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Elemente der Nachahmung mit Abweichung Zur Definition der Replikationseinheiten in der kulturellen Evolution Materialien zum Entwurf (10.04.12) eines Vortrags für die MVE-Tagung über „Kulturelle Evolution“ vom 22. bis 24.3.2012 an der TU Dresden - Einleitung1 Das soziale wie das lebendige Ding möchte sich hauptsächlich ausbreiten, nicht organisieren. Die Organisation ist nur ein Mittel, dessen Ziel die Ausbreitung und die Wiederholung durch Fortpflanzung oder Nachahmung darstellt. 2 Gabriel Tarde, 1890 Memetics as it currently stands is a strange beast, an unrealistic psycho-epidemiology, laden with neologisms, neither theory of mind nor theory of culture. To make it into a science, we need to move forward into territory already occupied by diffusion sociologists and social psychologists. We are not pioneers … but just a new wave of settlers. To survive in our new environment we need to learn from those who have been living there at least since the days of Gabriel 3 Tarde at the turn of the century. Derek Gatherer, 1998 That there are just two major forms of behavioural evolution, occurring through genetic and cultural transmission respectively, must rank among the most exciting and fundamental discoveries ... achieved over the last century and a half. Andrew Whiten, 20014 ... auf den Schultern der alten Giganten sitzen wiederum neue Giganten usw., und getragen wird das alles nicht von den untersten Giganten, sondern von der sozialen Organisation, dem kulturellen ‚Leviathan‘, welcher das Fortbestehen der kulturellen Reproduktion gewährleistet. 5

Gerhard Schurz, 2011

Warum ist es leichter, Autoren für wissenschaftliche Vorträge zu finden als Zuhörer (oder gar Leser) – obwohl das Zuhören doch die weitaus geringere Investition darstellt? Es ist wohl als Beleg dafür anzusehen, dass es sich bei der Verbreitung von Memen um ein Verhalten handelt, das ähnlich tief in die natürlichen Dispositionen menschlicher Individuen eingelassen ist wie die Verbreitung ihrer Gene. Aber wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von Memen sprechen und damit nicht bloß eine lockere Analogie zur Funktion der Gene in der natürlichen Evolution herstellen wollen? Descent with modification war die Formel, unter der Darwin seine Theorie der natürlichen Evolution zusammengefasst hat – lange bevor die Gene als Elementareinheiten dieser evolutionären Prozesse identifiziert werden konnten. In ähnlicher Weise sind Kontinuität und Wandel menschlicher Sozialsysteme über Prozesse der Nachahmung mit Abweichung beschrieben worden6 – lange bevor der Versuch gemacht wurde, Elementareinheiten der kulturellen Evolution zu identifizieren.7 Die Bestimmung eines kulturellen Äquivalents zu den Replikationseinheiten der natürlichen Evolution ist auch heute noch theoretisch umstritten.8 Zu der Frage, ob sich für die kulturelle Evolution der Menschheit eine basale Replikati-

onseinheit9 identifizieren lässt, gibt es in der einschlägigen Literatur im wesentlichen zwei Positionen: 1. die von Richard Dawkins initiierte Konstruktion der Meme, mit der eine ganze Disziplin der Memetik entstanden ist.10 Es handelt sich hier um eine Analogiekonstruktion11, mit der Fragen der Einbettung der kulturellen Evolution in die natürliche Evolution in vieler Hinsicht offengelassen werden.12 2. die von anderen Autoren (Richerson/Boyd13, Sperber u.a.) vertretene Auffassung, dass für die Beschreibung der kulturelle Evolution keine basalen Replikationseinheiten,14 sondern nur ein Replikationsmechanismus (für die Weitergabe von Kenntnissen und Fertigkeiten) benötigt wird.15 16 Nicht nur das von Dawkins formulierte Mem-Konzept, sondern auch die Gegenposition lässt m.E. zu Vieles offen. Im Folgenden soll versucht werden, eine dritte Position zu bestimmen, in der einerseits nicht darauf verzichtet wird, basale Replikationseinheiten für die kulturelle Evolution zu bestimmen, zugleich aber auch nicht offengelassen wird, wodurch diese sich von anderen kulturellen Sinngehalten unterscheiden und in welcher Beziehung sie zur natürlichen Evolution lebender Organismen stehen.17 Der weiterreichende Grund für die hier vorgeschlagene Engführung in der Definition der kulturellen Replikationseinheiten, ist die damit evolutionstheoretisch zu erschließende Verbindung zu Konkurrenzkonflikten und ihrer Verarbeitung in Formen sozialer Differenzierung.18 Dieser Zusammenhang, der die im engeren Sinne soziologischen Fragen beinhaltet, soll zumindest in groben Umrissen im zweiten Teil vorgestellt werden.

