweiterten Innenverhältnis wird) und das „Prinzip der edlen Verschwendung“ (Mauss,1978, 127) das hierin implementiert ist. 145 S. die Thesen von G.Miller, 2000 und ihre Aufnahme in der Evolutionären Psychologie (s. Tooby/Cosmides, Buss u.a.) - Nach dem von Zahavi 1998 formulierten HandicapPrinzip funktionieren die sogenannten teuren Signale allerdings nicht nur im Kontext sexueller Selektion, sondern

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auch im Bereich der Umweltselektion (z.B. als Signal des springenden Zebras an den verfolgenden Löwen). 146 S. Rizzolatti/Gallese 2008 s. deren Rezeption in der Evolutionären Psychologie, die Popularisierung bei Rifkin 2010 u.a. 147 Hier evtl. Hinweis auf Mersch 2010, der in dieser Hinsicht zwischen Dominanzverhalten (abgeleitet aus dem Selektionsdruck der Umwelt) und der „GefallenwollenKommunikation“ (abgeleitet aus sexueller Selektion) unterscheidet. – S. dazu evtl. auch noch R.E. Leach, 1981, Biology and Social Science: Wedding or Rape? Nature 291: 276-268. 148 Zu dieser Unterscheidung mit Bezug auf die Funktion der Religion s. schon oben Tinbergen 1963 149 „Perhaps the earliest form of barter in early human societies was the exchange of meat captured by the males for plant food gathered by the females. If living huntergatherer societies reflect the primitive state, this exchange formed an important element in a distinctive kind of sexual bond. Fox (1972), following Levi-Strauss (1949), has argued from ethnographic evidence that a key early step in human social evolution was the use of women in barter. As males acquired status through the control of females, they used them as objects of exchange to cement alliances and bolster kinship networks. Preliterate societies are characterized by complex rules of marriage that can often be interpreted directly as power brokerage. This is particularly the case where the elementary negative marriage rules, proscribing certain types of unions, are supplemented by positive rules that direct which exchanges must be made. Within individual Australian aboriginal societies two moieties exist between which marriages are permitted. The men of each moiety trade nieces, or more specifically their sisters' daughters. Power accumulates with age, because a man can control the descendants of nieces as remote as the daughter of his sister's daughter. Combined with polygyny, the system insures both political and genetic advantage to the old men of the tribe. For all its intricacy, the formalization of marital exchanges between tribes has the same approximate genetic effect as the haphazard wandering of male monkeys from one troop to another or the exchange of young mature females between chimpanzee populations. Approximately 7.5 percent of marriages contracted among Australian aborigines prior to European influence were intertribal, and similar rates have been reported in Brazilian Indians and other preliterate societies (Morton, 1969). It will be recalled (Chapter 4) that gene flow of the order of 10 percent per generation is more than enough to counteract fairly intensive natural pressures that tend to differentiate populations. Thus intertribal marital exchanges are a major factor in creating the observed high degree of genetic similarity among populations. The ultimate adaptive basis of exogamy is not gene flow per se but rather the avoidance of inbreeding. Again, a 10 percent gene flow is adequate for the purpose. The microstructure of human social organization is based on sophisticated mutual assessments that lead to the making of contracts. As Erving Goffman correctly perceived, a stranger is rapidly but politely explored to determine his socioeconomic status, intelligence and education, self-


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perception, social attitudes, competence, trust-worthiness, and emotional stability. The information, much of it subconsciously given and absorbed, has an eminently practical value. The probe must be deep, for the individual tries to create the impression that will gain him the maximum advantage. At the very least he maneuvers to avoid revealing information that will imperil his status. The presentation of self can be expected to contain deceptive elements: Many crucial facts lie beyond the time and place of interaction or lie concealed within it. For example, the "true" or "real" attitudes, beliefs, and emotions of the individual can be ascertained only indirectly, through his avowals or through what appears to be involuntary expressive behavior. Similarly, if the individual offers the others a product or service, they will often find that during the interaction there will be no time or place immediately available for eating the pudding that the proof can be found in. They will be forced to accept some events as conventional or natural signs of something not directly available to the senses. (Goffman, 1959)

Deception and hypocrisy are neither absolute evils that virtuous men suppress to a minimum level nor residual animal traits waiting to be erased by further social evolution. They are very human devices for conducting the complex daily business of social life. The level in each particular society may represent a compromise that reflects the size and complexity of the society. If the level is too low, others will seize the advantage and win. If it is too high, ostracism is the result. Complete honesty on all sides is not the answer. The old primate frankness would destroy the delicate fabric of social life that has built up in human populations beyond the limits of the immediate clan. As Louis J. Halle correctly observed, good manners have become a substitute for love.“ (Wilson 1975, 533f mehr zu Tauschpraktiken auch im anschließenden Abschnitt über Bonding, Sex, and Division of Labor) 150 Hier evtl. nochmal Hinweis auf die bei Girard, Bellah, Joas u.a. (unter Berufung auf das universelle Liebesgebot der Berpredigt) vertretene Auffassung vom prinzipiellen Bruch der christlichen Weltreligion mit Konfliktexternalisierungspraktiken. Dagegen steht die Argumentation, wonach mit der Entstehung der monotheistischen Religionen eine dramatisch verschärfte Form der Externalisierung und Exklusion (im Rekurs auf absolute Wahrheitsansprüche) ergibt. Vgl. Assmann 2000. 151

ad 3. Traditionelle Gesellschaften

3.1 Die Ausdifferenzierung religiöser Konfliktvermeidungstechniken 152 Eine solche Sicht, die die Außenseite der Funktion der Religion ausblendet, konnte natürlich erst im Kontext der Delegitimierung kriegerischer Konflikte in der Moderne aufkommen. In der Luhmannschen Gesellschaftstheorie wird diese Abstraktion noch ein Stück weiter getrieben, indem die Funktion der Restabilisierung sozialer Systeme direkt mit sozialer Differenzierung verknüpft und die Funktion der Religion (wie auch jeder anderen Symbolik für Gemeinschaftlichkeit) darin vollständig ausgeblendet bzw. auf ein Angebot zur Bewältigung individuell erfahrener Kontingenzen reduziert wird. 153 Hier formuliert im Anschluss an Ausführungen von Luckmann auf dem Soziologiekongress in Frankfurt.M 2010

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154 Dazu Girard (am Schluss des Abschnitts über LeviStrauss)… : „Die rituelle Gewalt ist immer weniger immanent als die ursprüngliche Gewalt. Indem sie mythischrituell wird, verschiebt sich die Gewalt nach außen, und diese Verschiebung selbst hat Opfercharakter: sie verbirgt den Ort der ursprünglichen Gewalt und schützt so die elementare Gruppe, in deren Schoß absoluter Friede herrschen muß, vor dieser Gewalt und vor dem Wissen um diese Gewalt. Die rituellen Gewalttätigkeiten, die den Frauentausch begleiten, spielen für die eine wie die andere Gruppe eine opferkultische Rolle. Zwischen den beiden Gruppen einigt man sich also eigentlich darauf, sich nie zu einigen, um sich innerhalb der einzelnen Gruppe besser einigen zu können. Es ist bereits das Prinzip jedes Krieges gegen «äußere Feinde»: die für den Zusammenhalt der Gruppe potentiell verhängnisvollen aggressiven Tendenzen richten sich, von innen gesehen, gegen außen.“ 155 Dazu zusammenfassend Wilson 1975, 572: „The conventional view of the development of civilization used to be that innovations in farming led to population growth, the securing of leisure time, the rise of a leisure class, and the contrivance of civilized, less immediately functional pursuits. The hypothesis has been considerably weakened by the discovery that IKung and other hunter-gatherer peoples work less and enjoy more leisure time than most farmers. Primitive agricultural people generally do not produce surpluses unless compelled to do so by political or religious authorities (Carneiro, 1970). Ester Boserup (1965) has gone so far as to suggest the reverse causation: population growth induces societies to deepen their involvement and expertise in agriculture. However, this expla¬nation does not account for the population growth in the first place. Hunter-gatherer societies remained in approximate demographic equilibrium for hundreds of thousands of years. Something else tipped a few of them into becoming the first farmers. Quite possibly the crucial events were nothing more than the attainment of a certain level of intelligence and lucky encounters with wild-growing food plants. Once launched, agricultural economies permitted higher population densities which in turn encouraged wider networks of social contact, technological advance, and further dependence on farming A few innovations, such as irrigation and the wheel, intensified the process to the point of no return.“ 156 Das heißt auch, dass segmentäre Differenzierung nicht verschwindet, sondern sich unter dem Primat hierarchischer Differenzierungsformen reproduziert. - Hier wäre noch genauer zu sagen, unter welchen Bedingungen die segmentäre Ordnung so instabil wird, dass Lösungen durch Hierarchie sich als evolutionär vorteilhaft durchsetzen. Und was dabei zuerst kommt: die Modifikation des „Gesellschaftsvertrags“ durch das Gewaltmonopol (statt Aushandlung zwischen Gruppen) oder die Binnendifferenzierung durch Schichtung? Wie steht Stratifikation zu Hierarchie? Warum und in welchen Formen reproduzieren sich Opferpraktiken auch in hierarchisch-stratifikatorischen Sozialsystemen? Warum und in welchen Formen reproduzieren sich Tauschpraktiken in hierarchisch-stratifikatorischen Sozialsystemen? 157 Der Unterschied zwischen archaischen Gesellschaften mit ihren einfachen und stets prekären Hierarchien und den


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mehrfach differenzierten traditionellen Schichtungssystemen muss hier wenigstens ansatzweise dargestellt werden. – Dabei ist noch unklar, ob und inwieweit ich auch der These vom religiösen Umbruch in der „Achsenzeit“ (Jaspers, Bellah, Eisenstadt, Joas) folgen kann. Zur Abgrenzung der Religionen vor und nach dieser Zeit s. auch J.Assmanns These zum Gewaltpotential des Monotheismus. In der Focussierung darauf könnte aber auch eine Verharmlosung der Opfer-Riten in den vermeintlich toleranteren polytheistischen Religionen stecken – s. zusammenfassend Vollmer 1.5.) Zur Kritik an Assmanns Thesen s. zusammenfassend Kippenberg S. 19ff - Zur Frage der Epocheneinteilung s. auch das Vier-Stufen-Schema (episodisch, mimetisch, mythisch, theoretisch) bei Donald 2008, S. 272. Zum Übergang von archaischen zu traditionellen Kulturen s. auch Brock, 2006. 158 Hans Joas stellt eine scharfe Differenz zwischen Werten und Normen mit Bezug auf die Motivierung sozialen Handelns heraus: Werte können als Legitimationsgrundlage für den Widerstand (also religiösen Ungehorsam) gegen aktuell geltende Normen dienen (Joas 1997). Diese Differenzierung muss als eine späte Errungenschaft der menschlichen Kultur betrachtet werden. Joas schreibt sie der Achsenzeit zu. Aber vielleicht handelt es sich eher um eine Erfindung der Moderne, deren Anfänge dann rückblickend in der Zeit der Entstehung der Hochreligionen gefunden werden können. Wichtiger als die zeitliche Platzierung erscheint mir aber der Umstand, dass Joas Argumentation nicht genügend berücksichtigt, dass die von ihm als zivilisatorische Errungenschaft herausgestellte Differenz überlagert wird durch die Vorherrschaft einer negativen Kommunikation über Werte: Man spricht normalerweise nicht über Werte, sondern macht am eingetretenen oder abzuwehrenden Schadensfall (am Skandal) indirekt deutlich, welchem Wert zu folgen sei. Und in dieser negativen Form ist keine Differenz mehr zwischen Werten und Normen erkennbar. Es geht dabei ja gerade um die innere Befestigung normativer Einstellungen. 159 Der Wendepunkt in der „Achsenzeit“ (Bellah im Anschluss an Jaspers „the age of criticism“) liegt wohl in der Auflösung der Einheit von weltlicher und religiöser Herrschaft (Gottkönigtum) durch transzendentale Legitimation. Ob anderen Aspekten der Nachachsenzeit wie Steigerung der Reflexivität und Rationalität durch Theologisierung, Hierarchisierung etc. - so hohe Bedeutung zukommt, wie etwa Joas behauptet, wäre noch zu diskutieren. Für konfessionelle Beobachter wie Joas, Girard und (den späteren) Bellah hat die Aufklärung im wesentlichen breits in der Achsenzeit stattgefunden. Eine Vorverlegung der Aufklärung würde evolutionstheoretisch nur dann plausibel, wenn man sie nicht als radikalen Bruch sondern als Entwicklungspfad auffasst und dessen erste Stufe bereits im Prozess der Hominisation ansetzt – vgl. Sloterdijk 2001 im Anschluss an Heideggers „Lichtung“. Wenn Bellah formuliert, dass es sich bei den Offenbarungsreleigionen um erste Formen einer universalistischen Weltanschauung handele (1973, 285) wird zugleich deutlich, dass im Medium der Religion immer nur ein halbierter Universalismus zustandekommt. Wer sich dem speziellen Heilsangebot nicht freiwillig anschließt, bleibt (ganz unfreiwillig) von Vielem ausgeschlossen. Beck (2008) der das

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für ein Merkmal aller Universalismen hält, sucht deshalb den darüberhinausweisenden Begriff in einer Kosmologie des Politischen. Nach Roy tragen die modernen Religionen „selbst zur Verstärkung der Dichotomie und zum Verschwinden einer weltlichen religiösen Kultur bei, indem sie die Kriterien für die Zugehörigkeit verschärfen. Die Religion wird gemäß Begriffspaaren wie Erfülltheit gegenüber Leere gedacht, beziehungsweise als Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Engagement, Identität und nicht mehr im Hinblick auf ihre Präsenz in der Welt. Die »Welt«, das heißt die umgebende Gesellschaft, erscheint verdächtig bedrohlich, beschmutzend, denn sie ist feindselig materialistisch und unrein, mit einem Wort: heidnisch.“ Roy 2010, 174. 160 Dass der Opferkult in den Hoch- und Weltreligionen der Nachachsenzeit noch keineswegs überwunden ist, könnte demnächst auch von höchster christlicher Warte bestätigt werden, wie aus der Rezension eines Tagungsbands in der FAZ vom 16.8.2010: hervorgeht: „Im Ausgang seines Referates ‚Jesu Opfergang‘ erklärte Stuhlmacher ‚Die Unkenntnis der biblischen Sühnetradition, der Widerwille gegen den Gerichtsgedanken und den biblischen Gottesbegriff sowie die von Kant begründete Überzeugung von der Autonomie und Unvertretbarkeit des Individuums fügen sich zu einer dicken Schutzmauer gegen die biblische Opfer- und Sühneanschauung zusammen. Gegen diese Mauer ist mit Argumenten kaum anzukommen. Bis heute nehmen viele Theologen lieber den Verlust des halben Alten Testaments und des halben Neuen Testaments auf sich, als dass sie diese Mauer einreißen. Ich dagegen bin nicht bereit, die Heilige Schrift als Ganzes aufzugeben. Ich bleibe lieber bei meiner Minderheitenposition.‘ Benedikt XVI. kündigte an, diese Position im demnächst erscheinenden zweiten Teil seines Jesus-Buches zu vertiefen, und bekräftigte, ‚dass der Sühnegedanke, so wie er gemeinhin gefasst wird, eine entscheidende Barriere darstellt, um heute Jesu Selbstverständnis zu begreifen‘.“ 161 Um diese Entwicklung in Abgrenzung zur einseitigen Focussierung auf Opfer- und Gewaltpraktiken i.S. der Bifurkation von Opfer- und Tausch-Logik von der Stammesgesellschaft bis zur Epochenschwelle der Moderne interpretieren zu können, bedarf es noch entsprechender Ausführungen. Dramatische Beispiele aus einem Vortrag von Gerd Althoff (Sprecher des Excellenzclusters "Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne" an der Universität Münster) der in der FAZ vom 8.12.2010 auszugsweise abgedruckt wurde: „Die Samuel-Geschichte (1, 15, 22ff.) und der Psalm 79 haben eines gemeinsam: Sie handeln von einem zornigen Gott, der unerbittlich verlangt, dass der Frevel, der ihn erzürnt hat, mit dem Blut der Frevler gesühnt wird. Diese Bannideologie, die im Alten Testament auch noch an anderen Stellen zu finden ist, hat man im elften Jahrhundert im Umkreis der Kirchenreformer entdeckt und genutzt, um die eigenen, neuen Geltungsansprüche zu legitimieren. Man sollte diesen Vorgang nicht als lediglich rhetorisch abtun; er hat realer Gewalt im Dienste und Auftrag der Kirche den Weg bereitet. Gewalt gegen verheiratete und simonistische Priester und Bischöfe, Gewalt auf den Kreuzzügen, in Ketzerkriegen und in der Inquisition hängen an der Grundsatz-


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entscheidung, dass es dem Christen erlaubt sei, für die Wahrheit Gewalt anzuwenden. Die Gewalt ablehnenden starken Worte des Neuen Testaments gerieten in diesen Jahrhunderten zwar nicht in Vergessenheit, traten aber in den Hintergrund. Ein hoher Preis für die angestrebte "Weltherrschaft" des Papsttums.“ 162 Bellah, 1973, 287: „Das Auftreten historischer Religionen ist Teil eines allgemeinen Übergangs vom ZweiKlassen-System der archaischen Periode zum VierKlassen-System, wie es für alle großen historischen Zivilisationen bis zur modernen Zeit typisch ist: eine politischmilitärische Elite, eine kulturell-religiöse Elite, sowie eine ländliche (Bauern) und eine städtische (Händler und Handwerker) untere Schicht (lower-status group). In engem Zusammenhang mit den neuen religiösen Entwicklungen verbreitete sich die Schriftkundigkeit in den Elitegruppen und den oberen Bereichen der unteren städtischen Schichten.“ 163 Abgesehen von kleineren Ausnahmen: Tu felix Austria nube! 164 Bellah 1973, 289: „Die Ausdifferenzierung einer religiösen Elite brachte eine neue Ebene sozialer Spannungen und die Möglichkeit von Konflikt und Wandel mit sich. Ob es nun zu Konfrontationen zwischen Propheten und Königen in Israel kam, oder zwischen islamischem Ulama und Sultan, zwischen Papst und Kaiser, oder zwischen konfuzianisch gebildeten Beamten und dem Herrscher: immer konnten politische Ereignisse nach Prinzipien beurteilt werden, die von den politischen Autoritäten letztlich nicht zu kontrollieren waren. Wieweit nun solche Konfrontationen weitreichende soziale Konsequenzen hatten, hing davon ab, wie unabhängig die jeweilige religiöse Gruppe war und welchen realen Druck sie ausüben konnte. Dazu hat S. N. Eisenstadt umfangreiche Untersuchungen angestellt.“ 165 Hier wäre noch einmal zu überprüfen, ob es sich bei dem christlichen Ideal der Nächstenliebe um eine metaphorische Ausdehnung der Verhältnisse zwischen Gatten oder zwischen Eltern und Kindern oder um etwas Drittes handelt. In beiden familialen Beziehungen handelt es sich natürlich um Spezifischeres, das in der generalisierten Form verlorengeht. In der Gattenbeziehung steckt die Anerkennung der Verschiedenheit des Anderen, in der Eltern-KindBeziehung die symbiotische Fürsorge. Eine generalisierte Implementation des Musters der Gattenliebe ist in den Austauschbeziehungen der Verwandtschaftsgruppen segmentärer Gesellschaften zu beobachten, eine generalisierte Implementation des Musters der Elternliebe hingegen in totalitären Sozialsystemen. Nach Carl Schmitt bezieht sich die Aufforderung „Liebet eure Feinde“ aus der Bergpredigt (nach der Vulgata: diligite inimicos vestros, Matthäus 5,44 und Lukas 6,27) auf den privaten Feind. (Aus Wikipedia-Artikel zu C.Schmitt). Von der christlichen Liebesethik wäre der politische (öffentliche) Feind - das konkurrierende Sozialsystem - demnach gar nicht gemeint. 166 Die Metaphorik der auf die Gesellschaft als Superorganismus ausgedehnten Liebe findet sich u.a. bei den Hutterern: "True love means growth for the whole organism, whose members are all interdependent and serve each other. That is the outward form of the inner working of the Spirit, the organism of the Body governed by Christ. We

