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Klaus Gilgenmann (Osnabrück)

Konkurrenzkonflikte – der vergessene Grund soziologischer Differenzierungstheorie Entwurf eines Beitrags zur Arbeitstagung der Sektion Soziologische Theorie über »Gründungsszenen soziologischer Theorie« im Hanse-Wissenschafts-Kolleg, Delmenhorst 27. / 28.Januar 2012 Stand des Skripentwurfs 24. Juni 2012 mit ergänzenden Anmerkungen und Materialien

Zusammenfassung: Soziale Differenzierung - in der soziologischen Theorietradition ursprünglich als Lösung von Ordnungsproblemen der Gesellschaft beschrieben - erscheint heute in vielen Zeitdiagnosen eher als ihr Problem. Der Grund dafür – so die hier vertretene These – ist darin zu erkennen, dass die Entwicklung der modernen Gesellschaft nicht durch eine dominante Differenzierungsform, sondern durch eine Konkurrenz der Differenzierungsformen bestimmt ist. Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, ist die Verbindung soziologischer Differenzierungstheorie mit der Darwinschen Evolutionstheorie wiederherzustellen, die im mainstream der Soziologie weitgehend unterbrochen ist. Die bei den Gründern der Soziologie vertretene Auffassung von Differenzierung als Lösung sozialer Ordnungsprobleme ist in evolutionstheoretischer Perspektive zu ergänzen durch die Einsicht in Prozesse und Formen der Verlagerung von Konkurrenzkonflikten auf jeweils höhere Ebenen, die in der modernen Gesellschaft als Weltgesellschaft in einer Konkurrenz der Differenzierungsformen resultieren.

1. Gründungsszenen Dass menschliche Gesellschaften in sich differenzierte (also immer schon strukturierte) Einheiten sind, wird in der soziologischen Theorietradition nicht selbst zum Gegenstand der Erklärung gemacht, sondern als Gegebenheit vorausgesetzt. Die Frage nach den Ursachen sozialer Differenzierung wird in den Bereich der Ursprungslegenden verwiesen, die sich wissenschaftlicher Überprüfung entziehen. Gleichwohl sind solche Legenden und Bilder in der vorsoziologischen Tradition europäischer Sozialtheorien vielfältig vorhanden und bis heute in der Deutung sozialer Phänomene wirksam.1 Dass der Mensch des Menschen Wolf sei2 und es deshalb staatlicher Gewalt bedürfe, um ihn zu zähmen, ist eine der am meisten zitierten Gründungslegenden3 in der europäischen Sozialtheorietradition.4 Sie ist wahrscheinlich auch eine der am häufigsten zurückgewiesenen Beschreibungen5, denn sie widerspricht unseren intuitiven Vorstellungen vom Altruis1 mus als natürlicher Grundlage der menschlichen Sozialität. Beliebter ist in dieser Hinsicht die Organismus-Analogie, die ein friedlich geordnetes Bild vom sozialen Zusammenleben entwirft.6 Sie ist allerdings in den Sozialwissenschaften in Verruf geraten, weil sie im Verdacht steht, soziale Ungleichheiten durch deren Naturalisierung zu legitimieren. Weniger anstößig ist die Haus-Analogie, die ein (technikfreundliches) Bild von der Gesellschaft als Schutzraum gegenüber der (natürlichen und sozialen) Umwelt entwirft.7 Sie ist auch besonders ausbaufähig, denn so ein Haus kann verschiedene Stockwerke und Zimmer haben, in denen man sich auch vor internem Druck8 schützen kann.9 Die Hobbessche Gründungsszene vom Menschen, der des Menschen Wolf ist (oder vom Krieg aller gegen alle) kann als eine empirische Szene betrachtet werden, denn der biographische Hintergrund ist im Falle von Hobbes vielfältig belegt.10 Sie ist auch als eine analytische Szene angelegt: als abstrahie1 Ein in diesem Sinne konträr angelegter Beitrag könnte lauten: »Kooperation – der intuitiv bevorzugte Grund soziologischer Theoriebildung«. Als Beispiel für die narrative Suggestivkraft vermeintlich gesicherter empirischer Ausgangsannahmen ist auf die im Februar 2013 stattfindende Tagung über „Michael Tomasellos Arbeiten als Grundlage soziologischer Theoriebildung“ hinzuweisen. Wenn Tomasello recht hätte (aber viele Primatenforscher äußern Zweifel an seinen Ergebnissen), dann könnte die soziologische Theoriebildung beruhigt ihrem langfristigen Trend folgen und von Konflikt auf Kooperation schwenken. Die intuitive Präferenz für Kooperation hat jedoch erkennbare Nachteile: Wenn Koooperationsbereitschaft die alleinige anthropologische Ausgangsannahme ist, kann Konflikt nur noch als sozial erzeugte Abweichung behandelt werden. Nur wenn Konfliktbereitschaft anthropologisch der gleiche Rang eingeräumt wird, kann Kooperation als eine Leistung sozialer Systembildung erklärt werden.

rende Formel, die darauf zielt, unseren Blick auf einen grundlegenden sozialen Zustand auszurichten, und sie ist zugleich eine evaluative Szene, denn dieser Zustand soll ja überwunden werden. In allen drei Dimensionen dieser auf der Konkurrenz und Konflikt basierenden Gründungsszene lässt sich die Verbindung herstellen zwischen den Glaubenskriegen, die Hobbes zu seiner Zeit beindruckten, und den globalen Glaubenskriegen, die uns heute beeindrucken.11 2. Konkurrenz und Konflikt12 Welche Intuition in Bezug auf den Charakter der menschlichen Sozialität (im allgemeinen und der modernen Gesellschaft im besonderen) steckt hinter diesen Bildern? Gibt es ein gemeinsames Moment darin, das theoretische Reflexion ertragen und expliziert werden kann?13 Eine solche Reflexion ist in der soziologischen Theorietradition durchaus angestellt worden. Ich zitiere eine Passage von Durkheim: „Wenn sich die Arbeit in dem Maß mehr teilt, in dem die Gesellschaften umfangreicher und dichter werden, dann nicht darum, weil die äußeren Umstände mannigfaltiger sind, sondern weil der Kampf um das Leben heißer ist. – Darwin hat zu Recht bemerkt, daß die Konkurrenz zwischen zwei Organismen um so heftiger ist, je ähnlicher sie einander sind. Da sie die gleichen Bedürfnisse haben und die gleichen Ziele verfolgen, rivalisieren sie überall. ... Erhöht sich ... ihre Zahl in einem Ausmaß, daß der Hunger nicht mehr genügend gestillt werden kann, dann bricht der Krieg aus, und er ist um so heftiger, als der Mangel größer ist, d. h. je größer die Zahl der Konkurrenten ist. Ganz anders ist es dagegen, wenn die Individuen, die zusammenleben, verschiedenen Gattungen oder Arten angehören. ... Die Konfliktangelegenheiten vermindern sich ... mit den Gelegenheiten, sich zu begegnen, und das umso mehr, je weiter die Gattungen oder Arten voreinander entfernt sind..“ (Durkheim 1977, 306f.)14 Vergleichbare Passagen sind in den Werken von Spencer, Tarde, Simmel, Weber, Elias, Parsons, Luhmann u.a. zu finden.15 Es geht darin immer um Konkurrenzkonflikte2 und 2 Mit der Rede von „Konkurrenzkonflikten“ soll nicht gesagt werden, dass es um eine besondere Art von Konflikten geht (also weder nur um solche, die direkt zwischen zwei Akteuren ausgetragen werden, noch nur um solche, die indirekt über Märkte und Publika ausgetragen werden). Es geht auch nicht um die Unterscheidung zwischen „echten“ und „unechten“ Konflikten (Coser 1965). In evolutionstheoretischer Perspektive ist zu erkennen, dass in allen sozialen Konflikten eine Konkurrenz um knappe (wenn auch keineswegs immer nur materiell, sondern auch symbolisch verknappte) Ressourcen ausgetragen wird. Mit der um den Konkurrenzaspekt erweiterten Bezeichnung soll an die evolutionären Voraussetzungen erinnert werden, die nicht nur in der soziologischen Differenzierungstheorie, sondern auch in der Tradition soziologischer Konflikttheorie in Vergessenheit geraten sind (vgl. Bonacker 2008).


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deren Zunahme im Zuge der äußeren Ausdehnung16 und internen Verdichtung menschlicher Sozialsysteme.17 Soziologische Differenzierungstheorie war ursprünglich Konfliktverarbeitungstheorie18 und konnte damit (lose) an die Darwin3 sche Evolutionstheorie anknüpfen. 19 3. Evolution und Differenzierung Soziale Differenzierung ist in der älteren Theorietradition stets als ein Teil der Lösung für Ordnungsprobleme der Ge4 sellschaft betrachtet worden. Heute erscheint sie in vielen zeitgenössischen Diagnosen selbst als Problem.5 Wie konnte es dazu kommen?20 Die Verbindung zwischen der Darwinschen Evolutionstheorie und der soziologischen Differenzierungstheorie ist durch den (irreführend als „Sozialdarwinismus“ bezeichneten21) Mißbrauch der Darwinschen Theorie in der Politik22 einerseits und durch die molekularbiologische Verengung des Neodarwinismus andererseits weitgehend unterbrochen worden.23 Im mainstream der Soziologie ist soziale Differenzierung nur (noch) explanans24 und nicht explanandum.25 Wenn man hingegen die Verschiedenheit und den Wandel sozialer Differenzierungsformen selbst zum Gegenstand der Erklärung macht (also nicht nur deskriptiv einführt, um Phänomene der gegenwärtigen Gesellschaft zu erklären6) liegt der erneute Rekurs auf evolutionstheoretische Modelle nahe.26 3

Das neue Phänomen, um dessen Erklärung es hier geht, ist die Konkurrenz evoluierter Differenzierungsformen in der Moderne. Die evolutionstheoretische Erklärung umfasst fünf Schritte (aber für die Entfaltung der Schritte 3 und 4 ist hier nicht genügend Platz). 1. Gruppenselektion als tief in der Naturgeschichte verankertes Errungenschaft, die die Verlagerung von Konkurrenzkonflikten von der Ebene der Individuen auf die Ebene ihrer Sozialsysteme (ingroup/outgroup-Verhalten) erklärt. 2. Symbolsprachliche Kommunikation, die die besonderen Formen menschlicher Sozialsysteme, die Markierung ihrer Außengrenzen und die interne Verarbeitung von Konflikten durch Binnendifferenzierung (ohne organische Differenzierung der Individuen) erklärt. 3. Die Verselbständigung von Handlungskomponenten der Kommunikation, die die enorme Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme und die tradierten Formen der Konfliktexternalisierung (auf Kosten Anderer) erklärt. 4. Die komplementäre Verselbständigung von Erlebenskomponenten der Kommunikation (Öffentlichkeiten, Publika), die die (partielle) Verlagerung des Selektionsdrucks der äußeren in die innere Umwelt des Sozialsystems, die historischen Formen ihrer Binnendifferenzierung erklärt. 5. Die globale Ausdehnung und interne Verdichtung menschlicher Sozialität in der Moderne, die das Ende traditioneller Formen der Konfliktexternalisierung, den Druck zur internen Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten und schließlich die Ausdifferenzierung einer Metaebene der Konkurrenz historisch evoluierter Differenzierungsformen erklärt. 4 Die Rede vom „vergessenen Grund“ ist nicht als Hinweis auf eine einfache Kausalkette zu verstehen, denn der methodologische Kern der Darwinschen Evolutionstheorie besteht ja gerade darin, dass Erklärungen sich auf das Zusammenwirken kausal voneinander unabhängiger Mechanismen beziehen. Ursachen können also der Replikation, der Variation, der Selektion oder der Restabilisation zugerechnet werden, und welcher Faktor im konkreten Fall ausschlaggebend ist, kann sich nur in der historischen Analyse erweisen. 5 Differenzierung erscheint in vielen Beiträgen zur Diagnose der modernen Gesellschaft als Gegenbegriff zu sozialer Integration statt als deren Form (als Konfliktursache statt als Mittel der Konfliktvermeidung). Siehe nur die vielfältigen Diskurse über ein „Unbehagen an der Moderne“, die sich zumeist an Nebenfolgen funktionaler Differenzierung (hier vor allem: Individualisierung) festmachen. 6 Vgl. dazu die Einordnung der soziologischen Differenzierungstheorie auf der dritten von vier Abstraktionsstufen soziologischer Gesellschaftstheorie bei Schimank 2000, 18f. M.E lässt sich Differenzierungstheorie höher einordnen, ohne sie deshalb in die dünne Luft „philosophischer“ Spekulation zu verlagern. Dazu Stichweh (1994:37): „Wenn man die Soziologie, wofür heute manches spricht, auf differenztheoretischen Grundlagen aufbaut, heißt dies möglicherweise auch für die Differenzierungstheorie, die theoriegeschichtlich in anderen Kontexten entstand, daß ihr eine Generalität zuwächst, die nicht ohne weiteres ersichtlich war.“

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Die Verbindung zwischen Evolutions- und Differenzierungstheorie27 lässt sich heute auf der Grundlage der Rehabilitierung der Gruppenselektionstheorie28 in der modernen Evolutionsbiologie wiederherstellen.7 Damit sind zugleich Blindstellen soziologischer Beobachtungen und Beschreibungen aufzudecken:29 (1.) im Bezug auf die latenten Ursachen der Ausdifferenzierung sozialer Systeme30 (2.) im Bezug auf die Evolution verschiedener Formen sozialer Binnendifferenzierung3132 und (3.) im Bezug auf die damit einhergehende Ausdifferenzierung verschiedener Ebenen der menschlichen Sozialität33 und (4.) Konkurrenzkonflikte der Differenzierungsformen selbst. Der größte anzunehmende Fall von Konkurrenzkonflikten ist (zeitdiagnostisch) als „Kampf der Kulturen“34 beschrieben worden. 4. Systeme und Umwelten In Anlehnung an die Hobbessche Metapher für die moderne Staatsgewalt ist die menschliche Gruppe als „kleiner Leviathan“ bezeichnet worden.35 Diese Formulierung macht den Selektionsdruck deutlich, der schon in einfachen Sozialsystemen zur Wirkung kommt. Aus dem hohen Maß an Regulierung der Verhaltensspielräume8 in menschlichen Sozialsystemen36 kann – auch ohne Ursprungskonstruktion37 – auf das natürliche Potenzial für Konkurrenzkonflikte zurückgeschlossen werden.9 38 Die Vermeidung sozialer Konkurrenzkonflikte durch soziale Differenzierung ist nicht das angestrebte Ziel bewußten Handelns. Sie funktioniert – anders als die Unterdrückung von sozialen Konflikten mit den Mitteln der Gewalt – als latente39 Struktur.10 Sie wirkt gerade dadurch, dass sie die Akteure erst gar nicht in Konkurrenz miteinander treten lässt, weil sie in verschiedenen sozialen Umwelten existieren, also nicht um dieselben Ressourcen kämpfen, um zu überleben und sich auszubreiten.40 7 Sozialität ist evolutionstheoretisch als „selbsttragende Konstruktion“ zu betrachten – also weder aus der physischen Gegebenheit von Individuen noch aus der metaphysischen Gegebenheit von Göttern oder Sinnstrukturen abzuleiten. Viele Methoden-Kontroversen könnten im Rekurs auf die Ebenenunterscheidungen in der modernen Evolutionstheorie aufgelöst werden. Dies gilt nicht nur für den Streit über Mikro- oder Makrofundierung von soziologischen Erklärungen, die evolutionstheoretisch durch die operative Schließung auf der unteren Ebene und die Verlagerung der Umweltselektion auf die höhere Ebene erklärt werden kann. Es gilt auch für den Streit über Struktur vs. Element bzw. (in älterer Redeweise: Statik vs. Dynamik), der evolutionstheoretisch durch das Zusammenwirken der kausal unabhängigen (auf verschiedenen Ebenen zur Wirkung gelangenden) Mechanismen der Selektion und Variation aufzulösen ist. Zur Theorie der Mehrebenenselektion s. Sober/Wilson 1998 u.a. 8 Natürlich nicht nur bei Menschen: Schon das Wolfsrudel stellt ja ein Sozialsystem dar, in dem Konkurrenzkonflikte unter seinen Mitgliedern in hohem Maße beschränkt sind. 9 Der hier verfolgte Bezug auf Konkurrenzkonflikte könnte das Missverständnis nahelegen, die menschliche Natur sei primär egoistisch. Aber auch der Altruismus ist schon ein Ausdruck evolutionärer Gruppenselektion und deshalb nicht weniger natürlich. Der Aufwand der getrieben wird, um zu beweisen, dass der Mensch „im Grunde“ doch egoistisch oder doch altruistisch sei, wäre selbst eine wissenschaftssoziologische Untersuchung wert. Im Hinblick auf Kooperation s. Tomasello 2010, Nowak 2011. Zum evolutionären Zusammenhang zwischen Konflikt und Kooperation Blute (2010, 89): “… the other side of conflict between groups of animals and humans including bands of hunter-gatherers, early tribal societies, ethnolinguistic groups and even modern nations is cooperation within them, or, put differently, that the other side of cooperation within them is conflict between them.” 10 Diese Latenz ist ein wesentlicher Bestandteil des Replikationsmechanismus der kulturellen Evolution, der für ältere Differenzierungsformen in der religiösen Überlieferung und ontogenetisch in primären Sozialisationsprozessen verankert ist.


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Als primordiale Form sozialer Differenzierung muss die Grenzziehung zwischen dem jeweils eigenen Sozialsystem und seiner Umwelt betrachtet werden11, die tief in der natürlichen Evolution der Lebewesen verankert ist.41 Sie reproduziert sich auch in allen Formen der menschlichen Sozialität und kommt in deren symbolischen Ausdrucksformen42 viel43 fältig zum Ausdruck. Häufig wird als besonderes Merkmal der kulturellen Evolution die enorme Beschleunigung sozialer Veränderungen hervorgehoben, die durch den Gebrauch symbolischer Kommunikationsmittel ermöglicht wird. Diese Beschreibung ist jedoch einseitig auf die Innenseite der menschlichen Sozialität fokussiert. Sie zeigt die Formen sozialer Binnendifferenzierung, blendet jedoch die Konflikte aus, die diesen Formen zugrundeliegen.44 Die auslösenden Probleme werden nur sichtbar, wenn man auch die Außenseite menschlicher Sozialsysteme (insbesondere die blutigen Formen ihrer Konkurrenzaustragung) in die Betrachtung einbezieht.12 Die unwahrscheinliche Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme (auf Kosten fast aller anderen Lebewesen) basiert auf Formen der Technisierung des menschlichen Handelns und Erlebens,45 die durch die Umstellung auf symbolische Replikationseinheiten46 ermöglicht werden.47 Der Mechanismus der Technisierung ist zu beschreiben als Subsitution von Körperanpassung48 durch (aktive) Umweltanpassung49 - Veränderung der ökologischen Nische50 - im Rahmen kultureller Gruppenselektion.13 Der Ausbau des soziokulturellen Gehäuses, der sich auf der Innnenseite in der Verdichtung des sozialen Netzwerks mit technisch erweiterten Kommunikationsmitteln niederschlägt, erfolgt auf der Außenseite mit den technischen Mitteln der Naturbeherrschung und der Feindbekämpfung.51 Das Netzwerk der menschlichen Gesellschaft ist gewebt aus physischen und symbolischen Komponenten.52 Seine technische Konstruktion lässt sich nicht einseitig auf materiale oder 11 Zur Umstellung der Differenzierungskonzepte der Theorietradition auf Systemdifferenzierung s. Luhmann 1997, 595-608. 12 Vergessen ist in der soziologischen Differenzierungstheorie nicht jedweder Bezug auf soziale Konflikte, sondern der Bezug auf Konkurrenzkonflikte, so wie sie in der Darwinschen Evolutionstheorie als Auslöser sozialer Systembildungen beschrieben werden. Wenn hier von Konkurrenzkonflikten als „vergessenem Grund“ die Rede ist, dann ist damit nicht irgendeine „letzte Ursache“ in der Evolution sozialer Differenzierungsformen gemeint. In evolutionstheoretischer Perspektive sind Konkurrenzkonflikte nicht als treibende Faktoren, sondern eher als Indikatoren für gesteigerten Selektionsdruck zu betrachten. Das funktioniert natürlich nur, wenn der Konflikt offen ausbricht. Wenn Konflikte durch Binnendifferenzierung oder Externalisierung „gelöst“ sind, bleibt auch der Zusammenhang zwischen Ursache und Lösung latent. Der konflikttreibende Faktor ist (wie schon in der natürlichen Evolution) die Vermehrungs- und Ausbreitungstendenz aller Lebewesen, die auch ihre kulturellen Hervorbringungen einschließt. Konflikte entstehen immer erst, wenn diese endogene Tendenz auf Schranken (beschränkte Ressourcen) stößt – was ja unvermeidlich ist. Das kann auf der Ebene der konkurrierenden Individuen (oder Gruppen von Individuen) durch Binnendifferenzierung vermieden werden. Ein wachsender Teil des Konfliktpotenzials verlagert sich dann auf die Ebene konkurrierender Sozialsysteme, wo Mittel zur Regulierung fehlen. 13 Im Hinblick auf Formen sozialer Differenzierung in der kulturellen Evolution helfen einfache Analogien mit Bezug auf die Differenzierung der Arten in der natürlichen Evolution nicht weiter. Hier ist zunächst der grundlegende Unterschied zu beachten: Die Differenzierung der natürlichen Arten setzt immer am Organismus der einzelnen Individuen an – die Differenzierung der menschlichen Kultur hingegen an ihren Sozialsystemen. Das vermittelnde Glied ist Gruppenselektion. Deshalb können sich Theorien der kulturellen Evolution nicht nur auf Extrapolationen der Gehirnforschung und der Kognitionspsychologie stützen, sondern sind auf eine soziologische Perspektive angewiesen.

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symbolische Einheiten zurückführen.53 Es wäre m.E. sogar irreführend, dabei von Hybridität zu sprechen, wenn damit suggeriert wird, dass es aus den verschiedenen Substanzen heraus erklärt werden könnte, aus denen es sich zusammensetzt.54 Das soziale Netzwerk bildet selbst eine neue Substanz (eine emergente Einheit) ohne die das gesonderte Vorkommen der materiellen und symbolischen Elemente gar nicht angemessen beschrieben werden kann.55 Umbrüche in den historischen Formen menschlicher Sozialität werden ausgelöst durch Innovationen im Gebrauch der Technik56 - allerdings nicht nur der Techniken der Kommunikation (Sprache, Schrift, Buchdruck)57, sondern auch der Techniken der Naturbearbeitung und der kriegerischen Auseinandersetzung (Waffen58). Mit jedem Um- und Ausbau des Systems brechen die seiner inneren Ordnung zugrundeliegenden Konkurrenzkonflikte von Neuem aus. Nicht nur die innere Ordung, sondern auch die Grenze zwischen Innen und Außen, die primordiale Form sozialer Differenzierung, muss neu bestimmt werden.59 Die historisch evoluierten Differenzierungsformen,60 sind als funktional äquivalente Problemlösungen für vier grundlegende Ordnungsprobleme zu beschreiben61: 1. die Vermeidung individueller Konkurrenz durch Exklusion 2. die Vermeidung von Gruppenkonkurrenz durch Hierarchisierung 3. die Vermeidung von regionaler Konkurrenz durch lose Koppelung 4. die Vermeidung von globaler Konkurrenz durch Verlagerung auf die Metaebene.62 In allen Sozialsystemen ist Konkurrenzbeschränkung im Inneren mit Konkurrenzverlagerung nach Außen verbunden.14 Die Konflikte verlagern sich in die soziale Umwelt des Systems und damit entsteht eine andere („höhere“) Ebene von Systemen.63 Die Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten durch soziale Differenzierung geht jedoch nicht nur mit deren Verlagerung auf andere Ebenen einher (Systemergenz15), sondern auch mit zivilisatorischen Errungenschaften ihrer Reinternalisierung.64 Die im Folgenden verwendete Typologie sozialer Differenzierungsformen muß als grobe Vereinfachung gegenüber der 14 Der Preis der ständigen Ausdehnung des sozialen Schutzschirms durch Technisierung ist nicht nur zunehmende soziale Kontrolle im Inneren und zunehmende Konfliktbereitschaft im Äußeren. Erst in jüngster Zeit wird auch die zunehmende Gefährdung der ökologischen Nische der Menschheit in Folge des rücksichtslosen Gebrauchs der Techniken zur Naturbearbeitung wahrgenommen. So wird ersichtlich, dass die kulturelle Evolution nicht länger den Wachstumsimperativen der natürlichen Evolution (i.S. der tradtionellen Religionsgemeinschaften „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan“ 1. Moses 1, 28) folgen kann, sondern reflexiv werden d.h. von der Vermehrung der Lebewesen (der eigenen Art i.S. demographischer Aufrüstung) auf die Vermehrung ihrer Ideen (insbesondere technischen Innovationen zum Erhalt der Nische) umstellen muss. Ich muss diesen Aspekt hier aber beiseite lassen. 15 Nicht nur das methodologische Selbstverständnis der Luhmannschen Systemtheorie als Emergenztheorie (vgl. Heintz 2004), wäre also evolutionstheoretisch zu begründen. Auch die in reduktionstheoretischen Ansätzen verwendete Beschreibung von Gefangenendilemmata ist evolutionstheoretisch reformulierbar i.S. von Konkurrenzkonflikten, die auf zwei Ebenen ausgetragen werden: Spieltheoretische defect cooperate Verhaltensalternative Evolutionstheoretische between-groupwithin-groupVerhaltensbedingungen selection selection So wird erklärbar, warum das strikt eigennützige Verhaltensmodell der Rational Choice Theorien sich eher auf der Makroebene der Kollektivakteure empirisch nachweisen lässt als auf der Mikroebene der Interaktion unter Individuen. Zur spieltheoretischen Erklärung des Rückgangs von Gewalt in der Menschheitsgeschichte Pinker 2011: 1007ff.


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Vielfalt historisch evoluierter Differenzierungsformen verstanden werden. 5. Segmentäre Differenzierungsformen Segmentäre Differenzierung wird gewöhnlich als älteste Form sozialer Differenzierung bezeichnet. Als Form der Binnendifferenzierung kann sie jedoch nur aus heutiger Sicht (in ihren perennierenden Erscheinungsformen) bezeichnet werden. In historisch-genetischer Perspektive (also in ihren frühesten Erscheinungsformen) handelt es sich um die Verbindung mehrerer Verwandtschaftsgruppen zu einer größeren Einheit.65 Das Grundprinzip dieser Verbindung ist im Frauentausch (Exogamie) zu erkennen, dessen Antriebsmuster (Inzestvermeidung) bereits in der natürlichen Evolution angelegt ist.1666 Die evolutionäre Funktion dieser Form ist in der Ausdehnung des sozialen Schutzschirms zu erkennen, die Stabilitätsgewinne gegenüber dem Selektionsdruck der natürlichen Umwelt und konkurrierenden Sozialsystemen ermöglicht. Da es keine von den Herkunftsgruppen unabhängige Sanktionsgewalt gegenüber abweichendem Verhalten gibt, und da alle Formen der Konfliktverarbeitung an die Kommunikation unter Anwesenden gebunden bleiben67, muss die innere Ordnung fortlaufend durch Tausch- und Opferpraktiken zwischen den Gruppen stabilisiert werden.68 Reziprozitätsnormen dominieren, interne Unterscheidungen durch individuelle Leistung sind praktisch ausgeschlossen.69 Frauentausch dient der Vermeidung von Konflikten um Fortpflanzungschancen,70 Gabentausch der Vermeidung von Konflikten um materielle Ressourcen, Opferpraktiken der Versöhnung nach Konflikten.71 Mißlingt dies, so droht die Auflösung der sozialen Ordnung durch Rachehandlungsketten.72 Dies ist jedoch nicht der einzige Preis, der in den segmentär differenzierten Stammesgesellschaften für die Aufrechterhaltung des sozialen Schutzschirms gezahlt werden musste.73 Im Gegensatz zu den eher romantisch gefärbten Rückblicken in der älteren Theorietradition,74 hat die neuere Forschung gezeigt, dass in keiner anderen Gesellschaftsform ein so großer Anteil des (männlichen) Nachwuchses durch kriegerische Konflikte ums Leben kamen, wie in dieser Formation, die die 17 längste Epoche der Menschheitsgeschichte bestimmt hat.75 6. Hierarchische Differenzierungsformen Alle Formen sozialer Differenzierung dienen der Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten, die durch das evolutionär 16 In vielen Abhandlungen über Konkurrenz wird der Unterschied zwischen geregelten und ungeregelten Formen der Konkurrenz vernachlässigt. Dieser ist prototypisch bereits in der natürlichen Evolution zu erkennen: in der Konkurrenz um Überlebenschancen einerseits und der Konkurrenz um Fortpflanzungschancen andererseits. Im ersten Fall geht der Selektionsdruck von der natürlichen Umwelt aus – er entzieht sich somit der Regelung im jeweiligen Sozialsystem. Im zweiten Fall wird der Selektionsdruck zwar auch durch die Knappheit bestimmter Ressourcen ausgelöst, die Selektion selbst ist aber immer schon im Sozialsystem selbst vorreguliert (primordial durch den Vorrang der „weiblichen Wahl“ bei der Entscheidung über Fortpflanzung). Dieser Fall stellt das Grundmuster für alle Formen des Wettbewerbs, also der kulturell regulierten Konkurrenz dar. Hier ist es stets das Publikum, das in der Rolle eines Dritten, nach systemintern (in Medien und Formen der Öffentlichkeit) entwickelten Kriterien über den Erfolg der Konkurrenten entscheidet. Das Wissen über diesen evolutionären Zusammenhang deutet sich noch an in der Rede von der „Gunst des Publikums“! 17 An dieser Stelle fehlt noch eine deutlichere Explikation der Wertorientierungen segmentärer Differenzierungsformen, die mit den Werten hierarchischer und moderner Differenzierung kollidieren.