1. Meme als Einheiten der Replikation Meme werden als Einheiten bezeichnet, denen in der kulturellen Evolution eine ähnliche Funktion zukommt wie Genen in der natürlichen Evolution. Die Äquivalenzannahme ist unter drei Aspekten zu überprüfen: • hinsichtlich der Verortung der Einheiten im Bewußtsein oder Verhalten • hinsichtlich ihrer Weitergabe durch Ansteckung oder Vererbung • hinsichtlich der Vermeidung von Abweichungen durch äußere Einflüsse Im ersten Teil dieses Vortrags19 geht es darum, Meme als kulturelle Replikationseinheiten genauer zu definieren. Ich greife zu diesem Zweck v.a. die Unterscheidung zwischen einer vertikalen und einer horizontalen Dimension ihrer Weitergabe auf,20 um die Definition auf Einheiten zu beschränken, die sich in der Weitergabe von Generation zu Generation (also in der vertikalen Dimension) bewähren. Für diese Beschränkung sind vor allem zwei Gründe anzuführen: (1.) die Entsprechung zur Funktion der Gene, die durch ihre operative Geschlossenheit gegen Umwelteinflüsse


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auf die Merkmalsträger für „Kopiergenauigkeit“ sorgen, und (2.) die Stabilisierungseffekte, die sich aus der Rückbindung der kulturellen Replikationseinheiten an die Bedingungen der natürlichen Evolution (in der Ontogenese) durch die Engführung des Tradierbaren auf solche Sinneinheiten ergeben, die sich mit den in der Primärsozialisation erworbenen und (normalerweise) lebenslang als selbstverständlich wirksamen Hintergrundüberzeugungen vertragen.21

1.1. Elemente der Wahrnehmung oder des Verhaltens (neuronal oder sozial) Ein erheblicher Teil der Diskussion über kulturelle Replikationseinheiten dreht sich um die Frage, ob sie als Elemente des neuronalen Systems der Individuen oder ihrer Sozialsysteme aufzufassen sind. In manchen Beiträgen wird diese Frage aber auch für vernachlässigbar gehalten. Ich plädiere für die Auffassung von Memen als konstitutiver Bestandteile menschlicher Sozialsysteme und für die Unterscheidung zwischen ihrer genotypischen Form als symbolische Sinneinheiten und ihrer phänotypischen Ausprägung im menschlichen Bewußtsein und Verhalten, das auch alle technischen Kommunikationsmittel umfasst. In dieser Auffassung kommt der wechselseitigen Beschränkung (Koevolution) zwischen menschlicher Wahrnehmung und Kommunikation konstitutive Bedeutung zu. Ein erster Streitpunkt in der Diskussion über die Bestimmung von Memen als kulturelle Replikationseinheiten bezieht sich auf ihre Verortung im menschlichen Gehirn oder im menschlichen Verhalten. Obwohl es unstrittig ist, dass es um Wirkungen im menschlichen Sozialverhalten geht, ist also zunächst zu fragen, ob es einen Unterschied macht, wenn die kulturellen Replikationseinheiten als Elemente des menschlichen Organismus oder als Elemente der menschlichen Kommunikation (also des sozialen Organismus22) aufgefasst werden.23 Nach Auffassung von Blackmore (die sich in dieser Hinsicht auf die erste Fassung des Mem-Konzepts bei Dawkins stützt) ist es nicht erforderlich, zwischen einer Platzierung der Meme im Gehirn oder „außerhalb“ zu unterscheiden (2003: 55).24 Die stoffliche Beschaffenheit der Meme brauche gar nicht zu interessieren, sondern nur der Umstand, dass Meme Informationen darstellen, die sowohl in menschlichen Gehirnen wie auch in sprachlicher Kommunikation verarbeitet werden können. Offenkundig ist, dass Meme nur in der sprachlichen Kommunikation weitergegeben werden können. Der Vorgang der Replikation selbst – die Operation der Imitation bzw. Nachahmung - findet außerhalb der Gehirne statt. Die Frage bleibt aber, ob es nicht doch für die Erklärung kultureller Evolutionsprozesse von Bedeutung ist, ob die Replikationseinheiten ihrer stofflichen Beschaffenheit nach dem kognitiven System menschlicher Individuen (dem Körper einschließlich dem Zentralnervensystem als dem Ort des Bewußtseins) oder ihrem Verhalten im Sozialsystem (dem Netzwerk der Kommunikation als dem Ort des menschlichen Geistes) zuzurechnen sind.25 Auch nach Auffassung von Schurz spielt es „für die Evolution von Memen keine Rolle, welche Position man in der Kör-