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see the same thing among the bees, who all work with equal zeal gathering honey ..." Ehrenpreis 1650, p. 11 - zit. nach Sober/Wilson, 1998, 132 Zur übersteigerten Liebessemantik in den monotheistischen Religionen schreibt Assmann 2006, 93: „Die Idee des eifersüchtigen Gottes ist sicher nicht irgendein marginales und längst überwundenes Zwischenstadium in der Geschichte des Monotheismus. Hier berühren wir vielmehr das Zentrum des monotheistischen Gottesgedankens. Es scheint mir auch vollkommen verfehlt, diese Gottesidee als spezifisch alttestamentlich darzustellen und ihr den christlichen Gott der Liebe gegenüberzustellen. Die Eifersucht Gottes entspringt ja seiner Liebe und immer ist seine Gnade tausendmal größer als sein Zorn. Es ist ein liebender, der Welt und seinem Volk leidenschaftlich zugewandter Gott, der zwischen Freund und Feind unterscheidet.“ 167 Diese Divergenz zwischen Innen- und Außenmoral ist bereits im Aufbruch zur Moderne gesehen worden: „Wenn gleich eine gewisse in der menschlichen Natur gewurzelte Bösartigkeit von Menschen, die in einem Staat zusammen leben, noch bezweifelt, und, statt ihrer, der Mangel einer noch nicht weit genug fortgeschrittenen Kultur (die Rohigkeit) zur Ursache der gesetzwidrigen Erscheinungen ihrer Denkungsart mit einigem Scheine angeführet werden möchte, so fällt sie doch, im äußeren Verhältnis der Staaten gegen einander, ganz unverdeckt und unwidersprechlich in die Augen. Im Innern jedes Staats ist sie durch den Zwang der bürgerlichen Gesetze verschleiert, weil der Neigung zur wechselseitigen Gewalttätigkeit der Bürger eine größere Gewalt, nämlich die der Regierung, mächtig entgegenwirkt, und so nicht allein dem Ganzen einen moralischen Anstrich (causae non causae) gibt, sondern auch dadurch, daß dem Ausbruch gesetzwidriger Neigungen ein Riegel vorgeschoben wird, die Entwickelung der moralischen Anlage, zur unmittelbaren Achtung fürs Recht, wirklich viel Erleichterung bekommt.“ (Kant, 1795, FN 15 Anhang) 168 Anstelle der durchgängig hierarchischen Bindemittel tradierter Hochkulturen greift der moderne Nationalstaat zu seiner eigenen Stabilisierung auf der Mikroebene wieder stärker auf die egalitären Bindemittel der Stammesgesellschaften zurück. Im symbolischen Rekurs auf ethnische Formen der Religiosität produziert der moderne Nationalismus zunächst aber eher verschärfte Formen der Konfliktbereitschaft über Inklusion und Exklusion 169 An dieser Stelle wäre noch einzugehen auf das auffällige und erklärungsbedürftige Moment der Weltablehnung – s. M.Weber, Bellah 1973 - in der Phase der Hochreligionen, die es in den tribalen und archaischen Gesellschaften noch nicht und in der Moderne nicht mehr gibt. 3.2 Die Umstellung der Religion auf schriftliche Offenbarung 170 Dieses Kapitel ist noch unvollständig hinsichtlich der Epocheneinteilungen und Verzweigungen der traditionellhochkulturellen Sozialsysteme. Ausführungen zur Umstellung der Religion im Übergang von Steinzeit zu frühen Hochkulturen haben allerdings Vorrang, wenn ich daran festhalte, dass durch die globale Ausdehnung der Sozialsysteme ein Umbruch ausgelöst wird, der nur mit der neolithischen Transformation (und weniger mit der der Achsenzeit) vergleichbar ist. Abgrenzung von apologetischen Theorien der Hochreligionen, die den entscheidenden Um-


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bruch in die Achsenzeit ansetzen - Girard, Bellah, Joas dagegen u.a. Elias. Evtl. hier auch noch einmal Ausf. zur Differenzierungstheorie. 170

ad 4. Die moderne Gesellschaft

4.1 Das Scheitern tradierter Konfliktexternalisierungstechniken in der Moderne 172 Two Treatises of Civil Government II § 128 zit. nach der Ausgabe der Everyman's Library, London 1953, S. 181 – hier zit. aus Luhmann 1997, FN auf S.157. 173 Das Ende traditioneller Konfliktexternalisierungsmechanismen in der Moderne ist von Luhmann wiefolgt beschrieben worden: „Solange Solidarität benötigt wird und gefragt ist, orientiert man sich an absoluten Kriterien, deren soziale Bedingtheit nicht thematisiert wird. Das sind Kriterien mit religiösem, moralischem oder tribalem (ethnischen) Gehalt. Auch sie wirken sozial diskriminierend, aber so, daß nach konform und abweichend unterschieden wird und Abweichende als ungläubig, als Barbaren, als Heiden, als "saraceni" oder später dann als unvernünftig ausgeschlossen und ausgestoßen werden können. Ihnen gegenüber gibt es weder Solidarität noch moralische Verpflichtungen. Die Umstellung auf Risikoperspektiven ändert diese Form der Diskriminierung radikal. Jetzt liegen die Perspektivendivergenzen in der Gesellschaft. Sie spalten im Hinblick auf die Zukunft die Gesellschaft mit jeweils wechselnden Besetzungen in Entscheider und Betroffene; und was für die einen rational ist, ist für die anderen ein überzeugender Grund für Protest und Widerstand. Auch jetzt gibt es noch neu sich bildende Solidaritäten, aber sie nehmen fundamentalistische Züge an. Sie entstehen im Bewußtsein des eigenen religiösen oder ethnischen Anderssein; aber dies in einer Weltgesellschaft, von der man sich, was Kommunikation, Versorgung und eben auch Technik angeht, abhängig weiß.“ Luhmann 1997, 534. 174 „Die Gesellschaft, in der wir heute leben, ist eine Gesellschaft im Singular. Sie ist ein einziges kommunikatives Netzwerk, das den ganzen Erdball umspannt und auch noch den näheren Weltraum durchdringt. Es gibt in der modernen Welt Unterschiede, aber es sind nicht die Unterschiede verschiedener Gesellschaften, sondern Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft, die kein gesellschaftliches Außen mehr hat.“ Brunkhorst 2010, 169 - Zur Geschichte der Globalisierung durch Netzverdichtung s. auch Lübbe 1996, 2005. 175 Hier ist evtl. darauf hinzuweisen, dass beide Phänomene seit Beginn der europäischen Moderne zu beobachten, also älter sind als die Diskurse, die sich zu diesen Stichworten im 20.Jahrhundert entwickelten. 176 „Der Hinweis auf die Frieden verkündende und Frieden schaffende Botschaft der großen Religionen … ist nicht neu. Neu ist auch nicht das Wissen um Religion als Kriterium für Ab- und Ausgrenzung und ihre Instrumentalisierung in gesellschaftlichen und politischen Konflikten. Neu hingegen ist der globale Maßstab und die Unmittelbarkeit, in denen Religion heute entweder den Frieden fördernd oder Konflikte schürend wirken kann.“ Aus der Beschreibung eines Forschungsprojekts „Weltmacht Religion Vom Einfluss der Religionen auf die Internationale Politik“ des Kulturwissenschaftlichen Instituts unter der Leitung von Claus Leggewie. http://www.kwinrw.de/home/projekt-25.html (Kursivhervorhebung kg).

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177 Um theoretische Mißverständnisse auszuschließen: Diese Aussage gilt nicht für Binnenstrukturen, die in der soziologischen Systemtheorie als Teilsysteme bezeichnet werden, sondern nur für Sozialsysteme, die miteinander konkurrieren – also für traditionelle Gesellschaften und – mit funktionsspezifischen Einschränkungen – für Organisationen in modernen Gesellschaften. 178 Um teleologische Mißverständnisse auszuschließen: Es geht hier um einen Entwicklungspfad mit SperrklinkenEffekten – nicht um eine in irgendeiner Anfangskonstellation bereits angelegte oder gar durch ein höheres Gesetz auf ein bestimmtes Ende hin festgelegte Entwicklung. 179 Ergänzend zu den in den beiden folgenden Abschnitten beschriebenen Gründen des Scheiterns des KEM in der Moderne auf der Makroebene (an der Globalisierung) und auf der Mikroebene (an der Individualisierung) ist für die Metabene [evtl. noch als gesonderter Abschnitt] das Scheitern an der Wissenschaft anzuführen: je mehr die kulturelle Hegemonie der Religionen sich auf das Auslegungsmonopol für Wahrheiten stützt, deren Quelle für die Gläubigen verborgen bleibt, desto mehr kollidiert dieser Wahrheitsanspruch mit dem der modernen Wissenschaft, die auf Offenlegung der Quellen insistiert. Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Wahrheitsansprüchen, die sich auf sichtbare oder unsichtbare Quellen stützen, zwingt die Religionen in der Moderne sich aus der Konkurrenz um Wahrheitsansprüche zurückzuziehen und sich auf ihre soziale Kernfunktion, die Verankerung von Bindekräften der Gesellschaft in den Handlungsmotiven der Individuen zurückzubesinnen. 4.2 Globalisierung und Individualisierung 180 Abweichend von der Durkheimschen Theorietradition wird Religion in der Luhmannschen Gesellschaftstheorie (für die Moderne) als ein Funktionssystem neben Anderen beschrieben und ein eigener Mediencode für die Selektion religiöser Kommunikation zugeschrieben. S. Luhmann 1997, 405f. „Die Verlegenheiten der Religion in einer "säkularisierten" Gesellschaft werden denn auch oft mit Moral überbrückt. Die Religion selbst wäre jedoch gut beraten, wenn sie auf Distanz zur Moral achten würde. Ob der alte Mechanismus, inkonsistentes Verhalten, nämlich Sünde und Reue zu verlangen, dafür ausreicht und ob es ausreicht, daß Jüngste Gericht als Überraschung für die Gerechten und für die Sünder in Aussicht zu stellen, mag man bezweifeln. Jedenfalls hat die Religion seit langem in der Duplikationsregel Immanenz/Transzendenz (die sie natürlich nicht als Duplikationsregel reflektieren kann) einen eigenen Code, der ebenso quersteht zur Moral wie die Präferenzcodes der Medien. Selbst mit diesem Code kann die Religion jedoch keine Kontrolle der symbolisch generalisierten Medien erreichen. Auch sie kann, anders gesagt, keinen Supercode anbieten, sondern nur eine eigene Weise, die Welt zu beschreiben.“ Was bliebe aber von der Religion übrig, wenn ihre Organisationen Luhmanns Empfehlung folgen und sích von Moral distanzieren würden? M.E steckt in dieser Empfehlung eine Fehldiagnose. Damit wir verkannt, dass gerade in der Unterscheidung Immanenz/Transzendenz ein wesentlicher Bestandteil der religösen Moralfunktion enthalten ist: nämlich


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die Verankerung der (positiven und negativen) Sanktionen in einem handlungsmäßig nicht erreichbaren Jenseits! 181 Dass die durch Technik bewirkte Ausdehnung der ökologischen Nische des Menschen auf den ganzen Planeten zum Ende kulturell tradierter Formen der Konfliktverarbeitung führen muß, ist auch in der von Claessens wiederentdeckten Programmschrift von Alsberg (1922 Kap.26) vorausgesehen: „Man hat unser heutiges Zeitalter ein solches der Technik genannt, und damit vielfach zum Ausdruck bringen wollen, daß nur die Technik, nicht aber die "Kultur" als solche einen Ent¬wicklungsfortschritt aufzuweisen habe. "Abgesehen" von der Technik, so heißt es, stehe unsere Kultur auf keiner höhern oder gar auf einer tieferen Stufe als im klassischen Altertum. Nun hat schon der englische Kunsthistoriker Th. Buckle in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Behauptung aufgestellt, daß die Technik durch ihre Hebung des Verkehrs mehr zur Veredlung der Sitten beigetragen habe als alles Moralisieren. Dies mag eine einseitige Behauptung sein; doch ist ihr darin jedenfalls beizu-pflichten, daß die Technik mit ihren Raum und Zeit überwin¬denden Schöpfungen, mit ihrer Druckerpresse, Eisenbahn, Schiffahrt, Telegraphie, Radio, usw. die Menschen einander körperlich und geistig außerordentlich nahe gebracht hat. Aus der zunächst oberflächlich-lockern Annäherung wurde ein immer festerer Zusammenschluß, und dies nicht nur in wirt-schaftlicher, sondern auch in geistiger Beziehung. So ist es schließlich allein der Technik zu verdanken, wenn die Menschheit sich zu einem gemeinsamen, ineinander greifenden, übereinander aufbauenden Schaffen zusammengefunden hat, wenn der ganze Erd¬ball in ein gemeinschaftlich-solidarisches Arbeitsfeld umgestellt wurde. Bei oberflächlicher Betrachtung der gegenwärtigen Zeitverhältnisse mag es allerdings scheinen, als ob die Technik durch ihre Vergrößerung der Reibungsflächen, durch ihre Komplizierung der Konfliktstoffe und durch ihre Verschärfung der Austragsmittel den Idealzustand der Menschheit geradezu hintertreibe. So richtig es aber auch ist, daß die Zusammenschließung der Menschheit zunächst eine Erhöhung der Spannungen und eine Verstärkung der Entladungen mit sich bringen muß, so sinnfällig ist es, daß der neue Zug ins Umfassende, Menschheitsumspannende, den die Technik in die Weltgeschichte hineinträgt, der Menschheitsidee gleichgerichtet und förderlich ist. Leuchtete nach dem letzten großen Krieg zum ersten Mal die Idee eines allgemeinen Völker¬bunds am Menschheitshimmel auf, so ist dieser fundamentale Schritt in der Richtung zum All-menschentum in erster Linie ein Erfolg der Technik. Denn der Krieg ist heute zu einem den gesamten Menschheitskörper erschütternden Ereignis geworden, und bei einer bis zur Unbekämpfbarkeit sich steigernden Verschärfung der Kriegsmittel kann es schließlich nur noch gegenseitige Zerstörung und Vernichtung, nur noch Besiegte und Verstümmelte, aber keine wahren Sieger mehr geben. So treibt die Technik von selbst die Menschheit mit oder gegen ihren Willen - dem Allmenschentum in die Arme.“ 182 Dazu Nassehi 1995 (4. Abschnitt) Die Umstellung auf funktionale Differenzierung der Gesellschaft führt zu einer erheblichen Veränderung der sozialen Lagerung von Individuen, und damit ändert sich auch das Inklusionsschema von Personen. Sie können nicht mehr einem der Teilsyste-

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me zugeordnet werden wie in der schichtenmäßigen Differenzierung, sondern werden durch Multiinklusion in verschiedene Teilsysteme einem erheblichen Individualisierungsprozeß ausgesetzt. Für religiöse Kommunikation ergibt sich daraus die Konsequenz, daß sie ihre integrative Funktion durch das Moralschema nicht mehr erfüllen kann, denn Moral wird in Verbindung mit Multiinklusion schlicht dysfunktional - und so beginnt das Religionssystem der Paradoxie ansichtig zu werden, sich die Verantwortung fürs Ganze zuzumuten und doch nur noch für sich zu sprechen. 4.2 Differenzierung und Individualisierung 183 Durkheims Diagnose des Individualismus als Religion der Moderne hervorzuheben ist auch deshalb wichtig, weil die gängige Durkheim-rezeption eher das Scheitern von Durkheims Konzept der organischen Solidarität betont hat. S. dagegen König 2008. 184 Für eine knappe Zusammenfassung der soziologischen Theorie funktionaler Differenzierung als „angemessenste Beschreibung für das System der modernen Gesellschaft und die Existenz eines einzigen Gesellschaftssystems, der Weltgesellschaft, als Konklusion aus dem Faktum funktionaler Differenzierung.“ s. Stichweh 2010, 177-184. – Stichwehs Interpretation fundamentalistischer Bewegungen löst allerdings das spezifische Moment des religiösen Fundamentalismus in der Moderne vorschnell auf zugunsten funktionssystemischer Analogien (186): Es sei „offensichtlich in einer funktional differenzierten Gesellschaft mit Fundamentalismen jederzeit zu rechnen, aber es scheint wenig wahrscheinlich, eine Entwicklung anzunehmen, die die Welt gewissermaßen dual polarisiert: funktionale Differenzierung vs. religiöser Fundamenta-lismus. Eine solche Diagnose würde ihrerseits eine besondere Wirkungsmacht des Religiösen annehmen, die sie schwerlich anders als wiederum fundamentalistisch begründen könnte.“ 185 In dieser Hinsicht halte ich es für nötig, von der Differenzierungstheorie der systemfunktionalistischen Theorietradition abzuweichen. 186 Für eine anspruchsvolle Formulierung der kognitiven Voraussetzungen für den „öffentlichen Vernunftgebrauch“ (Rawls) in der modernen Gesellschaft s. Habermas 2005a. 187 Im Vergleich mit der Stabilität älterer Formen sozialer Ungleichheit, erscheint es kaum noch angemessen, diesbezüglich von sozialer Schichtung zu sprechen - obwohl die Ungleichheit der Lebenschancen eher zu- als abgenommen hat. 188 Luckmann hat diese sozialstrukturelle Differenzierung als Paradox des Individualismus und Konformismus bezeichnet und deren Folgen für religiöse Weltanschauung so gekennzeichnet: „Aus der Perspektive der institutionellen Bereiche wird der subjektive, biographische Zusammenhang der Rollenhandlungen bedeutungslos. Für sie ist nur eine wirksame Kontrolle dieser Handlungen von Interesse. Die funktionale Rationalität macht die abgetrennten institutionellen Normen ihrerseits bedeutungslos für die Person, die ihnen deshalb sehr selten noch einen Widerstand entgegensetzt - ein Widerstand, der möglicherweise aus einem Konflikt zwischen den institutionellen Normen und einem angenommenen religiösen Bedeutungssystem verstärkt werden könnte.“ 1991, S. 139