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unwahrscheinliche Größenwachstum menschlicher Sozialsysteme von den steinzeitlichen Stammesgesellschaften bis zur modernen Weltgesellschaft mit technischen Mitteln immer wieder von Neuem ausgelöst werden.76 Die Konfliktverarbeitungsmöglichkeiten der Stammesgesellschaften werden erweitert durch Innovationen sozialer Differenzierung in der vertikalen Dimension.77 Im Blick auf die Entwicklung traditioneller Hochkulturen78 sind vor allem zwei Formen der hierarchischen Differenzierung zu unterscheiden, die häufig in Kombination miteinander auftreten: Zentralisation und Stratifikation.79 In Formen der Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie kommt zum Ausdruck, dass die Ausdehnung der Sozialsysteme vorrangig mit den Mitteln der Naturbearbeitung und der Kriegsführung betrieben worden ist, und daß die Entwicklung des internen Netzwerks der Kommunikation mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten konnte.80 Diese Form reagiert also auf ein Ungleichgewicht im Verhältnis der technischen Errungenschaften, die für die Variation menschlicher Sozialsysteme im Innen-Außen-Verhältnis zur Verfügung stehen. Wo die räumliche Ausdehnung der Sozialsysteme im Vordergrund steht, entstehen Unterschiede der sozialen Verdichtung. Um die soziale Ordnung unter diesen Bedingungen zu stabilisieren, müssen räumliche Interdependenzunterbrechungen eingezogen werden. Erste Erscheinungsformen dieses Differenzierungstyps sind in den frühen Agrargesellschaften (neolithische Revolution) mit den Stadt-Land-Unterschieden zu beobachten.81 Ihre auffälligste Form ist an den imperialen Systemen (Reichen82) beschrieben worden, die ihre Ausdehnung mit den Mitteln militärischer Gewalt und Okkupation betrieben haben. Es wäre jedoch (hier wie in allen anderen Fällen) verkehrt, diese Differenzierungsform nur als historische Form zu betrachten. In keiner Gesellschaftsform sind regionale Disparitäten83 (in der Verdichtung der Kommunikation) so ausgeprägt wie in der modernen Weltgesellschaft. Nur treten hier andere Probleme in den Vordergrund. An den Formen stratifikatorischer Differenzierung wird aus moderner Sicht rückblickend das gesteigerte Maß an sozialer Ungleichheit hervorgehoben, das damit in menschliche Sozialsysteme eingebaut wird. Mit der Schichtung geht eine ungleiche Verteilung von politischen Machtressourcen und individuellen Lebenschancen einher. In evolutionstheoretischer Perspektive ist aber herauszustellen, dass das Antriebsmuster auch hier nicht in der Herstellung von Ungleichheit, sondern in der Vermeidung von Konkurrenzkonflikten und in (schichtspezifischen) Freisetzungsprozessen zu finden ist.84 Auch hier ist die evolutionäre Funktion in der Restabilisierung sozialer Ordnung zu sehen, die in Folge technischer Neuerungen notwendig geworden ist. Die Technik der Waffen bleibt für die Ausdehnung oder Verteidigung des Territoriums entscheidend. Darüberhinaus verlangen aber auch neue Errungenschaften in der Naturbearbeitung und in der Kommunikation nach einer neuen Ordnung. Durch stratifikatorische Differenzierung konkurrieren nicht mehr Alle mit Allen, sondern eben nur noch die in schichtspezifisch geregelter Form Gleichgestellten.85 (Andere sind gar nicht „satisfaktionsfähig“.) Die Erfindung der Schrift dient auch hier noch weniger der Ausdehnung des sozialen Netzwerks als vielmehr der Aufbewahrung des als wertvoll erachteten Wissens. Mit der Ausdifferenzierung von Sonderrollen für den sozialen Wissens-


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vorrat (klerikale Schriftgelehrte) wird nicht nur das Wissen über natürliche Bedingungen (Jahreszeiten, Flußstände etc.) gesichert, sondern auch die soziale Ordnung selbst. Die Spitze der Hierarchie (bzw. das politische Zentrum86) weist sich nicht mehr nur durch die Akkumulation politischer und militärischer Macht aus, sondern auch durch göttliche Legitimation.87 Die Adelsgesellschaft differenziert sich an ihrer Spitze (rollenmäßig) aus in Politik, Klerus und Militär.88 Im Kontext stratifikatorisch differenzierter Gesellschaften tauchen mit der Differenzierung zwischen Religion und Politik bereits 18 Formen funktionaler Differenzierung auf.89 7. Funktionale Differenzierungsformen Obwohl Anfänge funktionaler Differenzierung sich bis zu den Alters- und Geschlechtsunterschieden in primordialen Formen menschlicher Sozialiät zurückverfolgen lassen, ist funktionale Differenzierung90 hier als zuletzt evoluierte Form der Vermeidung von Konkurrenzkonflikten im Inneren sozialer Systeme zu betrachten.19 Auslösepunkte ihres historischen Dominantwerdens sind wiederum in der Verwendung technisch erweiterter Kommunikationsmittel zu erkennen – mit Steigerungen der Reichweite91 sowohl in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht.92 Die Relevanz von Veränderungen in der Zeitdimension kommt bereits in der Selbstbezeichnung der Moderne zum Ausdruck, die auf Abwertung der Tradition und Aufwertung der Neuigkeiten verweist. Die Tendenz zur zeitlichen Ausdehnung der menschlichen Wissensvorräte mittels Buchdruck (und darüber hinaus mit den computergestützten Gedächtnisspeichern) mündet in einer Universalisierung des Wissens, die allen Individuen jederzeit Zugang zu allen (kompetitiv) relevanten Informationen ermöglicht. In Folge der Entgrenzung des Wissens kann auf der Metaebene symbolisch generalisierter Erwartungen eine neue Form sozialer Differenzierung entstehen, die nicht nach Personen, sondern nach Sachen unterscheidet. Die besondere Dynamik menschlicher Sozialität unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung ergibt sich aus dem Umstand, dass sie eine Wiedereinführung93 der Konkurrenz in sachlich gegeneinander abgeschirmten Hinsichten ermöglicht. Die organische und psychische Existenz der Individuen wird dadurch normalerweise94 nicht bedroht, weil

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diese nicht als ganze Personen, sondern nur in teilsystemischen Organisationsrollen95 miteinander konkurrieren.96 Sie sind aber in gesteigertem Maße gezwungen, sich selbst als Individuen jenseits dieser sozialen Differenzen zu verstehen, um „kompetent“ teilnehmen zu können. Funktionale Differenzierung setzt ein auf der Metaebene (der Sphäre der Öffentlichkeit97) und geht einher mit einer (historisch in diesem Maße nie gekannten) Disziplinierung der Individuen auf der Makroebene der Organisationen (an langjährige Bildungsprozesse gekoppelte Berufsrollen) und einer (historisch ebenfalls ungekannten) Freisetzung der Individuen von Gruppenbindungen auf der Mikroebene98 (Sphäre der 20 Privatheit ). Die gleichzeitige Steigerung der Persönlichkeit und der Unpersönlichkeit sozialer Beziehungen stellt höchste 21 Anforderungen an die Ambivalenztoleranz der Individuen. 99

Die Entgrenzung der menschlichen Kommunikation in zeitlicher Hinsicht bildet jedoch nur die eine Seite der Faktoren, die Selektionsdruck und Restabilisierungsbedarf auslösen. Die Andere besteht in der räumlichen Entgrenzung der Kommunikation durch neue Kommunikations- und Verkehrsmittel, die alle territorialen Beschränkungen menschlicher Sozialsysteme einreißen. Die globale Ausdehnung und interne Verdichtung hat zur Folge, dass der tradierte Entlastungsmechanismus für die Regulierung von Konflikten im Inneren – die Externalisierung von Konkurrenzkonflikten100 und damit ihre Verlagerung auf eine höhere Ebene (die Ebene konkurrierender Makrosysteme) – nicht mehr funktioniert. Es gibt keine anderen Sozialsysteme in der Umwelt der modernen Weltgesellschaft mehr.101 Die einzige Umwelt, die zur Konfliktverlagerung noch verfügbar ist, ist die Metaebene symbolisch generalisierter Erwartungen. Diese Ebene, auf der alle Differenzierungsformen symbolisch verankert sind, wird dadurch selbst zum Ort der Konfliktaustragung.102 8. Konflikt der Differenzierungsformen In Gründungsszenen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung geht es in einem vortheoretischen Sinne um crude facts, die eine Neuausrichtung erzwingen. Je weniger die herausgestellten Fakten in der bisherigen Theoriebildung überhaupt bemerkt waren, desto größer die Chance für einen grundlegenden Paradigmenwechsel.22

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An dieser Stelle fehlt noch eine deutlichere Explikation der Wertorientierungen hierarchischer Differenzierungsformen, die mit den Werten segmentärer und moderner Differenzierung kollidieren. 19 Die Bezeichnung der im Übergang zur modernen Gesellschaft evoluierten Formen sozialer Differenzierung als „funktional“ trägt noch den normativen Bias der funktionalistischen Modernisierungstheorie. Diese Bezeichnung ist mißverständlich, weil segmentäre und hierarchische Differenzierungsformen natürlich ebenso funktional für die Stabilisierung der Gesellschaften sind, in denen sie sich herausgebildet haben. Tatsächlich können die neuen Formen in erster Näherung als Kombination aus segmentären und hierarchischen Formen sozialer Differenzierung verstanden werden: Einerseits kehrt die Moderne mit ihren symbolisch generalisierten Teilsystemen auf der Metaebene zu einer horizontalen Form der Differenzierung zurück – nur dass die Segmente dieser Form jetzt ungleich und nicht substutiv sind. Andererseits wird in der Moderne die vertikale Differenzierung zwischen der Ebene der Interaktion unter Anwesenden und der Ebene der Gesellschaft in historisch nie gekannter Weise gesteigert durch die Ausbreitung formaler Organisationen und Öffentlichkeiten. Die Bezeichnung funktionale Differenzierung trägt auch der Verlagerung der internen Selektionsmacht von den Funktions- und Leistungsträgerrollen zu den technisch erweiterten Publikumsrollen zuwenig Rechnung. Die Bedeutung der Publikumsrollen in den wettbewerbsmäßig organisierten Formen von Öffentlichkeit für die Binnendifferenzierung der modernen Gesellschaft ist immer noch zu wenig untersucht.

20 Das tradierte Konzept der Privatspäre, das aus einer frühen Entwicklungsstufe der modernen Gesellschaft stammt und primär als Schutzraum vor Übergriffen der Staatsmacht definiert war, erscheint heute zunehmend obsolet in Folge der enormen Ausdehnung der Sphäre der Interaktion unter Individuen durch neue Medien. Damit wird erkennbar, dass das entscheidende Merkmal der Ebenendifferenz zwischen Privatheit und Öffentlichkeit nicht in der Unbeobachtbarkeit, sondern in der Unkontrolliertheit des privaten Verhaltens – also nicht im Datenschutz, sondern in den Freiheitsrechten – liegt. 21 An dieser Stelle fehlt noch eine deutlichere Explikation der Wertorientierungen moderner (funktionaler) Differenzierungsformen, die mit den Werten segmentärer und hierarchischer Differenzierungsformen kollidieren. Ein gutes Beispiel für den Konflikt scheint mir das Schrumpfen der traditionellen Kirchen in Europa und der enorme Missionierungserfolg protestantischer Sekten in Südamerika. 22 Ein solcher ist m.E. dem „Club of Rome“ 1973 mit seinem Bericht über die „Grenzen des Wachstums“ (trotz mancher Fehldiagnosen im Einzelnen) gelungen, in dem er die globale Endlichkeit natürlicher Ressourcen herausstellte. Dass sich aus diesem Faktum globale Konkurrenzkonflikte und Verteilungskämpfe ergeben würden, die mit den tradierten Mitteln stratifikatorischer (und Zentrum/Peripherie-) Differenzierung nicht mehr befriedet werden können, lag auf der Hand. Seitdem wird immer deutlicher, dass in diesen Konflikten auch die konkurrierenden Wertorientie-


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Ich habe eingangs die Frage aufgeworfen, wie es dazu kommen konnte, dass soziale Differenzierung, die in allen vergangenen Gesellschaftsformationen als Lösung sozialer Ordnungsprobleme erschien, in der modernen Gesellschaft selbst als Problem erscheint. In der Beantwortung dieser Frage ist zunächst zwischen der Sache selbst und ihrer soziologischen Reflexion zu unterscheiden.103 Theoretisch handelt es sich um ein Mißverständnis, das sich aus einem Mangel an evolutionstheoretisch distanzierter Beobachtung in der Soziologie erklären lässt.104 Der Sache nach handelt es sich um die Wiederkehr von Konkurrenzkonflikten, die in vergangenen Gesellschaftsformen erfolgreich verdrängt worden waren. Dies ist der Grund, warum die Form sozialer Differenzierung in der modernen Gesellschaft zum Gegenstand vielfältiger Unbehagens-Diskurse geworden ist.105 Auch die Soziologie kann sich dem anscheinend nur schwer entziehen.106 In vielen soziologischen Beiträgen wird – im Anschluss an Max Webers vielzitierte Formel vom „Kampf der Götter der einzelnen Ordnungen und Werte“ – funktionale Differenzierung selbst als Ursache von Konkurrenzkonflikten interpretiert.107 Dies ist ein Missverständnis, denn die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft sind ja gerade dadurch bestimmt, dass sie sich wechselseitig nicht ersetzen,108 also auch nicht miteinander konkurrieren können.109 Der Sache nach ist aber auch festzustellen, dass der historische Primat funktionaler Differenzierung in der modernen Gesellschaft nicht so stabil ist, wie viele soziologische Beschreibungen (von Durkheim bis Luhmann110) suggerieren. Was in der Moderne – im Vergleich zu allen älteren Gesellschaftsformen – dramatisch zugenommen hat, ist nicht nur die Konkurrenz im Inneren der Sozialsysteme, sondern auch die Konkurrenz der sozialen Differenzierungsformen selbst auf der Metaebene symbolisch generalisierter Erwartungen.111 In allen historischen Formationen ist die Evolution sozialer Differenzierungsformen mit der Zunahme von Ebenenunterschieden verbunden,112 die sich in einem latenzgeschützten Hintergrundwissen auf der Metaebene niedergeschlagen haben. In der modernen Gesellschaft wird dieses Wissen zunehmend reflexiv, weil funktionale Differenzierung selbst vorrangig auf der Metaebene zum Tragen kommt. Die Evolution der Formen funktionaler Differenzierung geht mit einer nicht mehr übersteigbaren Form der Ebenendifferenzierung einher.113 Die Annahme, dass etwas eine (spezielle) Funktion für die Sozialität insgesamt hat, stellt selbst schon eine transzendentale Begründung dar.114 Diese Art der Bezugnahme auf ein übergeordnetes Ganzes gibt es natürlich nicht erst in der Moderne, sondern implizit in allen historischen Formationen.115 Wenn funktionale Differenzierung eine Form transzendentaler Legitimation ist, dann sind die traditionellen Formen religiöser Legitimation als Protostrukturen funktionaler Differenzierung zu verstehen.116 Die typischen Grundformen sozialer Differenzierung verschwinden nicht, wenn der Primat bestimmter Formen sich historisch und geographisch verändert.117 Ihre Konkurrenz ist auch nicht zwangsläufig mit Konflikten verbunden. Segmentäre Differenzierung koexistiert relativ problemlos bei Familien und Nationalstaaten118, stratifikatorische Differenzierung in Organisationen, Zentrum-Peripherie-Differenzierung in rungen mobilisiert würden, die sich auf der symbolischen Metaebene der historisch evoluierten Differenzierungsformen herausgebildet haben.

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den globalen Netzwerken der modern Gesellschaft.119 Die Evolution der Differenzierungsformen kann jedoch ihre friedliche Koexistenz nicht garantieren. Funktionale Differenzierung ist ein besonders voraussetzungsreiches (also riskantes) Konzept sozialer Ordnung. Wo diese Voraussetzungen auf der Makroebene der Organisationen und auf der Mikroebene der Individuen nicht erfüllt werden (können), liegt die Regression auf ältere und einfachere Ordnungsmuster nahe.23 Da diese jedoch in der Moderne nicht mehr problemlos funktionieren, wird der Konflikt der Differenzierungsformen 24 wahrscheinlich. 120 In einer Formulierung zur Verteidigung der Moderne ist der Fortschritt der Zivilisation damit verbunden worden, dass anstelle von Menschen nur ihre Hypothesen sterben müssen.121 Allerdings kann auch die Verlagerung von Konflikten auf die Metaebene symbolischer Orientierungen nicht verhindern, dass Menschen ihr Leben und das Anderer für ihre Ideen einsetzen. Dass die Konflikte der modernen Gesellschaft auf der Metaebene122 erscheinen, bedeutet also keineswegs, dass sie nur dort ausgetragen werden. Es ist vielmehr gerade ein Merkmal der Orientierungen auf der Metaebene, dass sie sich wie Viren in allen Teilsystemen und auf allen Ebenen der modernen Gesellschaft ausbreiten können. Die auf die Metaebene verlagerten Konkurrenzkonflikte lassen sich dort nicht mehr einkapseln und in latenzgeschützten Opferpraktiken verarbeiten. Tradierte Formen der Konfliktexternalisierung funktionieren nicht nur nicht mehr, sondern wirken häufig sogar konfliktverschärfend:123 Auf der Makroebene scheitern sie an dem Umstand, dass es in einem kulturell geschlossenen Sinne keine anderen Gesellschaften mehr gibt, auf die hin Konflikte projiziert werden können.124 Auf der Mikroebene scheitern sie an dem Umstand, dass es unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung keine erfolgversprechende Möglichkeit mehr gibt, Individuen nach Gruppenmerkmalen zu inkludieren und zu exkludieren.125 Auf der Metaebene (transzendentaler Legitimationen) scheitern sie an einer durch die Erfolge der modernen Naturwissenschaften beflügelten Auffassung von Wissen, die nicht nur Konsens, sondern auch empirische Nachweise verlangt. Auf den ersten Blick lässt sich die Konfliktlage so beschreiben, dass Konflikte (zwischen den koexistierenden Differenzierungsformen) nur dann entstehen, wenn eine der älteren 23 Allerdings wäre es wohl eine voreilige Kausalzuschreibung, wenn derartige Orientierungskonflikte nur auf das Versagen (Fehlen materieller Voraussetzungen) funktionaler Differenzierung zurückgeführt würden. Es ist ja leicht zu beobachten, dass bestimmte Konfliktarten, die in der Differenzierung von Stammesgesellschaften vorherrschten, auch heute noch bevorzugt in den „heißen Zonen“ der Interaktion unter Anwesenden wie Ehe- und Scheidungsdramen vorkommen. Es handelt sich hier um einen Konflikttyp, den Tyrell im Anschluß an Simmel als vergangenheitsorientiert (und deshalb mit rationalen Mitteln kaum lösbar) bezeichnet und von dem eher zukunftsorientierten (rational-interessenbestimmten) Konflikttyp abgegrenzt hat, der auf der Ebene konkurrierender Organisationen dominiert. (Tyrell 2008, 327ff.) Mit dem erstgenannten Konflikttyp kann erklärt werden, warum viele (nicht nur individuelle sondern gerade auch kollektive) Gewaltverbrechen geschehen, obwohl sie den Tätern keinen materiellen Nutzen bringen. 24 Manche Autoren argumentieren, das Aufkommen fundamentalistischer Bewegungen sei eine rein moderne Erscheinung und habe mit den historisch tradierten Formen sozialer Differenzierung nichts zu tun. Damit wird jedoch – vielleicht in der politischen Hoffnung, so die Friedlichen von den Kriegerischen zu trennen – ein falscher Gegensatz konstruiert. Denn alles, was in der gegenwärtigen Gesellschaft das Handeln und Erleben der Individuen antreibt und legitimiert, steht in der langen Kette natürlicher und symbolischer Überlieferung. Neu daran ist immer nur die Rekombination der überlieferten Materialien in der spezifischen historischen Situation.


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Formen (stratifikatorisch oder segmentär) in einem bestimmten raum-zeitlichen Kontext dominiert und evoluierte Formen funktionaler Differenzierung instrumentalisiert.126 Denn umgekehrt erscheint es nicht als Konflikt, wenn unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung Formen stratifikatorischer und segmentärer Differenzierung instrumentalisiert werden.127 Auf den zweiten Blick sieht die Konfliktlage aber nicht mehr so einfach aus. Wenn man die Frage aufwirft, wie es überhaupt möglich ist, dass Akteure sich in der modernen Gesellschaft an älteren Formen sozialer Differenzierung orientieren, stößt man auf Umstände, die die Verallgemeinerung der Formen funktionaler Differenzierung auf bestimmte Individuen begrenzen (so z.B. legale Zugänge zu Arbeitsmöglichkeiten für Migranten, daran hängend Bildungschancen etc.) und damit den Rückgriff auf andere (z.B. durch Verwandtschaft oder ethnische Bindung gestützte) Differenzierungsformen nahelegen.128 Unter den Bedingungen ihrer Globalisierung läßt die moderne Gesellschaft einen historischen Primat für die mit ihr evoluierte funktionale Differenzierungsform – wie die Vielzahl der Konflikte zeigt25 – nur in einem sehr eingeschränkten Sinne erkennen.129 Die Entwicklung der modernen Weltgesellschaft ist primär nicht durch funktionale Differenzierung, sondern durch die Konkurrenz der historisch evoluierten Differenzierungsformen bestimmt.130 Allerdings hat keine tradierte Religionsgemeinschaft mehr ein Konzept des friedlichen Zusammenlebens für sieben Milliarden Menschen, die auf diesem Planeten ihr Glück suchen.131 Die unvorstellbar große Konkurrenz verlangt nach neuen Formen der Konfliktverarbeitung.132 Die moderne Gesellschaft ist deshalb gezwungen, Konkurrenz und Konflikt nicht nur zu reinternalisieren, sondern auch ihre Austragungsformen zivilisatorisch einzuhegen.133

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25 Als prominentes Beispiel für Konflikte der Differenzierungsformen kann hier der Streit über den universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte angeführt werden, der mit dem Souveränitätsanspruch der Nationalstaaten kollidiert. Mit der Kritik an den individuellen Menschenrechten ist das Festhalten am Vorrang von Gruppenrechten und an der traditionellen Aufspaltung zwischen Innen- und Außenmoral verbunden. Dieser Konflikt wird dann relativistisch als Konflikt europäischer mit außereuropäischen Traditionen i.S. autochthoner kultureller Unterschiede umgedeutet. Zur globalen Entwicklung der Menschenrechte Pinker 2011, 502-711. Nach Pinkers Darstellung kommt Gewalt im allgemeinen und besonders gegen Frauen, Kinder, Homosexuelle und ethnische Minderheiten weitaus seltener vor in Kulturkreisen, die als individualistisch eingestuft werden und in denen die Menschen sich als Individuen mit dem Recht zum Verfolgen eigener Ziele fühlen, als in Kulturen, in denen die Menschen sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen, deren Interessen Vorrang vor ihren eigenen haben.

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Anmerkungen & Materialien 1 Eine Interpretation der (ursprünglich in Stammesgesellschaften verankerten) Funktion solcher Ursprungslegenden von Luhmann: „Mythen berichten zwar von einer Gründungszeit, in der die jetzt gültige Ordnung geschaffen und verbindlich gemacht wurde. Aber diese Urzeit ist eine andere Zeit als die Zeit der Gegenwart und sieht kein Verhältnis historischer Kontinuität und in diesem Sinne keine Geschichte vor. Ebenso wenig stellt sie eine andere Zukunft in Aussicht. Eher geht es um eine Absicherung des Nahen im Fernen und um Bestätigung dafür, daß die Verhältnisse so sind, wie sie sind. Der narrative Duktus der mythischen Erzählungen stellt zwar eine Sequenz dar, die aber keinen Kontakt mit der Gegenwart sucht. Ein Bedürfnis für die Ausfüllung einer Zwischenzeit zwischen der mythischen Zeit und der Gegenwart entsteht offenbar erst, wenn in der Gegenwart gravierende Konflikte auftauchen (zum Beispiel aus Anlaß von Wanderungen oder Eroberungen) und die Vergangenheit als Folie für Legitimationen in Anspruch genommen wird. Und erst wenn Schrift zur Verfügung steht, muß stärker auf Konsistenz der Berichte geachtet und für eine Gesellschaft eine Geschichte oder für eine Familie eine Genealogie erzeugt werden.“ (1997, 649) 2 Die Wolfs-Metapher stammt gar nicht von Hobbes (1651) sondern vom römischen Komödiendichter Plautus (250–184 v.Chr.). "Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist." - Asinaria (Die Eselskomödie), 495, II.iv / der Kaufmann (meist zitiert als "Der Mensch ist des Menschen Wolf.") Der komische Aspekt ist auf dem Weg zur Moderne verlorengegangen. “Die moderne Lehre von der Anthropologie steht geschichtlich und sachlich im Zusammenhang mit der Bestimmung des Menschen im Naturstand und in dessen Entgegensetzung zu politischen, ethischen und institutionellen Ordnungen. So ist für ARISTOTELES der von Natur nicht in einer Polis lebende Mensch, der «Apolis», das «Wildeste» und von Natur «Feind»; HOBBES nimmt dies in der Bestimmung auf, daß der Mensch für den Menschen im Naturstande Wolf sei ... HOBBES, Opera philos., hg. MOLESWORTH 2, 135.“ (HWPh Bd. 1, S. 103-104) 3 Statt von Gründungslegenden oder „Gründungsszenen“ (wie im Call for Papers) wäre hier vielleicht einfacher von Erzählungen (Narrativen) zu sprechen. Solche Erzählungen sind einfache Kausalverknüpfungen, meist nur durch zeitliche Abfolge der Ereignisse („Am Anfang war ... dann kam ... und es wurde...“) die Menschen motivieren können – nicht nur, aber auch zu wissenschaftlicher Forschung. 4 In der Formulierung von Steven Pinker: „Thomas Hobbes und Charles Darwin waren nette Männer, aber von ihren Namen leiten sich unangenehme Adjektive ab. Niemand möchte in einer Hobbes'schen oder darwinistischen Welt leben (von einer malthusianischen, machiavellistischen oder Orwell'schen Welt ganz zu schweigen). Beide wurden wegen ihrer zynischen Sichtweise für das Leben im Naturzustand lexikalisch verewigt: Darwin mit dem »Überleben des Geeignetsten« (eine Formulierung, die er benutzte, aber nicht erfand) und Hobbes für das »Leben des Menschen, einsam, armselig, scheußlich, tierisch und kurz«. Aber beide Männer haben uns Erkenntnisse über die Gewalt verschafft, die tiefgründiger, subtiler und letztlich menschlicher sind, als die von

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ihren Namen abgeleiteten Adjektive vermuten lassen. Heute muss jede Untersuchung zur Gewalt der Menschen bei ihren Analysen beginnen.“ (Pinker 2011, 66) Auch Kant ging in seiner Schrift „Über den ewigen Frieden“ ging von einer Hobbes'schen Voraussetzung aus: „Der Friedenszustand unter Menschen, die nebeneinander leben, ist kein Naturstand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d. i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben. Er muß also gestiftet werden; denn die Unterlassung der letzteren ist noch nicht Sicherheit dafür, und, ohne daß sie einem Nachbar von dem andern geleistet wird (welches aber nur in einem gesetzlichen Zustande geschehen kann), kann jener diesen, welchen er dazu aufgefordert hat, als einen Feind behandeln.“ (s. Definitivartikel ...) Und auch Sigmund Freud hat sich in seiner Schrift über das „Unbehagen in der Kultur“ auf die Hobbesche Formel bezogen: »Das gerne verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigungen rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?“ (Freud, 1948, 470f.) 5 Hobbes‘ anthropologische Erklärung von Konflikten mag auf den ersten Blick naiv erscheinen: „So finden wir in der Natur des Menschen drei Hauptursachen für Konflikte: erstens Konkurrenz, zweitens Unsicherheit, drittens Ruhmsucht. Die erste veranlasst die Menschen, wegen des Gewinns anzugreifen, die zweite wegen der Sicherheit und die dritte wegen des Ansehens. Die ersten gebrauchen Gewalt, um sich zum Herrn von anderer Menschen Personen, Frauen, Kinder und Vieh zu machen; die zweiten, um sie zu verteidigen; die Dritten wegen Bagatellen wie ein Wort, ein Lächeln, eine unterschiedliche Meinung und jedes andere Zeichen von Unterschätzung, die entweder ihre eigene Person betreffen oder ein schlechtes Licht auf ihre Verwandten, ihre Freunde, ihre Nation, ihren Beruf oder ihren Namen werfen.“ (Hobbes 1984: 104). Sie trifft aber drei entscheidende Bedingungen: Es geht 1. um die Ausbeutung der natürlichen Umwelt (Konkurrenz um Ressourcen), 2. um die Sicherheit des eigenen Sozialsystems (Abschreckung von Feinden) und 3. um die soziale Stellung im eigenen System (Konkurrenz um Fortpflanzungschancen). Das Hobbessche Gründungstheorem – die Überwindung der ungeregelten und gewaltsamen Konkurrenz Aller mit Allen durch den mächtigen Leviathan Staat – kann als moderner Mythos (oder science fiction) bezeichnet werden, weil Paläoanthropologie und Ethnologie inzwischen gezeigt haben, dass die soziokulturelle Evolution viele andere Lösungen für das Problem sozialer Konkurrenzkonflikte vor dem modernen Staat und seinen Vorläufern aufgewiesen hat. Hobbes selbst weist schon darauf hin, daß ein Naturzustand nie allgemein bestand (1984: 97). Der moderne Staat reagiert nicht auf einen ungeregelten Naturzustand, sondern auf das Wiederaufbrechen von Konkurrenzkonflikten in Folge der Ausdehnung und Verdichtung menschlicher Sozialität in einer spezifischen historischen Konstellation. - Zur Konflikttheorie von Hobbes s. u.a. Noetzel 2008. Dazu Pinker einschränkend (2011, 249): „Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Hobbes selbst das Thema nicht gründlich genug durchdachte. Er stellte sich vor, die Menschen würden die Autorität zu Anbeginn der Zeiten auf irgendeine Weise an einen Souverän oder ein Komitee übertragen, und dieses werde danach ihre Interessen so vollkommen vertreten, dass sie nie mehr Grund hätten, es in Frage zu stellen. Man muss nur einmal kurz an einen typischen amerikanischen Kongressabgeordneten oder an ein


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Mitglied der britischen Königsfamilie denken (ganz zu schweigen von einem Generalissimo oder Kommissar), dann erkennt man, dass dies ein Rezept für die Katastrophe wäre. Die realen Leviathans sind Menschen mit aller Habgier und Torheit, die wir von einem Exemplar der Spezies Homo sapiens erwarten können. Locke erkannte die Gefahr, dass mächtige Menschen versucht sein könnten, »sich selbst vom Gehorsam gegenüber den von ihnen gemachten Gesetzen auszunehmen und das Gesetz sowohl in seiner Erzeugung als auch in seiner Ausübung ihren eigenen, privaten Wünschen zu unterwerfen, so dass sie dann ein anderes Interesse haben als die übrige Gemeinschaft, was dem Zweck von Gesellschaft und Regierung widerspricht«. Belegstellen zur Organismus-Analogie s. HWPh – hieran anschließend evtl. der Hinweis auf den Unterschied zwischen der Darwinschen Auffassung, in der der Organismus (dementsprechend auch soziale Organisation) als evolutionäre Errungenschaft betrachtet wird, und dem teleologischen Mißverständnis, in dem Evolution selbst als organische Entwicklung aufgefasst wird. Dazu evtl. die schöne Formulierung von Schurz (2011: 203) Endnote unten. Belegstellen zur Haus-Analogie s. Heidegger, Sloterdijk 1999. – S. auch Blumenbergs Beschreibung des Menschen: „Der Mensch ist indirekt domestiziert: er hat zuerst das Gehäuse geschaffen, dessen Haustier er anschließend werden konnte.“ (2006, 540) Eine andere Metaphorik könnte an dem Modell des Druckkessels anknüpfen, das S. Freud zur Beschreibung menschlicher Antriebe verwendet hat. In gewisser Weise ähnelt das hier skizzierte Modell der Gruppenselektion dem Freudschen Triebmodell, nur dass die Konkurrenzkonflikte nicht im Inneren der Psyche, sondern im Inneren der Gesellschaft prozessieren. Externalisierung kann als Ventil für den Überdruck im Kessel betrachtet werden. Der Druck, der von der Konkurrenz der Individuen auf die Konkurrenz ihrer Sozialsysteme abgeleitet wird, stammt aus dem Selektionsdruck der natürlichen und sozialen Umwelt. Während die Organismus-Metapher herangezogen wird, um funktionale Differenzierung zu erklären, ist die Haus-Metapher eher für Phänomene der Ebenendifferenzierung zuständig. Die Organismus-Metapher ist focussiert auf die Innenseite sozialer Systeme: die Koordination ungleicher Teile – die Haus-Metapher eher auf die Außenseite: den Schutz vor dem Selektionsdruck der Umwelt. Beiden gemeinsam ist die Abwehr von Konkurrenzkonflikten. An dieser Stelle könnte auch noch die Maschinen-Metapher angesprochen werden, die seit Beginn der frühen Neuzeit faszinierte (literarisch verarbeitet bei Lem), und die Baum-Metapher, die bei der Popularisierung der Darwinschen Theorie eine erhebliche Rolle spielte – S. Haeckel und s. schon die Verzweigungs-Skizze aus Darwins Tagebuch. Die Baum-Metapher hat zwar Bezüge zur Differenzierung der Arten, aber keinen direkten Bezug auf die Binnendifferenzierung sozialer Systeme. Dafür aber als „Baum des Lebens“ eine lange Tradition in verschiedenen Religionen – vermutlich zunächst als Stammbaum (Ahnenkult). „Der Glaube an einen Fortschritt, der, von Epoche zu Epoche aufsteigend, mit ständig wachsender Geschicklichkeit der Perfektion entgegenstrebt, an einen Fortschritt des Lebens, der sich im ganzen Baum der Evolution ausdrückt, ist älter als die Theorie der Evolution.“ zitiert aus Stanislaw Lem: Also sprach Golem. Frankfurt: Suhrkamp 1986, S. 5 Man kann die Entwicklung zu immer komplizierteren Organismen (i.S. einer Denkweise, die älter ist als die Darwinsche Evolutionstheorie) auch als Fortschritt oder Aufwärtsentwicklung darstellen: „Rückschritte kamen dabei auch vor, denn Bakterien überleben oder sterben; Landsäuger dagegen kehren durch »Regression« zum Beispiel in den Ozean zurück, wie zum Beispiel der Seehund oder der Delphin. Generell führt die Spezialisierung aber nach »oben«, doch zugleich zerstört sie die Chance einer maximalen Variation des Paradigmas. Wenn das Leben »Fisch spielt«, dann kann es nicht gleichzeitig »Insekt spielen«, und wenn es Insekt spielt, dann kann es nicht »Säugetier spielen«. Das

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heißt, daß sich der »Computer des Lebens« die weiteren Programme selbst aussucht (in der artbildenden Radiation), und wenn er in bestimmten Verästelungen verliert (vor 65 Millionen Jahre verloren die Echsen), übernimmt ein anderer paradigmatischer Ast und setzt das »Spiel ums Überleben« fort. Gleichwohl entstehen die Programme - die Klassen, Typen, Arten - blindlings. Doch sie erlangen durch die Spezialisierung eine zunehmende Orientierung.“ (Lem 2000, 207f.)