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per-Geist-Kontroverse einnimmt, ob man also Meme eher als neuronale Gehirnstrukturen oder als mentale Gedankenstrukturen ansieht.“ (Schurz 2011: 194 ausführlicher 210-21426). Schurz zieht aber aus methodologischen Gründen (zur Abgrenzung zwischen Memen und ihren phänotypischen Ausprägungen) die von Dawkins vorgeschlagene Verortung im Gehirn vor und unterscheidet dann zwischen Memen und ihren phänotypischen Ausprägungen.27 Mit der Unterscheidung zwischen im Gehirn verankerten Memen und sozialen Artefakten als phänotypische Ausprägung folgt Schurz einem älteren Vorschlag von Cloak (1975) der explizit eine IKultur mit dem Genotyp und eine M-Kultur28 mit dem Phänotyp verglichen hat: “I believe that culture is acquired in tiny, unrelated snippets, which are specific interneural instructions culturally transmitted from generation to generation. These "corpuscles of culture" are transmitted and acquired with fidelity and ease because the organisms in question are phylogenetically adapted for transmitting and acquiring cultural corpuscles, an adaptation that has required at least 2 million years, and perhaps 40 million, of intense "selection pressure.” (Cloak 1975: 167f.) Gegen die Plausibilität dieser Analogiekonstruktion (GenoPhäno-Typik) könnte eingewandt werden, dass evolutionsbiologisch ja gerade die Individuen (mit ihren Gehirnen) als Phänotypen gelten. Von daher erscheint es plausibler, auch die mentalen Ausprägungen im Bewußtsein als phänotypisch zu bezeichnen und den entsprechenden Genotyp in latenten Strukturen29 des sprachlich und technisch konservierten Wissensvorrats zu suchen, der sich in angepassten Strukturen des Bewußtseins niederschlägt.30 Auch Dennett (1997:490f) plädiert dafür, Meme als Informationseinheiten von den Gehirnen zu unterscheiden wie Gene von der DNA.31 Wer kulturelle Replikationseinheiten ausschließlich als Informationseinheiten (genotypisch) betrachtet, hat Probleme zu erklären, warum sich nicht alle Einheiten gleichermaßen (weit und rasch) ausbreiten. Wer sie hingegen ausschließlich in ihren physischen Manifestationen (phänotypisch) betrachtet, hat Probleme zu erklären, warum es überhaupt Kontinuität in der Vielfalt der Erscheinungsformen gibt. Die symbolische und die materielle Seite der Replikation müssen als Einheit verstanden werden.32 In der Auffassung von Memen als konstitutiver Bestandteile menschlicher Sozialsysteme kommt der Koevolution zwischen Bewußtsein und Kommunikation eine besondere Bedeutung zu. Deren Beschreibung zielt – abweichend von Dawkins u.a – auf eine Engführung in der Definition dessen, was als Gegenstand der Replikation in Frage kommt. Ich versuche im Folgenden zu zeigen, dass diese Auffassung kultureller Replikationseinheiten besser an die Darwinsche Theorietradition anschließt (inbesondere, wenn man die Theorie der Mehrebenenselektion einbezieht) und auch mehr Möglichkeiten für die Analyse gegenwärtiger Probleme der kulturellen Evolution erschließt.33 - Meme als Elemente der Wahrnehmung Aufgrund unserer Alltagserfahrungen mit der Intransparenz menschlichen Bewußtseins (für sich selbst wie für Andere) liegt es nahe zu fragen, ob es sich bei der Beschreibung von Memen um Phänomene des menschlichen Bewußtseins oder der menschlichen Kommunikation handelt. Die theoretische Unterscheidung zwischen Bewußtsein und Kommunikation


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kann m.E. hier theoretisch nicht ausgeklammert (ignoriert) werden.34 Beispiele für Meme sind nach Dawkins „Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermoden, die Art Töpfe oder Bögen zu bauen" (1994: 309).35 Dass kulturelle Reproduktion stattfindet, wann immer eine solche Idee, Kenntnis oder Fertigkeit von einem Menschen zum anderen übertragen wird, ist hier nicht zu bestreiten. Die Frage ist aber, ob sich eine so weite Definition der Einheiten, die hier übertragen werden, mit der Funktionsbestimmung der Replikationseinheiten als kulturelles Gen-Äquivalent verträgt. In einer Nachbemerkung zum Mem-Kapitel in „Das egoistische Gen“ schreibt Dawkins: „Die DNA ist ein sich selbst kopierendes Stück Hardware. Jedes Stück hat eine spezifische Struktur, die sich von der rivalisierender DNA-Stücke unterscheidet. Wenn Meme in Gehirnen den Genen vergleichbar sind, so müssen sie sich selbst kopierende Gehirnstrukturen sein, konkrete Muster neuronaler Vernetzung, die sich in einem Gehirn nach dem anderen ausbilden.“ Er verweist dann auf Ausführungen des Gehirnforschers Juan Delius (Konstanz) der ein detailliertes Bild davon veröffentlicht habe, wie die neuronale Hardware eines Mems aussehen könnte. Dazu zählt er auch „die Vergleichbarkeit von Memen mit Parasiten, genauer gesagt mit dem Spektrum, auf dem bösartige Parasiten das eine Extrem darstellen und wohltuende ‚Symbionten‘ das andere.“ (515f).