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189 Turner and Maryanski 2008, 295: „The selection pressures that originally led to the emergence of religion among hunter-gatherers have not gone away, and secular alternatives to reducing anxiety and regulating people's actions are often unsuccessful. Indeed, market-driven systems generating inequalities will produce new kinds of anxieties and pose new integrative problems that lead people to embrace religion as much as the state, law, and civic culture. Individualistic hominins with large brains that can generate anxieties and other negative emotions are still likely to see ritual appeals to the supernatural as solving their problems and, for some, as an alternative to the cage of political power. Religious zealots have walked into a new cage, but one which, for some, is more comfortable than the iron cage of rational-legal bureaucracies organizing the bases of secular power in the state.” 190 S. prominente Beiträge zu dem kulturkritischen Diskurs über ein „Unbehagen an der Moderne“ von Ch.Taylor, P.L.Berger, Z.Baumann u.a. Auch die christlichen Kirchen bedienen sich gegenüber dem gebildeten Publikum gern der kulturpessimistischen Thesen und bieten sich an als Schutzmächte gegen die Desintegration der Gesellschaft. 191 Die Individualrechte werden zur Legitimationsgrundlage für politische Interventionen, in denen Kollektivrechte (ethnische und nationale Souveränität) eingeschränkt werden. Casanova (2010) sieht in der Etablierung der Menschenrechte bereits eine Sakralisierung des Individuums – also Vorboten einer neuen Religion i.S. von Durkheim und Luckmann. Heute stellen sich die christlichen Kirchen in Europa, die noch bis ins 20. Jahrhundert hinein den Menschenrechtsuniversalismus als Verrirung des Zeitgeists bekämpft haben (nicht ohne Seitenhieb auf die globale Konkurrenz mit dem Islam) nun als dessen größte Verteidiger dar. 192 In soziologischer Perspektive ist die zivilisatorische Errungenschaft der Schaffung gewaltfreier Räume in der frühen europäischen Neuzeit von Norbert Elias (1976) prägnant beschrieben worden. Natürlich handelt es sich hier nicht um den einzigen und auch nicht um den ersten „Prozess der Zivilisation“. Elias arbeitet anhand von Parallelphänomenen auf der Makro- und Mikroebene grundlegende Entwicklungslinien der kulturellen Evolution in der frühen Neuzeit heraus. Trotz der enormen Materialfülle leidet seine Theorie der Ziviliation aber an der Beschränkung auf eine bestimmte historische Epoche. Der von Elias beschriebene Mechanismus der Verwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge ist ja nicht erst zum Ende des europäischen Mittelalters zu beobachten, sondern ein wesentliches Merkmal aller menschlichen Sozialformen von der Steinzeit bis heute. Wegen dieser Beschränkung bekommt Elias weder die evolutionären Voraussetzungen noch die historischen Folgen des von ihm beschriebenen Prozesses voll in den Blick: Das ist zum Einen der Umstand, dass der Verwandlung sozialer Fremdzwänge in Selbstzwänge schon die Verwandlung natürlichen Selektionsdrucks in Gruppenzwänge vorangeht, zum anderen der Umstand, dass in der Moderne – mit der Differenzierung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit – eine Lockerung der sozialen Fremd- und Selbstzwänge auf der Mikroebene folgt.

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193 Die Unterscheidung privat/öffentlich ist hier als Moment der folgenden Ausführungen zu Ebenendifferenzierung wieder aufzunehmen und mehr auszuführen. 194 Dazu Pinker 2011: 946 optimistisch: „Wenn die neueren Theorien der Moralpsychologie in die richtige Richtung gehen, gehören Intuitionen von Gemeinschaftsgefühl, Autorität, Heiligkeit und Tabu zur menschlichen Natur und werden uns immer begleiten, auch wenn wir uns darum bemühen, uns vor ihrem Einfluss abzuschirmen. Das ist nicht zwangsläufig ein Grund zur Beunruhigung. Beziehungsmodelle können kombiniert und eingebettet werden, und rational-legale Überlegungen, mit denen die Gewalt insgesamt so gering wie möglich gehalten werden soll, können die anderen geistigen Modelle auf nützliche Weise und aus strategischen Gründen mit einbeziehen. Wenn eine Version des Gemeinschaftsgefühls auf die Ressource des menschlichen Lebens angewendet wird und wenn die Gemeinschaft dabei nicht aus einer Familie, einem Stamm oder einer Nation besteht, sondern aus der gesamten Spezies, kann sie als emotionales Fundament für das abstrakte Prinzip der Menschenrechte dienen. Wir sind alle eine große Familie, und niemand in dieser Familie darf das Leben oder die Freiheit eines anderen vereinnahmen. Autorität und Rangfolge können das Monopol des Staates auf die Anwendung von Gewalt zur Verhinderung noch größerer Gewalt rechtfertigen.“ 195 Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hat Norbert Elias vorausgesehen, dass der moderne Prozess der Zivilisation nur durch die Errichtung eines globalen Gewaltmonopols gesichert werden kann: „Sicherlich wird die Empfindlichkeit des Gesellschaftsbaues und so auch das Risiko und die Erschütterung für alle Beteiligten, die kriegerische Entladungen mit sich bringen, um so größer, je weiter die Funktionsteilung gedeiht, je größer die wechselseitige Abhängigkeit der Rivalen wird. Daher spürt man in unserer eigenen Zeit eine wachsende Neigung, die weiteren zwischenstaatlichen Ausscheidungskämpfe durch andere, weniger riskante und gefährliche Gewaltmittel aus-zutragen. Aber die Tatsache, daß in unseren Tagen, genau, wie früher, die Verflechtungszwänge zu solchen Auseinander-setzungen, zur Bildung von Gewaltmonopolen über größere Teile der Erde und damit, durch alle Schrecken und Kämpfe, zu deren Pazifizierung weiterdrängen, ist deutlich genug. Und man sieht, wie gesagt, hinter den Spannungen der Erdteile, und zum Teil in sie verwoben, bereits die Spannungen der nächsten Stufe auftauchen. Man sieht die ersten Umrisse eines erdumfassenden Spannungssystems von Staatenbünden, von überstaatlichen Einheiten verschiedener Art, Vorspiele von Ausscheidung»- und Vormachtkämpfen über die ganze Erde hin, Voraussetzung für die Bildung eines irdischen Gewaltmonopols, eines politischen Zentralinstituts der Erde und damit auch für deren Pazifizierung.“ (Elias, 1976, S 452) 4.4 Wiederkehr oder Wandel der Religionen? 196 So Casanova 2010, S.4 im Anschluss an Taylor : “In a certain sense all societies in our global age are ‘secular’ societies to the extent to which all of them are embedded within the same global system of secular modernity. There is a global process of secularization encompassing all contemporary societies which can best be characterized as the


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global expansion of what Taylor has characterized as ‘the secular immanent frame.’ This frame is constituted by the structural interlocking constellation of the modern cosmic, social and moral secular orders.” S. … “I am bracketing out altogether the question which has dominated most theories of secularization, namely whether religious beliefs and practices are declining or growing as a general modern trend throughout the world. I am only claiming that ‘religion’ as a discursive reality, indeed as an abstract category and as a system of classification of reality, used by modern individuals as well as by modern societies across the world, by religious as well as by secular authorities, has become an undisputable global social fact.” 197 In den USA ist von vornherein kein staatliches Monopol einer bestimmten Religion entstanden. So ist aus den konkurrierende Formen freiwilliger Gemeinschaften ein Wettbewerbsmodell unter staatlicher Schirmherrschaft entstanden. Hier wird dann die alteuropäische Unterscheidung zwischen Kirchen und Sekten unbrauchbar. Stattdessen wird generell von Denominationen gesprochen. 198 Casanova 2010, S.9f. : “In this respect, to a certain extent the United States may be said to be anticipating developments which are also happening at a global level. Parallel to the general process of secularization which started as a historical process of internal secularization within Western Christendom, but was later globalized through the European colonial expansion, there is a process of constitution of a global system of "religions" which can best be understood as a process of global religious denominationalism, whereby all the so-called "world religions" are redefined and transformed in contraposition to "the secular" through interrelated reciprocal processes of particularistic differentiation, universalistic claims and mutual recognition.” 199 Die Formel vom Weltmarkt der Religionen habe ich von Casanova 2010 und Roy 2010 übernommen. (S. dazu aber auch Berger 1965, Beck, 2008, 191-195, Graf 2004, 2006.) In vielen religionssoziologischen Arbeiten ist zwar von einem Markt der Religionen die Rede, jedoch ohne Bezug auf den globalisierten Kontext und häufig in einem abfällig mit Bezug auf Patchwork- und Konsumorientierungen im religiösen Verhalten. (Diese Kritiker könnte man fragen, was sie eigentlich gegen Konsum haben und welche Art von Religion sie sich zurückwünschen.) – Roy 2010 unterscheidet in gegenwartsdiagnostischer Hinsicht zwischen dem Akkulturations- und Markt-Konzepten: „Das Konzept vom »Markt des Religiösen«, das jünger ist als das der Akkulturation, ist mittlerweile gut etabliert in der Forschung, zumindest in der angelsächsischen. Die Pew Foundation, ein international renommiertes Meinungsforschungsinstitut, hat 2008 eine Untersuchung über die religiöse Praxis in den Vereinigten Staaten veröffentlicht mit dem Titel A Very Competitive Marketplace. … Das Konzept des Marktes, das von der Ökonomie übernommen wurde, betont im Gegensatz zu den Theorien der Akkulturation, die das Religiöse als ein aufgezwungenes Angebot betrachten, die tatsächliche Nachfrage nach Religiösem. Diese Nachfrage verweist auf eine Eigenheit der menschlichen Natur oder jedenfalls auf ein religiöses »Bedürfnis«, und sie sondiert das Angebot auf dem Markt. Die Globalisierung hat einen Weltmarkt für Religiöses entstehen lassen. Man spricht von

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»Konsumenten«, das heißt von Menschen, die spirituelle Wünsche befriedigen wollen und sich beinahe überall mit einer Fülle verschiedener Produkte konfrontiert sehen. Die Globalisierung hat einen Markt geöffnet, den bisher einige wenige dominante Gruppen kontrollierten.“ Roy 2010, 221. Roy betrachtet die Globalisierung der Religionen unter der Prämisse, dass es eine Globalisierung der Kultur selbst nicht geben kann. Das Religiöse kann demnach auf einem globalen Markt nur zirkulieren, indem es sich vom Kulturellen, das stets partikular bleibt, trennt: „Die Säkularisierung wirkt, wie wir gesehen haben, weniger in der Weise, dass sie die Religion an den Rand drängt, sondern indem sie Religion und Kultur voneinander entkoppelt und die Religion autonom werden lässt. Loslösungsprozesse wiederum hängen nicht immer mit der Säkularisierung zusammen, sondern auch mit dem Vormarsch fundamentalistischer Strömungen, die alles Kulturelle ablehnen. Fundamentalismus hat es immer gegeben, doch in der Globalisierung bahnt er sich neue Wege, um zu überdauern. Die Trennung des religiösen vom kulturellen Marker ist ganz wesentlich und zugleich instabil; der »Rückfall« in die Kultur ist unausweichlich, wenn der Fundamentalismus, sowie jede Form charismatischer Religiosität, in einer realen Gesellschaft auftaucht. Die Globalisierung liefert genau den virtuellen Raum, der es anscheinend erlaubt, die gesellschaftlichen wie auch die politischen Zwänge zu ignorieren. Somit ist der Fundamentalismus zugleich ein Faktor und ein Produkt der Globalisierung. Letztere eröffnet dem Fundamentalismus einen neuen Raum, und er trägt zur Dekulturation bestehender Religionen bei. Indem Säkularisierung und Fundamentalismus das Religiöse von der Kultur trennen, es autonom werden lassen, machen sie es zu einem Produkt, das exportiert werden kann. Die freie, individuelle Konversion wird so zum Beweis, dass eine Religion global werden kann. Die Vielzahl an Gesetzen gegen Missionierung ist der Beweis, dass immer mehr Konversionen dort stattfinden, wo man sie für ein marginales Phänomen hielt oder, wie in Algerien, sogar für undenkbar. Außerdem haben Konversionen, selbst wenn ihre Zahl statistisch nicht signifikant ist, immer eine symbolische Bedeutung. Denn sie brechen ein Tabu und erschüttern damit die gesellschaftliche Selbstverständlichkeit des Religiösen; so war es in Malaysia und in der Türkei.“ Roy 2010, 226f. Wo Roy von Dekulturation spricht, würde ich eher von der Entstehung einer globalen Kultur oder einer globalen Zivilisation der Kulturen sprechen. Die Ursache zunehmender Virulenz der Religionen wäre dann nicht in ihrer Herauslösung aus partikular-kulturellen Kontexten zu sehen, sondern in ihren Anpassungsproblemen an einen globalisierten Kulturkontext. Die von Roy beklagte Standardisierung der Religionen (257-292) könnte hingegen ein Teil dieses Anpassungsprozesses sein. Noch zum Marktmodell der Religionen (Roy 277): „Wir erleben insofern den Übergang von einem Modell mit sozialem Druck und kultureller Evidenz, bei dem die Praxis mit der Pfarrgemeinde oder der Moschee im Viertel, also dem unmittelbaren Umfeld des Gläubigen, verbunden ist, zum Anschluss an eine frei gewählte Gemeinschaft, die nicht unbedingt an ein bestimmtes Territorium gebunden ist. Dieser Effekt wird durch die Vervielfachung der Kult-


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stätten noch verstärkt; nicht nur jede Religion hat ihre eigene Kultstätte, sondern auch jede einzelne Richtung innerhalb einer Religion. Man besucht diese Moschee oder jene Kirche, weil man den Prediger schätzt, den Stil, die Ideen, vielleicht auch einfach nur die Musik. Wir haben es insofern mit einem Nebeneinander von Gemeinschaften zu tun, die allesamt Minderheiten sind oder sich zumindest als Minderheit fühlen. Die Möglichkeit auszuwählen verlangt, dass man seine Zugehörigkeit neu formuliert, dass man erklärt, warum man sich dieser oder jener Gemeinschaft angeschlossen hat: Die Kriterien werden expliziter, die »Kultusdiener« bieten Formulierungen an, die funktionieren, oder aber sie wundern sich über die Gleichgültigkeit ihrer Gemeinde.“ 200 Natürlich erlaubt die statistische Korrelation noch keine Kausalaussagen. Hinweise auf das andauernde Gewaltpotential religiöser Gemeinschaften unter den Bedingungen des US-amerikanischen Wettbewerbsregimes finden sich allerdings in den Fallanalysen von Kippenberg, 2008 (s. dazu auch Anm auf folgender Seite). Auch spricht die kulturelle Vorherrschaft des weissen Protestantismus dagegegen, in dieser Konstellation ein Weltmodell friedlichen Wettbewerbs zu sehen. Dies wird besonders deutlich in der missionarisch-aggressiven Version der Evangelikalen. So Kippenberg über einen Agitationsfilm der Prämillenaristen: „Nicht die politischen Institutionen repräsentieren das wahre Amerika, sondern die Gläubigen; die Vereinten Nationen sind ein Instrument des Antichristen. Je mehr die Zeit voranschreitet, umso schneller vollzieht sich der weitere moralische, religiöse und ökonomische Niedergang. Friedensund Abrüstungsverträge, ja selbst der Umweltschutz sind Werke des Antichristen.“ (S. 159) Zur Kehrseite des US-amerikanischen Religionsmodells s. auch Harold Bloom: The American Religion, The Emergence of a Post-Christian Nation Simon and Schuster, New York 1992. Daran anschließend Sloterdijk 1997: “Die Sekten der American Religion sind …Schulen der spirituell gestützten innerweltlichen Erfolgsgier; sie setzen auf magische Superimmanenz; sie versprechen allesamt Fitness von innen im Rennen nach den Sieger-Prämien im Wirklichen, Allzuwirklichen. Daher sind die meisten von ihnen kommerziell, expressiv, autohypnotisch, interventionistisch; ihre Anhänger tragen das Seelenfünklein auf der Zunge und im Scheckheft. Sie alle halten Gott für ihren Sponsor. Mit ihnen nimmt der Irrationalismus genußvolle Rache am säkularen Pragmatismus. Angesichts solcher Entwicklungen dürften die wenigen europäischen Intellektuellen, die von der Idee des Dritten Reiches als deutscher Nationaltheosophie noch einen Begriff haben, den Alarm nicht länger überhören, den Harold Bloom mit seinem religionskritizistischen Essay geschlagen hat.” 201 S. hierzu Scott-Appleby, Schäfer und viele Andere. (evtl. einen Übersichtsartikel suchen!) 202 Ein seltener beschriebener Aspekt des Scheiterns tradierter Konfliktexternalisierungsformen in der Moderne ist die Selbstblockierung traditioneller Gemeinschaften gegen kulturelle Innovationen. Alles Neue entsteht in der kulturellen Evolution durch Synthesen (s. Tarde, 2009). 203 S. die diesbezüglich apologetischen Formulierungen bei Joas 2010. 204 S Assmanns „mosaische Unterscheidung“ 2003.