10 Literaturhinweise zum zeitgeschichtlichen Erfahrungshorizont ... 11 S. evtl. Zitate aus Reli-Skizzen, evtl. Verweis auf auf Huntington, aber Distanz zu dessen Deutung.

12 Mit dem Bezug auf Konkurrenz und Konflikt wird hier zunächst eine akteurstheoretische Perspektive eingenommen. Konflikte werden immer von Akteuren ausgetragen - Individuen, Gruppen oder Organisationen – und nicht von symbolisch konstituierten (in Medien der Öffentlichkeit generalisierten) Systemen. Evolutionstheoretisch ist aber die Akteursperspektive (über die Formen der Konfliktverlagerung) immer schon mit einer Systemperspektive kombiniert. 13 Die leitende Idee dieser Thesenskizze besteht darin, dass viele Phänomene, die bei zeitgenössischen Beobachtern Unbehagen auslösen, dadurch zu erklären sind, dass traditionelle Formen der Konfliktverarbeitung in der Moderne nicht mehr funktionieren, weil in Folge der globalen Ausdehnung und internen Verdichtung der Gesellschaft Konflikte nicht mehr (erfolgreich) externalisiert werden können. Diese Idee ist also ziemlich einfach – und Vielen, denen ich sie vorgetragen habe, erscheint sie eher zu einfach (abstrakt). Sie ist aber nicht trivial, denn der Gedanke, dass es in der Umwelt der modernen Weltgesellschaft keine konkurrierenden Sozialsysteme mehr gibt, in die Konflikte verlagert werden könnten, ist nur schwer mit unseren gattungsgeschichtlich ererbten Denkgewohnheiten vereinbar. Die zivilisatorischen Errungenschaften der Moderne können nur dann Bestand haben, wenn die Konflikte, die die kulturelle Evolution bestimmt haben, nicht vergessen werden. 14 Dazu Rüschemeyer 1984, 174: „In seinem dritten und bekanntesten Beitrag zur Erklärung der Arbeitsteilung sieht Durkheim diese Beziehung im Anschluß an Darwin vermittelt durch die Konkurrenz, die umso schärfer ist, je ähnlicher sich die — biologischen oder sozialen — Einheiten sind, die miteinander in Wettbewerb stehen. Wie Darwin und Spencer, aber im Gegensatz zur klassischen Ökonomie identifiziert Durkheim Wettbewerb mit Kampf ums Überleben und argumentiert, daß — wie im biologischen Bereich — unter gleichen Umweltbedingungen mehr Individuen spezialisierter Arten als Individuen gleicher Art sich erhalten können. Er übersieht aber, daß es sich bei beruflicher Spezialisierung nicht um eine Spezialisierung von Ansprüchen auf eine gegebene Ressourcenumwelt handelt, sondern um eine Differenzierung der Produktion. So ist es durchaus nicht klar, warum ein Ansteigen der Nachfrage oder eine Ausweitung der Absatzmärkte die Konkurrenz verschärfen sollte. Plausibler ist, daß unter diesen Bedingungen auch marginale Produzenten noch mit Gewinn operieren, also besser als bei geringerer Nachfrage oder weniger ausgedehnten Marktbeziehungen „überleben" können.“ Rüschemeyer verkennt hier, dass es Durkheim – wie Darwin – gar nicht darum geht, zunehmende Konkurrenz zu erklären, sondern Differenzierung als Lösung von Konkurrenzproblemen. Zur Verteidigung der Argumentation von Durkheim (u.a. gegen Einwände von Rüschemeyer 1982, 1985) s. auch Münch 2012: 19ff.) 15 Im dritten Band seiner Principien der Soziologie schreibt Herbert Spencer: „Die Veranlassung zum gemeinschaftlichen Handeln ... kann Abwehr der Feinde sein oder leichter Gewinn der Nahrung durch Jagd oder sonst wie [...]. Jedenfalls aber gehen die Einheiten damit aus dem Zustande vollkommener Unabhängigkeit in einen Zustand gegenseitiger Abhängigkeit über, und gerade dadurch verbinden sie sich zu einer Gesellschaft im wahren Sinne des Wortes." (Spencer 1889: 294).


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Mit Bezug auf die häufig (und häufig abweisend) zitierte Formulierung Spencers vom Übergang von Homogenität zu Heterogenität, wird häufig übersehen, dass Spencer Homogenität für strukturell instabil gehalten hat. (Hinweis bei Stichweh 1994: 40). Das Größenwachstumsproblem bei Spencer wird von Rüschemeyer wiefolgt spezifiziert: „Die Größe einer Bevölkerung wird von Spencer als Voraussetzung für interne Differenzierung angeführt. Das hat nicht notwendig mit Bevölkerungswachstum und Überbevölkerung zu tun. Vielmehr gehen in Spencers Sicht die Entstehung „zusammengesetzter" Gesellschaften und die Differenzierung politischer Organisation oft, und typisch, auf Konflikt und Unterwerfung zurück. Diese Differenzierungsprozesse haben also mehr mit Macht und Machtinteressen zu tun als mit Bevölkerungsdruck und wirtschaftlicher Produktivität. Bevölkerungsdruck, der sich aus einem Bevölkerungswachstum ergibt, das die gegebenen Ressourcen übersteigt, führt zu ganz anderen Kausalüberlegungen. Hier kommen ,,the survival of the fittest" und „adaptive capacity" ins Spiel. Warum aber Differenzierung als „Antwort" („answering structures" ist eine Spencersche Formulierung) auf solche Probleme zustande kommt, ist nicht eindeutig. Naiv funktionalistische Argumente stehen neben solchen, die auf Konflikt und auf die Eliminierung weniger effektiver Sozialformen abheben; gleichzeitig bleiben auch, wie oben angedeutet, noch andere Mechanismen im Spiel. Wenn Spencer in seinen Detailanalysen durchaus auch Stagnation und Rückfälle in der gesellschaftlichen Evolution anerkennt, dann werden diese Kausalfragen selbstverständlich umso dringlicher.“ (1984, 168f)

Bei Durkheim 1977 (1930) S. 306-308. Das Problem bei Durkheim, dass er den Mechanismus der Konfliktverlagerung zwar sieht, sich dann aber ganz auf die Innenseite der Systemintegration konzentriert. Bei Simmel dominiert mit Bezug auf Konkurrenzkonflikte als Auslöser von Differenzierung (s. über Streit in Soziologie 1908, 135f. 206, 248) eine formale Betrachtung, mit der von dem die soziale Ordnung bedrohenden Potenzial weitgehend abstrahiert wird. (Luhmann schließt daran an.) Die Simmelsche Reduktion des Begriffs der Gesellschaft auf die Beziehungen („Wechselwirkungen“) zwischen den Individuen verkennt aber ihre Funktion als Schutzschirm gegenüber dem Selektionsdruck der natürlichen und sozialen Umwelt – und damit auch eine wesentliche Dimension von Konflikten! Simmels Abgrenzung zwischen Streit und Konkurrenz scheint mir jedoch nicht gelungen. Konkurrenz ist als der übergeordnete Begriff anzusehen und Kampf ist dann der Fall einer direkten Konkurrenz, Marktkonkurrenz ein Fall indirekter Konkurrenz. Selbst der Fall eines Streits zwischen Eheleuten, der wegen seiner höchstpersönlichen (und durch die Vergangenheit der Beziehung aufgeladenen) Merkmale aus diesem Rahmen zu fallen scheint, lässt sich als Konkurrenzkonflikt deuten: die Ressource, um die es hier geht, ist eben das (vom Einen verweigerte) Recht am Anderen (s. property rights, Coleman). Die traditionelle Ehemoral hatte ja nicht ohne Grund die Norm aufgestellt. dass dieses Recht unverlierbar ist, also immer im Besitz des Anderen bleibt. – S. dazu aber auch nochmal Simmels gesonderte Ausführungen in: "Der Mensch als Feind"... Von Max Weber stammt die Umschreibung des Religiösen als Verarbeitungsform von zwei Konfliktthemen: das TheodizeeProblem und das Soteriologie-Problem. In eine Theorie der kulturellen Evolution würden diese Probleme wiefolgt übersetzt: (1.) Das Böse kommt daher, dass soziale Systeme zwischen systemkonformem und nicht systemkonformem Verhalten unterscheiden. (2.) Das Böse wird eliminiert durch Exklusion der betreffenden Individuen (dh. Unterdrückung des nichtkonformen Verhaltens durch Bestrafung inklusive Tod) und durch Externalisierung der Konflikte, die diesem Verhalten zugrundeliegen (dh. Transformation dieses Verhaltens in systemkonformes Verhalten – etwa in Kriegen). Bei Weber ist das Konfliktthema sehr dominant (s. Grundbegriffe §8 ) aber soweit ich sehe, nicht explizit als Auslöser von Differenzierungsprozessen behandelt (außer im Konflikt der ausdifferenzierten Wertordnungen auf der Metaebene). Dazu W. Koenig (in Bonacker 64f) „Bereits Eduard Baumgarten hatte sich veranlaßt gesehen, den dem „Kampf gewidmeten §8 der Soziologischen

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Grundbegriffe als „das bündige Monogramm des Werks" Webers zu bezeichnen (Baumgarten 1964: 557). Es ist aber vor allem Reinhard Bendix gewesen, der die Betonung des Kampfes zwischen verschiedenen sozialen Gruppen als Kern sowohl von Webers persönlicher als auch seiner intellektuellen Lebensanschauung identifiziert hat: „Es war seine [Webers, W.E.] begründete Überzeugung, daß bestimmte Konflikte unter den Menschen auf den Widerstand gegen letzte Werte zurückzuführen seien, der durch kein Argument gebrochen oder geklärt werden kann. Seine Untersuchungen im Bereich der Religionssoziologie bieten den empirischen Beweis für diese Ansicht" (Bendix 1964: 204). Das in der Folge von Parsons' zeitweilig etablierte Bild von Weber als einem integrationistischen Gesellschaftstheoretiker ist durch diese Neu-Entdeckung des Konflikttheoretikers Weber nachhaltig korrigiert und angesichts von dessen seit Ende der 1980er Jahre häufig diskutierten Nähe zu Friedrich Nietzsche endgültig obsolet geworden (vgl. Eden 1988; Hennis 1987; Schröder 1987; Turner 1992; Warren 1994).“ Webers Markierung der traditionellen Doppelmoral und ihrer Überwindung in der modernen Gesellschaft (aus dem Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Mit- und Nachschriften 1919/20): „Um noch einmal die Eigenart des okzidentalen Kapitalismus und ihre Ursachen zusammenfassend darzulegen, so sind folgendes die entscheidenden Züge. Nur er hat eine rationale Arbeitsorganisation geschaffen, die sonst nirgends vorkommt. Handel hat es überall und zu allen Zeiten gegeben, und er läßt sich bis in die Steinzeit zurückverfolgen; ebenso finden wir in den verschiedensten Epochen und Kulturen Kriegsfinanzierung, Staatslieferungen, Steuerpacht, Amtspacht usw., nicht aber rationale Arbeitsorganisation. Ferner finden wir überall sonst: primitiv nebeneinander streng gebundene Binnenwirtschaft, so daß von irgendwelcher Freiheit des wirtschaftlichen Gebarens zwischen den Genossen des gleichen Stammes, der gleichen Sippe keine Rede ist, und daneben absolute Ungebundenheit des Handels nach außen; Binnenund Außenethik sind verschieden, und darüber steht absolute Rücksichtslosigkeit der Finanzgebarung. Nichts kann so streng gebunden sein wie die Sippenwirtschaft in China oder die Kastenwirtschaft in Indien, aber auch nichts so skrupellos wie der indische Außenhändler. Dagegen ist die Aufhebung der Schranken zwischen Binnenwirtschaft und Aussenwirtschaft, Binnenmoral und Außenmoral, das Eindringen des händlerischen Prinzips in die Binnenwirtschaft und die Organisation der Arbeit auf dieser Basis das zweite Charakteristikum des okzidentalen Kapitalismus. Endlich ist die Zersetzung der ursprünglichen wirtschaftlichen Gebundenheit zwar auch anderwärts eingetreten, so in Babylon; aber nirgends finden wir die unternehmungsweise Organisation der Arbeit wieder, wie sie der Okzident kennt.“ (MWG III-6 S. 349) „Ursprünglich stehen zwei verschiedene Einstellungen zum Erwerb unvermittelt nebeneinander: nach innen Gebundenheit an die Tradition, an ein Pietätsverhältnis zu den Stammes-, Sippenund Hausgenossen unter Ausschluß hemmungslosen Erwerbs innerhalb des Kreises der durch die Pietätsbande miteinander Verbundenen: Binnenmoral – und absolute Hemmungslosigkeit des Erwerbstriebes im Verkehr nach außen, wo jeder Fremde ursprünglich Feind ist, dem gegenüber es keine ethische Schranke gibt: Außenmoral.“ (MWG III-6 S. 384) Dazu gehört dann aber auch Webers Wissenschaftstheorie mit der (natürlich nur auf den ersten Blick) paradoxen Begründung der Soziologie durch sein streitbares Werturteil, dass sie als Wissenschaft nur werturteilsfrei zu betreiben sei. Dazu Tenbruck in seinem Aufsatz über Gesellschaftstypen (1972, 55): „Eine Gesellschaft ist eben ein Wirkzusammenhang, der Verbindung voraussetzt. Verbindung aber ist vorweg ein Raumproblem, und eine geregelte Verbindung zwischen Menschen kann über Entfernungen hinweg nur in dem Maße bestehen, wie technische Mittel und soziale Organisationen sie ermöglichen. Das Niveau der Technik und Organisation setzt jedoch entspre-


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chende Grade der Arbeitsteilung voraus. Und diese wiederum können nur bei gewissen Gebiets- und Bevölkerungsgrößen erreicht werden, obschon diese Beziehung von dem technischen und organisatorischen Niveau wie auch von der Wirtschaftsweise erheblich beeinflußt wird.“ Zu Luhmanns diesbez. Auffassung s. Anm. im letzten Abschnitt. Auch in Hondrichs Kritik an Luhmanns Theorie sozialer Systeme (1987: 281f) findet sich eine an die Theorietradition anknüpfende Deutung sozialer Differenzierung als Konfliktverarbeitung: „Eine soziale Unterscheidung ist dann besonders bedeutsam, wenn sie eine reale Grenzlinie für Kommunikationen bildet, die möglich sind und angestrebt werden, aber durch die Grenzlinie verhindert oder abgeschwächt werden. Darin kommt zum Ausdruck, daß Kommunikationen, wie alle sozialen Phänomene, unweigerlich einen Wertigkeits- und Konfliktaspekt haben; sie sind nicht neutral, es ist uns nicht gleichgültig, ob, mit wem und wieviel wir kommunizieren, und obwohl Grenzen der Kommunikation ebenfalls ihren Wert haben und geschätzt werden, stehen sie doch dem Wert diffundierender Kommunikation entgegen. Unser Ver-hältnis zu ihnen ist ambivalent und konfliktgeladen: Reale soziale Differenzierungen sind immer Konfliktlinien, in mehrfacher Be¬deutung: Sozial gesehen konstituieren sie den Konflikt zwischen denen, die sie scheiden; zweitens zwischen denen, die die Grenz¬linien niederreißen, und denjenigen, die sie stärken wollen; drit¬tens zwischen denjenigen, die als einzelne über die Grenze wol¬len, ohne sie niederzureißen, und denen, die ihnen von der anderen Seite den Zugang verwehren; viertens schließlich den Konflikt zwischen den erfolgreichen oder erfolglosen Grenzgängern und denjenigen, die zurückbleiben. All diese sozialen Konflikte brauchen nicht äußerlich in Erscheinung zu treten - als latente Konflikte haben sie auch dann eine soziale Realität, wenn sie nur in den Köpfen der Beteiligten ihr Wesen treiben; spannungsaufbauend sind sie auch so.“ In der Formulierung zur Latenz der Konflikte in Formen sozialer Differenzierung kommt aber m.E. noch zu wenig zum Ausdruck, dass Differenzierung nicht die Ursache, sondern eher die Folge von Konflikten ist – erst in der Moderne erscheint Differenzierung selbst als Problem! 16 Als Beispiel für die Wiederaufnahme des Größenordnungsproblems in den Sozialwissenschaften zitiere ich aus einer neuen Studie von D. North u.a. (2011, 55-59: „Der Übergang zum Ackerbau und die Züchtung von Pflanzen und Tieren löste vor zehntausend Jahren die Neolithische Revolution aus. Die Entstehung von Städten, neue Produktionstechniken und neue Formen sozialer Organisation wandelten während der folgenden fünftausend Jahre menschliche Gesellschaften um. Archäologische Funde belegen die Bildung von Gruppen, die erstmals in der Geschichte der Menschheit mehr als einige hundert Personen umfaßten. Ungeachtet der Ursachen der Neolithischen Revolution - Klimawandel, genetische Veränderungen, Einführung der Landwirtschaft oder neue Sozialtechniken - müssen wir erklären können, wie Gesellschaften vor zehn- bis fünftausend Jahren sich so erheblich zu vergrößern vermochten. Größere Gesellschaften erforderten neue Methoden der Eindämmung und Kontrolle von Gewalt. Die einfachsten sozialen Einheiten in Wildbeuterordnungen (Banden oder Familiengruppen) waren typischerweise Gruppen von 25 bis 50 Personen. Größere soziale Einheiten (Stämme, lokale Gruppen, Zusammenschlüsse starker Männer) reichen bis zu 500 Personen. In jeder dieser Organisationsformen sozialen Zusammenwirkens bedeutet eine Vergrößerung vermehrte interne Konflikte und einen Anstieg des von Rappaport so genannten „Irritationskoeffizienten": „Anlässe für Irritation ... vermehren sich rascher als die Bevölkerung. Nehmen wir den Bevölkerungsanstieg als linear an, so wäre der Anstieg einiger Arten von Streitigkeiten ... als ungefähr geometrisch anzunehmen" (1968, S. 116). Die mit steigender Gruppengröße ceteris paribus einhergehende Zunahme von Gewalt und Unruhen entspricht der allgemein beobachteten positiven Korrelation zwischen Gewaltpegel und Bevölkerungsgröße in modernen Gesellschaften. (FN 21:Johnsons (1982) Gedanke des skalaren Stress besagt,

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daß der Mensch seine kognitiven Grenzen erreicht, wenn er gleichzeitig sechs oder sieben verschiedene Punkte zu erledigen hat, so daß sechs Gruppen zu sechs Personen, also 36 Personen, oder sechs Gruppen solcher 36, also 216 Personen, natürliche Gruppengrößen sein könnten.)

In der anthropologischen Forschung finden sich immer wieder die Ziffern 25 und 200. Die Größe der einfachen Wildbeutergruppe scheint bei 25 Personen zu liegen (Kelly, 1993, S. 209-16). Agglomerationen von Banden oder Familiengruppen zählten oft gegen 200 Personen. Den Kategorien von Service (1971) - Bande, Stamm, Häuptlingsherrschaft und Staat - entsprechen Gruppen ungefähr dieser Größe; allerdings könnte die von einem Häuptling geführte Einheit bis zu 1000 Personen umfaßt haben. Johnson und Earle (2000, S. 32) wandeln die Kategorien von Service um in Familiengruppen (unterschieden nach Familien in einem Lager und Familien in einem Dorf), lokale Gruppen (sowohl führerlose wie solche unter Führung starker Männer) und regionale Gruppen (sowohl Häuptlingsherrschaften als auch Staaten). Die Größe dieser verschiedenen Gesellschaften wird nach oben durch Probleme der Gewaltkontrolle begrenzt.16 (FN 22: In Johnson und Earle (2000, S. 246) findet sich eine Tabelle, in der ethnographische Untersuchungen über 19 Gesellschaften zusammengefaßt sind, wobei diese nach der Bevölkerungsgröße untergliedert sind, und zwar so, daß die Grenzen bei 25/30, bei 200/250 und bei 1.000 liegen (auch wenn, wie nicht anders zu erwarten, die Kurve nicht vollkommen ist). Service (1971) erörtert Größenkategorien und Typen. Für Dunbar (1996) liegt - aufgrund von Untersuchungen über Gehirngröße und Gruppengröße bei Primaten - die optimale Größe einer menschlichen Gruppe bei 150. Bandy (2004) untersucht den Prozeß von Gruppenbildung und Gruppenzerfall anhand mittelamerikanischer Gesellschaften.) Das Belegmaterial ist zwar umstritten,

doch scheinen kleine Gesellschaften hohe Gewaltpegel zu verzeichnen (Keely, 1996; LeBlanc, 2003; Steckel und Wallis, 2006). Es sammelt sich zwar neues archäologisches Material an, aber die Belege dafür, was vor fünf- oder zehntausend Jahren geschah, sind zu spärlich, um Schlußfolgerungen über die Gesellschaftsordnung in neolithischen Gesellschaften zu erlauben. Drei Arten von verfügbarem Material sind jedoch relevant für die Frage der Gesellschaftsordnung und deren Größenverhältnisse. Die anthropologische Forschung kann mit einer Fülle ethnographischer Untersuchungen kleiner Gesellschaften aufwarten; diese lassen auf Ähnlichkeiten in der Organisation von Gesellschaften schließen, die größenmäßig von lokalen bis zu regionalen Gemeinwesen reichen oder von Stämmen bis zu Häuptlingsgesellschaften. Hierher gehört auch die Literatur über den Aufbau „ursprünglicher" Gesellschaften, die ersten Kulturen großen Ausmaßes, die in verschiedenen Teilen der Welt ohne Einflüsse von außen entstanden zu sein scheinen (Trigger, 2003). Schließlich haben wir anhand archäologischer Skelettfunde und -befunde auch Belege für die Häufigkeit menschlicher Gewaltanwendung in Gesellschaften der Neuen Welt (Steckel und Rose, 2002) Johnson und Earle (2000) bieten eine Zusammenfassung 19 ethnographischer Untersuchungen von unterschiedlich großen Gesellschaften. Besonders interessant ist der Übergang von lokalen zu regionalen Gruppen oder von Gesellschaften mit einem starken Mann zu Häuptlingsgesellschaften. In Gesellschaften mit einem starken Mann führt ein einzelner oder eine Familie die Gruppe; er verfügt über größeren Reichtum, unterliegt aber erheblichen Beschränkungen durch die Gruppe insgesamt. Der große Mann führt, indem er sich ein persönliches Gefolge schafft. Er genießt üblicherweise das entscheidende Privileg (oder erfüllt die Funktion) der Kontrolle des Tauschhandels zwischen seiner Gruppe und anderen Gruppen. ... Das anthropologische Belegmaterial erlaubt den Schluß, daß die zunehmende Größe menschlicher Gesellschaften mit dem Entstehen sozialer Organisationen, wie sie die Logik des natürlichen Staates impliziert, zu tun hat. Die politische Ökonomie von Häuptlingsgesellschaften bringt die Logik des natürlichen Staates zum Ausdruck. Alle der ursprünglichen alten Kulturen waren Gesellschaften mit ausgeprägten theokratischen Hierarchien, in denen beschränkter Zugang zu wirtschaftlichen, politischen, militärischen und religiösen Funktionen von entscheidender Bedeutung für die Identifizierung der Sozialperson eines Eliteangehörigen war. Die Befunde an Skelettresten erlauben den Schluß, daß mit


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der Vergrößerung von Gesellschaften die Gewaltanwendung gegenüber Menschen zurückging.“ 17 Auch für Blute ist das zentrale Argument für zunehmende Komplexität innerhalb der natürlichen und der kulturellen Evolution die Vermeidung von Konkurrenzkonflikten: „…how can we reconcile the evidence from McShea and colleagues against cross-lineage trends towards increasing complexity with the argument that, because speciation is densitydependent, later-evolved species should tend to be bigger and probably more complex than earlier ones. The answer would seem to be that new species tend not to be competing with each other. If they did, perfectly, i.e. in all respects, according to the competitive exclusion principle, they could not coexist. There is a limit to the number of "me-too" drugs a market can support, for example. Instead, new species along with becoming reproductively isolated, normally diverge from each other in the way they act and the niche they occupy and that is the point of all three kinds of speciation. The allopatric do not compete for spatial reasons, the sympatric do not compete for ecological reasons, and the sexually selected do not compete for ecological reasons within one gender and social reasons within the other. (Blute 2010:187) … The single most important idea about the evolution of complexity introduced in the past decade or so was that of Maynard Smith and Szathmary (1995:3) who viewed the existence of complex individuals as a result of "major transitions in evolution". Such major transitions have in common that "entities capable of independent replication became able to do so only as part of a larger whole" (prokaryote cells incorporated into eukaryotes, protists in multicellular individuals, and solitary individuals in colonies with non-reproductive casts, for example). The components of new levels of organization and selection in their view could emerge by duplication, symbiosis or epigenesis. They thought that the advantage to individuals, similarity, a tendency to irreversibility, and many to suppress the selfish could commonly explain such transitions but often the advantages of a division of labour - "the efficiency of specialized organs" as well as the emergence of "new materials and mechanisms of heredity" (p. 12) were required as well. (Blute 2010: 189) 18 Das Luhmannsche Theorieangebot weicht vom mainstream der soziologischen Differenzierungstheorie insofern ab, als mit dem evolutionstheoretischen Strang auch an Konflikt als einem zentralen Moment der menschlichen Sozialität festgehalten wird. Allerdings kommt das evolutionäre Risikopotenzial sozialer Konflikte unter den Prämissen der Reduktion auf Sinnsysteme nicht angemessen zum Ausdruck. Wenn Luhmann Konflikt (gegen die übliche Lesart) als sozialen Integrationsmechanismus beschreibt, betreibt er eine (m.E. falsche) Abstraktion. Konflikte sind eben nur unter zwei historischen Bedingungen integrativ: wenn sie aus der Innenwelt der Systeme in die Außenwelt verlagert werden, oder wenn sie in Wettbewerbsformen zivilisatorisch eingehegt werden. Die Verharmlung des evolutionären Konfliktpotenzials liegt gerade darin, dass Konflikt selbst als System beschrieben wird. Denn damit ist Konflikt nicht mehr treibender Faktor – also Moment des Variationsmechanismus – sondern Bestandteil der Systemdifferenzierung – also Moment des Restabilisierungsmechanismus! Diese evolutionstheoretische Fehlplatzierung wird m.E. auch nicht dadurch behoben, dass Konflikte – mit einer uneingestanden normativen Konnotation – als parasitäre Sozialsysteme bezeichnet werden. (Luhmanns Konflikttheorie ist aber auch in dieser Hinsicht nicht konsistent S. noch zu Konflikt als Bestandteil des Variationsmechanismus 1997, 466ff.) 19 Eine methodologische Bemerkung, warum ich Konflikt ins Zentrum stelle und nicht – was in empirischer Hinsicht durchaus naheläge - Konflikt und Kooperation als zwei Seiten menschlichen Verhaltens. Der Grund steckt in der theoretischen Prämisse, dass alle kulturellen Sozialsysteme konstitutiv darauf angelegt sind, im Inneren Kooperation herzustellen und Konflikte zu vermeiden. Konflikt ist also der verborgene Grund, der aufgedeckt (explizit

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gemacht) werden muss, um die Enstehung und Entwicklung menschlicher Sozialsysteme, sowohl ihren unwahrscheinlichen Ausbreitungserfolg wie auch ihre ökologische Riskiertheit zu verstehen. 20 Diese Frage steht im Hintergrund der gesamten hier skizzierten Argumentation und soll im letzten Abschnitt beantwortet werden. In erster Näherung könnte man hier aber schon auf den (auch in anderen Zusammenhängen an der Semantik beobachtbaren) Effekt verweisen, dass die Mittel zur Problemverarbeitung gerade dann, wenn sie erfolgreich sind, von den zugrundeliegenden Problemen infiziert werden und damit selbst als Problem erscheinen. 21 Zu den Quellen des sogenannten Sozialdarwinismus bei Spencer Rüschemeyer (1984, 171) relativierend: „Spencer sah die Weltgeschichte durch Differenzierung und Fortschritt auf einen Zustand hinsteuern (stockend, umwegreich vielleicht, aber im Ensemble der Gesellschaftsformen am Ende unausweichlich), der gleichzeitig ideal war: die freie Kooperation von unabhängigen Individuen, denen letztlich Vergesellschaftung vernünftiges Instrument für ein reiches Leben ist. Der Individualismus des Ideals spiegelt sich in analytischen Grundannahmen. So kann Spencer von sozialen Strukturen als den „aggregate results of the desires of individuals who are severally seeking satisfaction" reden (The Man versus the State, zitiert nach Peel 1971: 213). Der gesellschaftliche, oder besser: der menschliche Fortschritt ist Naturprozessen ähnlich, und diese Ähnlichkeit stützt für Spencer die Glaub¬würdigkeit seines Geschichtsverständnisses. Der Naturcharakter der gesellschaft¬lichen Entwicklung hat gleichzeitig politische Konsequenzen. Der Realisierung des Ideals politisch nachzuhelfen, ist überflüssig; mehr noch, es ist, soweit er-folgreich, schädlich, weil politische Interventionen die natürlichen Auslesepro¬zesse hemmen. Bevor wir an diesem Punkt Spencer schlicht dem vulgären Sozialdarwinis¬mus zurechnen, einer Bewegung und Mentalität, die in der Tat mehr dem Einfluß Spencers als dem Darwins verdankt, müssen wir uns allerdings, wie Peel (1971) immer wieder betont, klarmachen, daß Spencer ein friedliebender Lamarckianer war, in dessen Sicht die menschliche Natur selbst sich wandelt und langsam altruistischer und kooperativer wird. Das ändert indessen nichts an der Tatsache, daß Spencer gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts der wohl wichtigste Apologet des laissez-faire war.“ Zum Begriff des Sozialdarwinismus auch Schurz (2011: 192): „Schon zur Zeit Darwins und verstärkt Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Evolutionstheorie in Gestalt des Sozialdarwinismus verallgemeinert. Dieser Sozialdarwinismus beruhte jedoch auf den folgenden gravierenden Fehlinterpretationen der Darwinschen Evolutionstheorie (...): Erstens gibt es in der Evolutionsdynamik keinen Automatismus zur Höherentwicklung. Zweitens unterliegt Evolution auch keinem Gesetz der Selektion des Stärksten, sondern nur des Bestangepassten; diese kann auch die Evolution kooperativer Systeme fördern (...). Und drittens schließlich dient biologische Evolution nicht der Art- oder Rassenerhaltung, sondern der Reproduktion der Gene bzw. sich reproduzierenden Individuen. Aufgrund solcher ideologischer Missdeutungen wurde es um die Evolutionstheorie Mitte des 20. Jahrhunderts eher ruhig; sie war im geisteswissenschaftlichen Lager verpönt und ist es teilweise auch heute. Zur selben Zeit wurde die Evolutionstheorie jedoch still und leise zu einer mathematisch präzisen Theorie weiterentwickelt. Als dann die bahnbrechende Entdeckung des genetischen Codes hinzukam, war ihr Erfolg zumindest in den Naturwissenschaften perfekt.“ 22 An dieser Stelle ließe sich ein Exkurs über den politischen Geoder Mißbrauch von Evolutionstheorie anschließen. Hier lassen sich zwei Verwendungsarten unterscheiden, in denen höchst ambivalentes Potenzial steckt: Erstens als Einsicht in unbeeinflussbare oder zumindest nicht ohne unvorhersehbare Risiken beeinflußbare Gesetze der Natur – also mit einer grundsätzlich konservativen Einstellung (so ähnlich wie Papst Benedikt, wenn er sich zur Verteidigung kirchlicher Morallehren auf „Naturrecht“ beruft – mit dem Schöpfergott im Hintergrund).