Doch wenn es sich bei Memen (der Funktion nach) um Parasiten (Viren) handelt, dann können sie nicht aus demselben Stoff sein wie ihr Wirt. Um zu bestimmen, woraus die basalen Replikationseinheiten der kulturellen Evolution bestehen, wäre also zunächst zu klären, wer hier der Wirt ist: Ist es das neuronale System der lebendigen Individuen oder ist es ihr Sozialsystem? Handelt es sich bei der Ansteckung um einen Virus des Sozialsystems, der sich im menschlichen Gehirn einnistet und damit die lebendigen Individuen versklavt? Viele Formulierungen in der ersten Fassung des Dawkinsschen Mem-Konzepts deuten in diese Richtung (Individuen als Vehikel nicht nur ihrer „egoistischen“ Gene sondern auch analog wirksamer Meme). Allerdings passt eine solche Interpretation nicht zusammen mit der Auffassung der Meme als Elemente von Gehirnen („sich selbst kopierende Gehirnstrukturen“) denn die Parasiten können nicht dieselbe Beschaffenheit haben wie ihre Wirte. Wenn es sich bei diesen Viren um Elemente des neuronalen Systems handelt, dann müssten die Wirtsstrukturen in den Sozialsystemen gesucht werden.36 Deshalb ist in einer anderen Linie der Verwendung der Parasiten-Metaphorik die menschliche Sprache als Virus des Geistes bezeichnet worden.37 In dieser Auffassung geht es nicht um einen aus der sozialen Umwelt stammenden Parasit, der sich in menschlichen Gehirnen einnistet, sondern umgekehrt: um einen aus menschlichen Gehirnen stammenden Virus, der sich in den Beziehungen zwischen Menschen einnistet und daraus einen sozialen Organismus macht. Die Plausibilität des Perspektivenwechsels in der Verwendung der Virus-Metapher kann als Hinweis darauf verstanden werden, das es sich hier in Wirklichkeit um einen Fall von Koevolution handelt. In einem Kommentar zu Mesoudi, Whiten & Laland (2006) formuliert Blackmore die Gegenposition zur Verortung der Meme in Gehirnstrukturen: „Memes are not best understood as semantic information stored in brains, but rather, as whatever is imitated or copied in culture.” Der springende Punkt ist hier aber nicht, ob man Meme besser als in Gehirnstrukturen oder in Sozialstrukturen gespeicherte Einheiten auffasst,

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sondern ob sie als Einheiten aufgefasst werden, die ihrer stofflichen Natur nach aus dem Gehirn stammen oder ob sie als Einheiten aufgefasst werden, die durch Wahrnehmung aus den Sozialsystemen in das Gehirn gelangen. Evolutionstheoretisch macht es keinen Sinn, das menschliche Bewußtsein als ein vom Organismus unabhängig operierendes System zu betrachten. Das psychische System ist als Teil des menschlichen Organismus zu betrachten, so wie das limbische System als Teil des menschlichen Gehirns. Die basalen Replikationseinheiten des menschlichen Organismus sind die Gene. Das psychische System ist allerdings als ein Teil des Organismus zu beschreiben, der in besonderer Weise offen für (die Verarbeitung von) Wahrnehmungen der natürlichen und sozialen Umwelt des Menschen ist. Insofern können sich Elemente der sozialen Umwelt im Medium dieser Wahrnehmung einprägen (also i.S. des Ansteckungsmodells38 als Viren einnisten).39 Evolutionstheoretisch würde es aber auch keinen Sinn machen, Meme allein dadurch zu definieren, dass sie sich in psychischen Systemen einprägen können, oder dass sie mithilfe von Individuen reproduziert werden, die aufgrund ihrer besonderen organischen Ausstattung zur Nachahmung fähig sind.40 Denn dies gilt dann ja für alle Elemente der Kommunikation, auch für solche, die sich nicht durch grundlegende Eigenschaften auszeichnen, sondern auch für solche flüchtigsten Charakters.41 Als Replikationseinheiten der kulturellen Evolution müssen Meme von anderen Sinneinheiten unterscheidbar sein, die im Netzwerk der menschlichen Kommunikation kursieren. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal könnte in ihrer historischen Invarianz bestehen.42 Im Anschluss an seine Unterscheidung zwischen einer genotypischen I-Kultur und einer phänotypischen M-Kultur hat Cloak (1975) die Beschreibung kultureller Replikationseinheiten auf eine lehrbuchhafte Formel gebracht: “ … each human group carries a set of unique invariant cultural instructions which is acquired, and which has evolved, through a two-way causal interaction with its environment — including its cultural one — by processes analogous to those by which genetically programmed instructions are acquired and evolve.” - Zur phylogenetischen Verankerung der Meme Die Frage nach der besonderen Natur der Meme spitzt sich zu, wenn Dawkins mit Bezug auf den Mechanismus der Replikation formuliert: „So wie Gene sich im Genpool vermehren, indem sie sich mit Hilfe von Spermien oder Eizellen von Körper zu Körper fortbewegen, verbreiten sich Meme im Mempool, indem sie von Gehirn zu Gehirn überspringen, vermittelt durch einen Prozeß, den man im weitesten Sinne als Imitation bezeichnen kann.“ (1994: 309). Wenn der Mechanismus der Replikation bestimmt ist durch die Eigenschaften der Replikationseinheiten, dann ist nach den besonderen Eigenschaften von Objekten zu fragen, die es (im Sinne des Ansteckungsmodells) so leicht machen, von Gehirn zu Gehirn zu „springen“.43 Was Meme in evolutionstheoretischer Perspektive gegenüber anderen Elementen des Bewußtseins auszeichnet, ist ihre Koppelung an phylogenetisch ererbte Strukturen, die als Adaptationen an vergangene Strukturen menschlicher Sozialität interpretiert werden können. Es handelt sich um Strukturen, die das kognitive Potenzial menschlicher Individuen für