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205 Damit wird die traditionelle Symbiose zwischen Religion und Politik in den Hochkulturen zwar durch ein der Moderne angepasstes Verständnis von „reiner“ Religiosität ersetzt, das jedoch seine Funktion für die Gesellschaft nicht mehr ausweisen kann, sondern hinter Transzendenzbeügen verbirgt. 206 Zu den Anpassungszwängen, denen die traditionellen Hochreligionen unter den Bedingungen der Globalisierung ausgesetzt sind, formuliert R. Wright: “Ever since social organization evolved from huntergatherer societies to chiefdoms, the moral imagination has been working in an environment that it wasn't designed for – so you would expect that it has often, as today, needed some coaxing to do its job well. And indeed, among the more commendable achievements of religion has been to sometimes step in and provide just that. This coaxing goes back to the religion of chiefdoms – to the age when religion first acquired a distinct moral dimension – and it was well under way by the time Abrahamic history comes into clear view. Consider Israel's formative stages. If you are going to build a confederacy of tribes, you need people to extend their moral imagination farther than instincts built for a hunter-gatherer milieu might dictate. Hence the Ten Commandments, and the idea that you should "love" your Israelite neighbor. An essential property of love is to be able to share in the perspective of the beloved. Similarly, if you are the apostle Paul, and you're going to build a vast multi- national religious organization within the Roman Empire, you need to stress that brotherly love should extend across ethnic bounds. And if you are building Islam, an intertribal religious organization that will then become an expanding imperial government, you have to emphasize both of those things, extending affinity beyond the bounds of tribes and of ethnicities. These thresholds in the history of the Abrahamic faiths – and in the evolution of God – have consisted of expanding the moral imagination, carrying it to a place it doesn't go unabetted. This expansion is religion at its best. Religion at its worst is... well, there are too many examples these days to bother elaborating. Has the best outweighed the worst? Certainly there has been a kind of net moral progress in human history, if only in the sense that moral imagination today routinely extends farther than the circumference of a hunter-gatherer village. And certainly religion has played a role in this progress. Even when the Abrahamic religions are defensive and inward-looking, you see Muslims identifying with Muslims half a world away, and Christians and Jews doing the same. In all cases, that's a bigger moral compass than existed anywhere on this planet 20,000 years ago, when all religions were "savage" religions. Moreover, within all three of those faiths you see some people working to extend the moral imagination beyond the bounds of their particular religion. Obviously there's room for more progress. In fact, there's an urgent need for it. Maybe it's not too much to say that the salvation of the planet – the coherence and robustness of an emerging global social organization – depends on this progress. That's what happens when the zone of non-zerosumness reaches planetary breadth; once everybody is in the same boat, either they learn how to get along or very bad things happen. If the Abrahamic religions don't re-


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spond to this ultimatum adaptively, if they don't expand their moral imaginations, there is a chance of chaos on an unprecedented scale. The precursors of these religions – the ancient religions of Mesopotamia and Egypt – had it right when they depicted the triumph of chaos as the failure of the religious enterprise.” Wright 2009, 426f. s. ausf. Kap. V „God goes global (or doesn’t)”

207 Zu den Paradoxien der Moderne gehört sicherlich, dass diese in der familialen Lebensform von Menschen angelegte Reflexions- und Steigerungsform der Individualität bedroht ist durch den Umstand – der durch Entwicklungen auf der Makroebene ausgelöst wird - dass immer mehr Menschen kinderlos bleiben. In diesem Zusammenhang wäre hier noch einmal die These von Doehlemann (die schon bei Erikson angelegt ist) wiederaufzunehmen, dass zur Ausreifung der Persönlichkeit (Erwachsenheit) die intensive Erinnerung an die eigene Kindheit gehört, die normalerweise mit eigenen Kindern verbunden ist. In dieser Form begegnet man unverarbeiteten Erlebnissen und Motiven aus der eigenen Kindheit wieder und bekommt die Chance sie reflexiv zu verarbeiten. Die Alternative, die sich auch im Umgang mit den eigenen Kindern niederschlägt, ist die erneute Verdrängung. Zu diesen unverarbeiteten Motiven gehört auch der Kinderglaube, aus dem die organisierten Religionen ihre Ressourcen ziehen. 208 S. dazu Ausführungen in dem (noch nicht fertiggestellen) Abschnitt in Kap. 5 über zivilreligiöse Funktionen des modernen Bildungssystems. 209 Eine anders ansetzende Diagnose über die zunehmenden Virulenz der Religionen ist bei Roy 2010 zu finden: Er kehrt die Luckmannsche These von der unsichtbaren Religion (s. Ausf. im folgenden Abschnitt) gewissermaßen um, indem er die - in der Formel von der Rückkehr der Religionen angesprochene - Sichtbarkeit des Religiösen in der Moderne auf die Herauslösung aus dem soziokulturellen Umfeld durch Säkularisierung der Gesellschaft zurückführt und gerade aus dieser Entbettung die Gefahren der irrationalen Übersteigerung religiöser Potentiale ableitet. S.20: „Die Säkularisierung hat das Religiöse nicht ausgelöscht. Sie hat das Religiöse aus unserer kulturellen Umwelt herausgelöst und lässt es dadurch gerade als rein Religiöses in Erscheinung treten. Tatsächlich hat die Säkularisierung funktioniert: Was wir erleben, ist die militante Neuformulierung des Religiösen in einem säkularisierten Raum, die dem Religiösen seine Autonomie und damit die Bedingungen für seine Ausbreitung gegeben hat. Säkularisierung und Globalisierung haben die Religionen gezwungen, sich von der Kultur abzulösen, sich als autonom zu begreifen und sich in einem Raum neu zu konstituieren, der nicht mehr territorial und damit nicht mehr der Politik unterworfen ist.“ Aber sind die sog. Weltreligionen nicht schon lange deterritorialisiert? Und wann war Religion denn je der Politik „unterworfen“, also nicht nur als Legitimationsinstanz verbunden? S.24 „…die Rückkehr der Religion in den öffentlichen Raum erfolgt nicht mehr in Form einer kulturellen Selbstverständlichkeit, sondern vielmehr als Zurschaustellung des »reinen« Religiösen oder rekonstruierter Traditionen. Die in alle Richtungen stattfindenden Übertritte zu anderen Glaubensrichtungen sind ein gutes Indiz dafür, wie sich das Band zwischen Kultur und Religion verwirrt. Aber ganz

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eindeutig gewinnen in allen Fällen die sogenannten »fundamentalistischen« oder »charismatischen« Formen der Religion am meisten, ob es sich um evangelikale protestantische Bekenntnisse handelt oder um den muslimischen Salafismus. Die gleiche orthodoxe Verhärtung erfasst die katholische Kirche und das Judentum, selbst den Hinduismus. Der Fundamentalismus ist die am besten an die Globalisierung angepasste Form des Religiösen, weil er seine eigene Dekulturation akzeptiert und daraus seinen Anspruch auf Universalität ableitet.“ Da die Ursachen der zunehmenden Virulenz religiöser Praktiken in deren kultureller „Entwurzelung“ (und nicht in dem mit der Globalisierung verbundenen Ende tradierter Konfliktverarbeitungstechniken sieht) gesehen werden, wertet Roys Diagnose tradierte, kulturell eingebettete Formen der Religion implizit auf. S. 28: „Wenn Religionen außerhalb ihrer Ursprungskulturen zirkulieren können, heißt das, dass sie sich von der Kultur ablösen, »dekulturieren«, konnten. Der religiöse Marker zirkuliert ohne jedweden kulturellen Marker und ist somit bereit, sich mit allen möglichen frei flottierenden kulturellen Markern zu verbinden: hallal Fastfood, koschere Biokost, Cyber-Fatwa, hallal Dating christlicher Rock, transzendentale Meditation. Die politisch korrekte Gesinnung, die »Christmas« in »Winterval« umtaufen lässt, trägt ebenfalls dazu bei, das Religiöse nicht zu neutralisieren, sondern es im Gegenteil zuzuspitzen, indem sie seine Metamorphose in Kultur, seine »Einbettung« ins Kulturelle aufbricht.“ Vgl. zum Begriff des symbolischen Markers, Richerson/Boyd 2005, wo es immer darum geht, das eigene Sozialsystem von anderen in seiner Umwelt abzugrenzen. Nach Roys Diagnose werden die Marker diffus bzw. ihre Handhabung virulent, weil eine territoriale Abgrenzung unter Bedingungen der Globalisierung nicht mehr gelingt. 210 Bei den hier vorrangig behandelten Themen der SystemKonkurrenz und und -Ausdehnung durch Fortpflanzung handelt es sich natürlich nicht um die einzigen Themen, in denen andauernde Virulenz religiöser Moralgebote zu beobachten ist. In ähnlicher Weise sind auch Fragen der Definition des individuellen Lebensbeginns, der Entscheidung über den eigenen Tod immer noch dominiert von religiösen Einstellungen, die sich den in der Moderne entwickelten Standards rationaler Diskussion entziehen. 211

ad 5. Zur Zivilisierung der Religionen

212 Der Begriff der Zivilreligion ist allerdings ein semantischer Hybrid, der die kausal wirksame Differenz der Mittel/Ressourcen/Quellen im Unklaren lässt. Solche Verknüpfungen sind zwar empirisch gehaltvoll – s. den komplementären Hybrid „Nationalstaat“ – sie verdunkeln aber die evolutionärenWirkungszusammenhänge. S. dazu schon mein Schema zur Evolution alternativer Bindungskräfte im 1. Kapitel. 5.1 Alternativen zum KEM in der Moderne 213 Von Böckenförde (1967) wörtlich: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Der Autor hat sich bekanntlich inzwischen selbst von der rückwärtsgewandten Interpretation seines Ausspruchs entfernt (s. Anm. Kap.5)


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214 Matthias König weist darauf hin, dass bereits Durkheim seine Theorie sozialer Differenzierung „um ein »Gesetz der Schwerkraft der sozialen Welt« ergänzt hat, das gewissermaßen die kausalen Mechanismen für die Entstehung von Arbeitsteilung und damit von organischer Solidarität beinhaltet. Ausgangspunkt für sein Erklärungsmodell ist das Wachstum von sozialem Volumen und moralischer Dichte. Diese Größen bemessen sich nach Durkheim an der absoluten Bevölkerungsgröße und der Bevölkerungsdichte einerseits sowie der durch Verkehrs- und Kommunikationstechnologien ermöglichten Interaktionshäufigkeit andererseits.“ (2008, S.23) Durkheims gescheiterter Versuch, die normativen Prämissen sozialer Differenzierung in der Moderne zu rekonstruieren, hat dann zum Rekurs auf die elementaren Formen des Religiösen in tribalen Gesellschaften geführt. 215 S. dazu schon meine (knappen) Ausführungen im 1 Kap. 216 Anstelle einer ausführlichen Darstellung dieser evolutionären Voraussetzungen, die nur in einer Monographie möglich wäre, verweise ich hier auf meine schematische Darstellung der Bifurkation zwischen Opfer- und TauschPraktiken oben und die Ausführungen über Konfliktvermeidung durch Austausch unten. – Vgl. die idealtypische Gegenüberstellung von Opfer- und Tauschpraktiken im o.a. Schema mit der schematischen Darstellung der Ambivalenz des Sakralopfers im Aufbau des Sozialen bei Vollmer, S. 117. Bei Vollmer wie schon bei Girard werden auch Formen staatlich organisierter Gewaltausübung immer schon als Auswirkungen religiös fundierter Orientierungen gedeutet. 217 S. Boyd/Richerson 2005. (S. auch nochmal bei Durham, Sober/Wilson, Lumsden/Wilson, Jablonka/ Lamb, OddlingSmee et al.) Für Vorformen bei Primaten s. De Wal 1996. 218 S. Hinweise bei Dunbar 2003 und Donald 2008 zur Entwicklung protosprachlicher Kommunikation. 219 Zur vermeintlichen Unabdingbarkeit des religiös fundierten Freund-Feind-Schemas s. u.a. die „Politische Theologie“ von C. Schmitt und seiner Anhänger (u.a. bei den „neocons“). Im Anschluss an C.Schmitt sieht Hans Blumenberg die „Legitimität der Neuzeit“ (1966) in der Aufgabe, das Heilsverlangen der Religionsgemeinschaften zu entpolitisieren und die politische Ordnungsmacht auf den weltlichen Staat zu übertragen. 220 Zur Geschichte der Unterdrückung dieser Überlegungen S. Miller 2001, S.45-82 221 In soziologischer Perspektive interessiert natürlich, wann Andersartigkeit als „sexy“ und wann sie als so gefährlich erscheint, dass physische Gewaltmittel zu ihrer Austreibung gesucht werden. 222 S. die diesbez. Literatur, so u.a. über proximate Geruchsidentifkation genetischer Differenz im Hinblick auf die ultimate Funktion der Vermeidung von genetischen Defekten der Fortpflanzung. 223 Hier ist also eine klare Grenze zu ziehen zwischen den auf die Mikroebene der Interaktion unter Individuen beschränkten Funktionen der sexuellen Selektion und ihrer Ausdehnung auf die Makroebene der Interaktion unter Gruppen. Die historische Verknüpfung erfolgt über den Mechanismus der internen Konkurrenzverbote unter Bedingungen der Gruppenselektion. Dadurch ergibt sich keineswegs eine lineare Ausdehnung des sexuellen Verhal-

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tensmusters sondern zugleich eine substanzielle Transformation i.S. der Tauschpraktiken. Dies ist festzuhalten gegen die in allen Hochreligionen verkündete Liebesmoral, aber auch psychologisch-säkularisierte Liebesheilslehren. Dies wäre evtl. auch in Auseinandersetzung mit Fellmann auszuführen: „… die erotische Paarbeziehung in ihrer Exklusivität lässt sich nicht ausdehnen, und gerade darin liegt ihre durch nichts zu ersetzende soziale Bedeutung.“ (Fellmann 2005 S.21) Fellmann sieht zwar die indivualisierende Sprengkraft der sexuellen Liebe, überspielt aber im Hinblick auf seine allgemeine These vom Sozialkapital des Eros die Hinweise auf Unverträglichkeit mit Erfordernissen des sozialen Gruppenlebens, die erst durch Ausdehnung und Binnendifferenzierung der Sozialsysteme abgeschwächt werden. Fellmanns Versuch, im Eros eine weltliche Quelle der Kulturentwicklung (jenseits religöser Praktiken) zu rekonstruieren, ist interessant wegen der Fülle an literarischen Belegen, die er dafür mobilisiert. Was aber fehlt, ist eine kausal-genetische Erklärung für die Sublimierung des sexuellen Begehrens zur erotischen Liebe, die nur aus einer Theorie der Gruppenselektion über die sexuellen Konkurrenzverbote und Exogamieregeln zu gewinnen ist. 224 Wenn die gewaltsame Aneignung der Fortpflanzungsressourcen (in der eigenen Gruppe) verboten ist, dann muss das Männchen dem Weibchen gefallen. Dies ist die natürliche Quelle der weiblichen Wahl. Wenn aber die Wahl des Fortpflanzungspartners in der eigenen Gruppe überhaupt verboten ist, dann verlagert sich die Selektion auf Gruppenebene. Sie wird zwischen den Herkunftsgruppen (ihren Ältesten) ausgehandelt. 225 S. nochmal zu Tauschpraktiken Mauss, Malinowski, Levi-Strauss, Bourdieu, Paul u.a. – s. auch das Girard-Zitat zu den rituellen Gewalttätigkeiten, die den Frauentausch begleiten in Anm. oben. 226 Im Hinblick auf die Entstehung und Entwicklung von Opferkulten wäre noch einmal zu überprüfen, ob die religiöse Überhöhung in der kulturellen Evolution erst mit der besonderen Bedrohung durch den Rache-Zyklus zwischen lose gekoppelten Gruppen zu erklären ist oder (wie Girard nahelegt) allgemeiner schon durch eine in aller Sozialsystembildung sich reproduzierende Gründungsgewalt. 227 Hier gibt es also noch nicht die klare Trennung zwischen sakraler und profaner Sphäre, die Durkheim von Anfang an unterstellt – s 1984, 1. Kap. III). 228 Mit dem psychologischen Begriff der Verdrängung ist die latente Gefahr der Wiederkehr des Verdrängten schon mitbezeichnet. 229 Der moralisierende Ton in den Schlusspassagen von Mauss Untersuchungen über die Gabe ist häufig kritisiert worden. Dabei ist jedoch zumeist (mit Ausnahme von Elwert s.u.) übersehen worden, dass Mauss hiermit auch auf einen alternativen Entwicklungspfad für soziale Ordnungsbildung hinweist: „Die Gesellschaften haben in dem Maße Fortschritte gemacht, wie sie selbst, ihre Untergruppen und schließlich ihre Individuen fähig wurden, ihre Beziehungen zu festigen, zu geben, zu nehmen und zu erwidern. Um zu handeln, mußten die Menschen es zunächst fertigbringen, die Speere niederzulegen. Dann konnte es ihnen gelingen, Güter und Personen auszutauschen, und zwar nicht nur zwischen Clans, sondern zwischen Stämmen und Nationen und vor allem zwischen Individuen. Und erst dann konnten


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sich die Leute Interessen schaffen, sie gegenseitig befriedigen und sie verteidigen, ohne zu den Waffen zu greifen. Auf diese Weise haben es die Clans, Stämme und Völker gelernt - so wie es in der Zukunft in unserer sogenannten zivilisierten Welt die Klassen, Nationen und Individuen lernen werden - einander gegenüberzutreten, ohne sich gegenseitig umzubringen, und zu geben, ohne sich anderen zu opfern. Dies ist eines der Geheimnisse ihrer Weisheit und ihrer Solidarität. Es gibt keine andere Moral, keine andere Ökonomie und keine andere gesellschaftliche Praxis als diese.“ Dazu Elwert 1991, S. 161: „Es ist ein gängiger Topos — ursprünglich des romantischen Antikapitalismus —, die Entwicklung von Gabentausch und Geldwirtschaft als ein Nullsummenspiel anzusehen. .... Wo Geld und Markt vordringen, ginge die Gabe zurück. Aus dieser Perspektive eröffnet uns die Betrachtung von Formen der Reziprozität in (an Geld) armen Gesellschaften einen Blick zurück auf bessere Zeiten. Mir scheint hingegen, daß sich Geldwirtschaft und Formen des Gebens synergetisch entwickelten, sich wechselseitig ‚stabilisierten‘, d.h. neue Entwicklungsmöglichkeiten eröffneten.“ 230 S. schon das von Mauss (1978, 127) im Frauen- und Gabentausch beobachtete „Prinzip der edlen Verschwendung“. 231 Auch dies ist schon von Kant so gesehen worden: „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher, oder später sich jedes Volks bemächtigt. Weil nämlich unter allen, der Staatsmacht untergeordneten, Mächten (Mitteln) die Geldmacht wohl die zuverlässigste sein möchte, so sehen sich Staaten (freilich wohl nicht eben durch Triebfedern der Moralität) gedrungen, den edlen Frieden zu befördern, und, wo auch immer in der Welt Krieg auszubrechen droht, ihn durch Vermittelungen abzuwehren, gleich als ob sie deshalb im beständigen Bündnisse ständen; denn große Vereinigungen zum Kriege können, der Natur der Sache nach, sich nur höchst selten zutragen, und noch seltener glücken. - Auf die Art garantiert die Natur, durch den Mechanism in den menschlichen Neigungen selbst, den ewigen Frieden; freilich mit einer Sicherheit, die nicht hinreichend ist, die Zukunft desselben (theoretisch) zu weissagen, aber doch in praktischer Absicht zulangt, und es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß schimärischen) Zwecke hinzuarbeiten.“ (1795, Erster Zusatz. Von der Garantie des ewigen Friedens – Punkt 3) 232 Hier geht es um die Bedingungen der Möglichkeit einer friedlichen Weltordnung mit einer starken Ebenendifferenzierung für verschiedenartige Ordnungsfunktionen einschließlich entsprechender Sanktionsmittel aber ohne einen Hobbesianischen Superakteur. S. dazu Habermas 2005b. 233 Die Tragweite dieser Beobachtung einschränkend muss auf den Umstand verwiesen werden, dass die auf der Ebene der Individuen tradierten Muster kooperativen Verhaltens sich keineswegs automatisch auf der Ebene der Interaktion kollektiver Akteure reproduzieren. Es ist wohl eher so, dass gerade auf der Makrobene die (in der Spieltheorie beschriebenen) Dilemmata strikt eigennützig operierender Akteure in reiner Form auftreten. (S. nur die Verhandlungen um das Kyoto-Protokoll zur globalen Begrenzung des CO-2-Emissionen.) Andererseits bedeutet dies aber auch, dass die auf der Makroebene ausgetragenen Konkurrenz-