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Und zweitens als Vorlage für technische Nachahmungsprozesse mit dem Ziel, den äußeren Selektionsdruck zu mindern und die Vorrangstellung des Menschen (oder nur bestimmter Gruppen von Menschen – etwa die „arische Rasse“) in der Welt auszubauen– also mit einer heroisch-progressiven Einstellung. 23 Hinweis auf die Exkommunikation der Darwinschen Gruppenselektionstheorie im Zuge der neodarwinistischen Synthese mit den Entdeckungen der Molekularbiologie und ihre dogmatische Verengung wie sie in Dawkins Formel von den „egoistischen Genen“ zum Ausdruck kommt. In einer ausführlicheren Darstellung wäre hier die im Neodarwinismus ungelöste Frage des Nebeneinanders von sexueller Selektion und Überlebensselektion aufzugreifen. Letztere wird auch als natürliche Selektion bezeichnet, so als ob die sexuelle Selektion nicht natürlich wäre. Bei der natürlichen Selektion wird stillschweigend davon ausgegangen, dass sie nicht nur Vorrang vor der sexuellen Selektion habe, sondern sich auch primär der Individuen als Mittel zur Verbreitung der „egoistischen“ Gene bediene. Dagegen spricht nun aber: 1. dass überhaupt erst die sexuelle Selektion Individuen (mit begrenzter Lebenszeit) hervorgebracht hat, und 2. dass sexuelle Selektion immer nur innerhalb einer Population, also normalerweise unter den Bedingungen von Gruppenselektion stattfindet. Dafür spricht auch die schon im Tierreich anzutreffende Regulierung der Konkurrenz um Fortpflanzungschancen durch weibliche Wahl. Gerade dann, wenn man die Ausbreitung der je eigenen Gene als Grundtendenz der natürlichen Evolution betrachtet, muß man der sexuellen Selektion und damit der Gruppenselektion, in die sie eingebettet ist, den Vorrang vor der Überlebensselektion der Individuen einräumen. Dies mindert nicht die evolutionäre Stellung der Individuen, sondern macht deutlich, dass es sich bei den Formen der Individualisierung, die aus heutiger Sicht wie selbstverständlich vorausgesetzt werden, um evolutionäre Errungenschaften handelt, die erst in den Sondermilieus der kulturellen Gruppenselektion möglich geworden sind. Dass es sich bei der direkten (und gewaltsamen) Aneigung von Ressourcen und der indirekten Form der Konkurrenz (vor einem Publikum) um verschiedenartige Konflikttypen handelt, hatte bereits Simmel bemerkt: „Wer mit einem anderen kämpft, um ihm sein Geld oder sein Weib oder seinen Ruhm abzugewinnen, verfährt in ganz anderen Formen, mit einer ganz anderen Technik, als wenn er mit einem anderen darum konkurriert, wer das Geld des Publikums in seine Tasche leiten, wer die Gunst einer Frau gewinnen, wer durch Taten oder Worte sich den größeren Namen machen solle.“ (Simmel 1968, 213f.) Während Simmel nur den zweiten Konflikttyp als Konkurrenz bezeichnet, ist in evolutionstheoretischer Perspektive auch beim ersten Typ schon ein Konkurrenzkonflikt zu beobachten. 24 Kritisch dazu schon Rüschemeyer (1984, 167f): „Die Effizienzwirkung von Differenzierung wird vorausgesetzt (gelegentlich, so von Smelser, in die Definition der sozialen Differenzierung einbezogen) und Differenzierung erscheint als ein vorgegebener Rahmen, innerhalb dessen spezifische Kausalfaktoren ihren Platz finden können, und nicht als ein Phänomen, das selbst der Erklärung bedarf (vgl. Smelser 1959 und 1963; Parsons 1966).“ In dieser Tradition dann auch Luhmann (1993: 344): „Nicht Motive erklären gesellschaftliche Differenzierung, sondern gesellschaftliche Differenzierung erklärt Motive." 25 Zur Kritik am Verzicht auf evolutionstheoretische Erklärungsansprüche in neueren Verwendungen der Differenzierungstheorie s. auch Stachura 2011, 241. Allerdings übertreibt der Autor m.E. die (normativ-anti-utilitarischen) Vorzüge der Durkheimschen Differenzierungstheorie im Verhältnis zu Spencer und Darwin und schließt sich vorschnell den neodarwinistischen Einwänden gegen Gruppenselektionstheorie an (245f.) die inzwischen als widerlegt gelten können (s. nur Sober/Wilson 1998) – und zwar nicht nur für die Sonderbedingungen kultureller Evolution. 26 Luhmann hält dies sogar für zwingend, weil die Darwinsche Evolutionstheorie das einzige Theorieangebot für die Entfaltung

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der zeitlichen Dimension sozialer Systeme darstelle. Er hält deshalb in seiner Theorie an der Verbindung zwischen Evolutionsund Differenzierungstheorie fest – allerdings mit der gravierenden Einschränkung auf sozialen Sinn. Auf dieser Grundlage (und trotz ihrer methodologischen Beschränkung) hat Luhmann wesentliche Beiträge zur Weiterentwicklung und historischen Verfeinerung der Theorie sozialer Differenzierung geleistet. Daran anschließend im Folgenden Abschnitte 6-8. 27 Hier evtl. noch eine Passage zum Differenzierungskonzept in der biologischen Evolutionstheorie: Neue Arten entstehen durch Differenzierung. Der Wirkungsmechanismus ist immer Selektion mit Abweichungen. Die Zahl der Mutanten in einer Population vermehrt sich - bis zum Punkt, wo eine neue Art entsteht - wenn diese besser an ihre Umwelt angepasst sind. Dies ist nicht so zu verstehen, als ob allein die Umwelt kausal wirksam wäre. Wenn sich eine Population so sehr vermehrt, dass die in ihrer Umwelt gegebenen Ressourcen nicht mehr zum Überleben ausreichen, dann hat sich materialiter nicht die Umwelt verändert, sondern die Population. Dies gilt auch für die Koexistenz verschiedener Arten unter gegebenen Umweltbedingungen. Die Erstbesiedlung eines natürlichen Raums erfolgt gewöhnlich durch sehr einfache Organismen, die die vorhandenen Ressourcen für sich allein nutzen. Jede neu hinzukommende Art muss einen komplizierteren Organismus aufweisen, um zu überleben. Sie hat vielleicht andere Verdauungsorgane als die erstbesiedelnde Art und kann sich deshalb andere Umweltressourcen erschließen. Sie kann überleben, weil sie in dieser Hinsicht mit der erstbesiedelnden Art gar nicht konkurriert. Man könnte also auch sagen, sie lebt in (und reproduziert sich mit) einer anderen Umwelt. Auch in der Evolution der Arten steht Differenzierung also im Dienst der Vermeidung von Konkurrenzkonflikten. Zur Weiterentwicklung des evolutionsbiologischen Differenzierungskonzepts durch reproduktive Isolierung s. E.Mayr, 2003, 216-230. 28 So noch Darwin: "Es darf nicht vergessen werden, daß, wenn auch eine hohe Stufe der Moralität nur einen geringen oder gar keinen Vortheil für jeden individuellen Menschen und seine Kinder über die anderen Menschen in einem und demselben Stamme darbietet, doch eine Zunahme in der Zahl gut begabter Menschen und ein Fortschritt in dem allgemeinen Maßstab der Moralität sicher dem einen Stamm einen unendlichen Vortheil über einen andern verleiht. Ein Stamm, welcher viele Glieder umfaßt, die in einem hohen Grade den Geist des Patriotismus, der Treue, des Gehorsams, Muthes und der Sympathie besitzen und daher stets bereit sind, einander zu helfen und sich für das allgemeine Beste zu opfern, wird über die meisten anderen Stämme den Sieg davontragen, und dies würde natürliche Zuchtwahl sein." Darwin 2008, 801. Die Verdrängung der Gruppenevolutionstheorie verlief parallel zu den Entdeckungen der Molekulargenetik im Neodarwinismus. In einer Reihe von theoretischen Arbeiten wurden in den 1960er Jahren Alternativen zur Gruppenselektion auf genetischer Grundlage entworfen. Besonders einflußreich wurde W.D. Hamilton (1963), der den vermeintlich unwiderlegbaren Beweis erbrachte, dass Defektion gewinnt, wann immer defektierende und kooperierende Individuen in einer Population auftreten. Demnach kann es keine Gruppenselektion geben, weil die Selektion auf Individualebene eine Stabilisierung auf Gruppenebene immer schon verhindert. Die Gemeinschaft der Neodarwinisten (die den Konflikt mit Vertretern der Gruppenselektionstheorie erfolgreich externalisierte) hat auch nicht zur Kenntnis genommen, dass Hamilton selbst sein Modell nicht für unwiderlegbar hielt und später seine Ansicht über Gruppenselektion geändert hat. – Zur Diskussion über Gruppenselektion in der Evolutionsbiologie und ihre Übertragung auf kulturelle Evolution s. Sober/Wilson 1998. Für eine knappe Übersicht s. auch Kappelhoff 2011. Dazu auch Schurz 2000: „Verhaltenswissenschafter haben bei Säugern und Vögel eine Vielfalt von moralanalogem Verhalten beobachtet (Wickler 1975), wobei meines Wissens kein Konsens


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darüber besteht, ob dieses moral-analoge Verhalten im Tierreich primär unter Verwandten oder auch unter Nicht-Verwandten auftritt. Einige Schilderungen Wicklers (1975, 137f) über das Eingreifen von ranghöchsten Mantelpavianen in den Streit niedrigerer Tiere und die häufige Parteiergreifung für den Schwächeren lassen aber das Auftreten von Sanktionsmechanismen bzw. ‘Richterfunktionen’ bereits bei höheren Primaten vermuten. Es ist insgesamt plausibel, anzunehmen, dass die Disposition menschlicher Gemeinschaften zu sozialen Regelsystemen mit Sanktionsmechanismen nicht nur ein kulturelles Erbe ist, sondern auch eine genetische Grundlage besitzt. Dies wird überraschenderweise durch kognitionspsychologische Untersuchungen eindrucksvoll bestätigt. Es zeigt sich nämlich, dass die natürliche Kognition des untrainierten Erwachsenen in hohem Maß auf das Erkennen von sozialen Reziprozitätsbeziehungen und das Aufdecken von Betrügern spezialisiert ist. Gewisse komplexere Schlüsse (z.B. der ‘Modus Tollens’), die bei Anwendung auf natürliche oder arbiträre Objekte nur sehr schwer beherrscht werden, werden bei Anwendung auf soziale Situationen, in denen die Frage des Einhaltens oder Nichteinhaltens von Regeln zur Disposition steht, plötzlich spielend leicht beherrscht (Cosmides 1989, s. auch Schurz 1999a). Dies ist ein Indiz dafür, dass die Errichtung von sanktionierten Regelsystemen eine universale und genetisch verankerte Innovation der menschlichen Spezies ist, mit gewissen Vorläufern im höheren Tierreich. Es versteht sich von selbst, dass diese Innovation nur möglich war bei gleichzeitiger massiver Evolution des mensch¬lichen Sprachvermögens - beides zusammen hat erst jene Art kultureller Evolution er-möglicht, die die genetische Ebene übersteigen und partielle Autonomie gewinnen konnte. Somit hat Ethik eine doppelte evolutionäre Grundlage, genetisch und kulturell. Doch die ethischen Systeme im Verlaufe der kulturellen Evolution sind vergleichsweise divergierend; um eine Zahl zu nennen: Ethiken wurden zumeist religiös be¬gründet, und in der Geschichte der Menschheit gab es zirka 100.000 verschiedene religiöse Glaubenssysteme (Wilson 1998, 325). Das Universale in menschlichen Ethiken besteht weniger im Inhalt bzw. im Wie, sondern im Dass, in der Tatsache, dass es überall zu sanktionierten Regelungen grundlegender sozialer Beziehungen kommt, welche im Inhalt durchaus unterschiedlich gestaltet sein können (vgl. Schurz 1995). In allen Regelsystemen geht es um Reduktion von gewaltsamen Konfliktaustragungen innerhalb des sozialen Verbandes, aber mit durchaus verschiedenen - z.B. monarchischen, oligarchischen oder demokratischen - Mitteln. Ich spreche von ,Gewaltreduktion’ und nicht von ‘Gewaltelimination’, weil auch das modernste System rechtsstaatlich legitimierter Sanktionen ein bestimmtes Maß an (rechtsstaatlich legitimierter) Gewalt impliziert. Regelungen des Besitzes, des Paarungsverhaltens oder der Kinderaufzucht (Erziehung) divergieren dagegen in verschiedenen Kulturen erheblich voneinander. Evolutionär wichtig ist es, dass es zu Kooperationen kommt, die allseitigen Nutzen bringt; auf welche Weise dabei der soziale Gerechtigkeitsaspekt optimiert wird, ist demgegenüber eine zweitrangige Frage, und hängt voralledem auch von den Weltbildern ab, auf deren Grundlage ethische Systeme legitimiert und ‘soziale Gerechtigkeit’ definiert wird. Mit der sukzessiven Zunahme der weltweiten Besiedelungsdichte kam es zu einer schrittweise Universalisierung von ethischen Regelsystemen. In demokratischen Systemen ist diese Universalisierungstendenz am stärksten verwirklicht, und ihnen ist aus heutiger Sicht den größten Erfolg in der Reduktion von gewaltsamen Konfliktlösungen zuzuspre-chen, obgleich auch dies nicht unabhängig zu betrachten ist von der Evolution von Weltbildern, worauf wir nun zu sprechen kommen.“ 29 Hier geht es nicht nur um den Methodenstreit über Mikrofundierung oder Makrokonstitution, sondern auch über den quer dazu verlaufenden Streit über den Gesellschaftsbegriff (s. Schwinn, Göbel, Firsching, Tenbruck, Weber). Wenn soziale Differenzierung als Verarbeitungsform von sozialen Konflikten verstanden wird, dann spricht dies sowohl für Mikrofundierung (denn Konflikte werden ja stets von Individuen oder Kollektivakteuren aus-

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getragen) als auch für Makrokonstitution, denn der ultimate Grund für die Konfliktverarbeitung (Kooperation statt Konflikt) ist in dem Schutz zu erkennen, den die Gesellschaft als Sozialsystem vor dem Selektionsdruck der Umwelt bietet. 30 Durkheims Verdienst besteht zweifellos darin, die sozialen Bindekräfte gesucht (und in den diversen Formen der Religion und ihren funktionalen Äquivalenten gefunden) zu haben, die die zerstörerischen Kräfte der Konkurrenz bändigen. Die Schwachstelle seiner Sozialtheorie besteht allerdings darin, dass er fast ausschließlich die Innenseite der menschlichen Sozialsysteme betrachtet und die Verlagerung der Konkurrenzkonflikte auf die Außenseite vernachlässigt hat. Dies gilt auch für die Luhmannsche Systemtheorie, in der die theorietraditionelle Perspektive auf Konflikt als Bedrohung sozialer Ordnung einfach umgekehrt und Konflikt als ein besonderer Fall sozialer Integration behandelt wird. Auch hier verengt sich die Betrachtung auf die Innenseite sozialer Systeme und der Mechanismus der Externalisierung auf die Ebene der Konkurrenz ganzer Systeme kommt nicht mehr in den Blick. Deshalb finden wir bei Luhmann im Blick auf die Auslösebedingungen für den Wandel der Differenzierungsformen nur Hinweise auf die Veränderung der Kommunikationsmittel (Oralität, Schrift, Buchdruck) auf der Innnenseite sozialer Systeme. Einen differenzierungstheoretisch interessanten Einwand gegenüber methodologisch individualistischen Konflikttheorien formulieren aus evolutionsbiologischer Perspektive Meyer/v.d.Dennen (2008, 498): „Angesichts der allgemeinen Bedeutung sozialer Macht für Konflikte und politische Prozesse liegen zahlreiche Begriffsbestimmungen vor, von denen jedoch Max Webers Definition zweifelsohne die einflussreichste ist. Wenn Weber Macht als die „Chance" bestimmt, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen" (Weber 1964:38), so hebt er auf die Tatsache ab, dass Individuen in irgendeiner Situation in unterschiedlichem Maße über Machtmittel verfügen. Wie Weber weiter ausführt, kann Macht auf der Verfügung über sehr unterschiedliche Ressourcen beruhen, doch kommt es ihm vor allem auf die Fähigkeit des Einzelnen zur Durchsetzung seiner Interessen auch gegen „Widerstreben" an. Was aber, wenn unter vergesellschafteten Individuen kein Widerstreben zu verzeichnen ist, da sie Macht als Fokus gemeinsamen Wollens begrüßen, um so die synergetischen Vorteile von Kooperation genießen zu können? Wenngleich diese Formulierung den Grad der Übereinstimmung überzeichnen mag, so kann doch auf Institutionen wie Reziprozität und Ostrakismus, aber auch auf die von Milgram aufgezeigte Bereitschaft zum Gehorsam gegenüber Autoritäten und schließlich den Ethnozentrismus verwiesen werden, deren Ubiquität dafür spricht, dass sie auf evolutionären Verhaltensdispositionen aufbauen, die zusammengenommen die Basis für die Akzeptanz von Macht bilden. ... Zunächst ... gilt es vom evolutionären Standpunkt nochmals zu betonen, dass angesichts der selektiven Vorteile von Kooperation eine grundlegende Bereitschaft begünstigt wurde, den Zusammenhalt des jeweiligen Kollektivs durch Unterordnung unter Regeln und damit auch unter soziale Macht zu sichern, so dass ihr von Weber hervorgehobener Zwangscharakter zumindest in den Frühformen gesellschaftlicher Entwicklung nicht notwendig gewesen sein dürfte. Im Blick auf den Weberschen Zwang erscheint demnach die These plausibel, dass sich dieser de facto erst mit der Entwicklung sozialer Differenzierung einstellte, als Macht zunehmend an den privilegierten Zugang zu knappen Ressourcen gebunden war.“ 31 Eine weitere Blindstelle der soziologischen Theoriediskussion, die durch erneute Verbindung der Differenzierungstheorie mit Evolutionstheorie aufgedeckt werden kann, ist m.E. in der vermeintlichen Inkompatibilität der differenzierungstheoretischen Perspektive mit der Ungleichheitsperspektive zu erkennen. Programmatisch in diesem Sinne Schimank 2000, 9-14, und Schwinn 2011b. Ausgehend von einer Betrachtung sozialer Differenzierung als kultureller Form der Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten sind die Motive und Formen sozialer Ungleichheit aber im Rahmen der Differenzierungstheorie selbst zu beschreiben. Solange sich Differenzierung als Mittel der Vermeidung von Konkurrenzkonflikten bewährt,


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kann es sie nur unter Gleichgestellten geben. Die Beobachtung (und moralische Problematisierung) von Ungleichheit verweist also immer auf die historische Kontingenz (bzw. eine Destabilisierung) von Differenzierungsformen. Dieser Zusammenhang muß einer ausführlicheren Behandlung vorbehalten bleiben als hier möglich.

32 Die Inkongruenz der Theorieperspektiven (auf Ungleichheit und Differenzierung) kann durch evolutionstheoretische Mehrebenenanalyse aufgelöst werden: Bei der Beschreibung von Ungleichheit auf der Mikroebene der Individuen geht es stets um Ressourcenverteilungskonflikte, die durch soziale Differenzierung verarbeitet und auf eine höhere Ebene verlagert werden. Differenzierung vermindert Konkurrenzkonflikte in einem Sozialsystem – sei es durch Markierung der Außengrenzen oder durch verschiedene Schichten im Inneren oder durch Aufteilung in verschiedene Funktionsbereiche. Auf der Makroebene der Sozialsysteme bedeutet Ungleichheit also etwas ganz Anderes (als auf der Mikroebene): nämlich den Ausschluß von Konkurrenz. Nur Gleiches kann miteinander konkurrieren (Alte nicht mit Jungen, Bauern nicht mit Adligen, Unternehmer nicht mit Politikern). 33 Nochmal Hinweis auf die Diskussion über das Mikro-MakroProblem der Soziologie (Alexander et al. 1987, Greve et al. 2008) das hier nicht methodologisch sondern evolutionstheoretisch, also im Bezug auf reale Größenunterschiede, aufgelöst wird. Vgl. die komplementären Vorschläge zur theoretischen Elimination des Problems bei Luhmann (von oben) und bei Latour (von unten). In evolutionsbiologischer Perspektive dazu Wieser 2003. 34 S. Huntington 1998. Ich bevorzuge hier den Titel der deutschen Übersetzung, weil ich mit dem Begriff der Zivilisation anderes verbinde – insbesondere die Möglichkeit einer Zivilisierung der Kultur (s. Mühlmann 1996).. 35 „Die Fähigkeit zur Organisation großer und größter Gesellschaften wird dem Menschen als Folge der Symbolisierungsfähigkeit seines Neocortex zugeschrieben. Kann sich der Mensch niemals aus seiner Wirbeltierfamilien-Geschichte herauslösen, dann muß geklärt werden, wie er sich mit einem Abstraktum (und das ist alles, was sich oberhalb von Familien- und kleinen Verwandtschaftssystemen erhebt) emotional identifizieren kann, wie er dazu motiviert sein kann. Umgekehrt: Kann er sich in sehr abstrakten Verhältnissen - sie regulierend - motiviert verhalten, dann muß erklärt werden, wie er das aus seiner WirbeltierfamilienGeschichte heraus kann. ... Summa summarum bleiben also mehr als zwei Millionen Jahre des Menschen im Gruppenleben, über die bisher zu wenig nachgedacht worden ist. Dabei kann die kleine Gruppe durchaus als »kleiner Leviathan« bezeichnet werden. ... (Claessens, 1980, 87) 36 “Because individuals always have the option of competing with one another for resources or status through violence, a necessary corollary to limiting the use of violence within a social group is placing limits on competition.” (North et al. 2009, 14f.) North, Wallis und Weingast bieten eine Alternative zu dem hier skizzierten Ansatz, indem sie die Eindämmung von Gewalt in der Austragung von Konkurrenzkonflikten (statt auf soziale Differenzierung) auf soziale Ordnungen mit Überschussproduktion zurückführen: „the idea that the systematic creation of rents can induce powerful individuals and groups to refrain from violence” (2009, 258). Diese Idee ist nicht unvereinbar mit einer evolutionstheoretischen Erklärung, sie setzt jedoch insofern zu kurz an, als sie zwar die Eindämmung von Gewalt als zentrales Problem sozialer Systembildung beschreibt, jedoch gar nicht mehr danach fragt, warum es überhaupt soziale Systeme gibt. Der Selektionsdruck der natürlichen Umwelt wird nicht mitreflektiert. Deshalb bleibt hier auch unbeachtet, dass Konfliktvermeidung durch wirtschaftliches Wachstum mit der globalen Ausdehnung der Gesellschaft auf ökologische Schranken stößt. 37 Im Rahmen evolutionstheoretischer Erklärungen ist es weder möglich noch erforderlich, auf einen bestimmten historischen Ausgangspunkt zu rekurrieren, der für die kulturelle Evolution des Menschen irgendwo in der langen Epoche der Hominisation zu verorten wäre.

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38 Zu konjunkturellen Schwankungen in der Zuschreibung von Konflikt- und Kooperationspotenzial in der Wissenschaftsgeschichte Blute 2010, 104ff: „Just as there have been periods in western cultural history when humans have been viewed as uniquely bad (the emphasis on the "fall" in medieval Christianity) and periods when they have been viewed as uniquely good (the "heavenly city" of the eighteenth-century enlightenment; Becker 1932), there have been similar periods in the history of evolutionary thought. In the late 1960s, popularizations of ethology (defined then as the biology of behaviour) such as Robert Ardrey's The Territorial Imperative (1966), Konrad Lorenz's On Aggression (1967) and Desmond Morris' The Naked Ape (1967) emphasized the conflict-ridden character of human nature and hence of human societies. We are currently in the opposite kind of period when cooperation has taken centre stage in evolutionary theorizing (except in the study of gender relations!) and, not uncommonly, humans are viewed as a uniquely cooperative species. The past 25 years or so have seen a vast flowering of literature on the conditions favouring the evolution of cooperation in nature. Monographs and collections include Axelrod 1984, 1997, 2006; Casti and Karlqvist 1995; Maynard Smith and Szathmary 1995; Ridley 1996, 2001; Dugatkin 1997, 1999; Gadagkar 1997; Frank 1998; Sober and Wilson 1998; Keller 1999; Singer 2000; Wright 2001; Hammerstein 2003; Skyrms 2004; Corning 2005; Gintis et al. 2005; Wilson 2007; Blaffer Hardy 2009; and Okasha 2006.) The journal literature is even more vast - the Web of Science lists over 3000 articles on the evolution of cooperation, about half of them having been published in the past five years. For two reviews expressing different points of view see Nowak (2006) and West, Griffin and Gardner (2007).” Zur einseitigen Betonung der kooperativen Seite wäre hier noch hinzufügen: Tomasello... 39 Hinweis auf die von Merton (1957) eingeführte Unterscheidung latenter und manifester Funktionen. 40 In seinem Beitrag (für die Delmenhorster Tagung über Gründungsszenen der soziologischen Theorie) hat Fischer die Simmelsche Triade als grundlegendes Moment ins Spiel gebracht: „Hat man verstanden, dass Simmel sozialtheoretisch eine Schlüsselfunktion der Figur des Dritten beim Aufbau komplexer Vergesellschaftung einräumt, dann kann man nachvollziehen, wie er aus dieser triadischen Grundfiguration der Vergesellschaftung gesellschaftstheoretisch - also in seiner Diagnostik der Moderne - das zeitgenössische Konflikt- und Integrationspotential der modernen Gesellschaft ableitet bzw. - vorsichtiger gesagt - dieses sozialtheoretische Instrumentarium der komplexen Figur des Dritten bei der Aufschlüsselung moderner Entwicklungen einsetzt: die Logik der Zuwanderung im Phänomen des „Fremden" (der Fremde als hinzutretender Dritter in einer bereits bestehenden Vertrautheitsfiguration), die Logik des Marktes (der Konsument als begünstigter Dritter in der Konkurrenz der Produzenten), die Logik des Rechtsstaates (der Vermittler bzw. die Autonomie des Schiedsrichters), die Logik demokratischer Herrschaft (Koalitionen und Parteibildungen und deren Verhinderung), die Logik der Differenzierung (die Bildung von Schichtung (Mittelschichten zwischen Adel und Arbeiter oder Bauern) ... Die Entdeckung in der Kategorie des Dritten ist, dass jede Relation der Intersubjektivität bereits observiert ist, dass sie nur arbeitet und funktioniert als eine weltimmanent observierte Beziehung, durch die Beobachtung von einer immanenten dritten Position aus - die nicht die eines transzendenten Gottes ist (wie in der Theologie).“

Die Präsentation der Triade als grundlegendes Moment menschlicher Sozialität ist eine beeindruckende Alternative für meine These vom Konkurrenzkonflikt. Ich möchte daher zeigen, dass die Funktion des Dritten in einer evolutionären Differenzierungstheorie bereits enthalten ist. Der Dritte ist hier der „Schiedsrichter“, der Konkurrenzkonflikte schlichten kann – auf die Moderne bezogen: die funktionssystemspezifische Öffentlichkeit, die Konkurrenzkonflikte zwischen Organisationen in Formen des Wettbewerbs einhegen kann. In der Beschreibung der Funktion des Dritten geht es immer um den Distanzgewinn in der Beobachterrolle. Die Formel vom (hinzukommenden) Dritten vernachlässigt aber, dass dieser Gewinn nur um den Preis des (Inter-)Aktionsverzichts zu haben ist. Es handelt sich um den Prototyp der auf Erleben reduzierten Publikumsrolle, deren selektive Funktion für das Zu-