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ihre natürliche und soziale Umwelt vorstrukturieren, indem sie es zugleich beschränken und ermöglichen. Zu diesen genetisch verankerten Dispositionen, die aus der Phase der Hominisation und der paläolithischen Sozialsysteme stammen, gehören u.a. die typisch menschlichen Fähigkeiten zur Nachahmung44, Empathie, Kooperation45 und Konkurrenz.46 Die Verankerung der Meme in den genetisch ererbten Dispositionen der Wahrnmehmung ist als der wesentliche Grund dafür anzusehen, dass bestimmte Sinneinheiten im Netzwerk der menschlichen Kommunikation besonders anschlußfähig sind – also im Sinne der metaphorischen Redeweise von Dawkins von Gehirn zu Gehirn springen – während andere Sinneinheiten sich damit schwerer tun. Um deutlich zu machen, dass die hier vorgestellte Engführung in der Definition von Memen keine folgenlose Spielerei ist, sondern dazu geeignet ist, verborgene Zusammenhänge aufzudecken, sind im Folgenden (1.2 und 2.) Ausführungen zur gattungsgeschichtlichen Verbindung mit Religiosität47 zu machen (dazu kritisch Freud,48 eher affirmativ Luckmann49). Dazu gehört einerseits die ontogenetische Verankerung des Religiösen im kindlichen Denken und die daraus resultierende Flexibilität (im kindlichen Denken angelegte Lernbereitschaft). andererseits die in der ontogenetischen Verankerung im kindlichen Denken angelegte operative Geschlossenheit (Latenzschutz) und das daraus resultierende Konfliktpotenzial. (Dazu mehr in 1.2 und im 2. Teil. Hier muss dann auch geklärt werden, in welchem Verhältnis nichtmemetische Einheiten der Kommunikation zu den memetischen Replikationseinheiten stehen.)

- Zur Koevolution zwischen Einheiten und Mechanismen der Replikation Zu beschreiben ist hier (ausführlicher in 1.3) also eine Koevolution zwischen den in der menschlichen Wahrnehmung verankerten Replikationseinheiten und den in den menschlichen Sozialsystemen verankerten Replikationstechniken. 50 Meme sind als Elemente der menschlichen Kommunikation51 zu betrachten, die phylogenetisch an das soziale Erbe der Menschheit gekoppelt sind, aus dem alle Kommunikation, auch in ihren technisch erweiterten Formen, immer wieder die Kraft zur Regeneration bezieht.52 Dieses Erbe ist in genetischen Dispositionen psychischer Systeme zur emotionalen Verarbeitung von Wahrnehmungen (des Selektionsdrucks) ihrer natürlichen und sozialen Umwelt verankert. Die phänotypische Ausprägung der Meme ist demnach gekoppelt an Strukturen der menschlichen Wahrnehmung. Damit ist auch die Reproduktion von Memen gekoppelt an ontogenetische Bedingungen der Wahrnehmung, die in primären Sozialisationsprozessen53 entfaltet und damit nachhaltig im Lebenslauf von Individuen wirksam werden .54 Es handelt sich also um Elementareinheiten der menschlichen Kommunikation, die einen doppelten Engpass55 der soziokulturellen Evolution durchlaufen haben: Sie müssen sich in vergangenen Formen der Sozialität schon bewährt haben (sonst wären sie mit den jeweiligen Populationen ausgestorben) und sie müssen sich in gegenwärtigen Formen der Sozialisation menschlicher Individuen immer wieder als passend für die Aneignung neuer Erfahrungen erweisen.56 Die Replikationseinheiten der kulturellen Evolution replizieren sich nicht von selbst.57 Sie können nur durch Kommunikation repliziert werden. Sie werden als Bestandteile der Wahrnehmung von menschlichen Individuen hervorgebracht, von Menschen mitgeteilt und von anderen Menschen ver-