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konflikte nicht automatisch durch entsprechende Motive der Individuen befeuert werden, möglicherweise sogar durch Ressourcenentzug auf der Mikroebene gelöscht werden können. 234 Obwohl es aus zeitgenössischer Perspektive schwer vorstellbar erscheint, sich etwas (grundlegend) Anderes vorzustellen, ist es aber mit evolutionstheoretischen Mitteln nicht möglich, diese Differenzierungsform (so ähnlich wie in Girards Eschatologie das christliche Evangelium) als abschließende Lösung der Probleme sozialer Ordnung darzustellen. 235 In Heilslehren dieses Typs wird – sei es unter Berufung auf die christliche Bergpredigt oder weltlichen Brüderlichkeitsappell - die Beschränkung des menschlichen Liebesvermögens auf reziprozitätsfähige Beziehungen, auf der Ebene der Interaktion unter Individuen und die Unmöglichkeit ihrer Ausdehnung auf die Makroebene verkannt. Auch S. Freud hat bekanntlich die Auflösung der Liebe in ein »ozeanisches Gefühl«, das alle Menschen verbinden soll, zurückgewiesen. In diesem Sinne auch Simmel (1923, Fragment über die Liebe, FN 3): „Die Liebe zum »Menschen« als Idee, zur Gattung als einem über den Individuen stehender Wert ist wieder etwas ganz andres und der Menschenliebe psychologisch oft ganz unvereinigt. Nietzsche hat die Liebe zum Menschen in diesem Sinn in leidenschaftlichstem Maß besessen und gepredigt, die allgemeine Menschenliebe aber in seiner Lehre und wahrscheinlich auch in seinem persönlichen Gefühl völlig abgewiesen.“ Eine der individualistischen Religion der Moderne näherstehende Version des Liebesideals erscheint bei Heinrich Heine, wenn er von dem Gott spricht, der „in unseren Küssen“ ist. (Neue Gedichte, in Sämtliche Schriften Bd. 4, Hg. Klaus Briegleb München 1971, 325 – zit. bei ReeseSchäfer) 236 Im Hinblick auf natürliche Voraussetzungen der friedlichen Austragung von Konkurrenz wäre hier auch noch die Geschichte des Spielverhaltens bei Menschen und Tieren heranzuziehen. S. Buytendijk 1933, Plessner 1934, Huizinga u.a. – s. auch zum Sport Elias - S. Wettbewerbsmotive, Casting-shows in der Unterhaltungsindustrie. 5.2 Transformation der Konfliktvermeidungstechniken auf dem Weltmarkt der Religionen 237 Diese Formulierung stammt aus dem Schlußabsatz der Monographie von Wade, 2009, 285: “Maybe religion needs to undergo a second transformation, similar in scope to the transition from hunter gatherer religion to that of settled societies. In this new configuration, religion would retain all its old powers of binding people together for a common purpose, whether for morality or defense. It would touch all the senses and lift the mind. It would transcend self. And it would find a way to be equally true to emotion and to reason, to our need to belong to one another and to what has been learned of the human condition through rational inquiry.” – Wade geht hier allerdings auf das Zusammenwirken mit staatlicher Ordnungsmacht nicht ein. 238 P. Berger hält die die heute global am stärksten expandierende Religionsgemeinschaft, neuprotestantischen Pfingstlerbewegung, für eine spezifisch moderne, aber nicht fundamentalistische Bewegung, weil sie den Charak-


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ter der individuellen Entscheidung herausstelle. In dieser Hinsicht wäre aber noch zu fragen, inwieweit sich in der individualisierten Formen nicht doch eine Auslagerung der Handlungsverantwortung auf transzendente Quellen mit dem totalitären Anspruch auf Wahrheit verbindet. 239 Eine andere Erklärung des Fundamentalismus ergibt sich aus der Analyse von Roy 2010. Da er die zunehmende Virulenz und Gewaltsamkeit religiöser Bewegungen auf deren kulturelle Entwurzelung zurückführt, ist religiöser Fundamentalismus eine - gewissermaßen alternativlose Konsequenz funktionaler Differenzierung, ihrer Reduktion auf „rein“ religiöse Funktionen. 240 Vgl. dazu die anders ansetzenden Thesen von Brunkhorst 2010: „… seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts haben sich die religiöse Wertsphäre und die religiöse Kommunikation globalisiert. Diese Entwicklung korrespondiert der Entwicklung der kapitalistischen Märkte auf eine verblüffende Weise, auch wenn die religiöse Wertsphäre sich durch ihren intrinsischen Geltungsanspruch, den sie zumindest für die Gläu¬bigen hat, sehr vom funktionalen Subsystem der Wirtschaft und ihrer extrinsischen Kaufkraft unterscheidet. Den dramatischen Wechsel der Kontrollverhältnisse, den wir im Verhältnis des Staats zur ausdifferenzierten Marktwirt-schaft beobachten konnten, können wir jetzt auch am Beispiel der religiösen Evolution beobachten. Auch hier führt der Weg der Weltgesell¬schaft von state-embedded religions zu religionembedded states. Und auch die höchst dra¬matische Dekonstitutionalisierung und Entrechtlichung der Religion hat neue Gewinner und neue Verlierer. Die Verlierer der Globalisierung sind vor allem die Lutheranischen Staatskir¬chen, und die Gewinner sind überall die mehr oder weniger fundamentalistischen und hoch beweglichen Sektenund Netzwerkreligionen des Islam und des Protestantismus, und es ist die universelle Kirche Roms, die wie keine andere seit Jahrhunderten mit global ausgreifen¬den, von Anfang an alle Staatsgrenzen sprengenden Institutionen experimentiert hatte und jetzt, in der Stunde seines Niedergangs über den Nationalstaat zu triumphieren scheint. Zwar bleiben die Kirchen Kerneuropas leer, aber die öffentlichen Plätze füllen sich, wenn der als Popstar bejubelte Papst lebend redet, sich sterbend zeigt oder zu Grabe getragen wird, und auch die Mitgliederzahlen wachsen weltweit kontinuierlich. Um den Platz an der Sonne Afri¬kas ist mittlerweile ein heftiger Kampf zwischen katholischer Kirche, protestantischen Sekten und Islamisten entbrannt, und während die Protestanten tief ins katholische Kernland Lateinamerikas vordringen, machen die islamistischen Seelenfänger in Südostasien fette Beute. Der Effekt für die Gleichheit unserer Freiheitsrechte ist ebenso verheerend wie der des globalen Kapitalismus. Die Freiheit der Religion wächst heute bereits auf Kosten der Freiheit von der Religion.“ 241 S. Habermas 2005b, Beck 2008 242 Diese Entwicklung ist bekanntlich nicht erst von der Soziologen sondern bereits vom namhaftesten Vertreter der europäischen Aufklärung vorausgesehen worden: „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist

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die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“ (Kant, 1795, Schluss des dritten Definivartikels zum ewigen Frieden). 5.3 Auf dem Weg zu einer globalen Zivilreligion? 243 In den Weltanschauungs-Diskursen der Gegenwart sehe ich v.a. zwei interessante Optionen: den pragmatischen Relativismus und den universalistischen Individualismus. Die relativistische Position ist in Folge der Enttäuschungen durch die säkularen Heilslehren des 20. Jahrhunderts stark geworden. Einerseits werden hier Wertbezüge reduziert zugunsten von Verfahrenslösungen, andererseits wird größtmögliche Toleranz gegenüber tradierten Heilslehren empfohlen. Die Frage, wo die Grenze des Tolerierbaren erreicht ist (bei Zwangsheiraten, Klitorisbeschneidungen, Steinigungen, Witwenverbrennungen?) kann dann aber aus keinem allgemeinen Prinzip, sondern nur noch fallweise bestimmt werden. Für die Gegenposition liegt eine Menschenrechtsverletzung schon vor, wenn ein junges Mädchen gezwungen wird, ein Kopftuch zu tragen. Diese Position ist im Kern kämpferisch und zielt auf eine neue, den Bedingungen der modernen Gesellschaft angemessene Zivilreligion. Meine Sympathien liegen bei der zweiten Position, mein Verstand sagt mir aber auch, dass eine neue, zivilisiertere Weltanschauung Zeit braucht, um sich zu entwickeln, und dass pragmatische Einstellungen helfen können, ihre schlimmsten Kinderkrankheiten zu überstehen. 244 So Luckmann 1991, 132: „Die zur Zeit beobachtbare Randständigkeit der kirchengebundenen Religion und ihre »innere Säkularisierung« erscheint … als eine Seite eines komplexeren Vorgangs, in dessen Mittelpunkt die langfristige institutionelle Spezialisierung der Religion und die weltweiten Veränderungen der gesellschaftlichen Ordnung stehen. Was für gewöhnlich bloß für ein Symptom für den Rückgang des traditionellen Christentums gehalten wird, könnte Anzeichen für einen sehr viel revolutionäreren Wandel sein: die Ersetzung der institutionell spezialisierten Religion durch eine neue Sozialform der Religion.“ Im Zentrum dieser neuen Form der Religion stehen – wie schon bei Rousseau und Durkheim - instututionalisierte Formen der Erziehung und Bildung. 245 Hierauf verweist Knoblauch in seinem Vorwort zur Neuausgabe (1991) von Luckmanns Unsichtbarer Religion. 246 Im Blick auf die theologische Reflexion dieser Entwicklung Bellah, 1973, 295f: „ In der Mitte des 20. Jahrhunderts …unternehmen so unterschiedliche Männer wie Tillich, Bultmann und Bonhoeffer den Versuch, die tieferen Implikationen der Schleiermacherschen Ideen in verschiedener Weise auszuarbeiten. Tillichs Vorstellung eines >ekstatischen Naturalismus<, Bultmanns Programm einer >Entmythologisierung< und Bonhoeffers Suche nach einem religionslosen Christentum< können sicher nicht einfach miteinander gleichgesetzt werden. Aber sie sind alle Versuche, mit der modernen Situation fertig zu werden. Selbst auf katholischer Seite beginnt man die Lage zu begreifen. Bedeutungsvoller sind die massiven Neuinterpretationen, die


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die Ideen der Tillich, Bultmann und Bonhoeffer weit hinter sich lassen. In der Tat fühlen sich viele Kirchgänger einer dogmatischen Orthodoxie kaum noch verpflichtet; weit verbreitet ist die Ansicht, daß alle Glaubenssätze der persönlichen Neuinterpretation bedürfen. Sicherlich lebt noch immer die dualistische Weltsicht in den Köpfen vieler Frommen; aber ebenso sicher ist, daß viele Menschen andere, komplizierte und z. T. pseudowissenschaftliche Rationalisierungen erfunden haben, um die erfahrene Gültigkeit ihres Glaubens in eine Art kognitive Harmonie mit der Welt des 20. Jahrhunderts zu bringen.“ 247 Die Idee der Zivilreligion liegt der gesamten Religionssoziologie von Durkheim zugrunde: „Welchen wesentlichen Unterschied gibt es zwischen einer Versammlung von Christen, die die wesentlichen Stationen aus Christi Leben feiern, oder von Juden, die den Auszug aus Ägypten oder die Verkündigung der Zehn Gebote zelebrieren, und einer Vereinigung von Bürgern, die sich der Errichtung einer neuen Moralcharta oder eines großen Ereignisses des nationalen Lebens erinnern?“ (1981, 571) Hieran anschließend Luckmann, Berger, Bellah, Casanova, Joas u.a. - Tyrell (2010) weist auf differenzierungstheoretische Divergenzen zwischen den Religionssoziologien M.Webers und Durkheims hin und darauf, dass Letzterer sein Konzept der Zivilreligion bereits im abgrenzenden Anschluss an Rousseau formuliert, dem es noch um eine Erneuerung der traditionellen Doppelmoral für die Zwecke des modernen Nationalstaats ging. Diese Dichotomie wird bereits von Durkheim im Sinne einer kosmopolitischen Perspektive aufgelöst: „Es handelt sich um jenes internationale Leben, das schon die Wirkung hatte, die religiösen Glaubensvorstellungen zu universalisieren. In dem Maß, indem es sich ausdehnt, erweitert sich auch der kollektive Horizont. Die [hier gemeint: nationale] Gesellschaft hört auf, als das alleinige Ganze zu erscheinen, um Teil eines viel größeren Ganzen zu werden, mit unscharfen Grenzen, die fähig sind, unendlich nachzugeben. Folglich können die Dinge nicht mehr in dem sozialen Rahmen bleiben, in den sie ursprünglich eingeordnet waren.“ S. Durkheim, 1984, 594. 248 Im Unterschied zum Rousseauschen Konzept, in dem sich die traditionelle Doppelmoral noch in aller Schärfe reproduziert, werden die neueren Versionen von Zivilreligion häufig als „weichgespülter“ Religionsersatz missverstanden: „…those religions that put ‚openness of mind‘ at the center of their faith—or rather at the center of their rejection of faith—will be welcomed into the political process and accorded a role in American public life, but only because in their stripped down and soft-edged form they are indistinguishable from other Enlightenment projects and are hardly religions at all.“ (Fish 2001, 189). Dabei wird jedoch die evolutionär unwahrscheinliche Errungenschaft übersehen, die im Verzicht auf exkludierende Opferpraktiken und kriegerische Außenmoral zur Geltung kommt. 249 Hierauf stellen die meisten Beiträge ab, die sich mit der Friedensfähigkeit der Religionen beschäftigen. S. nur Joas 2010. 250 Pinker 2003 (… Kap. 17 Gewalt) „… niemand hat bisher eine Idee, wie sich ein weltweiter demokratischer Leviathan schaffen lässt, der in der Lage wäre, aggressive Konkurrenz unter Strafe zu stellen, die Hobbes'schen Fallen zu entschärfen und die Kultur der Ehre zu beseitigen, die zwi-

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schen den gefährlichsten Gewalttätern überhaupt, den Nationalstaaten, herrscht.“ Neuere Überlegungen zu einem funktional differenzierten Mehrebenenregime in einer politisch verfassten Weltgesellschaft s. Habermas, 2005b. 251 S. die diversen Theorien über das Unbehagen an der Moderne bei Taylor, Baumann, Berger u.a. 252 Vollmer 2009, geht in seiner Zwischenbilanz (8. Abschnitt) mit dem mainstream der Soziologie davon aus, dass religiöse Einstellungen auch in der Moderne kontinuieren. Wegen der gesteigerten Kontingenzen müsste er eigentlich sogar zu dem Schluß einer verstärkten Religiosität kommen. Er vernachlässigt jedoch die Grenzen der Kontinuierbarkeit des religiösen Externalisierungsmechanismus, die aus der globalen Vernetzung und Verdichtung menschlicher Sozialsysteme erwachsen. 253 Joas, der in seiner Analyse der Bedingungen friedlicher Koexistenz der Religionen partiell an Casanova anschließt, vertritt dagegen die These, dass der Religionsfrieden eher gestört werde, wenn der Staat regulierend eingreift. „Von Seiten amerikanischer Religionsökonomen (Grim/Finke 2007) gibt es den interessanten und meines Erachtens überzeugenden Versuch, nachzuweisen, dass religiös aufgeladene innergesellschaftliche gewaltsame Konflikte nicht etwa durch das Aufeinandertreffen verschiedener Religionen als solches entstehen (wie es die „clash of civilizations"These erwarten ließe), sondern durch staatliche Regulationen des religiösen Lebens, die partikularistisch aufgeladen sind, d.h. der einen Religionsgemeinschaft zu helfen und eine andere im Zaum zu halten versuchen. Nichts trägt deshalb, so die These, mehr zur friedlichen Koexistenz verschiedener Religionen in einem Staate bei als der Verzicht auf staatliche Regulation des religiösen ‚Marktes’.“ (Joas, 2010, S. 219). Der „Nachweis“ für diese These unterstellt aber stillschweigend, dass die konkurrierenden Religionsgemeinschaften die Differenzierung zwischen Religion und Politik akzeptieren, ohne anzugeben, wie das ohne staatliche Regulierung sichergestellt werden kann. – S. dagegen schon Bellah / Greenspahn (Hg) (1987): Uncivil Religion: Interreligious Hostility in America, Crossroad Publishing. 254 Luckmann 1967, 1991 beruft sich dabei gleichermaßen auf die Religionssoziologie von Durkheim und Weber (117). Er beschreibt Prozesse der Sozialisation als basale Formen religiöser Welterfahrung und sieht in der Suche nach persönlicher „Identität eine universale Form der individuellen Religiosität“ (109). Dieses Konzept wird von Bellah evolutionstheoretisch verallgemeinert: „Die historischen Religionen entdeckten das Selbst; die frühmoderne Religion erfand die Lehre, die es erlaubte, das Selbst in all seiner empirischen Unzulänglichkeit zu akzeptieren; die moderne Religion schickt sich an, die Gesetze der subjektiven Existenz zu verstehen, um so dem Menschen zu helfen, sein Schicksal verantwortungsvoll selbst in die Hand zu nehmen.“ (1973, 298) - An dieser Stelle muss evtl. erwähnt werden, dass Bellah das universalistischindividualische Programm seines Aufsatzes von 1964 in seinen späteren Beiträgen zur Zivilreligion zugunsten des philosophischen Kommunitarismus modifiziert. Diese Wendung zum Partikularismus scheint mir jedoch keineswegs zwingend im Begriff der Zivilreligion angelegt.