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standekommen sozialer Strukturen für die Moderne in den funktionsspezifischen Öffentlichkeiten zu erkennen ist. In der „Theorie der ethischen Gefühle“ von Adam Smith erscheint der „unparteiische Zuschauer“ nicht nur als äußere Instanz der Selektion in den Formen der Öffentlichkeit sondern zugleich auch als sozialisatorisch internalisierte Instanz der Vernunft: „Es ist nicht die sanfte Gewalt der Menschlichkeit, es ist nicht jener schwache Funke von Wohlwollen, den die Natur im menschlichen Herzen entzündet hat, die derart imstande wären, den stärksten Antrieben der Selbstliebe entgegenzuwirken. Es ist eine stärkere Gewalt, ein zwingenderer Beweggrund, der sich in solchen Fällen äußert. Es ist Vernunft, Grundsatz, Gewissen, es ist der Inwohner unserer Brust, der innere Mensch, der große Richter und Schiedsherr über unser Verhalten. Er ist es, der uns, so oft wir im Begriffe stehen, so zu handeln, dass wir die Glückseligkeit anderer in Mitleidenschaft ziehen, mit einer Stimme, die imstande ist, unsere vermessenen Leidenschaften in Bestürzung zu versetzen, zuruft, dass wir nur einer aus einer Menge sind und in keiner Hinsicht besser als irgendein anderer dieser Menge; und dass wir, wenn wir uns so blind und so schändlich vor allen anderen den Vorzug geben, das Vergeltungsgefühl, den Abscheu und die Verwünschungen der Menschen verdienen. Dieser unparteiische Zuschauer allein lehrt uns die wirkliche Geringfügigkeit unseres eigenen Selbst und alles dessen, was uns angeht, erkennen, und nur durch das Auge dieses unparteiischen Zuschauers können die natürlichen Täuschungen der Selbstliebe richtiggestellt werden. Er zeigt uns die Schönheit des Edelmuts und die Hässlichkeit der Ungerechtigkeit; er zeigt uns, wie schön es ist, auf den größten eigenen Vorteil zu verzichten und ihn dem noch größeren Interesse anderer Menschen aufzuopfern, und wie hässlich es ist, einem anderen auch nur das geringste Unrecht zuzufügen, um dadurch für uns selbst einen Vorteil zu erlangen.“ (Smith, 1759/2010: 215)

41 Hinweise auf Portmann, Count, Wieser, E.O.Wilson etc. Als wenig beachteter Vorgänger gegen den neodarwinistischen mainstream s. den von Claessens entdeckten Hugh Miller, 1964. Wieser (2005) und Pinker (2011) verweisen auf die Biologen John Maynard Smith und Eörs Szathmâry (1996) die die Ansicht vertreten, dass eine Evolutionsdynamik, die man mit dem Prozess der Zivilisation vergleichen kann, bereits in der Geschichte des Lebendigen die wichtigen Übergänge vorangetrieben hat. „Diese Übergänge waren gekennzeichnet durch die allmähliche Entstehung von Genen, Chromosomen, Bakterien, Zellen mit einem Zellkern, Organismen, sexueller Fortpflanzung und Tiergesellschaften. Bei jedem dieser Übergänge neigen Gebilde, die entweder egoistisch oder kooperativ sein konnten, stärker zur Kooperation, wenn sie damit in einem größeren Ganzen aufgehen konnten. Sie spezialisieren sich, tauschen Vorteile aus und entwickeln Schutzvorrichtungen, um zu verhindern, dass sie sich gegenseitig zum Nachteil des Gesamtsystems ausnutzen. (Pinker 2011, 131) – Allerdings wird in derartigen Evolutionsmodellen zumeist der Umstand vernachlässigt, dass mit jedem Übergang zu einem intern arbeitsteilig organisierten System, eine verschärfte Abgrenzung zur Umwelt und damit Externalisierung des Konfliktpotenzials verbunden ist. Eine diesbezügliche Passage aus Wieser (1998, 554f): : „Die Evolution kooperativer Eigenschaften in biologischen Systemen muß von zwei Seiten gesehen werden. Zum einen von der Seite der Teile des Systems, also der Gene, Zellen oder Individuen, die bereit zu sein scheinen, ihre Autonomie einzuschränken, weil sie von der Einbindung in das System profitieren. Zum anderen von der Seite des Systems, das die zentrifugalen, systemzerstörenden Tendenzen der Teile unter Kontrolle halten muß. Das biologische System lebt also einerseits vom scheinbaren Autonomieverzicht der Teile (einem Mechanismus, den man auch als einen altruistischen Akt deuten kann), andererseits von der Ausübung massiver Zwänge zur Stärkung der Kohäsion des Systems. Hinter dieser Alternative verbirgt sich ein grundsätzliches evolutionäres Prinzip: Beim Übergang vom Teil zum System wechseln auch die Angriffspunkte der Selektion. Diese greift entweder am Teil oder am System oder mit unterschiedlicher Stärke an beiden an. Im Falle hochintegrierter Systeme, wie etwa des vielzelligen Organismus, fungiert das gesamte System als die dominierende Einheit der Selektion. Die Systemteile, die Zellen, haben ihre Autonomie weitgehend verloren - aber eben doch nicht vollständig,

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denn manchmal kehren sie in den Zustand zurück, in dem sie die Ressourcen des Systems ausschließlich zur Förderung ihrer eigenen Vermehrung zu nützen trachten. Im Falle „weniger effektiv integrierter Systeme“ - etwa der individualisierten Gemeinschaften von Säugetieren, greift die Selektion sowohl an den systemaren Zwängen wie an den Eigenschaften der Individuen an. Das kann sich derart ausdrücken, daß unter gewissen Bedingungen - etwa wenn viele ähnliche Gruppen um begrenzte Ressourcen konkurrieren - das Überleben einer Gruppe davon abhängt, inwieweit sie, im Vergleich mit den konkurrierenden Gruppen, ihren inneren Zusammenhalt und die Effizienz ihrer Arbeitsteilung zu stärken imstande ist. Unter anderen Bedingungen, etwa wenn es darum geht, in Katastrophenzeiten neue Ressourcen zu erschließen, könnte dagegen jene Gruppe im Vorteil sein, in der ein besonders führungsstarkes Individuum die Spitze der Dominanzhierarchie erklimmt. Die Erkenntnis, daß die Selektion entweder am Teil oder am System angreifen kann und daß das optimale Verhältnis zwischen diesen beiden Möglichkeiten von den jeweils herrschenden ökologischen und sozialen Bedingungen abhängt, ist der Schlüssel zum Verständnis der sozialen Evolution mit ihrer unstillbaren inneren Dynamik. Jene Phasen der Evolution, in denen die Angriffspunkte der Selektion allmählich von Teilen auf Systeme übergehen, können als „die großen Übergänge der Evolution" (The Major Transitions in Evolution, Maynard Smith und Szathmary 1995) bezeichnet werden. Für den heutigen Betrachter markieren diese Systemübergänge echte Stufen oder Zäsuren der biologischen Evolution, an denen meist grundsätzlich neue biologische Phänomene sichtbar werden. So war der Übergang von den kleinen prokaryoten zu den großen eukaryoten Zellen das Ergebnis der Evolution einer symbiontischen Beziehung zwischen Zellen und hatte unter anderem die Globalisierung des aeroben Stoffwechsels sowie die Erfindung der Sexualität (mit all ihren Begleiterscheinungen, wie Reduktionsteilung, genetischer Kombinatorik und interzellulären Erkennungssystemen) zur Folge. Der Übergang vom Einzeller zum vielzelligen Organismus brachte die Trennung von Keimbahn und Soma mit sich und bereitete den Auftritt des Todes auf der Bühne der Evolution vor. Während die kombinatorischen Mechanismen der sexuellen Fortpflanzungsweise die genotypische Einzigartigkeit des eukaryoten Individuums begründeten, verantwortet die Trennung von Keimbahn und Soma dessen phänotypische Einzigartigkeit. Diese wurzelt in somatischen Veränderungen und epigenetischen Zwängen, die die Entwicklung des Individuums in spezifische Bahnen lenken. Vor allem aber verdankt der Phänotyp seine Einzigartigkeit der Spezifität, mit der Immunsystem und Gehirn sämtliche Einflüsse aus der Umwelt verarbeiten, so daß sogar genetisch identische Angehörige eines Klons den Charakter von Persönlichkeiten mit jeweils einzigartigen Lebensläufen ‚erwerben‘.“ 42 Zur Funktion von symbolischen Markierungen für die Erweiterung menschlicher Sozialsysteme s. Richerson-Boyd 2005: 211224 S. schon die Totem-Symbolik bei Freud, Durkheim, Mauss etc. 43 Wenn die These richtig ist, dass die Verlagerung von Selektionsdruck vom Individuum auf das Sozialsystem keine Besonderheit der menschlichen Gattungsgeschichte ist, sondern als evolutionäre Errungenschaft weit in die Naturgeschichte der Arten zurückreicht, dann ist auch anzunehmen, dass die Entwicklung divergenter Verhaltensmuster für interne und externe Beziehungen bereits zum vormenschlichen Erbe der Menschheit gehört und ihre Geschichte von Anfang an begleitet hat.


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Dies vorausgesetzt lässt sich die häufig diskutierte Frage, ob Werkzeug- oder Sprachgebrauch grundlegend für die Evolution der Menschheit entlang der Innen-Außen-Unterscheidung auflösen: Sprachgebrauch für die Binnenstabilität der Sozialsysteme und Werkzeuggebrauch für die aktive Einrichtung in der ökologischen Nische. Die Bedeutung des Werkzeuggebrauchs für die kulturelle Evolution wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass die meisten Werkzeuge auch als Waffen – und nicht nur zur Jagd, sondern auch zur kriegerischen Auseinandersetzung – geeignet waren. Diese Wirkung sollte jedoch nicht dahingehend interpretiert werden, dass auch der Sprachgebrauch nur noch als Derivat des Werkzeuggebrauchs erscheint. Alsbergs diesbezügliche Deutung erscheint nicht nur als Überdehnung der Analogie im Hinblick auf Techniken der Distanzgewinnung. Sie verkennt auch die grundlegende Bedeutung, die der Sprache für die Binnenstabilität sozialer Systeme (Konfliktvermeidung und Kooperationsbereitschaft) zukommt und die im Prozess der Hominisation zunächst in einer gesten- und mimikgesteuerten „Sprache der Emotionen“ (Turner/Maryanski 2008, 104ff.) zur Wirkung kommt. Erst im Fortgang der kulturellen Evolution – mit zunehmender Binnendifferenzierung der Sozialsysteme - ist dann auch ein Kreuzen der evolutionären Errungenschaften für den Innen- und Außengebrauch zu beobachten: Ein reflexiv-distanzierter Gebrauch der Sprache (vielfältig gesteigert mit den technisch erweiterten Kommunikationsmitteln) und ein symbolisch reflektierter (und dadurch technisch steigerbarer) Gebrauch von Werkzeugen.

44 Hinweis auf Blindheit auch der Gründungsväter der Soziologie für die evolutionären Voraussetzungen: Systembildung (System/Umwelt) als erste Form sozialer Differenzierung (Gruppenselektion mit Verlagerung des Konflikts auf Gruppenebene). So dominiert auch bei Durkheim und vielen seiner Nachfolger immer die auf Einheit und Kooperation zielende Innenperspektive. 45 Nachdem es lange Zeit als selbstverständlich galt, dass die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten die Handlungsmöglichkeiten weit übertreffen (und ihnen in technischer Hinsicht vorauslaufen) wird heute eher davon gesprochen, dass das Handeln (in riskanter Weise) weiter reicht als das Erkennen (womit

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dann viele Probleme der unerwünschten Nebenfolgen von Technik erklärt werden). Tatsächlich käme es aber darauf an zu beschreiben, dass Beides zugleich stattfindet - und wie dies möglich wurde: Die Entkoppelung (technisch erweiterter) Handlungsketten von erlebender Beobachtung und die Entkoppelung des menschlichen Erlebens vom unmittelbaren Handlungsdruck in technisch erweiterten Formen der Öffentlichkeit (wobei wiederum wissenschaftliche Erkenntnisse diese technisch Erweiterung des Erlebensraums ermöglichen). Das Zusammenspiel der technisch erweiterten und sozial verselbständigten Räume des Handelns und Erlebens kann als kulturelle Evolution i.S. der Mechanismen der Variation und Selektion beschrieben werden. – s. auch die Anm. zu Öffentlichkeit unten. 46 Die Bestimmung eines kulturellen Pendants zu der Replikationseinheit der natürlichen Evolution ist umstritten. Der von Dawkins stammende Mem-Theorie lässt zu Vieles offen. Der springende Punkt scheint mir hier: (1.) zu unterscheiden zwischen horizontaler und vertikaler Dimension in der Weitergabe kultureller Informationen (inklusive aller technisch erweiterten Weitergabemöglichkeiten) und (2.) die Definition vom Memen auf die vertikale Weitergabe (von Generation zu Generation) zu beschränken. Für diese Beschränkung sind zwei Gründe anzuführen: (1.) die Entsprechung zur Funktion der Gene, die durch ihre operative Geschlossenheit gegen Umwelteinflüsse auf die Merkmalsträger für eine gewisse Stabilität eine gewisse Stabilität sorgen, und (2.) die Stabilisisierungseffekte, die sich aus der Rückbindung der kulturellen Replikatoren an die Bedingungen der natürlichen Evolution (in der Ontogenese) durch die Engführung des Tradierbaren auf solche Sinneinheiten ergeben, die sich mit den in der Primärsozialisation erworbenen und (normalerweise) lebenslang als selbstverständlich wirksamen Hintergrundüberzeugungen vertragen. Zwar ist es nicht ohne Grund, wenn manche Autoren den Generationswechsel dahingehend dramatisieren, dass die menschliche Zivilisation mit jeder nachwachsenden Generation erneut einem Ansturm von Barbaren ausgesetzt ist. Umgekehrt trifft aber auch zu, dass die nachwachsende Generation in der Interaktion mit der älteren Generation primären Sozialisationsprozessen ausgesetzt ist, die nicht wieder am Ausgangspunkt der kulturellen Evolution ansetzen, sondern schon auf den zivilisatorischen Anstrengungen vieler Generationen aufbauen. 47 Das kulturelle Pendant zur Replikation der Gene in Populationen lebender Organismen bildet das menschliche Potential zur Nachahmung (Richerson/Boyd 2005). Nachahmung ist immer schon kooperativ und kompetitiv zugleich. Als Konkurrenzverhalten bildet es für jedes Sozialsystem einen potentiellen Sprengsatz. Hinweis auf Girard 1994 mit Bezug auf mimetische Konkurrenzkonflikte. Girards Verwendung der (Tardeschen) Nachahmungstheorie ist heilsam v.a. gegenüber neueren, auch biologisch begründeten Ansätzen, in denen aus dem menschlichen Potential zur Nachahmung vorschnell eine natürliche Tendenz zu sozialverträglichem Verhalten abgeleitet wird. S. Tomasello 2009 oder in popularisierender Form Rifkin 2010. Ich zitiere aus einer zusammenfassenden Darstellung von Girards theoretischer Konstruktion durch Lutz Niethammer (2011, Gewalt und Gesellschaft. Klassiker modernen Denkens neu gelesen S. 333f.): „Die neuzeitlichen Diskussionen über die Natur des Menschen sind obsolet, denn jenseits seiner physischen Reproduktion ist alles und besonders seine Subjektivität kulturell bestimmt. Sein Begehren folgt nicht einem inneren Bedürfnis oder natürlichen Trieb, sondern - jenseits der Befriedigung der Grundbedürfnisse- dem Begehren anderer (Mimesis) und daraus folgt ein Wettbewerb um knappe Güter und Positionen, der in evolutionsgeschichtlich frühen Phasen der Gesellschaft - also noch vor der Ausbildung von Institutionen besonders des Rechts - in gewalttätige Konflikte und ihre Weiterzeugung im Zirkel selbstzerstörerischer Blutrache münden muss. Will sich die Gesellschaft vor ihrer Selbstzerstörung durch eskalierende Blutrache schützen, muss ein Ersatz mit der Schuld beladen und geopfert, ausgetrieben oder getötet werden. Als Sünden-


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bock wird in der Regel ein Fremder oder Zugewanderter, hilfsweise ein sozial Schwacher aus der eigenen Gesellschaft, zum Beispiel eine alleinstehende Frau, gewählt, welcher der Mob in einer wahnhaften Projektionsdynamik die Schuld an der Gewalttat auflädt. Die Lynchjustiz am unschuldigen Außenseiter entlastet die Gesellschaft von beidem: dem selbstzerstörerischen Mechanismus der Rache und der Einsicht in die Gewaltpotentiale ihrer eigenen Konfliktstruktur. Der nachfolgende gesellschaftliche Konsens beruht also auf Lüge und Mord und währt nur bis zum nächsten Gewaltausbruch aufgrund der strukturellen Unlösbarkeit der innergesellschaftlichen Konflikte. Soll er andauern und soll die Unkalkulierbarkeit periodischer Gewaltabfuhr des Mobs eingehegt werden, bedarf es einer wiederholbaren Deckerinnerung. Dies ist die Rolle des Heiligen, also der Mythen und Riten in den archaischen Kulturen: In ihnen werden die Opfer der uranfänglichen Gewaltexzesse in kollektiven Herkunftsnarrativen bis zur Unkenntlichkeit divinisiert oder sonstwie geheiligt, und eine regelmäßige Abfuhr der sich immer wieder in den Begehrenskonflikten aufstauenden Gewalt wird in sozial unschädliche Bahnen gelenkt, besonders durch die ersatzweise Schlachtung von Tieren und die Adressierung der Opfer an die Götter, aber auch durch einen zunehmenden Prozess der Ritualisierung und Symbolisierung. Wenn die Deckerinnerung durch Mythen und Riten aber nicht hält und der Gewaltstau der mimetischen Krise nach Entladung sucht, spricht Girard von der Krise des Opferkultes und findet im antiken Theater funktionale Äquivalente der Entlastung: in den Tragödien der griechischen Klassik werden die mythisierten Konstellationen sozusagen in gott-menschlichen Familienromanen konkretisiert und durchgespielt. In der Sache ändert das wenig, aber die Quellen sind habhafter.“ 48 Damit ist die in der biologischen Evolutionstheorie dominante Form der Adaptation durch natürliche Umweltselektion gemeint. 49 Hinweis auf das von Claessens für die Philosophische Anthropologie entdeckte Alsberg-Theorem. 50 Hinweis auf auf die Theorie der ökologischen Nischenbildung (Oddley-Smee u.a. 2003). Eine zusammenfassende Beschreibung für organisationssoziologische Zwecke von Hannan, Laszlo and Carrol (2003, 210): „Analytic niche theories trace back to G. Evelyn Hutchinson's (1957, 1978) abstract geometric definition of the niche as the hyper volume formed by the set of points in an N-dimensional environmental space for which the population's growth rate (fitness) is nonnegative. This niche is called 'fundamental' because it refers to the physiological capacities of the members of the population. That is, the relevant constraints apply even when a population is isolated from potentially competing populations. Organizational ecology applies this conception to the world of organizations. Such application requires extensive knowledge of the social, economic, and political conditions needed to sustain a form of organization and of the limits on structure and action embodied in the organizational form.” 51 Auch der in der sozialkritischen Tradition der Gesellschaftstheorie herausgestellte Begriff der Arbeit wäre einzubetten in eine Theorie der kulturellen Gruppenselektion: Arbeit ist immer Ausbau des soziokulturellen Gehäuses als Schutzschirm gegenüber dem Selektionsdruck der natürlichen Umwelt. 52 Das klassische Beispiel der Differenzierungstheorie ist das Geld, das eben nicht nur ein immaterielles (deshalb beliebig vermehrbares) Tauschmittel darstellt, sondern in seiner Funktion an der natürlichen Knappheit materieller Ressourcen hängt, die es (durch Beleihung) symbolisch repräsentiert. 53 Angesichts der offenkundigen Bedeutung materieller Objekte und Werkzeuge beim Bau des soziokulturellen Gehäuses ist es selbst als erklärungsbedüftiges Phänomen zu betrachten, dass es Theorien gibt, die den Gegenstand der Soziologie auf Sinnoperationen und -strukturen beschränken. (Über solche Abstraktionen müsste wohl jedes Kind lachen, das sich nicht von dem Anspruch soziologischer Supertheorie schon hat einschüchtern lassen.) Eine Erklärung ist in den Konkurrenzkonflikten zu suchen, die zur Ur-

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sache sozialer Differenzierung – hier der Differenzierung zwischen den Wissenschaftsdisziplinen - werden. Die Soziologie hat sich – beeindruckt von dem Ausbreitungserfolg der Naturwissenschaften – auf das Gebiet der „rein“ sozialen Tatsachen bzw. der Geisteswissenschaften zurückgezogen. S. dagegen Latour 2007. Obwohl bereits Durkheim in methodologischer Hinsicht den geistig-moralischen Charakter soziologischer Tatbestände einseitig herausstellte, hat er deren materielle Substrate doch nicht verleugnet: „Nun gibt es auch Arten des Kollektivseins, d. h. soziologische Tatbestände anatomischer oder morphologischer Ordnung. Die Soziologie kann sich des Interesses für Erscheinungen nicht entschlagen, die das Substrat des Kollektivlebens betreffen. Und doch läßt sich die Zahl und Natur der Teile, aus denen sich Gesellschaft zusammensetzt, die Art ihrer Anordnung, die Innigkeit ihrer Verbindung, die Verteilung der Bevölkerung über die Oberfläche des Landes, die Zahl und Beschaffenheit der Verkehrswege, die Gestaltung der Wohn-stätten usw. bei oberflächlicher Prüfung scheinbar nicht auf Formen des Handelns, Fühlens und Denkens zurückführen. Dabei zeigen aber diese unterschiedlichen Erscheinungen dieselben Merkmale, die zur Definition der anderen herangezogen wurden. Diese Arten des Seins drängen sich dem Einzelnen genau so auf, wie die früher besprochenen Arten des Handelns. Wer die Art der politischen Teilung einer Gesellschaft, die Zusammensetzung dieser Teile, die mehr oder weniger enge Verbindung zwischen ihnen kennenlernen will, kann zu diesem Ziele nicht durch eine rein materielle Untersuchung und durch geographische Beobachtungen gelangen. Diese Einteilungen sind moralischer Natur, wenn sie auch in der physischen Natur eine Grundlage haben. Erst vermittels des öffentlichen Rechtes ist die Erforschung dieser Verfassung möglich; denn das Recht regelt sie ebenso wie alle unsere häuslichen und bürgerlichen Beziehungen; ihr kommt derselbe obligatorische Charakter zu. Daß sich die Bevölkerung in den Städten zusammendrängt, anstatt sich über das Land zu verstreuen, geschieht, weil es eine Meinungsströmung und einen kollektiven Drang gibt, der den Einzelnen eine solche Konzentration auferlegt. Es steht uns ebensowenig frei, die Form unserer Häuser zu wählen, wie die der Kleidung; die eine ist mindestens im gleichen Maße verbindlich wie die andere. Die Verkehrswege bestimmen gebieterisch die Richtung der Binnenwanderungen und des Handels und sogar die Intensität der Wanderungen und des Handels usw. Folglich könnte man höchstens der Liste der früher aufgezählten Erscheinungen eine Kategorie mehr hinzufügen, die ebenfalls die Kennzeichen der soziologischen Tatbestände aufweist. Da diese Aufzählung keineswegs erschöpfend war, wäre diese Hinzufügung nicht unerläßlich.“ (Durkheim 1970, 113) Wer mit Durkheim „das Soziale nur aus dem Sozialen“ erklären will, darf das Soziale selbst nicht nur als Sinneinheit, sondern auch als materielle Gegebenheit verstehen. 54 Zur Beschreibung von Technik in „hybriden Konstellationen“ vgl. Rammert 2008, 341ff. Im Anschluss an Latours AkteurNetzwerk-Theorie spricht Rammert auch von „hybriden Gebilden“. Diese Redeweise wäre aber nur gerechtfertigt, wenn man dem (allerdings in der Soziologie weitverbreiteten) kulturalistischen Irrtum aufsitzt, das Soziale selbst als immaterielles Gebilde zu betrachten, das erst mit der menschlichen Kultur zum Vorschein kommt. 55 Das soziale Netzwerk bildet auch eine eigenständige Grundlage für jene Merkmale der menschlichen Kultur, die als „Intelligenz“ bezeichnet werden und lange Zeit (von Psychologen und Kognitionswissenschaftlern) einseitig auf Eigenschaften des menschlichen Gehirns zurückgeführt worden sind. In seinen Reflexionen über Technologien zur Verbesserung der menschlichen Intelligenz hat Stanislaw Lem auf die soziale Seite der menschlichen Intelligenz hingewiesen, die sich organischen Eingriffen entzieht: „Im Jahre 1990 erschien bei Rowman and Littlefield Publishers eine Arbeit von Nicholas Rescher mit dem Titel A Useful Inheritance: Evolutionary Aspects of the Theory of Knowledge. Mehr vom Inhalt verrät der Titel der [1994 bei Hirzel


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in Stuttgart erschienenen] deutschen Ausgabe: Warum sind wir nicht klüger?, womit gemeint ist: Warum hat die Evolution uns nicht klüger gemacht, als wir es sind? »Eine Beimischung von Dummheit ist«, wie Rescher behauptet, »evolutionär von Vorteil«, weil »allzu große Klugheit« nicht im gleichen Maße auf soziale Rücksichtnahmen und Bindungen angewiesen ist wie eine »beschränkte Klugheit«. Das ist aus meiner Sicht richtig und unrichtig zugleich, denn schon der Begriff »Klugheit« oder, wie es im Originaltext heißt, unseres »kognitiven Potentials« ist sehr verschwommen und kann ganz unterschiedlich gedeutet werden. (Intelligenz ist nicht dasselbe wie Verstand, Schläue nicht gleich Vernunft, Klugheit mehr als Tüchtigkeit im Überleben und in der aktiven Einwirkung auf die Umwelt.) Für die Entstehung der artikulierten Sprache mit ihrer Semantik, Syntax und Idiomatik war die soziale Bindung notwendig. Doch zugleich fördert eine breite Streuung der Intelligenzquotienten bei »positiver sozialer Resonanz« den Fortschritt der zivilisatorischen Leistungen (bis hin zur kollektiven Selbstgefähr¬dung, gemäß der französischen Sentenz les extremes se tou¬chent). Eine eigentümliche Deutung für das Stehenbleiben der Evolution des menschlichen Gehirns auf der (im Holozän erreichten) Stufe des Homo sapiens sapiens liefert möglicherweise der Umstand, daß sich eine in Korrelation mit dem Zuwachs des Gehirnvolumens statistisch wachsende Gefahr des Zerfalls ergibt (ein »Übermaß an Komplikationen« kann zu bestimmten Abweichungen von der durchschnittlichen Norm führen, die teils positiv - bis hin zu Genialität und Erfindungsgabe und teils negativ - im Sinne der Psychiatrie und Psychopathologie - sind). Ein selektives Optimum wird also dann erreicht, wenn der Intelligenzquotient (IQ) insgesamt maßvoll hoch ist, die Individuen auf dem rechten absteigenden Ast der Gaußschen Glockenkurve des IQ jedenfalls gleichermaßen auf das Kollektiv angewiesen sind. (Es scheint, als seien die Individuen auf dem linken, zur Subnormalität absteigenden Ast der Kurve die Kosten der statistischen Ge¬nomverteilung, und nach den sich kollektiv herausbildenden über- und außerbiologischen Normen können sie einen Ballast darstellen, der evolutionär »tragbar« ist; [...] Unter Intelligenz versteht man generell ein Bündel von Transferleistungen solcher Befähigungen, die ohne moralisch-ethische Aufsicht erworben oder erlernt wurden, während »Klugheit« die Intelligenz mit einem Altruismus verknüpft, der sich nicht nur auf die eigene Gattung bezieht, sondern alles Lebendige über den Menschen hinaus fördert.)“ (Lem 2000, 178ff.) – Evtl. Querbezüge zu der auf die Intelligenz von Marktmechanismen bezogenen Evolutionstheorie v. Hayeks und „verteiltes Handeln“ (Rammert 2008). 56 Hinweis auf Technik als Variationsmechanismus – in Abgrenzung zu Auffassungen, wonach Technik selbst schon stabilisierend wirken würde (s. Gehlen und neuerdings wieder Latour). Dazu die schöne Formulierung von Schurz (2011: 203): „Es liegt etwas Wahres im Sinnspruch von Newton, dem zufolge wir alle, geistig betrachtet, auf den Schultern von Giganten sitzen. ... Und dennoch ist es Genies vom höchsten Range im Regelfall unmöglich, die geistige Entwicklung der nächsten, sagen wir, nur zwei Folgegenerationen von Wissenschaftlern vorwegzunehmen. Auch ein Newton hätte im Traum nicht an die Möglichkeit von Relativitätstheorie oder Quantenmechanik gedacht. Anders gesprochen, auf den Schultern der alten Giganten sitzen wie¬derum neue Giganten usw., und getragen wird das alles nicht von den untersten Giganten, sondern von der sozialen Organisation, dem kulturellen ‚Leviathan‘, welcher das Fortbestehen der kulturellen Reproduktion gewährleistet.“. 57 Zur Beschränkung auf Veränderungen der Kommunikationstechnik als Auslöser epochaler Veränderungen s. Luhmann 1991 und 1997, 58 Für Alsberg (1975, zuerst 1922) stellt die Waffe des Steinewerfens eine Frühform kultureller Distanzierungstechniken dar. Vgl. die Verwendung von Drohnen in modernen Kriegen. 59 Die Theorie der evolutionären Gruppenselelektion hat gezeigt, dass die Verlagerung von Selektionsdruck vom Individuum auf das Sozialsystem keine Besonderheit der menschlichen Gattungs-