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standen. Sie werden durch Kommunikation verbreitet. Damit dies geschehen kann, bedarf es einer Koevolution zwischen der organisch basierten Wahrnehmung der Individuen und der technisch basierten Ausrüstung ihrer Sozialsysteme: Individuen müssen lernen, an der menschlichen Kommunikation teilzunehmen, und das Netzwerk der menschlichen Kommunikation muss an die Wahrnehmungsmöglichkeiten der Individuen angepasst sein. Wie für alle Formen der menschlichen Kommunikation, so gilt auch für Meme, dass sie an die materiellen Trägereigenschaften der Kommunikationsmittel (Gesten, Lautsprache, Schrift etc.) angepasst sein müssen, um als solche wahrgenommen und weitergeben werden zu können. Sie müssen aber vor allem auch an die materiellen Trägereigenschaften der menschlichen Individuen, die ontogenetische Entwicklung ihrer Wahrnehmungsfähigkeiten angepasst sein, um überhaupt die Generationsschranken überspringen zu können. Damit die Weitergabe kulturellen Wissens von Generation zu Generation gelingt, müssen kulturelle Replikationseinheiten von menschlichen Individuen mit ihren Sinnesorganen wahrgenommen und im neuronalen System verarbeitet werden können. Obwohl die kognitiven Fähigkeiten menschlicher Individuen im Verlauf der Menschheitsgeschichte durch Selektion, Ernährung und Pflege gesteigert wurden, können sie nicht mit der enormen Steigerung mithalten, die die kulturellen Wissensvorräte der Menschheit mit der externen Ausdehnung und internen Verdichtung ihrer Sozialsysteme erfahren haben. Mit dem exponentiellen Wachstum der Wissensvorräte – sowohl in der naturwissenschaftlich-technischen wie in der geisteswissenschaftlich-reflexiven Dimension – wächst aber auch die Bedeutung der elementaren Replikationseinheiten, die als natürliche Ausgangspunkte der Wissensaneignung im individuellen Lebensprozess, als Kristallisationskerne der Verknüpfung von Bekanntem und Unbekanntem dienen. Die besondere Bedeutung dieser Elemente des menschlichen Geistes ist also darin zu erkennen, daß sie in der Koevolution menschlicher Individuen und ihrer Sozialsysteme gewissermaßen als Erstbesiedler58 in der ökologischen Nische des Menschen auftreten und festlegen, welche weitere Besiedlung des soziokulturellen Territoriums daraufhin möglich ist, welche Strukturen der sozialen Lebenswelt folgen und welche eher nicht folgen können.

1.2. Weitergabe epidemisch oder lamarckistisch Ein anderer Teil der Diskussion über kulturelle Replikationseinheiten dreht sich um die Frage, ob ihre Weitergabe – wie in der Replikation der Gene – von Generation zu Generation (vertikal) erfolgt oder ob sich die kulturelle Evolution durch Verwendung technisch erweiterter Kommunikationsmittel mit enormen Speicherkapazitäten davon zugunsten eines horizontalen Weitergabemodus abgelöst hat. Ich plädiere für die Auffassung, dass die Weitergabe kultureller Wissensvorräte trotz ihrer technischen Erweiterung in entscheidendem Maße an die Weitergabe von Generation zu Generation gebunden bleibt. Diese Auffassung bezieht sich auf die Verankerung der Replikationseinheiten in der ontogenetischen Entwicklung der Wahrnehmung ihrer Träger.


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Eine Streitfrage in der einschlägigen Literatur, die der Frage nach der Definition von Memen als kulturelle Replikationseinheiten in gewisser Weise noch vorgeordnet ist59, bezieht sich darauf, ob die Weitergabe kulturellen Wissens eher nach einem Muster der Ansteckung (virus-like-view) oder nach einem Muster der Vererbung (gene-like-view) aufzufassen ist. Häufig wird das epidemische Modell der Verbreitung metaphorisch ausgeschmückt mit der Bezeichnung von Memen als „Viren des Geistes“60 und das lamarckistische Modell61 der Vererbung mit der Bezeichnung von Memen als „Artefakte des Verhaltens“.62 Diese Gegenüberstellung ist jedoch m.E. (in mehrerer Hinsicht) irreführend: Erstens sind horizontale und vertikale Transmission nicht als alternative Erklärungsmodelle zu entfalten, sondern in Relation zueinander zu setzen. Dabei kommt m.E. der vertikalen Dimension die vorrangige Bedeutung zu, weil hier ein besonderer Engpass der Transmission zu erkennen ist. (Autoren, die beide Dimensionen als gleichrangig behandeln, beziehen sich auf den Umstand, dass die Weitergabe von Generation zu Generation sich durch technisch erweiterte Kommunikationsmittel von der Verwandten-Interaktion abgelöst hat und damit Zwischenglieder in der Generationskette überpringen kann.) Zweitens muß auch der Bezug auf Meme als Viren des Geistes63 und technische Artefakte als Medien der Transmission in derselben Weise relativiert werden. (Hierauf ist in 1.3 noch ausführlicher einzugehen.) Technische Artefakte kommen zwar in der horizontalen Verbreitung kultureller Wissensvorräte und auch in sekundären (schulisch organisierten) Formen sozialen Lernens in gesteigertem Maße zum Zuge. Dies gilt aber gerade nicht für die ontogenetisch frühen Phasen der Transmission, denen (im hier skizzierten Ansatz) eine konstitutive Bedeutung für die Ausprägung kultureller Replikationseinheiten zukommt.