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255 Nach Meinung von Beck (2008, S.43) ist es inzwischen „fast schon zur Platitüde geworden, darauf hinzuweisen, daß es sich hierbei um eine neue spirituelle Kultur handelt, die sich, über die Grenzen von Nationen und Religionen hinwegsetzend, ihre religiösen Inhalte und Praktiken nach Belieben den verschiedenen religiös-spirituellen Traditionen von Orient und Okzident entlehnte, um sie, angereichert mit wechselnden psychologischen Modepraktiken, zu Formen des »eigenen Gottes« zusammenzubasteln. Diese Bewegungen stellen die individuelle Suche nach Vollendung und persönlicher Entwicklung, die mit einer »Bereicherung der Seele« einhergeht, in den Vordergrund.“ – Ich halte es jedoch nicht für eine Platitüde, auf das Desiderat einer Anpassung der religiösen Einstellungen an die Bedingungen der globalen Gesellschaft hinzuweisen. 256 In diesem Sinne argumentiert auch Nassehi 1995 (4. Abschnitt): „ Der einzige Ort, an dem die disparaten Teile der Gesellschaft verbunden werden, ist das Individuum, das die unterschiedlichen sozialen Ansprüche in Einklang zu bringen hat - das Individuum ist gewissermaßen der Parasit, das ausgeschlossene Dritte gesellschaftlicher Differenzen. Ihre als "Identität" behandelte Einheit erzeugen Individuen immer weniger in der Sachdimension und in der Sozialdimension, sondern in der Zeitdimension: Biographische Perspektiven werden mehr und mehr zum funktionalen Äquivalent gesellschaftlicher Inklusion; sie sind der Ort, an dem exkludierte ganze Personen ihre Individualität mit den und gegen die Ansprüche gesellschaftlicher Funktionszentren in Form institutionalisierter Lebensläufe oder präskriptiver Rollen ausbilden. Biographische Perspektiven sind der Ort, an dem die Differenz von gesellschaftlich erforderter Dividualität und psychisch erlebter operativer Individualität individuell erfahren, erlitten und notgedrungen überwunden wird. …. Was einerseits als Privatisierung von Religion gedeutet werden kann, … stellt sich andererseits als Postulat dar, Seelenheil nur noch - je nach Konfession durch individuelles Verhalten oder individuelle Zuteilung von Gnade erreichen zu können. Religion entdeckt die individuelle Lebensgeschichte als Bezugspunkt und beobachtet die Immanenz der individuellen Dividualität im Hinblick auf Transzendenz. Konkret: Das letzte große Thema der Religion wird die Transzendenz des individuellen Lebens, wird der Tod, die postmortale Existenz des einzelnen. … Die Glaubensspannung zwischen heiliger Sphäre und profaner Welt wird nun nicht mehr gesellschaftlich aufgelöst, sondern in den einzelnen hineinverlagert.“ 257 In seinem frühen Aufsatz zur Dreyfus-Affäre beschreibt Durkheim den modernen Individualismus als neue Religion: „Wer auch immer einem Menschen nach dem Leben trachtet, die Freiheit eines Menschen oder seine Ehre angreift, erfüllt uns mit einem Gefühl der Abscheu, in jedem Punkt analog zu demjenigen Gefühl, das der Gläubige zeigt, der sein Idol profanisiert sieht. Eine solche Moral ist also nicht einfach eine hygienische Disziplin oder eine weise Ökonomie der Existenz; sie ist eine Religion, in der der Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist….Denn dieser Liberalismus des 18. Jahrhunderts, .. ist nicht einfach … eine philosophische Konstruktion; er ist eingeflossen in die Fakten, er hat unsere Institutionen … durchdrungen, er ist mit unserem ganzen Leben verwoben, und wenn wir uns wirklich von ihm befreien müßten, so müßten wir gleichzeitig

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unsere gesamte moralische Organisation umstürzen.“ Durkheim, 1986, 56f. Zur religiösen Tradition: Wenn „… dieser beschränkte Individualismus, den das Christentum darstellt, vor achtzehn Jahrhunderten notwendig war, so gibt es Aussichten dafür, daß heute ein höher entwickelter Individualismus unentbehrlich ist; denn die Dinge haben sich seitdem gewandelt. Es ist also ein einzigartiger Irrtum, die individualistische Moral als Gegenspieler der christlichen Moral darzustellen; ganz im Gegenteil ist sie daraus hervorgegangen.“ (Durkheim, 1986,65). In seiner Hauptschrift über die elementaren Formen des religiösen Lebens nimmt Durkheim die Idee einer Religion des Individualismus wieder auf: „Wenn aber die Religion ein Produkt von sozialen Ursachen ist, wie soll man den individuellen Kult und den universalistischen Charakter mancher Religionen erklären? Wenn sie in foro externo entstanden ist, wie hat sie in das Innerste des Individuums eindringen und sich dort immer tiefer verankern können? Wenn sie das Werk bestimmter und individualisierter Gesellschaften ist, wie hat sie sich von ihnen so weit lösen können, daß man sie als eine der ganzen Menschheit gemeinsame Sache begriffen hat? Im Verlauf unserer Untersuchungen sind wir ersten Keimen der individuellen Religion und des religiösen Kosmopolitismus begegnet, und wir haben gesehen, wie sie sich gebildet haben. Damit besitzen wir die allgemeinsten Elemente für die Antwort auf diese doppelte Frage. Wir haben gezeigt, wie die religiöse Kraft, die den Klan beseelt, indem sie sich im Bewußtsein eines jeden einzelnen verkörpert, sich vereinzelt. So bilden sich sekundäre heilige Wesen. Jedes Individuum hat die seinen, die nach seinem Bild gemacht, die an sein intimes Leben gebunden, die mit seinem Schicksal verbunden sind: Die Seele nämlich, das individuelle Totem, den Schutzahnen, usw. Diese Wesen sind das Objekt der Riten, die der Gläubige allein feiern kann, außerhalb jeder Gruppierung. Also eine erste Form des Individualkults. Natürlich ist das noch ein sehr unentwickelter Kult, aber auch die individuelle Persönlichkeit ist noch sehr wenig ausgeprägt. Da man ihr wenig Wert beimißt, kann auch der Kult, der sie ausdrückt, nicht sehr entwickelt sein. In dem Maß, wie sich die Individuen stärker differenzieren und sich der Wert der Person erhöht, nimmt auch der entsprechende Kult im Gesamt des religiösen Lebens einen größeren Platz ein, während er sich zur gleichen Zeit nach außen stärker abschließt.“ (Durkheim 1981, 568) Bereits im gleichen Jahr wie Durkheims Dreyfus-Aufsatz schreibt G.Simmel (1898): „In dem Glauben an Göttliches hat sozusagen der reine Prozess des Glaubens sich verkörpert, losgelöst von seiner Bindung an einen sozialen Gegenpart; aus dem subjektiven Glaubensprozess wächst hier umgekehrt erst sein Objekt heraus.“ – Im modernen Individualismus kehrt dieser (spirituell bereinigte) Prozess gewissermaßen zu seinen irdischen Quellen zurück, steigert aber zugleich noch einmal seinen Abstraktionsgrad. - Zur Ideengeschichte der Sakralisierung der Individualität s. Beck, 2008, 123 ff. 258 In diesem Sinne hat bereits Karl Jaspers in seinem Buch Der philosophische Glaube (1948) die mystischen Qualitäten der Kommunikation in den Status einer neuen Religion


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gehoben. Trotz kognitiver Verengung lässt sich auch Habermas Theorie des kommunikativen Handelns als Begründungsversuch einer der Moderne angepassten Religion lesen. Dies gilt in gewisser Weise auch für den systemtheoretischen Gegenentwurf, in dem Kommunikation zum sich selbst reproduzierenden Elementarereignis erklärt und lebendige Individuen theoretisch exkommuniziert werden. Vielleicht sollte man aber – noch vor Individualität und Kommunikation – die wissenschaftliche Vernunft als Eckpfeiler der Weltanschauungsreligion der Moderne anführen, auch wenn deren Tragfähigkeit inzwischen skeptischer gesehen wird. Zum Wissenschaftsglauben Sloterdijk 1997. 259 In der eher schwachen Ausbildung der proximaten Faktoren in den Formen moderner Zivilreligion könnte aber auch ein Grund für die andauernde Stärke der alten Religionsformen liegen. Funktional vergleichbare Faktoren wie sie in den Psychotherapieformen zu beobachten sind, erscheinen nur lose gekoppelt an die Stabilitätserfordernisse moderner Sozialsysteme. Eine engere Koppelung lässt sich allenfalls in der Kombination von privaten und öffentlichen Sozialisationseinrichtungen erkennen. 260 Für Beck (2008) gehen moderner Individualismus und Globalisierung eine kosmopolitisch-religiöse Verbindung ein: „Es ist die »Ketzerei« eines religiösen »Mischmaschs«, die — als ungesehene Nebenfolge — das Prinzip der Gewaltfreiheit im Umgang der Religionen miteinander verbürgen könnte. Auf der individualisierten Pluralität religiöser und anderer Identitäten und Bindungen beruht die Utopie des Gewaltverzichts in den weltgesellschaftlichen Beziehungen.“ (180f.) Allerdings – so Becks Fazit: „Auch die Individualisierung des Glaubens kann nicht durch die Macht der ungesehenen und ungewollten Nebenfolge die Zivilisierung der Weltreligionskonflikte einleiten, schon gar nicht garantieren.“ (189) 261 S. v.a. die diversen Erwartungen an eine ökumenische Super-Religion. Dazu noch einmal Roy (2010, 285) „Paradoxerweise erleben wir parallel zum Vormarsch konservativer Strömungen in den Religionen eine Vervielfachung der ökumenischen Begegnungen, der interreligiösen Dialoge und auch der religionsübergreifenden Koalitionen gegen die Säkularisierung ganz allgemein oder bei bestimmten Fragen, zum Beispiel bei der Homosexuellenehe oder der Evolutionstheorie. Das lässt sich damit erklären, dass die zu »Glaubensgemeinschaften« umgebauten Religionen, die sich nicht mehr auf die Kultur stützen können, versuchen, angesichts der Säkularisierung wieder einen gemeinsamen religiösen Raum zu definieren. Der Gegensatz besteht nicht zwischen Religionen, die auf antagonistischen Kulturen gründen, sondern zwischen der Religiosität und der zunehmenden Säkularisierung.“ 262 Die sprechende Bezeichnung, die H.Lübbe (2005) für eine Weltordnung ohne die tradierten Mechanismen religiöser Konfliktexternalisierung geprägt hat. 263 Interessanterweise hat E.W. Böckenförde in einem kürzlich in der FAZ veröffentlichten Artikel (in auffälligem Kontrast zu der nach ihm genannten Doktrin) für die übergreifende Funktion des modernen säkularen Staats die Metapher vom gemeinsamen Haus verwendet: . „Die sittliche Idee, die sich im säkularisierten Staat und der übergreifenden offenen Neutralität der staatlichen Ordnung realisiert, liegt in der Anerkennung des Menschen als frei handeln-

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den, auch in Glaubensfragen frei handelnden Wesens, letztlich seiner Subjektstellung als Person. Diese trägt und fordert Religionsfreiheit als Menschenrecht, unabhängig von Art und Inhalt des religiösen Glaubens oder auch der Weltanschauung. Das Recht der Person tritt an die Stelle eines ehedem oft proklamierten Rechts der Wahrheit. Gilt dies aber, so ist die religiöse Neutralität des Staates notwendige Folge. Er kann nicht selbst als Träger einer Religion agieren und diese durchsetzen, muss vielmehr offen sein für die Entfaltung religiös-weltanschaulicher Überzeugungen seiner Bürger, auch und gerade in ihrer Pluralität. Eben durch diese Nichtidentifikation wird er zum gemeinsamen Haus aller Bürger, gewährleistet ihnen das Leben- und Handelnkönnen gemäß ihren eigenen, ihnen Lebenssinn und Transzendenz vermittelnden Überzeugungen. Dies auf der Grundlage der Allgemeinverträglichkeit und der Anerkennung der gleichen religiösen Freiheit aller unter Ausschluss von Rechtsbeeinträchtigungen oder Übergriffen im Namen vorgegebener Wahrheit und deren Ausbreitung.“ (Kursivhervorhebung kg) Böckenförde konstatiert, dass sich diese Auffassung staatlich garantierter Religionsfreiheit inzwischen auch in der kathlischen Kirche durchgesetzt hat und fragt: „Wie konnte es in der katholischen Kirche zu dieser kopernikanischen Wende kommen, wenn man an die lange Tradition gegenteiliger Verlautbarungen des kirchlichen Lehramts, nicht zuletzt der Päpste des neunzehnten Jahrhunderts denkt? Was sich hier zeigt, ist ein Vorgang der Veränderung kirchlicher Positionen und Lehren, die im Glauben gründeten, und damit auch des Glaubens selbst durch die Vernunft. Diese Veränderung erscheint, rückblickend gesehen, als reflektierende Reinigung des Glaubens durch die Vernunft. Aber welcher Vernunft? Es war nicht irgendeine Vernunft, sondern die Vernunft der Aufklärung, deren Erkenntnisse hier beständig einwirkten - eben der Vernunft, die zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 führte, die in Lessings "Nathan der Weise" ihren Niederschlag und in Immanuel Kant einen ihrer großen Denker fand. Es war eine säkulare, weltliche Vernunft, nicht theologisch inspiriert von einem Offenbarungsglauben, sondern von ihm sich ablösend; andererseits nicht reduziert auf eine rein instrumentelle Vernunft, die lediglich bestimmte Annahmen oder Setzungen logisch-rational und funktional ausfaltet, vielmehr eine Vernunft, in ihrem Erkenntnisstreben auf das ausgerichtet, was wahr und richtig ist für die Menschen und ihr Zusammenleben.“ (FAZ 16.9.2010 S.32 ) – Gegen Böckenfördes modernitätskompatible Interpretation der Haltung der katholischen Kirche stehen aber Hinweise auf die vom gegenwärtigen Papst angekündigte Verteidigung des alttestamentarischen Sühne- und Opfergedankens s. Anm. oben. 264 Im Sinne der Durkheimschen Theorietradition sind Individualismus und Menschenrechte als Kern einer Religion der Moderne zu erkennen. In dieser Betrachtung ist allerdings der Zusammenhang zwischen Individualismus und funktionaler Differenzierung noch zu wenig berücksichtigt. Elemente des Religiösen kontinuieren mehr oder weniger deutlich auch in allen Funktionssystemen der modernen Gesellschaft. Dies ist schon wiederholt beschrieben worden im Bereich der Kunst (mit verschiedenen Konnotationen


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für Bildende Kunst und Musik). Es ist offenkundig im Bildungssystem (insbesondere, wenn man die frühen Bildungsprozesse einbezieht). Es lässt sich aber auch nicht bestreiten im Bereich der Politik (wenn zB. nach charismatischen Führungsqualitäten gefragt wird) im Bereich des Rechts (wenn nach den nichtvertraglichen Grundlagen von Rechtsgeltung gefragt wird) und sogar im Bereich der Wirtschaft (wenn das Vertrauen in den Wert einer Anlage zur Ursache dynamischer Entwicklungen wird). All dies ist bisher oft nur i.S. eines mehr oder weniger ironischen Metaphern-Transfers beobachtet worden. Es würde aber eine seriöse Analyse des Eigenwerts i.S. der religiösen Bindekräfte der Gesellschaft verdienen. 265 Zu den bereits beobachtbaren Anpassungseffekten der Religionen unter den Bedingungen von Säkularisierung und Globalisierung noch einmal Roy (2010, 289ff): „Unter Gläubigen unterschiedlicher Religionen entwickelt sich eine gemeinsame Religiosität, die zugleich aus Individualismus und identitärem Kommunitarismus besteht; sie formiert sich rund um die Religion und nicht mehr um Ethnie oder Kultur. Die religiösen Marker werden nach standardisierten Vorgaben zu Identitätsmarkern, denn wieder wirkt die Formatierung so, dass Religionen in identischer Weise definiert werden. … Im Grunde bedeutet all das nicht eine Uniformisierung der theologischen Inhalte, sondern entspricht einer Betonung der religiösen Erfahrung auf Kosten des religiösen Wissens. Auch das ist heilige Einfalt. Mit Blick auf den neuen amerikanischen Protestantismus schreibt Donald Miller: »Die neue Reformation stellt im Gegensatz zu Martin Luthers Reformation nicht die Lehre in Frage, sondern das Medium, in dem die christliche Botschaft formuliert wird.« … Wie kann es sein, dass in den verschiedenen Religionen die theologischen Normen rigider werden und gleichzeitig eine allgemeine Uniformisierung des Religiösen zu beobachten ist? Die Antwort lautet: weil die Gleichmacherei der Religionen die Religiosität, die Glaubenspraxis, betrifft und nicht die Glaubensinhalte (die Inhalte werden sogar immer nachdrücklicher von den religiösen Autoritäten vertreten), und zwar deshalb, weil die Gläubigen die Religionen vermischen.“ Hier sehen wir wieder die Wirksamkeit der Differenz zwischen proximaten und ultimaten Faktoren bzw. individueller und kollektiver Ebene in der Beschreibung religiöser Phänomene. 5.4 Die moderne Schule als „Kirche“ der Zivilreligion 266 Auch wenn ich hier im Anschluß an Durkheim einer soziologischen Definition den Vorzug gegeben habe, in der das Religiöse weitgehend mit den sozialen Bindungskräften der Gesellschaft zusammenfällt – und von Unterscheidungen wie Immanenz/Transzendenz, Anbetungsobjekten, Hoffnung auf Weiterleben im Jenseits o.ä. abgesehen habe, weil das alles nur auf bestimmte historische Formen zutrifft – so muss ich doch im Blick auf das subjektive Erleben von Religion (und ihre biografischen Verankerung in Sozialisationsprozessen) eine elementare Unterscheidung hier noch einführen: Das ist die zwischen dem Alltäglichen (Profanen), das immer schon routinemäßig bewältigt wird und insofern keiner religiösen Ressourcen bedarf, und dem Au-

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ßeralltäglichen (Numinosen, Sakralen – bei Girard durch Opferpraxis konstituiert) das mit der Inspiration zur Bewältigung von Krisensituationen versorgt. S. dazu u.a. Oevermann 1995a und 1995b. 267 Gegen die hier (im Anschluss an Luckmann) skizzierte Zurückführung der religiösen Bindungskräfte auf frühkindliche Sozialisation kann eingewandt werden, dass der in den Offenbarungsreligionen vermittelte Glaube über jene primordialen Formen der Vertrauensbildung hinausgeht, die in der menschlichen Natur angelegt und in ontogenetischen Interaktionsprozessen aktualisiert werden. Dass durch die in den Religionen tradierten Glaubensinhalte der Rahmen des sozialen Vertrauens erweitert – vielleicht vertieft, vielleicht aber auch in riskanter Weise überstrapaziert – wird, widerlegt jedoch nicht den grundlegenden Mechanismus. 268 S. dazu die immer noch lehrreichen Ausführungen bei Claessens, 1968, über die Kombination und Substitution von Instinktsteuerung durch Sozialisation. Lehrreich sind diese Ausführungen aber gegen verharmlosenden Bildungsoptimismus, in dem verkannt wird, wie sich immer wieder schwerwiegende Zivilisationsverluste im Generationswechsel ergeben können: „Es sei daran erinnert, daß nach der prinzipiellen Hominisationsleistung, dem Schaffen künstlicher Innenklimata, der kleine Mensch die Hominisationschance »ererbt«: teils bereits phylogenetisch verankert, da er nur im warmen Innenklima von Mutter und Gruppe eine »Frühgeburt« zu sein wagen kann; teils, weil er eben unter »Menschen« geboren wird. Aber mit dem Auftreten auf dieser Welt, mit dem Herauszwängen aus dem künstlichen Innenklima »mütterlicher Leib« und der nicht nur symbolischen Abtrennung von der mütterlichen Versorgung, ist er hinfälliger denn je. Sein Organismus »weiß«, daß er »erwachsen« werden kann; aber er kann es nur, wenn ihm geholfen wird, wenn sein Schreien, der Ausdruck der Nöte der alten Zentren (die ihrerseits die Not des Körpers weitergeben) Menschen, »erfahrene Individuen« zur Hilfe bringt. Das ist bei Freud die Quelle aller moralischen Malice. Aber die Moral liegt tiefer, teils ist sie künstlicher: Tiefer liegt sie, weil der Anspruch eines Lebendigen, erhalten zu werden, unmittelbar an ihm erkennbar ist — das begegnende erwachsene ZNS kann diese neue Situation wahrnehmen. Schon Wölfe lösen sich in Wohngemeinschaften bei der Pflege der »Kinder« ab, während andere für die Gruppe jagen. So ist auch der Anspruch auf emotionale Zuwendung bei Säugern ein unmittelbarer. Die Moral ist in diesem seltenen Fall das direkte Derivat der Notwendigkeit, die Situation ist »normativ« — von Natur aus. So wendet sich in der Regel das weibliche Säugetier, dann der Mensch, dem hilflosen Säugling zu — vor aller Moral. Mit »Moral«, der menschlichen Moral, verhalten sich Menschen dann immer differenzierter. In komplexen Gesellschaften wenden sie sich dem Säugling zu Anfang »untermoralisch«, quasi-tierisch zu; aber gleichzeitig damit bekommt er nun nicht mehr die menschliche Zuwendung, sondern eine Art: eine schichtspezifische Art der Zuwendung: er wird in »seine« Kaste, seinen Stand, seine Klasse, seine Schicht, seine Subkultur hinein erzogen. Wir wissen, daß das für Einige volle Chance zur Humanisierung bedeutet, für andere, in der Regel die Mehrheit, re-