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geschichte ist, sondern als evolutionäre Errungenschaft weit in die Naturgeschichte der Arten zurückreicht. Daher ist auch anzunehmen, dass die Entwicklung divergenter Verhaltensmuster für interne und externe Beziehungen bereits zum vormenschlichen Erbe der Menschheit gehört und ihre Geschichte von Anfang an begleitet hat. Dies vorausgesetzt lässt sich die häufig diskutierte Frage, ob Werkzeug- oder Sprachgebrauch grundlegend für die Evolution der Menschheit entlang der Innen-Außen-Unterscheidung auflösen: Sprachgebrauch für die Binnenstabilität der Sozialsysteme und Werkzeuggebrauch für die aktive Einrichtung in der ökologischen Nische. Die Bedeutung des Werkzeuggebrauchs für die kulturelle Evolution wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass die meisten Werkzeuge auch als Waffen – und nicht nur zur Jagd, sondern auch zur kriegerischen Auseinandersetzung – geeignet waren. Diese Wirkung sollte jedoch nicht dahingehend interpretiert werden, dass auch der Sprachgebrauch nur noch als Derivat des Werkzeuggebrauchs erscheint. Alsbergs Deutung von Sprachen und Waffen als Mittel der Distanzgewinnung überdehnt die Analogie. Sie verkennt die grundlegende Bedeutung, die der Sprache für die Binnenstabilität sozialer Systeme (Konfliktvermeidung und Kooperationsbereitschaft) zukommt und die im Prozess der Hominisation zunächst in einer gesten- und mimikgesteuerten „Sprache der Emotionen“ (Turner/Maryanski 2008, 104ff.) zur Wirkung kommt. („Two distinct traits of Homo sapiens, as compared to other species, are technology and social cooperation among non-relatives. It can't be a coin¬cidence that we also have language, the third thing that makes us different.“ – Steven Pinker ...) Erst im Fortgang der kulturellen Evolution – mit zunehmender Binnendifferenzierung der Sozialsysteme - ist dann auch ein Kreuzen der evolutionären Errungenschaften für den Innen- und Außengebrauch zu beobachten: Ein reflexivdistanzierter Gebrauch der Sprache (vielfältig gesteigert mit den technisch erweiterten Kommunikationsmitteln) und ein symbolisch reflektierter (und dadurch technisch steigerbarer) Gebrauch von Werkzeugen. 60 Für eine typologische Skizze des Zusammenhangs sozialer Differenzierungsformen mit historischen Epochen der Menschheitsentwicklung verweise ich auf Tenbruck 1972. Er folgt allerdings Durkheims Engführung der Differenzierungstheorie auf interne Arbeitsteilung und kappt damit den evolutionstheoretischen Bezug auf die zugrundeliegende System-Umwelt-Differenz. Hier wäre dann auch auf Kritik an der typologisch vergröberten Epocheneinteilung i.S. einer teleologischen Dreistufenlehre einzugehen. Dazu Formulierungen bei Luhmann (1997, 515f.), in denen diesem Einwand bereits Rechnung getragen wird. 61 Dazu Luhmann zusammenfassend (1997, 612): „Nur wenige Differenzierungsformen haben sich in der bisherigen Gesellschaftsgeschichte ausgebildet. Offensichtlich gibt es auch hier ein "Gesetz begrenzter Möglichkeiten" , auch wenn es nicht gelungen ist, sie logisch geschlossen (etwa über eine Kreuztabelle) zu konstruieren. Wenn man einmal davon absieht, daß die frühesten Gesellschaften vermutlich nur an den naturalen Unterschieden des Alters und des Geschlechts orientiert waren und im übrigen in Horden lebten, lassen sich vier verschiedene Differenzierungsformen nachweisen, nämlich: (1) segmentäre Differenzierung unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit gesellschaftlicher Teilsysteme, die entweder auf Grund von Abstammung oder auf Grund von Wohngemeinschaften oder mit einer Kombination beider Kriterien unterschieden werden. (2) Differenzierung nach Zentrum und Peripherie. Hier wird ein Fall von Ungleichheit zugelassen, der zugleich das Prinzip der Segmentierung transzendiert, also eine Mehrheit von Segmenten (Haushalten) auf beiden Seiten der neuen Form vorsieht. (Der Fall ist noch nicht realisiert aber gewißermaßen vorbereitet, wenn es innerhalb einer tribalen Struktur Zentren gibt, die nur von einer prominenten Familie bewohnt werden, etwa die "strongholds" der schottischen clans). (3) Stratifikatorische Differenzierung unter dem Gesichtspunkt der rangmäßigen Ungleichheit der Teilsysteme. Diese Form hat


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ihre Grundstruktur ebenfalls in einer Zweierunterscheidung, nämlich von Adel und gemeinem Volk. Sie wäre in dieser Form aber relativ instabil, weil leicht umkehrbar. Stabile Hierarchien wie das indische Kastensystem oder die spätmittelalterlichen Ständeordnung bilden, wie artifiziell auch immer, mindestens drei Ebenen, um den Eindruck der Stabilität zu erzeugen. (4) Funktionale Differenzierung unter dem Gesichtspunkt sowohl der Ungleichheit als auch der Gleichheit der Teilsysteme. Funktionssysteme sind in ihrer Ungleichheit gleich. Darin liegt ein Verzicht auf alle gesamtgesellschaftlichen Vorgaben für die Beziehungen zwischen ihnen. Weder gibt es jetzt nur eine einzige Ungleichheit, wie im Falle von Zentrum und Peripherie, noch gibt es eine gesamtgesellschaftliche Form für die transitive Relationierung aller Ungleichheiten unter Vermeidung zirkulärer Rückbeziehungen. Gerade diese sind nun ganz typisch und normal.“ 62 Wenn ich hier mit Bezug auf den Begriff der Gesellschaft (im Unterschied zu der Makroebene der Organisationen) von einer Metaebene symbolischer Generalisierungen spreche, plädiere ich iin methodologischer Hinsicht für einen „schwachen“ Gesellschaftsbegriff i.S. von Greve 2008. 63 Dies scheint mir der tiefere Sinn von Luhmanns gegen harmonistische Konzepte der Theorietradition gerichteten Formulierung, wonach Konflikt einen gesteigerten Fall von Systemintegration darstelle (1997, 604). 64 So kann man in der Evolution der Differenzierungsformen - i.S. einer irreversiblen, nicht jedoch teleologisch bereits in ihren Ursprüngen festgelegten Entwicklung – einen Fortschritt der Zivilisierung durch zunehmende Internalisierung von Konkurrenzkonflikten sehen. In diesem Sinne Luhmann (1997, 623): „Während ... in einfachen tribalen Gesellschaften im Exklusionsfalle durch Vertreibung oder Freigabe zur Tötung jeder Kontakt unterbunden werden konnte, ist das in Hochkulturen mit Stadtbildung und Adelsherrschaft nicht mehr der Fall. Die Differenz Inklusion/Exklusion wird jetzt innergesellschaftlich rekonstruiert.“ Mehr zur Reinternalisierung von Konkurrenzkonflikten in den Formen sozialer Binnendifferenzierung in dem Abschnitt über Inklusion und Exklusion (1997, 618-634). Luhmann sieht hier ein Problem, das den Primat funktionaler Differenzierung in der modernen Gesellschaft gefährden kann: „Das reichlich verfügbare Material legt den Schluß nahe, daß die Variable Inklusion/Exklusion in manchen Regionen des Erdballs drauf und dran ist, in die Rolle einer Meta-Differenz einzurücken und die Codes der Funktionssysteme zu mediatisieren.“ (1997, 632). Luhmann hat dieses Problem als (unerwünschte) Nebenfolge der evolutionären Riskiertheit der Formen funktionaler Differenzierung bezeichnet. Darüber hinausgehend kann es aber auch auf die andauernde Konkurrenz der Differenzierungsformen in der Moderne zurückgeführt werden. 65 Historisch geht hier also tatsächlich die Differenz (der Herkunftsgruppen) der Einheit (segmentär differenzierter Gesellschaften) voraus. 66 Zur Ähnlichkeit der Verhaltensmuster in modernen Formen des Wettbewerbs mit denen der sexuellen Selektion auch Blute 2010, 101f: „As economists Coase (1937) and Williamson (1995) also made clear, however, markets have transaction costs which is in part what sexual competition is (although it would be helpful if the economics of transaction costs and the economics of conflict were more integrated with each other). When organisms turn from competing ecologically to competing sexually, they turn from optimizing in the narrow sense, i.e. ecologically, to playing social games. In a perfectly competitive market, we should expect these transaction costs or costs of antagonistic game playing to erode profits from specialization to zero. And that is exactly what we normally see in meiotic sex. The fact that only half of one's genes are placed in a sexual gamete as opposed to all of them in an asexual spore (there is a two-fold cost of sex) but that cost is normally exactly compensated for presumably by the advantages of ecological speciali¬zation so that meiosis is a two-division pro-

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cess from which four rather than two descendants emerge (i.e. there is equally a two-fold benefit). In some cases profits from the specialization and exchange above and beyond transaction and conflict costs remain - meiosis is followed immediately by one or more post-meiotic mitoses. In rare cases profits appear to be eroded below that - some eukaryotic protists have only a singledivision meiosis - which not surprisingly is rare and it is unclear whether it is derived (as spite) or primitive. In other cases as in female animals, while meiosis is a two-division process, the divisions are unequal and two small "polar bodies" are abandoned presumably a secondary derivation as an adaptation to the survival of rather than the numbers of grand-offspring.“ 67 Luhmann weist darauf hin, wie sehr die Beschränkung auf mündliche Kommunikation zugleich als Beschränkung der Evolution von Recht wirkt: „ ... diese Ordnung der Unterstützungsbereitschaft ist mehr auf Streitschlichtung als auf Rechtsevolution hin angelegt, also mehr mit unmittelbaren als mit langfristigen Konsequenzen der Konfliktlösung befaßt; und sie blockiert ihrerseits dann die Spezifikation normativer Erwartungen durch Eigeninteresse und Indifferenz derjenigen, die zur Unterstützung verpflichtet sind. [...] Die Schwierigkeit, Regeln zu abstrahieren und zwischen Regeln und Handlungen zu unterscheiden, sind Teil einer viel allgemeineren Kommunikationsbedingung. Solange keine Schrift zur Verfügung steht, muß alle Kommunikation unter Anwesenden stattfinden. Sie kann sich dabei auf Situationsmerkmale stützen, die allen Anwesenden sichtbar und geläufig sind, also nicht eigens erwähnt werden müssen; ja nicht einmal eigens erwähnt werden können, weil dies keine Information brächte, also als überflüssig erkennbar wäre.“ (1997, 638f.) 68 S. dazu Mauss 1978. Seine Kulturtheorie der Gabe zeigt bereits für die Stammesgesellschaften drei Arten der Konfliktverarbeitung durch Externalisierung, die (in anderen Formen) in allen traditionellen Formen der menschlichen Sozialität praktiziert werden: 1. die Vermeidung von Fortpflanzungskonkurrenz in der eigenen Gruppe (duch Frauentausch), 2. die Vermeidung von Gruppenkonkurrenz durch Ausdehnung der Reziprozität (durch Gabentausch) und 3. die Verlagerung der Sanktionsgewalt zur Vermeidung von Konkurrenzkonflikten auf die Metaebene (durch Opfergaben an überirdische Mächte). Ein normativer Kurzschluss der Gabentheorie zeigt sich allerdings, wenn das aus der Literatur über segmentär differenzierte Gesellschaften destillierte Konfliktverarbeitungsmuster zur Lösung von Ordnungsproblemen der modernen Gesellschaft empfohlen wird. Damit wird verkannt, dass die Bindungswirkung des Gabentauschs zu einer Gesellschaft gehört, die primär auf Kleingruppenidentät basiert. Sobald die Ausdehnung der Gesellschaft auf eigenen (technischen und symbolischen) Grundlagen steht, tritt an die Stelle des sozialverbindlichen Gabentauschs der nutzenmaximierende Tauschhandel, und das dominante Konfliktverarbeitungsmuster wird auf Binnendifferenzierung umgestellt. 69 Das vorrangige Problem segmentär differenzierter Gesellschaften ist nicht die Aufrechterhaltung der Binnendifferenzierung (die in den historisch später evoluierten Formen sozialer Differenzierung bestimmte Verhaltensfreiheiten ermöglicht) sondern der durch Konkurrenzkonflikte zwischen den segmentären Einheiten ausgelöste Verlust des sozialen Schutzschirms der größeren Einheit. Daher der totalisierende Vorrang von Mitteln der sozialen Kontrolle (z.B. durch Klatsch, Schneider 2011) vor der Stabilisierung von Binnendifferenzierungen. 70 In dieser Hinsicht wäre die Frage zu verfolgen, inwieweit das in der natürlichen Evolution angelegte Muster der sexuellen Selektion – die Anerkennung der weiblichen Wahl statt der gewaltsamen Aneignung von Fortpflanzungschancen – modifiziert wird durch das Muster der exogamen Verbindung, das unter den Herkunftsgruppen (und hier den Ältesten) ausgehandelt wird. Handelt es sich hier um eine Form der Implementation sexueller Selektion im Rahmen kultureller Gruppenselektion oder eher um deren Überschreibung durch ein anderes (patriarchalisches) Muster?


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Luhmann hält die Heiratsverbote nicht für ein konstitutives Merkmal segmentär differenzierter Gesellschaften. Er sieht darin nur komplexitätserhöhende „Zusatzdifferenzierungen“ (1997, 641). Eine anschauliche Skizze der zivilisatorischen Funktion sexueller Selektion in den USA – also auch jenseits von Stammesgesellschaften - ist bei Pinker (2011,167f.) zu lesen: „Die Gewalt bei Männern wird aber wie mit einem Schieber geregelt: Sie können ihre Energie innerhalb eines ununterbrochenen Spektrums auf¬teilen: Auf der einen Seite steht dabei die Konkurrenz mit anderen Män¬nern um den Zugang zu Frauen, auf der anderen die Verführung der Frauen selbst und Hilfe beim Großziehen ihrer Kinder - ein Kontrast, den Biologen manchmal als »cads versus dads« (»Flegel kontra Papa«) bezeichnen. In einem sozialen Umfeld, das vorwiegend von anderen Männern bevölkert ist, wendet ein einzelner Mann die Energie am besten am »FlegelEnde« auf, denn die Konkurrenz um die Vorherrschaft ist notwendig, um die Konkurrenz zu vertreiben, und die Bedingung dafür, in die Nähe der raren Frauen zu gelangen, wo man um sie werben kann. Ebenso werden Flegel in einem Milieu selektioniert, in dem Frauen zwar zahlreicher sind, wobei aber wenige Männer ein Monopol auf sie haben. In einem solchen Milieu lohnt es sich, sein Leben aufs Spiel zu setzen; Daly und Wilson formulieren es so: »Jedes Lebewesen, das erkennbar auf dem Weg ist, im Hinblick auf die Fortpflanzung völlig zu scheitern, muss in irgendeiner Form seine Anstrengungen - häufig unter Lebensgefahr - verstärken, um damit seinem derzeitigen Leben eine bessere Wendung zu geben.« Dagegen selektioniert ein Umfeld, in dem es eine gleiche An¬zahl von Männern und Frauen sowie monogame Beziehungen zwischen ihnen gibt, die »Papa-Rolle«. Unter solchen Umständen verschafft ge¬waltsames Konkurrenzverhalten den Männern keinen Fortpflanzungs¬vorteil, sondern sie laufen Gefahr, in Sachen Fortpflanzung einen großen Nachteil zu erleiden: Ein toter Mann kann seine Kinder nicht versorgen. ... Dass es im Westen Nordamerikas irgendwann zahmer zuging, lag nicht nur an kaltschnäuzigen Sheriffs und Richtern, die Verbrecher hängen lie¬ßen, sondern vor allem am Zustrom der Frauen. In den »in Roaring Gulch eingetroffenen, sittsam-hübschen Lehrerinnen« der Hollywood- Western spiegelt sich eine historische Realität wider. Der Natur ist ein ungleiches Geschlechterverhältnis ein Gräuel, und schließlich strömten Frauen aus den Städten und von den Bauernhöfen des Ostens entlang des sexuellen Konzentrationsgefälles nach Westen. Witwen, alte Jungfern und junge, alleinstehende Frauen suchten ihr Glück auf dem Heirats¬markt; ermutigt wurden sie dabei sowohl von den einsamen Männern selbst als auch von Beamten und Geschäftsleuten, die des Treibens in den Drecklöchern des Westens zunehmend überdrüssig waren. Die neu ein¬getroffenen Frauen nutzten ihre starke Verhandlungsposition, um den Westen zu einer Umwelt zu machen, die ihren Interessen besser diente. Sie bestanden darauf, dass die Männer die Schlägereien und das Trinken zugunsten von Ehe und Familienleben aufgaben, trieben den Bau von Schulen und Kirchen voran und sorgten für die Schließung von Saloons, Bordellen, Spielhallen und anderen Einrichtungen, die mit ihnen um die Aufmerksamkeit der Männer konkurrierten. Institutionalisierte Unter¬stützung für ihre Zivilisationsoffensive erhielten die Frauen durch Kirchen mit ihrer gemischtgeschlechtlichen Mitgliederschaft, gutes Be¬nehmen am Sonntagmorgen und die Verherrlichung von Mäßigungs¬vorschriften. Heute lachen wir über die Women's Christian Temperance Union (mit ihrem die Axt schwingenden Kneipenschreck Carrie Nation) und die Heilsarmee, zu deren Hymne der Satire zufolge die Zeilen ge¬hören: »We never eat cookies 'cause cookies have yeast / And one little bite turns a man to a beast« [»Wir essen nie Kekse, denn in Keksen ist Hefe / Und ein kleiner Biss machte den Mann zur Bestie.«] Aber die ersten Fe-ministinnen der Abstinenzbewegung gaben eine Antwort auf die höchst reale Katastrophe der vom Alkohol getriebenen Bluttaten in den von Männern beherrschten Enklaven.

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Die Vorstellung, dass junge Männer durch Frauen und Heirat zivili¬siert werden, mag abgedroschen klingen, aber sie ist in der modernen Kriminologie eine Binsenweisheit. Im Rahmen einer berühmten Studie hat man tausend Teenager aus der unteren Einkommensgruppe aus Boston 45 Jahre lang begleitet und zwei Faktoren ausgemacht, die vorher¬sagen, ob ein Mann das Leben eines Verbrechers führen wird: ein sicherer Arbeitsplatz und eine Frau, um die und deren Kinder er sich kümmert und die er unterstützt. Die Wirkung der Hochzeit war beträchtlich: Drei Viertel der Junggesellen, aber nur ein Drittel der Ehemänner begingen weiterhin Verbrechen. Der Unterschied allein kann uns keinen Auf¬schluss darüber geben, ob eine Hochzeit Männer von Verbrechen fern¬hält oder ob Berufskriminelle mit einer geringeren Wahr-scheinlichkeit heiraten, aber die Soziologen Robert Sampson, John Laub und Christo¬pher Wimer haben gezeigt, dass eine Hochzeit tatsächlich eine befrieden¬de Wirkung zu haben scheint. Als sie alle Faktoren, die Männer norma¬lerweise zu einer Heirat treiben, konstant hielten, fanden sie heraus, dass eine tatsächliche Heirat die Wahrscheinlichkeit für einen Mann senkt, unmittelbar danach Verbrechen zu begehen.108 Der Kausalzusammen-hang ist von Jonny Cash kurz und bündig erklärt worden: »Because you're mine, I walk the line« [»Weil du mir gehörst, befolge ich die Regeln«].“ 71 Die Verdrängung des Konkurrenzkampfs aus den Gemeinschaften ist das zentrale Motiv der Opferrituale, die bei Freud und Girard als Ursprung menschlicher Kulturentwicklung interpretiert werden. "Allein, wenn man die von der Psychoanalyse gegebene Übereinstimmung des Totem mit der Tatsache der Totemmahlzeit und der Darwinschen Hypothese über den Urzustand der menschlichen Gesellschaft zusammenhält, ergibt sich die Möglichkeit eines tieferen Verständnisses, der Ausblick auf eine Hypothese, die phantastisch erscheinen mag, aber den Vorteil bietet, eine unvermutete Einheit zwischen bisher gesonderten Phänomenen herzustellen.“ (S. Freud, Totem und Tabu, GW, S. 171) Interessanterweise ist in der Freudschen Urszene nicht die Konkurrenz ums (individuelle) Überleben, sondern die Fortpflanzungskonkurrenz bestimmend. Anders als es die mißverständliche Formel vom „survival of the fittest“ suggeriert, muss in evolutionstheoretischer Perspektive die Fortpflanzung als der grundlegendere Vorgang betrachtet werden im Vergleich mit dem Überleben der Individuen. Denn ohne Replikation gibt es kein Leben. Deshalb ist anzunehmen, dass auch in der kulturellen Evolution den Formen der Fortpflanzungskonkurrenz größere Bedeutung zukommt als den Formen der Überlebenskonkurrenz. Diese Aussage bezieht sich allerdings nur auf das individuelle Überleben. Unter Einbeziehung von Gruppenselektion sind die Formen der Fortpflanzung als eingebettete Bestandteile zu betrachten. Dieser Punkt wäre hier evtl. noch auszuformulieren i.S. einer primordialen Gleichzeitigkeit von Sexualität, Individualität und Gruppenbildung. Wo es keine individuellen Organismen gibt, kann es auch noch keine Gruppenbildung geben. Konkurrenz auf Gruppenebene kann also auch erst emergieren mit sexueller Fortpflanzung und Individualisierung. Andererseits wird dann für kulturelle Evolution relevant, dass die Gegebenheit von Gruppen (Sozialsystemen) die Bedingungen der Sexualität und der Individualität verändert (dh. zunächst einschränkt). 72 In diesem Sinne auch Luhmann, 1997, 649: „Während Magie und im Anschluß weitere religiöse Entwicklungen wie Mythen und Riten die Grenze zum Unvertrauten bewachen, geht es bei der Grundnorm der Reziprozität um ein internes Regulativ segmentärer Gesellschaften; und zwar um ein Regulativ, das sowohl den Fall der Kooperation als auch den Fall des Konfliktes erfaßt, also auch diesen lebenspraktisch so wichtigen Unterschied noch mit Normen für Tausch und für Rachebeschränkung ausstattet. “ In diesem Sinne dann auch die transzendentale Erweiterung der Opferpraxis (1997, 652): „In beiden Richtungen, in positiven wie in negativen Beziehungen, hat das Prinzip der Reziprozität auch eine kosmologische Dimension. Im Verhältnis zu Göttern, Geis-


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tern oder anderen jenseitigen Mächten nimmt es die Form des Opfers an. Das Opfer kann der Besänftigung der Götter dienen, wenn ein Verhalten ihren Zorn erregt hatte, oder kann sie günstig stimmen für Vorhaben, die ihrer Unterstützung bedürfen. In beiden Varianten setzt das Opfer voraus, daß die Maxime der Reziprozität auch für die Beziehungen zum Jenseits gilt und von den Göttern anerkannt und damit bestätigt wird.“ 73 Für die frühen Erscheinungsformen segmentärer Differenzierung ist die starke Bindung an räumliche Grenzen hervorzuheben, die sich in den symbolischen Markierungen niederschlägt. Diese Verbindung von Verwandtschaft und Territorium bleibt auch erhalten, wenn die Gruppen wandern, und sie tritt besonders hervor, wenn sie – in der Konkurrenz um beschränkte Ressourcen auf einem bestimmten Territorium – in Konflikt miteinander geraten. In Luhmanns Beschreibung erscheint die Bedeutung symbolischer Markierungen, die den Schutz durch ein bestimmtes Sozialsystem sichert, eher reduziert auf die Lösung kognitiver Probleme: „Da segmentäre Differenzierung die Gesellschaft in gleichartige Teilsysteme einteilt, muß deren Abgrenzung ein besonderes Problem gewesen sein; denn auf der anderen Seite, in anderen Familien oder anderen Dörfern lebt man ja nicht prinzipiell anders, sondern so ähnlich wie bei uns. Das könnte erklären, daß auf Symbolisierung von Grenzen besonderer Wert gelegt wird — teils durch Markierungen, teils durch Auszeichnung besonderer Plätze (zum Beispiel für Tausch), teils durch symbolische Ausgestaltung von Übergängen oder auch durch Anerkennung eines Sonderstatus für Fremde als Gäste.“ (1997, 641) 74 S. die Anfänge der Ethnologie – mit ihren Bildern von intern repressionsfreien und extern friedlichen Gesellschaften. 75 Hinweis auf Belege bei Sanderson, Turner/Marianski, Wade, Sober/Wilson u.a. – und im Rahmen einer großangelegten Geschichtskonstruktion Pinker 2011. Leider vernachlässigt Pinker aber die Effekte der Gruppenselektion und unterscheidet deshalb zu wenig zwischen externen und internen Konfliktlagen. 76 Hier evtl. der Ort für eine kritische Anm. zu Latours Versuch einer völligen Eliminierung des in der älteren Theorietradition noch als Ordnungsproblem, neuerdings nur noch als Methodenproblem behandelten Größenproblems. 77 Erste Formen hierarchischer Differenzierung sind bekanntlich schon in Stammesgesellschaften – den sog. Häuptlingsgesellschaften – zu beobachten, wenngleich typischerweise noch in wenig stabilen Erscheinungen. 78 Hier (und nicht erst im folgenden Abschnitt) schon anführen, dass „Hochkultur“ als Epochenbezeichnung eng verknüpft ist mit den erweiterten Formen der Tradierung kollektiver Wissensvorräte (Replikationseinheiten), die durch schriftliche Aufzeichnung möglich wurden. 79 Die Unterscheidung zwischen Formen der Zentrum-PeripherieDifferenzierung und der stratifikatorischen Differenzierung ist von Luhmann eingeführt worden. Es erscheint jedoch nicht zwingend, ihre Evolution als historische Abfolge von zwei verschiedenen Differenzierungsformen zu betrachten. „Vormoderne Hochkulturen beruhen auf Differenzierungsformen, die an strukturell entscheidender Stelle Ungleichheiten berücksichtigen und ausnutzen können. Sie verwenden, wenn voll ausgebaut, sowohl stratifikatorische Differenzierung als auch Zentrum/Peripherie– Differenzierung.“ (Luhmann 1997, 663). Tenbruck (1972) spricht nur von insgesamt drei Typen sozialer Differenzierung (ebenso North et al. 2009). Anhaltspunkte für die Zusammengehörigkeit beider Formen in einem Typ kann man auch in Luhmanns Formulierung erkennen: „So gesehen bietet die Unterscheidung Zentrum/ Peripherie auf ihrer einen Seite, im Zentrum, zugleich eine Chance für andere Formen der Differenzierung, und zunächst vor allem für Stratifikation. Sie ist, wenn man überspitzt formulieren darf, eine Differenzierung von Differenzierungsformen, auf dem Lande noch segmentärer und in der Stadt schon stratifikatorischer Differenzierung.“ (1997, 674). Statt von zwei Grundformen sozialer Differenzierung könnte man also auch von einer Koexistenz stratifikatorischer Differenzierung in einem lokalen Zentrum

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mit (fortdauernder) segmentärer Differenzierung in der Peripherie sprechen. Diese wäre dann zurückzuführen auf den Gebrauch neuer Verkehrs- und Gewaltmittel, die zwar eine räumliche Ausdehnung, aber (noch) keine gleichmäßige Verdichtung der Kommunikation zulassen. - S. meine Ausf. zu Koexistenz und Konflikt der Differenzierungsformen im letzten Abschnitt. 80 Dazu Tenbruck (1972, 66): „Das eigentlich strukturelle Problem, das sich in jedem Falle stellt, ist die dauerhafte Organisation von lokalen Einheiten in einem Herrschaftssystem, die ein überlokales Kommunikationsnetz und einen Herrschaftsapparat voraussetzt, damit der Transport von Nachrichten, Personen und Gütern möglich und die Übermittlung und Durchsetzung von Befehlen gesichert werden. Dieser Herrschaftsapparat besteht nicht nur aus der eigentlich politischen Hierarchie; rechtliche, militärische, wirtschaftliche, religiöse und andere Aufgaben werden von ihm wahrgenommen oder sondern sich in eigenen hierarchischen Institutionen aus, die in mehr oder weniger fester Form in die Herrschaft eingegliedert sind. Dieser Apparat läuft gewöhnlich in einem städtischen Zentrum zusammen und entwickelt sich wohl auch mit der Entstehung der auf Umlandsbeziehung und beherrschung angewiesenen Stadtkultur, was hier nur erwähnt werden kann.“ 81 „Der Differenzierungsvorgang kann also irgendwo und irgendwie beginnen und dann die eingetretene Abweichung verstärken.“ heisst es bei Luhmann programmatisch (1997, 598f.): „Unter vielen Siedlungen bildet sich ein bevorzugter Ort, an dem Zentralisierungsvorteile sich wechselseitig stützen, so daß schließlich eine neue Differenz von Stadt und Land entsteht. Erst dadurch werden die übrigen Siedlungen zu "Dörfern" im Unterschied zur Stadt und richten sich allmählich darauf ein, daß es auch eine Stadt gibt, in der ein anderes Leben gelebt werden kann als im Dorf und die als Umwelt des Dorfes dessen Möglichkeiten verändert.“ Vgl. zur Entwicklung von Städten Popitz, Artifizielle Gesellschaft. 82 In Luhmanns Definition von Reichen fehlt (aufgrund seiner systemtheoretischen Prämissen) eine Unterscheidung der technischen Mittel, die im Innen- und Außenverhältnis zur Wirkung kommen. So erscheint die imperiale Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme (unter stiller Beteiligung der militärischen Gewaltmittel) bloß als Ausdehnung der Kommunikation: „Um den Begriff des Reiches etwas strenger zu fassen, sollen Reiche hier historisch als ein quasi natürliches Nebenprodukt der Ausdehnung von Kommunikationsmöglichkeiten verstanden werden. Zur Form des Reiches gehört daher, wie bereits gesagt, das Fehlen definitiver Grenzen. An ihrer Stelle findet man Horizonte, die das Erreichbare bestimmen und mit ihm variieren. Ein Reich ist also der Sinnhorizont von Kommunikationen, und zwar von Kommunikationen bürokratischer Eliten, die von der Einzigartigkeit ihres Reiches ausgehen und Raumgrenzen, wenn überhaupt, als vorübergehende Einschränkungen ihres faktischen Einflußbereichs hinnehmen. Der (vorläufig) letzte Fall eines solchen Reiches dürfte — im Kontext der sozialistischen Internationale und einer wissenschaftlich vorausgesagten Weltrevolution — die Sowjetunion gewesen sein.“ (1997, 670f.) Hierzu evtl. Hinweis auf Münklers Parallelisierung zwischen Rom und USA. 83 S. evtl. Saskia Sassen über Metropolen ... 84 Tenbruck (1972, 70) stellt den Aspekt der Freisetzung durch Binnendifferenzierung heraus: „So wie viel später die Trennung von Haushalt und Betrieb nebst der durch die Betriebsgröße notwendig werdenden Betriebsführung erst das wirtschaftliche Handeln aus familialen und sozialen Beziehungen, Rücksichten und Wertmaßstäben herausnahmen und rein zu seiner eigenen Rationalität freisetzten, ihm damit auch erst seine Dynamik gaben, so wurde mit der Freistellung einer überlokalen Schicht, die in einem und durch einen Herrschaftsapparat handelte, erstmalig menschliches Handeln aus dem Raum der umfassenden und alleinigen Lebensgruppe herausgenommen. Der Gegenstand des Handelns rückt hier in die Distanz, in der Reflexion und Wille sich seiner bemächtigen können. An die Seite des direkten Miteinander-(oder Gegeneinander-)Handelns tritt nun indirektes Handeln, das die