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Der springende Punkt ist hier die enorme Steigerung, die die Verbreitung menschlichen Wissens in räumlicher und zeitlicher Hinsicht durch technisch erweiterte Kommunikationsmittel erfahren hat. Diese Ausdehnung wird aber beschränkt durch die kognitiven Filter, die in der (überwiegend noch regionalen) Tradierung von Sprachkompetenzen und anderen kognitiven Gewohnheiten angelegt sind. Dies verweist zurück auf 2. Die vertikale Transmission / Tradition (gene-like-view)

- Horizontale und vertikale Weitergabe Um meinen Vorschlag zur Engführung der Definition kultureller Replikationseinheiten plausibel zu machen, platziere ich hier zunächst eine einfache grafische Darstellung64, die noch einmal den Unterschied zwischen horizontaler und vertikaler Weitergabe kulturellen Wissens und ihren Zusammenhang deutlich machen soll.65 1. Die horizontale Transmission / Epidemik (virus-like-view)

Der springende Punkt ist hier die natürliche Beschränkung der Verbreitungsmöglichkeiten kulturellen Wissens, die in der Ontogenese menschlicher Individuen, insbesondere in der Verankerung kognitiver Filter in primären Sozialisationsprozessen angelegt sind, die die Entwicklung kognitiver Kompetenzen im individuellen Lebenslauf vorprägen und konditionieren.66 - Der ontogenetische Engpass in der Transmission In Theorien der kulturellen Evolution wird normaler Weise der (kumulativ) beschleunigende Effekt herausgestellt, der in der Weitergabe lebensgeschichtlich erworbener Wissenselemente und Fertigkeiten von Generation zu Generation besteht. Dabei wird jedoch übersehen, dass dieser Beschleunigungseffekt viel größer (und wahrscheinlich selbstzerstörerisch) wäre, wenn er nicht durch einen gegenteiligen (der Kumulation des Wissens entgegenwirkenden) Effekt abgebremst würde: das ist der Widerstand gegen die Aneignung allzu komplexer Wissenselemente, die in der kognitiven Entwicklung menschlicher Individuen angelegt ist. Die Replikation kultureller Elementareinheiten muss den Engpass der ontogenetischen Entwicklung durchlaufen. Viele Theorien der kulturellen Evolution unterstellen, dass dieser Engpass sich im Verlauf der kulturellen Evolution infolge der Entwicklung technisch erweiterter Kommunikationsmittel aufgelöst habe, da die Weitergabe von Generation


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zu Generation damit nicht mehr auf die persönliche Interaktion zwischen den Generationen angewiesen sei. Dies ist jedoch ein gravierender Irrtum, denn tatächlich verlagert sich das Problem des ontogenetischen Engpasses nur von der Interaktion zwischen Personen zur Interaktion zwischen Personen und den technisch verselbständigten Wissensvorräten.67 Es geht hier um ein basales Trägheitsmoment, das trotz aller Beschleunigung auch für die kulturelle Evolution anzunehmen ist, wenn sie mit der Darwinschen Theorie interpretiert werden soll. Der ontogenetische Engpass ist v.a. dadurch bestimmt, dass kognitiv höhere Entwicklungsstufen auf niedrigeren Entwicklungsstufen aufbauen, die auch nicht übersprungen werden können. Es ist vielmehr so, dass insbesondere die für die weitere kognitive Entwicklung notwendigen Wirklichkeitskonstruktionen, die lebenslang als selbstverständliche Hintergrundüberzeugungen (als Institutionen) wirken und den Lernprozess organisieren, in sehr frühen Phasen gelernt werden müssen, wo das Lernen immer noch primär durch Interaktion zwischen Personen bestimmt ist. Wo dieses frühe Lernen mißlingt oder nachhaltig gestört ist, hilft auch keine Bibliothek, kein technisch externalisierter Gedächtnissspeicher, denn der kulturelle Wissensvorrat ist dann für seine lebendigen Träger nicht mehr erreichbar. Im kulturellen Mechanismus der Replikation ist also eine restabilisierende Selektion schon enthalten – und damit zugleich eine primordiale Differenz gegenüber dem Mechanismus der Variation. (Mehr dazu im 2. Teil).