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duzierte Chance. Stellt nun das Ganze der Humanisierungschance den menschlichen »Standard«, den menschlichen Maßstab dar und unterstellen wir, daß die Hemmung der neueren, erkennenden, analysierenden Teile des ZNS doch auch Steuerung der atavistischen Dynamik der älteren Zentren bedeutet, dann ergeben sich für diese zwei Arten von Rache: Erstens: die besonders dynamische Rache für das Vorenthalten des noch tierischen Anspruchs, z. B. der emotionalen Zuwendung. Sie wird sich — das Ausmaß ist noch ununtersucht! — vor allem gegen die Mutter wenden, wird zur Rache am Weiblichen überhaupt werden, erste Quelle von »Sadismus«. Zweitens: die schleichende Rache für das Vorenthalten der vollen Entfaltungschancen. Die erste Rache zu unterbinden oder zu mildern gibt es wenig Chancen. Das tiefe Ungenügen am Mangel an Zuwendung, existentiell werdend in der späteren Erschwerung heterosexueller Partnersuche und beständigen Kontaktes, wird beim menschlichen Individuum nur im seltenen Fall des »hingebungsvoll liebenden« Partners aufhebbar sein — und dann noch weiter in feinen Rachetendenzen wirksam. Hier muß sowieso die fehlerträchtige Ausgangssituation vermieden werden. Die zweite Rache ist die Warnung an den Menschen: die Bedingung seiner Menschwerdung einzulösen, über Hominisation hinaus die Humanisierung aller zu ermöglichen. Das ist vorerst Utopie. Diejenige Zwischenlage der Stabilisierung von Distanz, die »Kultur« genannt wurde und wird, war (und ist) ja so paradox wie der Gebrauch der sie ermöglichenden primären Waffe. Geschichtet, in Subkulturen unterschiedlicher Entfaltungschancen für den Menschen aufgeteilt, ist sie der Teufelskreis selbst: noch und gerade in ihrem Bemühen, die Archaik der alten Zentren unter Kontrolle zu halten, definiert »Kultur« allüberall die ausbrechende Rache, die »Straftat«, als Archaik selbst. Indem sie sie zusätzlich unterdrückt, produziert sie jene »Frustrationen«, jene Behinderungen des prinzipiellen Distanzierungsanspruchs, unter dem sie doch selbst angetreten ist. Sie erzeugt sie und reproduziert sie in der Unterdrückung. Solche »Sanktionen« reproduzieren sich also selbst. Das wurde ein bedeutender Teil der menschlichen »Geschichte«, ist es heute noch.“ (Claessens 1970, 76f.) 269 Hier wäre nun allerdings auch der Ort für eine differenziertere Betrachtung der von Durkheim herausgestellten moralischen Autorität, die von der Gesellschaft durch religiöse Tradition und Erziehung vermittelt wird. S. dazu schon die kritische Anmerkung von Piaget (1973, 113f.): „Zusammenfassend und ohne vorläufig mehr als eine Arbeitshypothese zu suchen, scheint uns die methodologische Schwierigkeit der Durkheimschen These beim Studium der verschiedenen Formen der Achtung folgende zu sein: Durkheim argumentiert, als seien die Alters- und Generationsunterschiede ohne Bedeutung. Er spricht von homogenen Individuen und sucht die Auswirkung der verschiedenen möglichen Typen der Gruppe auf ihr Bewußtsein festzustellen. Alles, was er hierbei entdeckt, ist durchaus richtig, bleibt jedoch unvollständig: es genügt, sich für einen Augenblick eine in Wirklichkeit natürlich unmögliche Gesellschaft vorzustellen, in der alle Individuen das gleiche

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Alter hätten, eine Gesellschaft, die aus einer einzigen, sich ins Unendliche fortsetzenden Generation bestehen würde, um die ungeheure Bedeutung der Alters-Beziehungen und insbesondere der Beziehungen von Erwachsenen zu Kindern zu erkennen. Hätte eine solche Gesellschaft jemals einen zwangmäßigen Konformismus gekannt? Würde sie die Religion oder zumindest die Religionen, die einen transzendenten Glauben voraussetzen, kennen? Würde man bei solchen Gruppen eine einseitige Achtung und ihre Auswirkungen auf das moralische Bewußtsein feststellen können? Wir beschränken uns darauf, diese Fragen zu stellen. Möge man sie jedoch in einem oder anderen Sinne lösen, so gibt es jedenfalls keinen Zweifel, daß man mehr als dies gewöhnlich geschieht, die Zusammenarbeit dem gesellschaftlichen Zwang gegenüberstellen muß, wobei dieser vielleicht nur auf den Druck der Generationen aufeinander zurückzuführen ist, während jene die grundlegendste und für die Ausarbeitung rationaler Normen vielleicht wichtigste, soziale Beziehung darstellt.“ 270 In diesem Sinne formuliert Luckmann (1991): „daß das Transzendieren der Natürlichkeit ein grundlegender religiöser Vorgang ist. Wir können nun hinzufügen, daß Sozialisation, also der Vorgang, in dem solches Transzendieren konkret stattfindet, grundsätzlich einen religiösen Charakter hat. Sozialisation beruht auf den anthropologischen Bedingungen der Religion, der Individuation des Bewußtseins und des Gewissens in gesellschaftlichen Vorgängen, und aktualisiert sich in der subjektiven Aneignung des Sinnzusammenhangs, der einer geschichtlichen Ordnung innewohnt. Diesen Sinnzusammenhang nennen wir eine Weltansicht.“ (S.88) … „Wir haben die Weltansicht als die soziale Grundform der Religion definiert. Diese Definition beruht auf zwei Annahmen, die wir in der vorangegangenen Analyse zu untermauern suchten: Die Weltansicht erfüllt eine wesentlich religiöse Funktion und ist ein Teil der gesellschaftlich objektivierten Wirklichkeit.“ (S.92) Hans Joas hat gegen Luckmanns anthropologische Definition von religiöser Erfahrung (i.S. von jedweder außeralltäglicher, also nicht schon durch Alltagsroutinen erwartbar gemachter Erfahrung) eingewandt, dass sie zu allgemein sei und dagegen sein Konzept der Selbsttranszendenz präsentiert, in der das transzendierende Moment etwa in Formen der Verliebtheit (dann aber wohl auch in Formen der kollektiven Gewalt) aufscheint (Joas 2004). Beiden Autoren geht es um eine Definition religiöser Erfahrungen, die nicht schon durch das tradierte Selbstverständnis der Hochreligionen vorgeprägt ist. In dieser Hinsicht kann jedoch weder das Luckmannsche Konzept des Außeralltäglichen noch das Joassche Konzept der Selbsttranszendenz überzeugen. Wenn man der Durkheimschen Auffassung folgt, kann die religiöse Erfahrung eingeschränkt werden auf die sozialisatorische Verankerung normativ bindender Orientierungen. 271 In der generativen Engführung auf Prozesse der Sozialisation schrumpft die Differenz zwischen religiösen und säkularisierten Weltanschaunngen auf den Unterschied zwischen primär-vorreflexiven, sekundär- (bzw. tertiär-) reflexiven Bildungsprozessen der Individuen. In dieser psychogenetischen Persepktive könnte auch das Problem der Übersetzung zwischen religiösen und säkularisierten Diskursen neu betrachtet werden.


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272 Bekanntlich hat auch Max Weber in den Bildungsdiplomen eine Wiederherstellung von Formen der Monopolisierung gesehen, wie sie in ständischen Formationen bestanden. Es wäre jedoch verkehrt – und würde den darin liegenden Zivilisationsgewinn verkennen – wenn man in der Verknüpfung von Bildungsprozessen und Berufschancen nur eine rückwärtsgewandte Strategie sähe. 273 Nach Harris 2007 ist wichtiger als Elternhaus und Schule die jeweilige Peer-Group, in der die generationsspezifischen Konkurrenzkonflikte ausgetragen werden. 274

ad 6. Zur Virulenz der Religionen

275 Ich stelle im Folgenden auf zwei pathologische Formen der Konfliktverarbeitung in der Moderne ab: die Diffusion von Kriegen auf der Makroebene und die der Fortpflanzungssteuerung auf der Mikroebene. Dies soll nicht als vollständige Beschreibung des Spektrums pathologischer Umformungen des Konfliktexternalsiierungsmechanismus in der Moderne verstanden werden. Eine differenziertere Beschreibung könnte entsprechende Pathologien in allen Funktionssystemen aufdecken – z.B. im Spektrum der Politik die gewaltsame Konstruktion (1. von rechts) äußerer Feinde im Inneren durch Xenophobie, Rassenkampf, (2. von links) innerer Feinde als Äußeres durch Klassenkampf, (3. von der Mitte) innerer Feinde im Inneren durch Kriminalisierung. 276 Zur Konfliktverschärfung durch Religion unter den Bedingungen der Globalisierung ausführlich Lübbe 2005, 165-202. 6.1 Krieg und Frieden 277 In diesem Sinne Nowak 2011, (s. ... Kap.4): „A study by Sam Bowles of the Santa Fe Institute in New Mexico suggested that genetic differences between early human groups may indeed have been significant enough to account for the evolution of cooperation through lethal competition. Although there were few people in the late Pleistocene, 10,000 to 150,000 years ago, Bowles suggests that climatic sivings at that time may have pushed onceisolated bands of hunter-gatherers into more frequent encounters. These encounters would have raised the possibility of conflict. When the threat of being wiped out by a rival group is sufficiently high, the costs incurred by individuals who make sacrifices for the good of the group can be offset by the increasing likelihood of survival of that group, including fellow cooperators. To assess whether or not people with a genetic predisposition to cooperation could flourish through conflicts, Bowles took data on the lethality of ancient warfare and plugged them into a basic evolutionary model. The model pitted groups with genes for altruistic behavior against groups without. Without war, a gene imposing a self-sacrificial cost of a few percent in terms of lost reproduction would disappear from most of the population in 150 generations. However, he found that much higher levels of self-sacrifice could be sustained if warfare was brought into the equation. Overall, Bowles found that in many populations and for many plausible values of parameters "even very infrequent contests would have been sufficient to spread quite costly forms of altruism." In this way, he found support for the

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paradoxical theory that much of human virtue was forged and hardened in the crucible of war.“ 278 So die (z.T. eingangs schon zit.) Formulierung des Soziobiologen Wilson: „Part of man's problem is that his intergroup responses are still crude and primitive, and inadequate for the extended extraterritorial relationships that civilization has thrust upon him. The unhappy result is what Garrett Hardin (1972) has defined as tribalism in the modern sense: Any group of people that perceives itself as a distinct group, and which is so perceived by the outside world, may be called a tribe. The group might be a race, as ordinarily defined, but it need not be; it can just as well be a religious sect, a political group, or an occupational group. The essential characteristic of a tribe is that it should follow a double standard of morality—one kind of behavior for in-group relations, another for out-group. It is one of the unfortunate and inescapable characteristics of tribalism that it eventually evokes counter-tribalism (or, to use a different figure of speech, it "polarizes" society).

Fearful of the hostile groups around them, the "tribe" refuses to concede to the common good. It is less likely to voluntarily curb its own population growth. Like the Sinhalese and Tamils of Ceylon, competitors may even race to outbreed each other. Resources are sequestered. Justice and liberty decline. Increases in real and imag¬ined threats congeal the sense of group identity and mobilize the tribal members. Xenophobia becomes a political virtue. The treatment of nonconformists within the group grows harsher. History is replete with the escalation of this process to the point that the society breaks down or goes to war. No nation has been completely immune.“ Wilson 1975, 565. 279 Die Bezeichnung des globalen Netzwerks der modernen Gesellschaft als „Weltinnenraum“ stammt von Sloterdijk (Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005). Er misst der Religion jedoch keine wesentliche Bedeutung bei der Konstitution sozialer Binnenräume zu, sondern reduziert ihre historische Funktion auf Elitenbildung (Sloterdijk 2009). 280 Kippenberg S. 98f: „Um heutige Typen religiösen Gewalthandelns zu verstehen, muss man mit den zeitgenössischen Formen religiöser Gemeinschaftlichkeit beginnen. Neben den vertrauten Sozialformen von Synagoge, Kirche, Moschee sind regionale, nationale oder auch transnationale Netzwerke entstanden, die eine eigene Sozialform von Religion darstellen. … Besonders massiv haben sich solche Netzwerke in Weltteilen verbreitet, in denen der Sozialstaat schwach oder gar nicht ausgebildet ist, staatliche Ordnungen in Krisen und Kriegen zerbrechen, und eine fortschreitende Ausbrei-tung von Marktwirtschaft zu einer Individualisierung der Risiken des Lebens führt. Wo weder der Staat noch herkömmliche Loyalitäten dem Einzelnen Sicherheiten in Notlagen bieten, werden schwächelnde familiäre, nachbarschaftliche, lokale, tribale, sprachliche und nationale Loyalitäten von dem religiösen Sozialkapital dieser Brüderlichkeitsethik aufgesogen und wird die Brüderlichkeitsethik zu einem Motor der Schaffung sozialer Institutionen. 281 s. Scott Appleby 2000, 17f 282 S. dazu W.L.Schneiders systemtheoretisches ParasitenKonzept. 283 Kippenberg weist darauf hin, dass der Mechanismus der Externalisierung Bestandteil der Pop-Kultur darstellt, die sich über lange Zeiträume in den USA herausgebildet hat


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und laufend regeneriert. Der alles durchdringende Dualismus von Gut und Böse wird in Hollywood-Filmen, Comics und Science-Fiction-Romanen reproduziert und erzeugt entsprechende Ansichten über die gegenwärtige Geschichte und Politik. Kippenberg S. 160 (s. Eingangszitat zu Kap. 6) 284 Dass Religion hinsichtlich der Konfliktverarbeitung auch als eine Technik der Verhaltenssteuerung aufgefasst werden kann, demonstriert Jessica Stern (2003) in ihrem Buch über Terror im Namen Gottes: „Das Schreiben dieses Buchs hat mir geholfen zu verstehen, daß Religion eine Art von Technologie ist. Sie ist schrecklich verführerisch in ihrer Fähigkeit, zu beruhigen und zu erklären, aber sie ist auch gefährlich.“ 285 Vgl. Münkler 2002, Schäfer, 2004. 286 „Bruchlinienkriege teilen mit anderen Kriegen zwischen Ge¬meinschaften die lange Dauer, das hohe Maß an Gewalt und die ideologische Ambivalenz, unterscheiden sich von ihnen jedoch in zwei Dingen. Erstens können Kriege zwischen Gemeinschaften ethnische, religiöse, rassische oder sprachliche Gruppen betref¬fen. Bruchlinienkriege finden dagegen fast immer zwischen Menschen unterschiedlicher Religion statt, da die Religion das Hauptunterscheidungsmerkmal von Kulturen ist. Manche Ana¬lytiker spielen die Bedeutsamkeit dieses Faktors herunter. Sie verweisen zum Beispiel auf die gemeinsame Ethnizität und Spra¬che, das frühere friedliche Zusammenleben und die häufigen Mischehen zwischen Serben und Muslimen in Bosnien und tun den religiösen Faktor unter Hinweis auf Freuds »Narzißmus der kleinen Unterschiede« ab. Dieses Urteil beruht jedoch auf laizistischer Verblendung. Die Menschheitsgeschichte zeigt seit Jahr¬tausenden, daß Religion kein »kleiner Unterschied« ist, sondern vielmehr der wahrscheinlich tiefgreifendste Unterschied, den es zwischen Menschen geben kann. Häufigkeit, Heftigkeit und Ge¬walttätigkeit von Bruchlinienkriegen werden durch den Glauben an verschiedene Gottheiten stark gesteigert. Zweitens: Andere Kriege zwischen Gemeinschaften sind ten¬denziell partikularistisch, weshalb es relativ unwahrscheinlich ist, daß sie sich ausbreiten und Außenstehende hineingezogen werden. Bruchlinienkriege sind dagegen per definitionem Kriege zwischen Gruppen, die Teil größerer kultureller Einheiten sind.“ Huntington 1998, 412 287 Dazu Wade 2010, 233-252: „Religion and Warfare“ 288 S. nur zuletzt in den postjugoslawischen Kriegen. An dieser Stelle ist evtl. einschränkend zu sagen, dass die sog. Weltreligionen sich zumindest offiziell aus ethnischnationalen Konflikten heraushalten. Dies gilt jedoch dann nicht mehr, wenn zentrale Glaubensinhalte mitbetroffen sind. S. die offene Parteinahme der katholischen Kirche für die Wahl des abtreibungsfeindlichen Präsident Bush, während dieser den offiziell von der Kirche abgelehnten IrakKrieg führte. 289 S. die mißlungenen Versuche, den Bezug auf christliche Religion in die Verfassung der Europäischen Gemeinschaft zu verankern, und die peinliche Konstruktion einer christlich-jüdischen Leitkultur zur Lösung deutscher Integrationsprobleme. 290 Dazu s. Kippenberg 2008 mit acht Fallstudien über neue Formen religiös legitimierter Gewalt. Demnach „haben im Zeitalter der Globalisierung Wachstum und Ausdifferenzierung des zivilgesellschaftlichen Sektors den Religionsge-