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Situation und Reaktion der anderen bestenfalls fragmentarisch als Information einstellen kann.“ 85 Luhmann hat darauf hingewiesen, dass es es bei stratifikatorischer Systembildung primär um die Kommunikation unter Gleichen geht: „equality becomes a norm for internal communication and inequality becomes a norm for communication with the environment." (Luhmann 1977, 33 ausführlich auch 1997, 693f.). Dass diese Form der sozialen Differenzierung auch der Vermeidung von Konkurrenzkonflikten dient, ist in Luhmanns Formulierung nur noch indirekt – im Bezug auf die Konflikte unter Gleichgestellten – erkennbar: „Freilich ist schichtinterne Gleichheit nicht als Eintracht und Übereinstimmung zu verstehen; sie strukturiert und steigert Chancen für Kooperation und für Konflikt, und gerade die alteuropäische Adelsethik hat mit ihrer Betonung von Werten wie valor und honestas, aber auch mit Erziehungszielen wie eloquentia durchaus streitbare Züge. Kooperation und Konflikt beruhen auf einer Absonderung der Oberschicht und damit auf konzentrierter Verfügung über Ressourcen.“ (1997, 687). 86 Entgegen dem mainstream der Literatur über traditionellhochkulturelle Gesellschaften, in der staatliche Organisation bereits vor zehntausend Jahren beginnt (s. nur North 2009), vermeidet Luhmann es diesbezüglich von staatlicher Organisation zu sprechen (1997, 681f.). Diese Bezeichnung reserviert er für den modernen Staat (den durch Gemeinschaftsideale aufgeladenen Nationalstaat) den er aber nicht als Organisation, sondern als Reflexionsform des politischen Systems betrachtet. 87 Hier evtl. Hinweis auf den Umbruch von Theokratien zu weltlichen Regimen mit religiöser Legitimation in der sogenannten Achsenzeit (s. Jaspers, Eisenstadt, Bellah u.a.). 88 Dazu Tenbruck (1972, 71f) „Schließlich haben die sich aussondernden religiösen, rechtlichen, militärischen oder administrativen Hierarchien, die natürlicherweise mit der Synthese heterogener Kulturelemente befaßt waren, noch auf andere Weise zur Entstehung der kulturellen Objektivationen beigetragen. So klein und locker sie auch gewesen sein mögen, so stellten sie doch Gruppen beruflicher Spezialisierung dar. Ihre Angehörigen unterscheiden sich von vergleichbaren Rollen der primitiven Gesellschaft nicht nur durch die vollständigere Freistellung vom Lebenserwerb, sondern eben auch dadurch, daß sie Berufsgenossen besitzen.“ 89 Dies ist aber keineswegs die erste Form funktionaler Differenzierung. Protostrukturen lassen sich schon in den Stammesgesellschaften in den symbolischen Formen erkennen, mit denen die natürlichen Alters- und Geschlechtsunterschiede kulturell legitimiert und in Rollenerwartungen transformiert werden. 90 „Funktionale Differenzierung“ so Luhmanns Definition (1997, 745f.) „besagt, daß der Gesichtspunkt der Einheit, unter dem eine Differenz von System und Umwelt ausdifferenziert ist, die Funktion ist, die das ausdifferenzierte System (also nicht: dessen Umwelt) für das Gesamtsystem erfüllt. Die Kompliziertheit dieser systemtheoretischen Definition macht zugleich die Unwahrscheinlichkeit, die in der Sache selbst liegt, sichtbar und erspart uns, wenn beachtet, unnötige Kontroversen. Die Funktion liegt im Bezug auf ein Problem der Gesellschaft, nicht im Selbstbezug oder der Selbsterhaltung des Funktionssystems.“ Aber worin besteht das Problem? Wenn Luhmann in dieser Hinsicht auf Probleme älterer Differenzierungsformen mit der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen verweist, tendiert die Erklärung zu einer Tautologie, die nur durch eine evolutionstheoretische Betrachtung aufgelöst werden kann. Tenbruck (1972, 72f) verweist auf technische Innovationen (allerdings ohne explizit auf den Selektionsdruck einzugehen, der damit in der Form sozialer Differenzierung ausgelöst wird): „Historisch gesehen, ist es die mit den Territorialstaaten sich ausbildende Verwaltung, die damit verbundene verbesserte Infrastruktur und Kommunikationsmöglichkeit, schließlich die durch erhöhte agrarische Produktion ermöglichte Freistellung von Arbeitskräften gewesen, die eine gewisse soziale Mobilität von Menschen, Nachrichten und Waren ermöglichten, auf der dann der eigentliche Durchbruch und Vorgang, nämlich die von fortschreitenden

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wissenschaftlichen Erkenntnissen zehrende Industrialisierung, aufbauen und fortschreiten konnte. Erst mit der Überwindung dieser Schwelle erreichte der gesellschaftliche Fortschritt, im Sinne der Erhöhung der Arbeitsteilung, die Kraft der Fortentwicklung aus sich selbst.“ In Luhmanns Interpretation des Übergangs von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung – ausgelöst durch Veränderungen der Kommunikationsmittel – kommt (allerdings eher implizit) zum Ausdruck, dass es um die Vermeidung von Konkurrenzkonflikten geht (1997, 712f): „Die Veränderungen betreffen vor allem den Adel, und dies nicht in der Form einer Konkurrenz durch eine andere Oberschicht, sondern durch die allmähliche Entwertung der Differenz, die den Adel vom Volk unterscheidet. [...] Seit der massiven Förderung durch den Buchdruck, seit dem 16. Jahrhundert also, gewinnt auch die Wissenschaft Distanz zur Religion — zum Beispiel über einen emphatisch besetzten Naturbegriff, über spektakuläre Konflikte (Kopernikus, Galilei) und über die Inanspruchnahme der Freiheit zur Skepsis und zur neugierigen Innovation, wie sie weder auf die Politik noch auf die Religion hätte angewandt werden können. [...] Solche Spannungen und Veränderungen fesseln die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen. Sie verdecken zugleich, daß es in diesen Konflikten zwischen den sich ausdifferenzierenden Funktionssystemen zu einer Gesamtbewegung kommt, nämlich zur parallellaufenden Ausdifferenzierung einer Mehrheit von Funktionssystemen.“ 91 Evtl. darauf hinzuweisen, dass sich zugleich die Innen-AußenDifferenzierung bezüglich der technischen Kommunikationsmittel auflöst: die Steigerung der Reichweite der Kommunikationsmittel erfolgt zunächst im Dienst der Kriegsführung – s. Telegraphie und Internet. 92 Mit der Ausbreitung des Buchdrucks und dem entsprechenden Markt für Leser (s. dazu den auch von Luhmann wiederholt zitierten Giesecke, 1991) erfolgt eine Steigerung in räumlicher und zeitlicher Hinsicht, während bei stratifikatorischer Differenzierung noch primär nur die zeitliche Dimension zum Zuge kommt. 93 Ich spreche von einer Wiedereinführung der Konkurrenz, weil ich von ihrer natürlichen Gegebenheit in primordialen Formen der Sozialität und ihrer Unterdrückung in allen älteren Formen kultureller Sozialität ausgehe. Primordiale Formen der internen (nichtgewaltsamen) Austragung von Konkurrenz sind bereits in der sexuellen Selektion unter den Bedingungen natürlicher Gruppenselektion gegeben. (Miller, 2001). 94 Ich sehe an dieser Stelle ab von den Pathologien, die auch in der Moderne als Folge von Mehrfachexklusionen entstehen. Sie sind m.E. auch nicht als konstitutive Merkmale funktionaler Differenzierung, sondern im Kontext der Konkurrenz der Differenzierungsformen zu untersuchen (s. 9.). 95 In evolutionstheoretischer Perspektive genügt es nicht, auf die Ähnlichkeit der Ein- und Aussschlussformen in älteren Formen erweiterter Sozialität zu verweisen wie in dem programmatischen Aufsatz Luhmanns zur Ebenendifferenzierung: „Man kann die soziokulturelle Evolution beschreiben als zunehmende Differenzierung der Ebenen, auf denen sich Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme bilden. Betrachten wir zunächst die Anfangs- und Endpunkte dieser Entwicklung: In den einfachsten archaischen Gesellschaftsformationen sind Interaktion, Organisation und Gesellschaft nahezu identisch. Die Stammesgesellschaft besteht aus dem Umkreis absehbarer, für den einzelnen zugänglicher Interaktionen. Sie stößt wie eine Organisation Personen, die sich nicht fügen, aus und nimmt, vor allem durch Heirat, Personen auf. Interaktion, Organisation und Gesellschaft sind strukturell ineinander verschränkt und limitieren sich wechselseitig.“ (1975: 13) Was den Unterschied in der zivilisatorischen Form moderner Organisationen ausmacht: Man stirbt normalerweise nicht an den Folgen der Exklusion! 96 „Competition in an open access order, therefore, differs from competition in natural states for another critical reason beyond limitations on competition through violence. Open access societies are capable of sustaining impersonal relationships on a large scale through their ability to support impersonal, perpetually lived


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organizations, both inside the state and in the wider society. Impersonality fundamentally changes the nature of competition. Impersonal markets and impersonal exchange are not just a theoretical ideal in economics; they are a feature of open access societies.“ North et al. 2009, 23. 97 Als eine Form der Technisierung der Kommunikation in (gegenüber dem individuellen Handeln) verselbständigten Erlebensformen, wird die moderne Form der Öffentlichkeit zu einem Moment des Selektionsmechanismus der kulturellen Evolution. Variation Selektion Technisierung Wettbewerb Makroebene

Organisation

Öffentlichkeit

Mikroeebene

Interaktion

Privatheit

Handeln Erleben Genauer gesagt: Öffentlichkeit wird zur Grundlage einer Selektion zweiter Ordnung, in der die Konkurrenz der Akteure nach funktionsspezifischen Kriterien reguliert (in die zivilisierte Form von Wettbewerben transformiert) und differenziert wird. Durch diese Differenzierung werden Konkurrenzkonflikte beschränkt und soziale Ordnung restabilisiert. Daher bezeichnet Luhmann Differenzierung als Mechanismus der Restabilisierung. Für die Bezeichnung des Mechanismus der Selektion (erster Ordnung) greift die gelegentlich verwendete Bezeichnung von Konkurrenz zu kurz. Selektiv wirkt hier ja nicht die operative Austragung von Konkurrenz, sondern es wirken die in der innergesellschaftlichen Umwelt (öffentlich) verankerten Anschlussbeschränkungen der Kommunikation. Daher kann Luhmann für die Moderne auf die Medien-Codes der Funktionssysteme verweisen. Allerdings wird dabei vernachlässigt, dass der Selektionsdruck durch die Konkurrenz der Akteure selbst aufgebaut wird. Zur Verankerung der Konkurrenz in Formen und Medien der Öffentlichkeit vgl. auch Werron 2011 mit der These, dass „öffentliche Kommunikationspro¬zesse ,im Horizont des Publikums', ...zu Konstrukteuren und Taktgebern der Konkurrenz [werden], die den Rhythmus, das Gedächtnis, die Komplexität und die Universalisierungs- und Globalisierungsdynamik moderner Konkurrenzen bestimmen.“ Werron beansprucht damit, dem „ökonomischliberalen Modell" und dem „sozialwissenschaftlich-darwinistischen Modell" ein genuin soziologisches Modell der Konkurrenz zur Seite zu stellen: „Die Form der öffentlichen Konstruktion von Konkurrenzen, ... kommt quer durch die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft vor und könnte in einem differenzierungstheoretischen Analyserahmen zu einem Vergleich von Graden der Ausprägung von Konkurrenz in unterschiedlichen Funktionsbereichen ausgebaut werden.“ (Werron 2011, 256). Zur Unterscheidung der Begriffe Konkurrenz und Wettbewerb s. schon Ferdinand Tönnies' Anmerkungen, Diskussion über ,Die Konkurrenz', in: Verhandlungen des Sechsten Deutschen Soziologentages vom 17. bis 19. September 1928 in Zürich, Tübingen 1929, 84-88 (Hinweis aus Werron 2011, bei ihm aber m.E. unzulänglich berücksichtigt). 98 Dieser Freisetzungsprozess ist von C. Wouters (1999) im Anschluss an Elias Zivilisationstheorie als „Informalisierung“ beschrieben worden. Dazu zusammenfassend Pinker (2011, 202f.): „Nach Ansicht von Cas Wouters, der sich von Gesprächen mit Elias in dessen letzten Lebensjahren inspirieren ließ, durchleben wir derzeit eine neue Phase des Zivilisationsprozesses. Es handelt sich dabei um den zuvor bereits erwähnten Langzeittrend der Informalisierung, und er führt zu dem, was Elias als »kontrollierten Kontrollverlust der Affektsteuerung« bezeichnet - Wouters spricht von der »dritten Natur«. Wenn unsere erste Natur aus den Motiven besteht, die in der Evolution entstanden sind und das Leben im Naturzustand steuern, während die zweite Natur die geprägten Gewohnheiten einer zivilisierten Gesellschaft umfasst, dann beinhaltet unsere dritte Natur die bewusste Reflexion dieser Gewohnheiten, mit der wir bewerten, welche Aspekte der kulturellen Normen es wert

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sind, dass man daran festhält, und welche ihre Nützlich- keit mittlerweile verloren haben. Vor Jahrhunderten mag es notwendig gewesen sein, dass unsere Vorfahren alle Anzeichen von Spontaneität und Individualität unterdrücken, um sich zu zivilisierten Menschen zu machen, aber heute, da die Normen der Gewaltlosigkeit sich tief eingeprägt haben, können wir bestimmte Hemmungen fallenlassen, weil sie obsolet geworden sind. Nach dieser Denkweise ist die Tatsache, dass Frauen viel Haut zeigen oder Männer in der Öffentlichkeit fluchen, kein Zeichen des kulturellen Verfalls. Im Gegenteil: Es zeigt, dass sie in einer hochzivilisierten Gesellschaft leben und deshalb nicht fürchten müssen, als Reaktion auf ihr Verhalten belästigt oder angegriffen zu werden.“ 99 Der Fehler in der vielzitierten Diagnose vom „stahlharten Gehäuse“ (der bürokratisch rationalisierten Gesellschaft) besteht also darin, nicht genügend zu berücksichtigen, dass die moderne Gesellschaft durch Ebenendifferenzierung viel mehr Konflikt zulässt als alle vergangenen Formen der menschlichen Sozialität! 100 So ist der Mechanismus der Konfliktexternalisierung auch schon in der Freudschen Kulturtheorie beschrieben: „Es wird den Menschen offenbar nicht leicht, auf die Befriedigung [...] ihrer Aggressionsneigung zu verzichten; sie fühlen sich nicht wohl dabei. Der Vorteil eines kleineren Kulturkreises, daß er dem Trieb einen Ausweg an der Befeindung der Außenstehenden gestattet, ist nicht geringzuschätzen. Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben. [...]. Das überallhin versprengte Volk der Juden hat sich in dieser Weise anerkennenswerte Verdienste um die Kulturen seiner Wirtsvölker erworben; leider haben alle Judengemetzel des Mittel¬alters nicht ausgereicht, dieses Zeitalter friedlicher und sicherer für seine christlichen Genossen zu gestalten. Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christ¬lichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußerste Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge geworden; den Römern, die ihr staatliches Gemeinwesen nicht auf die Liebe begründet hatten, war religiöse Unduldsamkeit fremd gewesen, obwohl die Religion bei ihnen Sache des Staates und der Staat von Religion durchtränkt war. Es war auch kein unverständlicher Zufall, daß der Traum einer germanischen Welt-herrschaft zu seiner Ergänzung den Antisemitismus aufrief, und man erkennt es als begreiflich, daß der Versuch, eine neue kommu-nistische Kultur in Rußland aufzurichten, in der Verfolgung der Bourgeois seine psychologische Unterstützung findet. Man fragt sich nur besorgt, was die Sowjets anfangen werden, nachdem sie ihre Bourgeois ausgerottet haben.“ (Freud 1948, 473f.) 101 Stichweh hat (in einem unveröff. Artikel 2008) die Folgerung formuliert, dass durch die globale Ausdehnung und Verdichtung der menschlichen Sozialität zur Weltgesellschaft die „Unizität“ der Spezies „Homo sapiens“ i.S. einer Selbstabgrenzung stärker hervorgetreten sei, als dies historisch für frühere Gesellschaften der Fall war: „Diese Selbstbegrenzung und Präzisierung der Grenzbildung sozialer Systeme korreliert schliesslich mit einer spezifischen Rücksichtslosigkeit menschlicher sozialer Systeme. Sie institutionalisieren gesellschaftsweite Semantiken der Humanität und globale Menschenrechte (auch wenn es global umstrittene Menschenrechte sein sollten), aber sie sind vergleichsweise indifferent gegenüber allen jenen, die nicht mehr zu den berücksichtigungsfähigen Adressen in der Umwelt der Gesellschaft gehören . Ein solcher Rückzug menschlicher Gesellschaften auf sich selbst und ihre infrastrukturelle Prämisse des Menschen könnte unproblematisch sein, wenn nicht von Weltgesellschaft die Rede wäre. Denn das System der Weltgesellschaft ist auch ein System, dem eine Macht zugefallen ist, für die es in der Geschichte keine Vorläufer gibt. Die menschliche Gesellschaft entscheidet nicht nur über ihre eigenen Lebensbedingungen. Sondern sie entscheidet mit der Entscheidung über diese auch über die Lebensbedingungen und die Erhaltungschancen der meisten anderen Spezies, die die natürliche Evolution hervorgebracht hat. Dies ist eine Her-


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ausforderung, eine ‚treuhänderische‘ Verantwortung für die Existenzbedingungen des Lebens auf der Erde, von der wir noch nicht wissen, ob die Sozialsysteme des Homo sapiens ihr gewachsen sein werden.“ In diesem Sinne auch Pinker 2011: 946 optimistisch: „Wenn die neueren Theorien der Moralpsychologie in die richtige Richtung gehen, gehören Intuitionen von Gemeinschaftsgefühl, Autorität, Heiligkeit und Tabu zur menschlichen Natur und werden uns immer begleiten, auch wenn wir uns darum bemühen, uns vor ihrem Einfluss abzuschirmen. Das ist nicht zwangsläufig ein Grund zur Beunruhigung. Beziehungsmodelle können kombiniert und eingebettet werden, und rational-legale Überlegungen, mit denen die Gewalt insgesamt so gering wie möglich gehalten werden soll, können die anderen geistigen Modelle auf nützliche Weise und aus strategischen Gründen mit einbeziehen. Wenn eine Version des Gemeinschaftsgefühls auf die Ressource des menschlichen Lebens angewendet wird und wenn die Gemeinschaft dabei nicht aus einer Familie, einem Stamm oder einer Nation besteht, sondern aus der gesamten Spezies, kann sie als emotionales Fundament für das abstrakte Prinzip der Menschenrechte dienen. Wir sind alle eine große Familie, und niemand in dieser Familie darf das Leben oder die Freiheit eines anderen vereinnahmen. Autorität und Rangfolge können das Monopol des Staates auf die Anwendung von Gewalt zur Verhinderung noch größerer Gewalt rechtfertigen.“ 102 So kommt die neoinstitutionalistische Weltgesellschaftstheorie unter Bezugnahme darauf, dass Akteure in einen gemeinsamen, hochgradig generalisierten kulturellen Bezugsrahmen eingebettet sind (also ohne Bezug auf eine evolutionstheoretisch fundierte Differenzierungstheorie) ebenfalls zu dem (auf den ersten Blick paradoxen) Ergebnis zunehmender Konkurrenzkonflikte: „Je größer die Zahl der Einheiten – Individuen, Organisationen oder Nationalstaaten —, die ähnliche Interessen mit ähnlichem Ressourcenbedarf haben, desto mehr geraten diese Einheiten in Konflikt miteinander und desto mehr stellen sie Theorien übereinander auf, in denen der jeweils andere als soziales Problem dargestellt wird.“ (Meyer 2005, 125). Hieran anschließend Dierkes/König: „Paradoxerweise fördert also die Institutionalisierung hochgradig universalistischer Kulturmuster wie der Menschenrechte auch die Entste¬hung partikularistischer Identitätsgruppen und entsprechender Konfliktkonstellationen.“ (2006, 144) 103 Die These, dass die Entwicklung der modernen Gesellschaft nicht durch den Primat einer neuen Differenzierungsform, sondern durch die Konkurrenz historisch evoluierter Differenzierungsformen bestimmt sei, ist hier natürlich noch nicht angemessen ausgeführt. An dieser Stelle möchte ich nur darauf verweisen, dass die Argumentation sich theoretisch auf die anti-teleologische Ausrichtung der Evolutionstheorie und empirisch auf die Evidenz fortbestehender Phänomene älterer Differenzierungsformen in der Moderne stützt. Die Evolutionsbiologie hat gezeigt, dass einmal evoluierte Formen von Organismen (im Unterschied zu Populationen und Arten) nicht verschwinden, sondern in komplexeren Formen der Organisation (oft in veränderter Stellung) reproduziert werden. So ähnlich könnte es auch für die kulturelle Evolution beschrieben werden. 104 An dieser Stelle (oder bereits eingangs) darauf zu verweisen, dass auch die Binnendifferenzierung der Wissenschaft selbst als Reaktion auf Konkurrenzkonflikte zu erklären ist. Hier (1.) die Konkurrenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und (2.) noch einmal innerhalb der Sozialwissenschaften. Programmatisch wäre hinzuweisen auf die Unfruchtbarkeit einer zu weit getriebenen Differenzierung am Beispiel der Sozialwissenschaften und auf den Nutzen von Konzeptintegration - ohne hinter den Stand des Wissens zurückzufallen, der durch Ausdifferenzierung der Disziplinen ermöglicht wurde. 105 Wie sehr der Zeitgeist die Selbstbeobachtung der Moderne verzerrt, hat Steven Pinker im Rekurs auf Elias‘ Prozess der Zivilisation in Frageform pointiert: „Glauben Sie, dass ein Leben in der Stadt mit seiner Anonymität, großen Menschenmassen, Mig-

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ranten und einem Durcheinander der Kulturen und Schichten eine Brutstätte für Gewalt ist? Wie steht es mit dem quälenden gesellschaftlichen Wandel, der durch den Kapitalismus und die Industrielle Revolution ausgelöst wurde? Sind Sie überzeugt, dass das Leben in einem kleinen Ort, in dem Kirche, Tradition und Gottesfurcht im Mittelpunkt stehen, das beste Bollwerk gegen Mord und Totschlag ist? Nun, denken Sie noch einmal darüber nach. Während Europa immer urbaner, kosmopolitischer, kommerzieller, industrialisierter und säkularer wurde, wurde es auch immer sicherer.“ (Pinker 2011, 113). 106 So ist auch der innerfachliche Streit darüber, ob die Soziologie – entgegen der landläufigen Redeweise – für analytische Zwecke überhaupt einen Gesellschaftsbegriff benötige (und wenn ja, einen starken oder schwachen) darauf zurückzuführen, dass traditionell starke Gesellschaftsbegriffe immer von der (identitätssichernden) Voraussetzung konkurrierender Gesellschaften gezehrt haben. (S. Schwinn im Rekurs auf M.Weber gegen Luhmann etc. – als Überblick dazu Greve 2008) 107 „Der alte Mill ... sagt einmal: wenn man von der reinen Erfahrung ausgehe, komme man zum Polytheismus. Das ist flach formuliert und klingt paradox, und doch steckt Wahrheit darin. Wenn irgendetwas, so wissen wir es heute wieder: daß etwas heilig sein kann nicht nur: obwohl es nicht schön ist, sondern weil und insofern es nicht schön ist; ... und daß etwas schön sein kann nicht nur: obwohl, sondern: in dem, worin es nicht gut ist... - und eine Alltagsweisheit ist es, daß etwas wahr sein kann, obwohl und indem es nicht schön und nicht heilig und nicht gut ist. Aber das sind nur die elementarsten Fälle dieses Kampfes der Götter der einzelnen Ordnungen und Werte.“ (Weber 1919: 27/28) Diese Formulierung ist zumindest mißverständlich, wie die daran anschließende Intepretation bei Schimank zeigt: „Differenzierung bringt also in der modernen Gesellschaft ‚Wertsphären‘ hervor, die einander durch die Verabsolutierung unvereinbarer Handlungsorientierungen immer wieder und zunehmend ins Gehege kommen.“ (2000, 62) So interpretiert auch Schwinn Webers Formulierung i.S. funktionaler Differenzierung (Schwinn et al.. 2011, 27ff.) Was Weber mit seiner Formel vom Kampf der Ordnungen und Werte aber nur gemeint haben kann, sind nicht die Werte moderner Funktionssysteme, sondern die (in der Moderne) konkurierenden Wert– bzw. Lebensordnungen verschiedener Differenzierungsformen. Vergleichbar damit ist eher Webers Bezug auf konkurrierende Formen der Herrschaftslegitimation in seiner Soziologie der Politik. In diesem Sinne Koenig 2008, 75: „Gesellschaft stellt sich für Weber als Kampfplatz konkurrierender Statusgruppen dar, die jeweils ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen, ihre Standesehre und spezifischen politischen Orientierungen gegenüber der Welt und dem Menschen besitzen (vgl. Bendix 1964: 203; Turner 1988). Doch das Handeln innerhalb dieser drei für die Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse besonders wichtigen Lebensordnungen läßt sich nach Weber nur dann zureichend verstehen, wenn es in Bezug zur jeweiligen Herrschaftsordnung und ihrer Legitimation gesetzt wird.“ Dass Webers „Kampf der Wertordnungen“ nicht i.S. funktionaler Differenzierung sondern nur i.S. der Konkurrenz der historisch evoluierten Differenzierungsformen zu verstehen ist, wird auch deutlich in der mit vielen theoriegeschichtlichen Querbezügen ausgeführten Analyse von Tyrell 1999. In diesem Sinne ein Zitat aus Webers Wissenschaftslehre (1973, 507f.) „Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen ,Gott' und ,Teufel'. Zwischen diesen gibt es keine Relativierungen und Kompromisse. Wohlgemerkt dem Sinn nach nicht." 108 Das Mißverständnis funktionaler Differenzierung als soziale Desintegration schwingt mit, wenn ganze Kongresse von SoziologInnen unter Titeln wie „Differenz und Integration“ (Dresden 1996) tagen.


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Obwohl sich Luhmann – anders als der mainstream der Zeitdiagnosen – gegen die Verwendung von Differenz und Integration als Oppositionsbegriffe ausgesprochen hat (1997, 601f,) finden sich auch bei ihm gelegentlich (mißverständliche) Formulierungen, die den Anschein erwecken, dass Funktionssysteme miteinander in Konflikt geraten können (so 1997, 753): „Im Verhältnis der Funktionssysteme zueinander kann es Destruktion geben je nach dem, wie sehr sie aufeinander angewiesen sind ... “. Was aus der Perspektive von Individuen oder Gruppen von Individuen als destruktiv wahrgenommen werden kann, ist die prinzipielle Gleichgültigkeit der Organisationen, die sich an einem Funktionsprimat wie Wirtschaftlichkeit, Rechtlichkeit, Wissenschaftlichkeit o.a. orientieren gegenüber allen anderen Lebensbereichen wie zB. der Familie, wie auch untereinander. Daraus lässt sich jedoch kein Konflikt der Funktionssysteme ableiten – man könnte auch sagen: sie kennen sich ja gar nicht! Man bekommt aber die Folgen (die Nichtsubsitituierbakeit der Leistungen durch andere Systeme) zu spüren, wenn eines von ihnen nicht funktioniert. 109 In diesem Sinne hat Abrutyn (2009, 458) die institutionelle Einbindung von Konflikten als Grundlage der funktionalen Autonomie von Teilsystemen der modernen Gesellschaft bezeichnet: “Stability and institutional continuity depend on conflict being institutionalized in terms of legitimate rules of engagement and appropriate channels for conflict resolution. Institutions are arenas of conflict because they organize and (unevenly) distribute valued resources, including positions that have access to these resources, thus autonomy is a function of the degree to which conflict can be institutionalized within the institutional core. Formal channels for grievances must exist, status conflicts and political maneuvering are delimited means that can be employed in these struggles, and even efforts to change the core or usurp the privilege of the dominant groups in the core do not seek to destroy the structure of the institutional core, but gain control of it. The third proposition states that the more conflict is institutionalized into competition among actors within an institutional domain, the greater is the level of institutional autonomy.” 110 Bei Luhmann wird der Primat funktionaler Differenzierung deshalb auch nicht nur historisch, sondern letztlich aus Theorieprämissen abgeleitet: „Auf der Grundlage ihres Funktionsprimats erreichen die Funktionssysteme eine operative Schließung und bilden damit autopoietische Systeme im autopoietischen System der Gesellschaft.“ (1997, 748) Mit der autopoietischen Wende in „Soziale Systeme“ betrachtet Luhmann Konkurrenzkonflikte nicht mehr (wie in der Hobbesianischen Theorietradition) als grundlegendes Phänomen der menschlichen Sozialität, sondern als eine Begleiterscheinung funktionaler Differenzierung i.S. einer „sozialen Immunologie“ (520ff.). Die moderne Gesellschaft bediene sich einer „Semantik der Konkurrenz“ (521), um unter den Bedingungen ihrer gesteigerten Komplexität (und operativen Geschlossenheit) „Empfindlichkeit für Störungen“ (525) in ihrer sozialen Umwelt zu steigern. Mit diesem Konzept will Luhmann ausdrücklich die Annahme revidieren, Konkurrenz „sei ein Strukturprinzip von gesellschaftlich erstrangiger Be¬deutung ... Es handelt sich nicht um eine systembildende Struktur, denn Konkurrenz erfordert keine Kommunikation zwischen den Konkurrenten. Sie kann Systeme generieren, aber nur, wenn sie zum Konflikt wird.“ (523f.) Dass Konkurrenz keine grundlegendes Moment der menschlichen Gesellschaft sondern eher eine späte Erscheinungsform sei, macht Luhmann daran fest, dass sie „in sozialstruktureller Hinsicht eine hinreichende Ausdifferenzierung von Konkurrenzsituationen [erfordert], und das wiederum ist nur erreichbar, wenn Konkurrenz gegen Tausch und gegen Kooperation hinreichend differenziert werden kann. Die Personen, mit denen man konkurriert, dürfen nicht identisch sein mit den Personen, mit denen man koope-riert; und auch nicht mit den Personen, mit denen man tauscht. Die entsprechenden Sozialmodelle müssen auseinandergezogen und getrennt verwirklicht werden. Die Gesellschaftsbereiche, die dafür

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in Betracht kommen, waren für die Durchsetzung der modernen Gesellschaft besonders bedeutsam, vor allem die an Märkten orientierte Wirtschaft, und, auf deren Empfehlung gleichsam, Wissenschaft und Politik.“ (522f.) Luhmann geht also nicht davon aus, dass Konkurrenz immer schon zum Konflikt wird, der zum latenten Bestandteil sozialer Systembildung wird, sondern dass Konkurrenz ein Phänomen der Semantik ist, dessen sich die moderne Gesellschaft bedient. Konkurrenz verstärke nur Widerspruchswahrnehmungen, setze aber „als Vehikel der Operationalisierung, eine Semantik der Einheit voraus, die das Verschiedene als Konkurrenz verbindet.“ Die „wirkliche Einheit“ sei die der autopoietischen Reproduktion des Systems. Ein Immunsystem könne Formen entwickeln, „in denen die Einheit des Systems als Selbstreproduktion weiterläuft, und dies selbst dann, wenn Zukunft und Konkurrenten, Nutzen und Konsens kommunikativ unerreichbar bleiben.“ (524). Der springende Punkt für die theoretische Herabsetzung der Konkurrenz ist also im Luhmannschen Begriff der Kommunikation als autopoietischer Elementareinheit sozialer Systeme zu suchen. „Nicht alles, was in die Sozialdimension hineinverweist und auf das andere Erleben und Handeln anderer aufmerksam macht, ist schon gleich Konkurrenz.“ (521) Hier ist aber zu fragen, warum die soziale Konstellation, in der Konkurrenten sich wechselseitig beobachten (indem sie z.B. die Effekte des Handelns der Anderen an sinkenden Preisen erleben) ohne direkt zu interagieren, nicht als eine Form der Kommunikation betrachtet werden soll. Wenn Interaktion der entscheidende Punkt wäre, dürfte auch die Lektüre verstorbener Autoren nicht mehr zum Netzwerk der menschlichen Kommunikation gerechnet werden. Und ebensowenig die durch Massenmedien gestützten Formen der Öffentlichkeit, in denen Konkurrenzkonflikte in der Moderne vorrangig ausgetragen werden. Wenn Luhmannn daran anschließend postuliert, in Konkurrenz träten „die verschiedenartigen Möglichkeiten nur unter der mitgesehenen Bedingung eines Zwangs zur Einheit“ (521) – dann wird deutlich, dass er evolutionäre Errungenschaften der modernen Gesellschaft hinsichtlich der Freisetzung von sozialen Zwängen seiner Analyse stillschweigend voraussetzt: „Am deutlichsten entstehen Konkurrenzsituationen unter der Bedingung von Knappheit, also in der Wirtschaft. Hier ist Einheit, wenn man so sagen darf, in dezentralisierter Form zugänglich: an jedem Gut, das nur einer auf Kosten anderer erhalten kann. Im politischen System ist die These der Einheitlichkeit der Machtausübung auf einem bestimmten Machtgebiet erst in der Entwicklung des neuzeitlichen Staates forciert worden, und erst recht ist die Zulassung von Konkurrenz um diese Macht in einem mehr als faktischen, nämlich institutionalisierten Sinne ein Kunstprodukt politischer Verfassungen. Vollends prekär ist die Konkurrenz auf dem Gebiete des »Geistigen« - das Thema des berühmten Vortrags von Karl Mannheim. Mannheim bezieht Konkurrenz auf »die öffentliche Auslegung des Seins«, ohne zu begründen, weshalb das Sein nur eine öffentliche Auslegung zulasse. Wie man heute sehen kann, ist auch dies eine historische Frage. Inzwischen hat sich der »Pluralismus« legitimiert mitsamt allen Folgeerscheinungen wie Theorievergleich und -diskussion, und entsprechend wird das intellektuelle Klima dekonkurrenziert.“ (521f.) Auch diese Diagnose muss sich fragen lassen, ob sie die Effekte des friedlichen Pluralismus konkurrierender Ideen, die die moderne Gesellschaft ermöglicht hat, nicht über- und die fortdauernden Konkurrenzkonflikte nicht unterschätzt. 111 Dementsprechend plädiert auch Schimank in einem neueren Beitrag für eine konflikttheoretische Betrachtungsweise (2011, 269). Aber auch wenn hier „Kämpfe um Differenzierungsstrukturen“ in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, bleibt Schimank dabei, diese theoretisch auf die (Rückwirkung der gegenüber den Akteuren verselbständigten) Strukturen funktionaler Differenzierung statt auf die (unter den Akteuren ausgetragene) Konkurrenz historisch evoluierter Differenzierungsformen in der Moderne zurückzuführen.


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112 Noch einmal der Hinweis auf entsprechende Ausführungen bei Luhmann ... i.S. eines Auseinanderziehens der Ebenen, das durch die technischen Errungenschaften ausgelöst und symbolisch verarbeitet wird. 113 Dazu Luhmann 1984, 569f. programmatisch: „Die Differenz von Gesellschaft und Interaktion transformiert Bindung in Freiheit“. Dazu ausführlicher mein ZfS-Beitrag ... 114 Max Webers Rede vom „Kampf der Götter ...“ stellt insofern viel mehr als nur eine Metapher dar. 115 Aus dem Umstand, dass jeder Bezug auf die Gesellschaft schon einen Zug ins Transzendentale hat, lässt sich vielleicht auch ableiten, wie es unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung zu Äquivalenten für die traditionellen religiösen Formen transzendentaler Legitimation kommen kann. (S. schon Durkheim.) Menschen können - und müssen vielleicht sogar - in der Moderne aus theoretischer Einsicht und lebenspraktischer Erfahrung zu Atheisten werden. In evolutionstheoretischer Perspektive wäre es jedoch ganz unsinnig, deshalb zu behaupten, dass sie nicht mehr religiös seien. Keine menschliche Gesellschaft kann darauf verzichten, an diese natürlichen Dispositionen und symbolischen Mittel zur Restabilisierung sozialer Bindungen anzuknüpfen. Es bedarf dazu jedoch neuer zivilisatorischer Formen. 116 Das wird auch in den vormodernen Formen der Differenzierung zwischen Religion und Politik deutlich - s. dazu Tyrell 2011. 117 So verwendet Luhmann in der frühen Debatte mit Habermas über einen Begriff funktionaler Differenzierung, in dem von den spezifischen Erscheinungsformen der Moderne abstrahiert wird: »Gesellschaft ist diejenige Ebene der Systembildung, von der ab es funktionale Differenzierungen gibt« (Luhmann 1971,15). Demnach verfügen auch Stammesgesellschaften und traditionale Gesellschaften schon über funktionale Differenzierung oder sie verfügen gar nicht über die symbolisch verselbständigite Systemebene der Gesellschaft. 118 Stichweh hat darauf hingewiesen, dass die segmentäre Differenzierung der Weltgesellschaft in Nationalstaaten ein relativ neues Phänomen (Mitte des 20. Jh.s) also keinesfalls ein historisches Relikt ist. Für Stichweh ist diese Beobachtung aber nicht unvereinbar mit der Annahme eines Primats funktionaler Differenzierung in der Weltgesellschaft. 119 Dazu Ausführungen bei Luhmann 1997, 760f: „Immer wiederholt die weitere Differenzierung das Systembildungsschema, sie wiederholt das Einsetzen und reproduzieren einer Differenz zwischen System und Umwelt. Dabei stehen im Prinzip wieder alle Formen der Systemdifferenzierung zur Verfügung, sowohl Segmentierung als auch Zentrum/Peripherie-Differenzierung, Hierarchiebildung ebenso wie weitere funktionale Differenzierung. Im einzelnen unterscheiden sich die Funktionssysteme erheblich, die Komplexitätssteigerung nach innen folgt keinem gemeinsamen Muster. Im allgemeinen scheint jedoch eine Art segmentäre Differenzierung vorzuherrschen, die Momente einer funktionalen Differenzierung in sich aufnimmt. Das weltpolitische System ist segmentär in Territorialstaaten differenziert, bringt dabei aber zugleich eine Art Zentrum/Peripherie-Differenzierung zustande. Das Weltwirtschaftssystem kann man am besten als eine Differenzierung von Märkten begreifen, die als Umwelt für Organisationsbildungen (Unternehmen) dienen, die sich ihrerseits durch Blick auf ihren Markt als Konkurrenten wahrnehmen. Dabei entsteht keineswegs eine strikte Gleichheit der Segmente, man denke nur an die Sonderstellung der Finanzmärkte und der Banken, oder auch an die sehr unterschiedliche Empfindlichkeit von Arbeits-, Rohstoff- und Produktmärkten für Außeneinwirkungen. Auch das Wissenschaftssystem ist primär segmentär in Disziplinen gegliedert, die sich ebenfalls nicht durch Gleichheit, sondern gerade durch Ungleichheit der Forschungsgegenstände auszeichnen, aber in bezug auf unterschiedliche Forschungsgegenstände die gleiche Funktion erfüllen. Innerhalb der einzelnen Funktionssysteme scheint sich mithin das zu wiederholen, was wir auch für die Gesellschaft im ganzen ausmachen konnten: daß die eindeutige Festlegung auf den Primat einer bestimmten Differenzierungsform eher die Ausnahme als die Regel ist und daß dies,

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wenn es gelingt, das System evolutionären Änderungsschüben aussetzen kann, absehbar etwa für den Fall einer zu krassen Zentrum/Peripherie-Differenzierung des Wirtschaftssystems.“ Und noch einmal – aber immer unter Betonung des unerschütterlichen Primats funktionaler Differenzierung - S. 776: „Selbstverständlich führt ein Primat funktionaler Differenzierungen nicht dazu, daß segmentäre Differenzierungen oder Schichtenbildung dadurch abgelöst werden. Im Gegenteil: die Chancen für Segmentierungen (etwa auf Organisationsbasis) und für sich selbst verstärkende Ungleichheiten (etwa zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern) nehmen mit der Komplexität des Gesellschaftssystems zu; und sie ergeben sich gerade daraus, daß Funktionssysteme wie das Wirtschaftssystem oder das Erziehungssystem Gleicheiten bzw. Ungleichheiten als Moment der Rationalität ihrer eigenen Operationen nutzen und damit steigern.“ 120 An dieser Stelle wäre Anschauungsmaterial für virulente Konkurrenzkonflikte der Differenzierungsformen nachzutragen: Die Korruption funktional differenzierter Strukturen auf der Makroebene (failed states, mafiotische Netzwerke in Organisationen etc.) ethnisch motivierte Bürgerkriege, religiöser Fundamentalismus und Xenophobie, Kampf gegen Individualismus, sexuelle Freiheiten etc. auf der Mikroebene. „Kriege finden heute immer weniger zwischen Staaten und deren Armeen oder in Staaten zwischen Regierungstruppen und bewaffneter Opposition statt, als vielmehr in Regionen, die ethnisch, religiös, ideologisch oder tribal definiert werden und nationalstaatliche Grenzen über- bzw. unterschreiten.“ Zit. von Take (in Bonacker/Weller 2006, 103). Auch Vieles von dem, was Wolfgang L. Schneider im Anschluss an Luhmann (und Serres) mit dem Konzept der parasitären Sozialsysteme zu fassen versucht, würde ich hier einordnen. Dazu Luhmann (1997, 661 - mit Bezug auf die Auflösung einer Ordnung, die strikt an den Gleichheitsprinzipien segmentärer Differenzierung orientiert ist, aber übertragbar auf alle Formen): „Jede Ordnung beruht auf Ausschließungen, eine symmetrische Ordnung auf der Ausschließung von Asymmetrien. Das bietet eine Chance, die ohne distinkte Ausschließungen gar nicht gegeben sein könnte, nämlich die Möglichkeit, im Ausgeschlossenen Ordnungsvorteile zu entdecken und zu nutzen. Gerade gut strukturierte Ordnungen machen das Gegenteil sichtbar — nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit — und bieten, wenn auf die Probe gestellt, die Chancen einer Bifurkation, also die Chancen eines anderen Wegs, der, wenn begangen, dann seinerseits irriversible Geschichte macht. So können sich, ganz im Sinne von Michel Serres, Parasiten bilden, die solche Möglichkeiten ergreifen. Es entsteht eine parasitäre Ordnung, die nahezu unbemerkt vom Zustand der Ausnahme oder der Abweichung in die Position der Primärordnung übergleitet — nur um dann ihrerseits wieder parasitierbar zu sein. ‚Die Evolution bringt den Parasiten hervor, der wiederum die Evolution hervorbringt.‘ “ Dasselbe Argument verwendet Luhmann auch bezüglich des Umbruchs von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung (1997, 683). Von Luhmann auf den Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung gemünzte Formulierungen lassen sich aber auch auf die gegenwärtige Konkurrenz der Differenzierungsformen beziehen und zur Beschreibung der parasitären Auflösung von funktionaler Differenzierung umkehren: „So kommt es mit Hilfe zentraler Patronage zum Aufbau lokaler Klientensysteme, die deren Patron im Dienst der Zentrale verwendet — oder auch nicht. Unter heutigen Kriterien würde dieses System als "Korruption" beschrieben werden; aber es hatte auch den für die weitere Entwicklung wichtigen Vorteil, mit den Interessen an politischer Selektion zugleich herkunftsunabhängige Aufstiegsmöglichkeiten zu schaffen. Obwohl an hierarchische Ordnungsvorstellungen gebunden, untergraben die ständig erneuerungsbedürftigen Patron/KlientVerhältnisse bereits die stratifikatorische Gesellschaftsdifferenzierung.“ (1997, 716f.) Die in jüngster Zeit deutliche Ausweitung desssen, was unter Korruption verstanden wird – vom Verhalten staatlicher Amtsperso-


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nen auf das Verhalten in Leistungsträgerrollen in allen Funktionssystemen - ist als ein starker Indikator für die Ausbreitung der impliziten Normen funktionaler Differenzierung zu verstehen. Zur Erweiterung des Korruptionsbegriffs jenseits persönlicher Vorteilsnahme s. Transparancy International u.a.

121 Popper 1973 122 S. dazu nur Huntingons Clash of Civilizations und Ingleharts Wertwandelsstudien. Mit mehr analytischer Tiefe dazu auch D. North u.a. 2009. 123 Im Zuge der globalen Ausdehnung und inneren Verdichtung der menschlichen Sozialität in der Moderne ist auch eine Umstellung des Konfliktexternalisierungsmechanismus von der räumlichen Dimension (in der es keine anderen Sozialsysteme mehr jenseits der Grenzen gibt) auf die zeitliche Dimension zu beobachten. Ein erheblicher Teil politischer Problemlösungen in Konkurrenzkonflikten um beschränkte Ressourcen (Verteilung) wird verarbeitet durch Verlagerung in die Zukunft: in staatliche Schulden, die von künftigen Generationen zurückgezahlt werden müssen. Aber auch diese Möglichkeit der Konfliktexternalisierung ist durch die globale Ausdehnung (die Internationalisierung der Finanzmärkte) inzwischen geschlossen. Deshalb ist auch die zeitliche Form der Konfliktexternalisierung inzwischen zum virulenten (ganze Staaten und Staatengemeinschaften gefährdenden) Problem geworden. Interessanterweise stoßen hier die moralischen Nachhaltigkeitsappelle und die amoralischen Rating-Agenturen in das gleiche Horn. (Mündliche Anregung von A. Treml, August 2011) 124 In diesem Sinne hat Ernst Jünger (1960, 180) den modernen Weltstaat als eine Rückkehr zu den insulären Organisationsformen der Sozialität in der Frühgeschichte der Menschheit projiziert: „Die Form des menschlichen Staates wird durch die Tatsache bestimmt, daß es andere Staaten gibt. Sie wird durch den Pluralismus bestimmt. Das ist nicht immer der Fall gewesen und wird es, hoffentlich, nicht immer sein. Als der Staat auf der Erde eine Ausnahme, als er insular oder im Sinne des Ursprungs einzigartig war, waren Kriegsheere unnötig, ja, lagen außerhalb der Vorstellung. Dasselbe muß dort eintreten, wo der Staat im finalen Sinne einzigartig wird. Dann könnte der menschliche Organismus als das eigentlich Humane, vom Zwang der Organisation befreit, reiner hervortreten.“ Bemerkenswert an diesem Aufsatz Jüngers ist auch, wie er seine Prognose der Herausbildung eines Superstaats mit der der Angleichung der Geschlechter auf den globalisierten Arbeitsmärkten verbindet: „Rein als Nivellement gesehen, das auf die Steigerung der Leistung abzielt, stellt sich die Angleichung der Geschlechter als Normung dar, die den Arbeitsvorgang in meßbare, berechenbare Formen zu pressen sucht. Daß dieses Bestreben auf Gebiete übergreift, die ihm durchaus widerstreben, macht eine der Quellen des modernen Erstaunens aus. Hier mischen sich Befriedigung und Abscheu auf eine Weise, die auf den Anteil schließen läßt, den Zwang und Willensfreiheit an der Aktion haben. Bei der Angleichung der Geschlechter geben männliches Denken, männliches Handeln und oft auch die männliche Arbeitskraft das Maß. Sie läuft also im Wesentlichen auf die Anpassung der Frau an den Rhythmus einer von Männern erdachten und geschaffenen Welt hinaus. Aus dieser Tatsache wird gern der Schluß gezogen, daß wir im Eintritt in eine paternitäre Welt begriffen sind. Er ist verfehlt insofern, als die Veränderungen innerhalb der Geschlechtswelt von tieferen, umfassenderen Veränderungen abhängen. Von dort, und nicht vom männlichen Intellekt und seinen Plänen, kommt der Zustrom von Arbeit, der wie nach einem Dammbruch bewältigt werden will. Von ihm wird der Mann nicht minder betroffen als die Frau. Es handelt sich also nicht um eine neue Arbeitsteilung, sondern um einen neuen und unerhörten Arbeitsanfall in erster Linie. Das Verhalten des Mannes in dieser Lage ist nicht zu vergleichen etwa dem eines Eingeborenen, der seine Frau aufs Feld schickt und dort seine Arbeit von ihr verrichten läßt. Hier kommt Arbeit nicht in Formen, die sich abweisen oder abwälzen lassen, sondern schubhaft auf uns zu, in einer an Wasserund Feuersnöte erinnernden Art.

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Würde ein Geschlecht dominieren, so würden die Geschlechtsunterschiede nicht abflachen, sondern sich schärfer abheben. Das gilt auch für jene Theorien, die Tatsachen wie die stärkere Verfügungsgewalt der Frau und ihren wachsenden Anteil am Wissen und Können als die Heraufkunft matriarchaler Strömungen ausdeuten. Das ist nicht der Fall. Sowohl eine paternitäre als auch eine matriarchale Welt würden ganz anders aussehen als die unsere. ... Als Nivellement betrachtet und innerhalb des Plans gewertet, stößt die Angleichung der Geschlechter auf Grenzen, die schwer zu brechen sind. Die Ökonomie mit ihren ausgebildeten Mitteln technischer Normung begegnet nicht nur seelischen Widerständen, sondern auch physiologischen Tatsachen. Wenn sich das Tor einer Fabrik oder eines Bürohauses öffnet und die dem äußeren Anschein nach geschlechtlose Belegschaft uniform herausströmt, ist auch viel Mimikry dabei. Der Umbau, von oben her begonnen, reicht nicht bis in die unteren Stockwerke. Die Organisation hat den Organismus nur auf der Oberfläche gestreift.“ (Jünger 1960, 174-176) 125 In diesem Sinne Pinker 2011: 777: „Heute sind viele friedliche Länder dabei, den Nationalstaat von Stammespsychologie zu befreien und damit neu zu definieren. Die Regierung definiert sich nicht mehr als Mittelpunkt der Bestrebungen einer bestimmten ethnischen Gruppe, sondern als Gegenstand eines Abkommens unter Einschluss aller Menschen und Gruppen, die zufällig auf einem zusammenhängenden Stück Land leben. Regierungsarbeit ist häufig sehr umständlich und umfasst komplizierte Mechanismen der Dezentralisierung, Sonderstellung, Machtverteilung und Gleichberechtigung; zusammengehalten wird das ganze Gebilde dann durch einige nationale Symbole wie beispielsweise eine Fußballmannschaft. Die Menschen begeistern sich nicht mehr für Blut und Boden, sondern für ein bestimmtes Trikot. Es ist ein Durcheinander, das gut zum Durcheinander im gespaltenen Ich der Menschen passt - einem Ich, in dem Identitäten als Individuum und als Mitglied einander überschneidender Gruppen nebeneinander existieren. 126 Ein Beispiel wäre die Verwendung der technisch-organisatorischen Errungenschaften der modernen Finanzwirtschaft für die Zwecke korrupter Regime oder moderner Kommunikations- und Waffentechnik für religiös-fundamentalistische Bewegungen. 127 S. den den o.a. Hinweis auf hierarchisch-stratifikatorische Formen in Organisationen und auf segmentäre Formen in Familien und Nationalstaaten. Dazu auch Stichweh (1994: 41): „Die analytische Irreduzibilität der Differenzierungsformen heißt natürlich nicht, daß sie nicht nebeneinander vorkommen könnten. Drei Formen der Kombinierbarkeit sollte man unterscheiden. Erstens die Zweitinterpretation einer Einheit in Termini einer anderen Differenzierungsform. Hier wäre an die immer auch funktionale Deutung der Stände des mittelalterlichen Europa zu denken oder an eine Hierarchisierung von Segmenten in einfachen Gesellschaften oder an - vermutlich eher von sozialwissenschaftlichen Beobachtern unternommene Versuche einer hierarchischen Ordnung von Funktionssystemen. Zweifellos liegt in einer solchen Zweitinterpretation die Möglichkeit einer Transformation, des Überwechseins in eine andere Differenzierungsform. Die zweite Form der Kombination ist die Koexistenz von Differenzierungsformen unter der Prämisse des Primats einer von ihnen. Das naheliegende Beispiel ist hier die Fortexistenz von Schichtung in modernen Gesellschaften oder die relativ fortgeschrittene Ausgrenzung von politischen Institutionen in traditionalen Hochkulturen. Die dritte Kombinationsmöglichkeit für Differenzierungsformen liegt darin, daß die weitere Innendifferenzierung von Teilsystemen der Gesellschaft nicht an die Differenzierungsform gebunden ist, die die Unterschiede zwischen diesen Teilsystemen in erster Instanz erzeugt hat. Man braucht hier nur an das häufige Vorkommen segmentärer Strukturen innerhalb von Funktionssystemen der modernen Gesellschaft zu denken.“


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128 Aufgrund ideengeschichtlicher Entwicklungen kann es so erscheinen, als ob die Postulierung negativer (auf Abwehr staatlicher Übergriffe gerichteter) Freiheitsrechte nur am Anfang der modernen Gesellschaft gestanden hätte und der reale Fortschritt sich dann in der Einführung sozialer Anspruchsrechte (auf Sicherheit und Teilhabe) gezeigt habe. Mit evolutionstheoretischem Abstand kann man aber eine andere Reihenfolge erkennen. Soziale Sicherheit und Einbindung waren immer schon Bestandteile aller Sozialsysteme in ihrer Konkurrenz mit anderen Sozialsystemen. Die Entfaltung individueller Freiheitsrechte ist dagegen die eigentliche Innovation der Moderne. Daher sind auch die Tendenzen zur Verbreitung und Stabilisierung dieser Individualrechte, die irreführend als Neoliberalismus etikettiert werden, nicht etwa als Rückfall in archaische Verhältnisse zu betrachten, sondern als Ausdruck einer fortgeschrittenen Differenzierungsform der Moderne. 129 Auch Luhmann hat die These vom historischen Primat einer Differenzierungsform in seinen späteren Ausführungen über Exklusion und Inklusion eingeschränkt: Es sei „wichtig, daß man die Theorie sozialer Differenzierung mit einer entsprechenden Begrifflichkeit anreichert und die Erwartung aufgibt, die Gesellschaft könne aus der Perspektive der vorherrschenden Typik stratifikatorischer bzw. funktionaler Differenzierung ausreichend beschrieben werden.“ (Luhmann 1995: 264). In vielen Beiträgen, die an die Luhmannsche Gesellschaftstheorie anschließen, wird allerdings die Zunahme von Konfliktkonstellationen in der modernen Weltgesellschaft auf den Primat funktionaler Differenzierung zurückgeführt (s. nur Stichweh 2000). 130 In dieser Hinsicht ist nicht erst an die vielzitierte Formel von Huntington anzuknüpfen, sondern auch schon an Max Webers „Kampf der Wertordnungen“ (Weber 1919: 27/28 ). Zur Wiederaufnahme der konflikttheoretischen Perspektive in Bezug auf die moderne Weltgesellschaft Bonacker/Weller 2006. Dieser Sammelband enthält vier Ansätze der Weltgesellschaftsperspektive, die die Auffassung teilen: „...die Weltgesellschaft sei eine emergente soziale Ordnung, die soziale Prozesse unterhalb der globalen Ebene strukturiert. Diese Strukturierung vollzieht sich je nach Konzept über Mechanismen der funktionalen Differenzierung, der Institutionalisierung globaler Modelle, der globalen Durchsetzung von Kapitalismus und Prin¬zipien der Staatlichkeit oder über hegemonial abgestützte Restriktionen der Entwick-lung und Teilhabe am Weltmarkt und an internationalen Instituti¬onen. Konflikte sind aus dieser Perspektive das Resultat der strukturellen Eigenschaften der Weltgesellschaft und ergeben sich aus den globalen Strukturierungsvorgängen.“ (2006, 36f.) Das theoretisch Gemeinsame der konkurrierenden Ansätze ist jedoch zu allgemein gehalten, um tatsächliche Konfliktdynamiken zu erklären. Nach Bonacker Ansicht sei es „nicht nur unrealistisch, sondern auch in der Sache verfehlt, eine einheitliche sozialwissenschaftliche Konflikttheorie anzustreben. Eine solche integrative Theorie stünde vor dem Problem, daß der Konfliktbegriff immer in unterschiedliche Theorien eingebunden ist und infolgedessen seine Verwen- dungsweise an den jeweiligen Theoriekontext gebunden bleibt. Eine einheitliche Konflikttheorie wäre also gleichbedeutend mit einer einheitlichen sozialwissenschaftlichen Theorie jenseits der Paradigmenkonkurrenz. Eine solche Theorie gilt aber aus verschiedenen Gründen als gescheitert (vgl. Bonacker 2001). Der andere Weg, eine einheitliche Konflikttheorie zu konzipieren, ist ebenfalls wenig aussichtsreich. Er bestünde darin, Konflikt als Letztelement von Gesellschaft zu behaupten und alles Soziale auf seine Konflikthaftigkeit zurückzuführen. Eine solche Theorie vernachlässigte - das kann man aus den Theoriedebatten der 60er und 70er Jahre lernen - automatisch die andere Seite, also den Konsens, die sie aber benötigt, um von Konflikt sinnvoll spre¬chen zu können,“ (Bonacker 2008, 14f). Die evolutionstheoretische Alternative besteht darin, Konflikt und Konsens nicht als Letztelemente zu betrachten, sondern kausal

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voneinander unabhängigen Wirkungsmechanismen der Evolution sozialer Systeme zuzuordnen. 131 S. schon FN 12 zu den Vermehrungsprogrammen der Religionen, die unter den Bedingungen der globalen Ausdehnung und Verdichtung der menschlichen Sozialität durch demographische Abrüstung ersetzt werden muss. In diesem Sinne Cavalli-Sforza 1999, 227f: „Sehr wahrscheinlich ist die wichtigste Ursache der gegenwärtigen allgemeinen Probleme das in vielen Teilen der Welt maßlose Bevölkerungswachstum; aber nur wenige Religionen befassen sich mit diesem Thema, wohl auch aus Furcht, daß eine Unterstützung von Kampagnen für Geburtenbeschränkung ein Hindernis für ihre eigene Entwicklung sein könnte. [Das ist eher milde formuliert! Die Verdammung von Abtreibung war immer schon ein Mittel der Ausbreitung der eigenen Ideen in der Konkurrenz der Religionsgemeinschaften!] In gewissem Sinn zeigen manche Religionen und viele

Institutionen, die eine grundlegende Rolle in der menschlichen Gesellschaft spielen, ein übermäßiges Vertrauen in eine Form von »Sozialdarwinismus«, wie er im neunzehnten Jahrhundert in Mode war. Dieser - von Darwin übrigens nie gebilligte - schlecht interpretierte Darwinismus erklärte die gesellschaftlichen Beziehungen durch eine natürliche Selektion, die er ausschließlich als mörderischen, »mit blutgeröteten Klauen und Hauern« geführten Kampf ums Dasein verstand. Dieses apokalyptische Bild gibt schon die Beziehung zwischen den Spezies der Raubtiere und ihrer Beute nur teilweise wieder; noch unzutreffender aber wird es als Beschreibung der Konkurrenz zwischen den Individuen innerhalb einer Spezies, wo die natürliche Selektion leicht zu kooperativen und altruistischen Verhaltensweisen führt. Solange die Bevölkerungsdichte nicht bedrohliche Maße annimmt, gibt es hier für Konkurrenzverhalten keinen wichtigen Grund. Freilich haben wir in dieser Hinsicht das Alarmniveau wohl bereits überschritten.“ Cavalli-Sforza&Feldman These der kulturellen Modifikation der Fortpflanzungsmotive der natürlichen Evolution zusammenfassend Schurz (2011: 196): „Cavalli-Sforza und Feldman stellten sich die Frage, wie es mög¬lich ist, dass in hochzivilisierten Ländern ab einem gewissen Wohlstandsniveau die Geburtenrate zurückgeht - man nennt dieses Niveau auch die demografische Schwelle. Ein solches kulturelles Merkmal kann unmöglich genetisch verursacht sein, denn es führt ja dazu, dass sich seine Vertreter seltener fortpflanzen und daher zum Aussterben verurteilt wären, wäre diese Verhaltensweise genetisch angelegt (vgl. Sober 1993, 211 ff). Cavalli-Sforza und Feldman schließen daraus, dass es eine unabhängige Ebene kultureller Vererbung geben muss, wobei aus ihrer Überlegung aber zugleich folgt, dass sich kulturelle Verhaltensmuster nicht nur über die biologi¬sche ElternKind-Beziehung ausbreiten — denn wäre das so, so würde sich dieses Merkmal (wenige-Kinder-zeugen) ebenfalls kulturell langsamer ausbreiten als das gegenteilige Merkmal (mehr-Kinderzeugen) und wäre somit ebenfalls der negativen Selektion unterworfen. Um das Phänomen der demografischen Schwelle erklären zu können, muss vielmehr angenommen werden, dass sich kulturelle Merkmale unab¬hängig von den biologischen Eltern-KindRelationen ausbreiten, und zwar grund-sätzlich in alle soziale Richtungen. Dabei ist die Ausbreitungsrichtung von der älte¬ren zur jüngeren Generation für die KE freilich am wichtigsten. Doch vollzieht sich diese Ausbreitung eben nicht nur entlang biologischer Eltern-Kind-Beziehungen; vielmehr gibt es einen informationellen Ideenwettbewerb, in dem gewisse kulturelle Vorbilder viele jüngere Menschen und evtl. eine ganze Generation beeinflussen und in ihrem Verhalten verändern (Cavalli-Sforza und Feldman 1981).“ 132 In evolutionstheoretischer Perspektive ist dies nicht als Höherentwicklung der menschlichen Sozialität – i.S. eines teleologisches Modells mit funktionaler Differenzierung als Endstadium der Geschichte – zu verstehen, sondern als deren Weiterentwicklung – i.S. eines pluralistischen Modells mit mehr Möglichkeiten aber auch mehr Risiken in Folge der Konkurrenz der Differenzierungsformen.


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Es wäre m.E. schon viel gewonnen, wenn das Leiden an den neuen globalen Glaubenskriegen einen neuen „Leviathan“ hervorbringen würde, mithilfe dessen die Austragung der Konkurrenzkonflikte in zivilisierte Formen gebracht werden kann. Die spannende Frage ist dann wiederum, wie diese Superregierung selbst durch Gewaltenteilung, Recht und Demokratie gezähmt werden kann. 133 Hier noch einmal der Hinweis auf die modernen Formen mediengestützter Öffentlichkeit, in denen – komplementär zu den funktionsspezifischen Organisationen – eine zivilisatorisch eingehegte Austragung von Konkurrenz stattfindet. Darin liegt m.E. auch die zivilisatorische Bedeutung von NGOs mit Transparenzforderungen (transparency international, human rights watch etc). 134 Weitere Literaturhinweise Abrutyn, S., 2009: Toward a General Theory of Institutional Autonomy S. 449-465 in: Sociological Theory 27:4 December 2009, American Sociological Association Alexander, Jeffrey C., Bernhard Giesen, Richard Münch und Neil J. Smelser (Hg.), (1987): The Micro-Macro-Link. Berkeley: University of California Press. Alsberg, P. (1975): Der Ausbruch aus dem Gefängnis - Zu den Entstehungsbedingungen des Menschen, hrsg. u. kommentiert v. D. Claessens, Gießen – Neuauflage des 1922 erschienenen Buches »Das Menschheitsrätsel«. http://www.vordenker.de/alsberg/palsberg_menschheitsraetsel.pdf

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