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meinschaften neue Institutionalisierungsformen ermöglicht. Wo religiöse Gemeinschaften sich der moralischen Autonomie des westlichen Individualismus widerset-zen, geht die Tendenz in Richtung territorialer Segregation sowie transnationaler Vernetzung. Die entstehenden kulturellen Enklaven und Diasporagemeinden können in Konflikt geraten mit nationalstaatlicher Integration und einen neuen Typus sozialer Macht bilden.“ Kippenberg S.47 - Resümee S.198ff: „Um heutige Typen religiösen Gewalthandelns zu verstehen, muss man mit den zeitgenössischen Formen religiöser Gemeinschaftlichkeit beginnen. Neben den vertrauten Sozialformen von Synagoge, Kirche, Moschee sind regionale, nationale oder auch transnationale Netzwerke entstanden, die eine eigene Sozialform von Religion darstellen. Bestehende Rechtsformen erlauben es Laien, religiöse Vereinigungen unabhängig von staatlichen Privilegien, aber unabhängig auch von traditionellen religiösen Autoritäten zu gründen. In diesen religiösen Netzwerken werden aktuelle Probleme, drängende Sorgen, demütigende Erfahrungen und hochgespannte Erwartungen der Religionsangehörigen zum Thema gemacht und gehen mit ihren Glaubensanschauungen und -praktiken eine Verbindung ein. Besonders massiv haben sich solche Netzwerke in Weltteilen verbreitet, in denen der Sozialstaat schwach oder gar nicht ausgebildet ist, staatliche Ordnungen in Krisen und Kriegen zerbrechen, und eine fortschreitende Ausbreitung von Marktwirtschaft zu einer Individualisierung der Risiken des Lebens führt. Wo weder der Staat noch herkömmliche Loyalitäten dem Einzelnen Sicherheiten in Notlagen bieten, werden schwächelnde familiäre, nachbarschaftliche, lokale, tribale, sprachliche und nationale Loyalitäten von dem religiösen Sozialkapital dieser Brüderlichkeitsethik aufgesogen und wird die Brüderlichkeitsethik zu einem Motor der Schaffung sozialer Institutionen. Während früher die Ausübung religiöser Handlungen in bestehende Loyalitäten eingebettet war, so werden jetzt Stimmen moderner religiöser Autoritäten laut, es sei Sache des Einzelnen, zu entscheiden, das religiös Richtige auch zu tun. Das lässt sich besonders klar an der Absicht, für eine Gemeinschaft zu töten oder zu sterben, ablesen. Wenn Menschen sich entscheiden, so zu handeln, ist es die religiöse Gemeinschaft, die diese Handlung billigen und für die Folgen mit einstehen muss. Hier liegt der Antrieb für eine Idealisierung des Märtyrers und die Bildung solidaritätsverbürgender Institutionen. Die neuen Formen praktizierter gewalttätiger Religiosität sind daher nach innen innovativ wie nach außen hierarchisch: Sie lösen sich von tradierten Modalitäten und Restriktionen, bedürfen aber der Legitimierung durch die religiöse Gemeinschaft und ihre heutigen Autoritäten. So kommt das Paradox zustande, dass mit der Individualisierung religiöser Praxis die Macht religiöser Gemeinschaften zunehmen kann.“ 291 Dazu Pinker 2003 (Kap. 17 über Gewalt – im Anschluss an die Studie von Nisbett/Cohen, Cultur of Honor): „Kulturen der Ehre gibt es überall auf der Erde, weil sie universelle menschliche Emotionen wie Stolz, Wut, Rache und die Liebe zu Freunden und Verwandten verstärken und weil sie offenbar immer dann entstehen, wenn sie eine sinnvolle Reaktion auf lokale Verhältnisse darstellen. Tatsächlich sind die Emotionen selbst uns zutiefst vertraut, selbst wenn sie sich nicht in Form von Gewalt Luft machen, sondern


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nur in rowdyhaftem Verkehrsverhalten, Mobbing, politischen Schlammschlachten, akademischen Intrigen und bösartigen E-Mail-Kriegen.“ (2003, …) 292 Ein typisches Beispiel für die Fortdauer religiöser Konflikteexternalisierungsmuster in der Moderne ist in der Interpretation interner Abweichungsprobleme als Folge externer Einflussnahme zu sehen. Dazu Roy am Beispiel des Islamismus: „Die Ulemas führen das Neuheidentum im Islam auf den westlichen Einfluss zurück. Dies macht es möglich, in einem Zug alle Abweichungen zu externalisieren, indem man sie zu ausländischen Importen deklariert, was sich an den Prozessen gegen Homosexuelle in Kairo 2001 zeigte, den bereits erwähnten Erklärungen von Ahmadinedschad, wonach es im Iran keine Homosexuellen gibt, und der regelmäßigen Anprangerung des Satanismus in der arabischen Presse. Hier wie bei der Sexualität bewirkt die herrschende Orthopraxie einen relativen Konsens über diese Themen und beugt der Spaltung zwischen Religiösen und Laizisten vor. Aber wie wir bei der Affäre von Ksar el-Kebir gesehen haben, handelt es sich durchaus um einen Prozess der Dekulturation: Alles, was nicht zur expliziten religiösen Norm gehört, wird als nicht mit der »authentischen« Kultur übereinstimmend betrachtet. Die Krise des Glaubens wird auf den wachsenden Einfluss des Westens zurückgeführt. Das geht so weit, dass die Verteidigung der Religion zur Verteidigung der kulturellen Identität, einer »Authentizität«, umgedeutet wird, die von der Komplexität der realen Kultur abgeschnitten ist. Das Wort Kultur bezeichnet, wie häufig im zeitgenössischen Islam, nicht einen Aspekt der Religion, sondern die Religion ist die Kultur: Eine areligiöse Kultur wäre undenkbar.“ Roy 2010, 190. 293 Vor diesem Hintergrund ist die Debatte über Huntingtons Thesen vom Zusammenprall der Kulturen zu verstehen, die in der Gefahr stehen, zur selffulfilling prophecy zu werden. Kippenberg hat zu Recht darauf hingewiesen, dass schon die Bezeichnung Terrorist zum Teil einer religiös unterlegten Kriegsführung werden kann. Im übrigen gibt es ja auch mehr oder weniger verdeckte Formen der Instrumentalisierung dieser Formen zur Machtsteigerung der Staaten. Die prominentesten Beispiele bilden die zunächst von den USA geförderten Taliban und die zunächst von Israel geförderte Hamas. 294 Dazu eher skeptisch, Kippenberg 2008, zusammenfassend 206ff. - Nach Beck, 2008, geht es „heute in der Späten Neuzeit nicht mehr wie in der Frühen Neuzeit um die Frage: Wie können die Religionskriege innerhalb des Christentums (Katholizismus und Protestantismus) verhindert werden?, sondern um die Frage: Wie können die weltgesellschaftlichen Konfliktpotentiale zwischen den monotheistischen Weltreligionen zivilisiert werden? Dafür bietet der nationale Rechtsstaat mit der Quarantäne Gottes vielleicht Denkanstöße, aber weil er Nationalstaat und nicht Weltstaat ist, keine Antwort.“ 6.2 Sexualität und Fortpflanzung 295 Die traditionelle Form der Geschlechtsrollen im soziokulturellen Gehäuse nach dem vielzitierten „Lied von der Glocke“ von Schiller, 1799: „Der Mann muß hinaus Ins feindliche Leben, …

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Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus. Und drinnen waltet Die züchtige Hausfrau, Die Mutter der Kinder, …“ [Kursiv-Hervorhebung kg] 296 In keiner anderen Hinsicht demonstrieren die tradionellen Religionsgemeinschaften soviel ökumenische Übereinstimmung: „Im laizistischen Frankreich ist die Nachricht eine Sensation: In der Region Lyon protestieren die Oberhäupter nahezu aller größeren Religionsgemeinschaften gegen die Absicht der sozialistischen Präsidentschaftskandidatin Royal, Homosexuellen die Eheschließung zu ermöglichen und ihnen das Adoptionsrecht zu geben. Muslime und Katholiken, Orthodoxe und Anglikaner, Juden und Baptisten eint indes nicht die Opposition gegen eine bestimmte Partei. Ob Kardinal, Imam oder Großrabbiner - alle sind sie nur Interpreten der identitätsstiftenden und -verbürgenden "großen" Erzählungen der monotheistischen Weltreligionen. Als solche haben sie nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, gegen die Zerstörung der Ehe als Bund von Mann und Frau durch den Staat einzutreten. Dass sie dies gemeinsam tun, ist ein Zeichen, das weit über Frankreich hinausgeht. Mögen die Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften in vielen Teilen der Welt zuletzt nicht geringer geworden sein, so ist der Konsens in fundamentalen ethischen Fragen erhalten geblieben - ebenso wie das gemeinsame Misstrauen gegenüber dem permissiven Zeitgeist.“ So Daniel Deckers in der F.A.Z., 08.02.2007 S, 8 „Die Rechte von Frauen und Homosexuellen spielen somit eine Schlüsselrolle bei der Neudefinition religiöser Marker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Kluft verläuft zwischen denjenigen, die, selbst im Rückzugsgefecht befindlich, die neuen religiösen Paradigmen aufnehmen, und jenen, die das Religiöse neu definieren, indem sie religiöse Marker in den Vordergrund rücken, bei denen es ausdrücklich um den Bruch mit einer nunmehr als heidnisch erlebten Kultur geht.“ Roy 2010, 178ff. 297 Hier evtl. noch Ausf. zum Begriff der Lebenswelt i.A an phänomenologische Soziologie, Schütz, s. auch Blumenberg. 298 Wenn man die Steigerung der Fortpflanzungsrate – Vermehrung der Population – als ein ultimates Ziel der natürlichen Evolution betrachtet, dann handelt es sich bei der dichotomischen Ausprägung von innengerichteter Friedlichkeit (Lebensschutz) und außengerichteter Feindlichkeit (Vernichtung der Konkurrenten) um proximate Mechanismen, die als solche kulturell (und schon in den natürlichen Sozialsystemen) modifiziert werden können. Dies ist in gesteigertem Maße dann in den religionsgestützten Hochkulturen zu beobachten, die ihre Ausbreitung stets auch mit einem demograpgischen Wachtumsprogramm verbunden haben. Dazu Burkert, 1998 S… „Bis heute ist die römisch-katholische Kirche mit dem Islam einig in der starren Opposition gegen Geburtenkontrolle. Sind es die selbstsüchtigen Gene', die durch die Gebote von Moses und Allah am Werke sind? Der Sonderweg der Juden hatte zur Folge, daß sie allein unter vielen verschleppten Völkerschaften die Katastrophe der ,Babylonischen Gefangenschaft' ohne Identitätsverlust überstanden; dabei kam zu dem unbedingten Assimilationsverbot, das auch Mischehen


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ausschloß, auch zugleich das strikte Verbot all jener Institutionen, die bei allen anderen der längst als notwendig erkannten Geburtenkontrolle dienten, Kinderaussetzung, Prostitution und Homosexualität. Die Religion der Juden beinhaltet insofern ein soziobiologisches Programm. Seit dem Hellenismus gab es eine jüdische Bevölkerungsexplosion, die zur Ausbreitung über den Mittelmeerraum und weiter nach Osten führte. Indem die Christen die jüdischen Moralgebote übernahmen, war auch ihr überproportionales Wachstum in der spätantiken Gesellschaft programmiert.“ 299 Hinweis auf das „zentrale Erklärungsproblem der Soziobiologie“ nach Vining 1986 – s. dazu auch die Ausführungen bei Mersch 2010. 300 Um einen funktionalistischen Fehlschluss zu vemeiden, müsste allerdings auch gezeigt werden, durch welche selektiven Prozesse es zu dieser adaptiven Lösung kommen konnte. 301 In der hebräischen Bibel sagt Gott im 1. Buch Mose 1,28 bekanntlich als Erstes zu Adam und Eva: »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch Untertan ...<< Zur Förderung demographischer Expansion durch religiöse Vorschriften zusammenfassend Wade Kap.9 302 S. Blume 2008, Blume/Vaas 2009 303 Die Soziobiologie hält dagegen: „Sexual behavior has been largely dissociated from the act of fertilization. It is ironic that religionists who forbid sexual activity except for purposes of procreation should do so on the basis of ‘natural law’. Theirs is a misguided effort in comparative ethology, based on the incorrect assumption that in reproduction man is essentially like other animals.” Wilson 1975, 554. 304 S. Heinsohn 2003 mit der These vom „Youth Bulge“ – s. dazu auch schon Huntington 1998 421ff. Diese demographische Erklärung für die Entstehung und Austragung sozialer Konflikte ist mit einer evolutionstheoretischen Persepektive gut vereinbar. Die Youth Bulge – These ist jedoch insofern eine weiche These, als sie offenlässt, welche Mechanismen dazu führen, dass das Konfliktpotenzial in Formen steigender Gewaltkriminalität oder in gewaltsamen Kämpfen um die politische Macht im Inneren oder in Eroberungskriegen im Äußeren ausgetragen wird. 305 Auch die vieldiskutierten Demographie-Thesen von Sarrazin folgen noch diesem Muster der Austragung von Konkurrenzkonflikten zwischen kulturellen Populationen wenn auch im Unterschied zum traditionellen Muster der Akzent von der quantitativen auf die qualitative Seite verlagert ist. Die Kehrseite ist der zunehmende internationale Konkurrenzkampf um „die besten Köpfe“ (s. Heinsohn, FAZ 3.11.2010). Ohne eine übergeordnete Instanz der Regulierung drohen neue Formen des Kopfjägertums und der wechselseitigen Kannibalisierung. 306 Hinweis auf die Ergebnisse der Wertwandelsstudien von Norris/Inglehart 2003, wonach sich die weltweit stärkste Divergenz der Wertorientierungen nicht wie bei Huntington unterstellt im Bezug auf die politische Ordnung sondern in den Einstellungen zu Sexualität und Geschlechtsrollen (inkl. Homosexualität, Abtreibung) ergeben. 307 Hier wäre evtl. noch anzuführen, dass die kulturelle Gruppenevolution bereits in Stammesgesellschaften – anders als es ein simples Modell der Evolution mit Fortpflanzungserfolg als einzigem Kriterium unterstellt – Mecha-

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nismen der Senkung der Fertilitätsrate in Abhängigkeit von den Reproduktionsbedingungen der jeweiligen Population hervorbrachte. 308 Einschränkend wäre hier anzumerken, dass die weltweit zu beobachtende Senkung der Geburtenraten natürlich nicht allein aus dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen zu erklären ist. Als wichtigste Bedingung muss hier die Wiedereinführung von Konkurrenz auf der Mikroebene angeführt werden. Der Wettbewerb der Individuen beiderlei Geschlechts auf den Arbeitsmärkten kollidiert zunehmend mit der Bereitschaft zur Nachwuchsbetreuung. Dies kann auch durch staatliche Betreuungseinrichtungen nicht ausgeglichen werden. 309 Dazu noch einmal zusammenfassend Pinker im Schlußkapitel seiner Geschichte der Gewalt (2011): „Auf der ganzen Welt erlaubte der Glaube an Übernatürliches die Opferung von Menschen zur Besänftigung blutrünstiger Götter und den Mord an Hexen wegen ihrer boshaften Kräfte (Kapitel 4). Die heiligen Schriften zeichnen einen Gott, der Spaß an Völkermord, Vergewaltigung, Sklaverei und der Hinrichtung von Nonkonformisten hat, und über Jahrtausende hinweg dienten diese Schriften als Begründung für Massaker an Ungläubigen, Eigentum an Frauen, Schläge für Kinder, das Eigentumsrecht an Tieren sowie die Verfolgung von Ketzern und Homosexuellen (Kapitel 1, 4 und 7). Humanitäre Reformen wie die Beseitigung grausamer Bestrafungen, die Verbreitung Mitgefühl erregender Romane und die Abschaffung der Sklaverei stießen zu ihrer Zeit auf den energischen Widerstand der kirchlichen Behörden und ihrer Vertreter (Kapitel 4). Die Erhebung engstirniger Wertvorstellungen in den Status des Heiligen ist ein Freibrief zur Missachtung der Interessen anderer Menschen und zwingt dazu, die Möglichkeit von Kompromissen zu leugnen (Kapitel 9). Sie stachelte die Konfliktparteien in den europäischen Religionskriegen auf, der zweitblutigsten Phase der modernen abendländischen Geschichte, und erzürnt noch heute die Konfliktparteien im Nahen Osten sowie in Teilen der islamischen Welt. Die Theorie von der Religion als Kraft des Friedens, die man heute häufig von der religiösen Rechten und ihren Verbündeten hört, passt nicht zu den historischen Tatsachen. ... Religion spielt in der Geschichte der Gewalt keine einzigartige Rolle, weil Religion nirgendwo in der Geschichte jemals eine einzigartige Rolle gespielt hat. Die gewaltige Menge von Strömungen, die wir Religionen nennen, haben abgesehen von ihrem Unterschied zu säkularen Institutionen, die erst vor relativ kurzer Zeit auf der Bildfläche erschienen, kaum etwas gemeinsam. Und die Überzeugungen und Praktiken der Religionen sind allen Ansprüchen auf göttliche Herkunft zum Trotz innere Angelegenheiten der Menschen, die auf geistige und gesellschaftliche Strömungen reagieren. ... Erst wenn fundamentalistische Kräfte sich solchen Strömungen entgegenstellen und den Menschen stammesbezogene, autoritäre und puritanische Beschränkungen auferlegen, wird Religion zu einer Kraft der Gewalt. (1004f) ... Dass wir der zerstörerischen Konkurrenz entkommen, ist also kein kosmisches, wohl aber ein menschliches Ziel. Religionsvertreter behaupteten lange, ohne göttliche Anordnungen könne Moral außerhalb unserer selbst keine Grundlage haben. Menschen könnten nur egoistische Interessen


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verfolgen, die vielleicht durch Geschmack oder Mode abgewandelt werden, sie seien aber zu einem Leben des Relativismus und Nihilismus verurteilt. Jetzt können wir erkennen, warum eine solche Argumentation falsch ist. Die Entdeckung irdischer Wege, auf denen Menschen gedeihen können, darunter auch Strategien zur Überwindung der Tragödie des Reizes, der der Aggression innewohnt, sollte für alle ein ausreichendes Ziel sein. Es ist ein edleres Ziel als die Mitgliedschaft in einem himmlischen Chor, die Verschmelzung mit einem kosmischen Geist oder die Wiedergeburt als höhere Lebensform, denn dieses Ziel wird nicht willkürlichen Gruppen durch Charisma, Tradition oder Gewalt übergestülpt, sondern man kann es gegenüber jedem anderen denkenden Menschen rechtfertigen. Und die in diesem Buch dargelegten Daten zeigen, dass es ein Ziel ist, bei dem man Fortschritte machen kann - zögernde und unvollständige Fortschritte zwar, aber unverkennbare Fortschritte zweifellos.“ (1033)

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