- Piagets Kritik an der Vernachlässigung ontogenetischer Bedingungen in der Soziologie Auch in der soziologischen Theorietradition ist die Bedeutung menschlicher Entwicklungstatsachen68 für die Erklärung soziokultureller Phänomene vernachlässigt worden.69 Dazu bereits Piagets grundlegende Kritik an Durkheims Gesellschaftstheorie: „Durkheim argumentiert, als seien die Alters- und Generationsunterschiede ohne Bedeutung. Er spricht von homogenen Individuen und sucht die Auswirkung der verschiedenen möglichen Typen der Gruppe auf ihr Bewußtsein festzustellen. Alles, was er hierbei entdeckt, ist durchaus richtig, bleibt jedoch unvollständig: es genügt, sich für einen Augenblick eine in Wirklichkeit natürlich unmögliche Gesellschaft vorzustellen, in der alle Individuen das gleiche Alter hätten, eine Gesellschaft, die aus einer einzigen, sich ins Unendliche fortsetzenden Generation bestehen würde, um die ungeheure Bedeutung der Alters-Beziehungen und insbesondere der Beziehungen von Erwachsenen zu Kindern zu erkennen. Hätte eine solche Gesellschaft jemals einen zwangmäßigen Konformismus gekannt? Würde sie die Religion oder zumindest die Religionen, die einen transzendenten Glauben voraussetzen, kennen? Würde man bei solchen Gruppen eine einseitige Achtung und ihre Auswirkungen auf das moralische Bewußtsein feststellen können? Wir beschränken uns darauf, diese Fragen zu stellen.“ (Piaget 1973: 113f)

Piaget führt die Gegebenheit konformistischer Orientierungen in der Gesellschaft auf frühe Stufen in der ontogenetischen Entwicklung der menschlichen Wahrnehmung zurück. Das auch für die Beschreibung kultureller Replikationseinheiten entscheidende Argument ist hier, dass kognitiv noch gar nicht unterschieden werden kann zwischen Sein und Sollen: Wenn etwas so ist, wie es ist, dann muss wohl es auch so sein. Eine wichtige Implikation der ontogenetisch frühen Aneignung basaler Elemente der Kommunikation ist in der fehlenden Unterscheidung zwischen präskriptiven und deskriptiven Aussagen zu erkennen (vgl. Blute 2010, 31).

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- Ontogenetische Beschränkungen der Replikation als Bedingungen kultureller Evolution Nicht nur in der Soziologie70, sondern auch in der neodarwinistischen Theorietradion ist die Bedeutung ontogenetischer Faktoren für die Erklärung kultureller Phänomene lange Zeit vernachlässigt worden.71 Dies fällt in der Dawkinschen MemTheorie gerade dort auf, wo implizit auf die Bedeutung ontogenetisch früher Entwicklungsprozesse des menschlichen Bewußtseins für die Einnistung (und Inkubation) von Memen hingewiesen wird. So geht Dawkins in einer Nachbemerkung zu dem Mem-Kapitel (1996: 527f.) ausdrücklich auf die besondere Empfindlichkeit von Kindern für die Einprägung von Memen ein, ohne daraus Konsequenzen für seine MemTheorie zu ziehen: „Der Glaube ist ein derart erfolgreicher Gehirnwäscher in eigener Sache, daß es schwer ist, seinen Griff zu lockern. Bei Kindern wirkt die Gehirnwäsche besonders gut. Doch was ist Glaube eigentlich? Er ist ein Gemütszustand, der Menschen dazu bringt, etwas zu glauben - es kommt nicht darauf an, was -, das durch keinerlei Beweise gestützt wird.“

Noch deutlicher wird der Bezug auf primäre Sozialisation in Dawkins Aufsatz „Viruses of the Mind“ : “A human child is shaped by evolution to soak up the culture of her people. Most obviously, she learns the essentials of their language in a matter of months. A large dictionary of words to speak, an encyclopedia of information to speak about, complicated syntactic and semantic rules to order the speaking, are all transferred from older brains into hers well before she reaches half her adult size. When you are pre-programmed to absorb useful information at a high rate, it is hard to shut out pernicious or damaging information at the same time. With so many mindbytes to be downloaded, so many mental codons to be replicated, it is no wonder that child brains are gullible, open to almost any suggestion, vulnerable to subversion, easy prey to Moonies, Scientologists and nuns. Like immune-deficient patients, children are wide open to mental infections that adults might brush off without effort.” (Dawkins 1991, …)

Dawkins erliegt hier (aus zeitgenössisch verengter Perspektive) der Versuchung, das kindliche Verhalten nur unter dem Aspekt der Defizienz gegenüber der kognitiven Entwicklung von Erwachsenen zu betrachten. Daher auch seine überscharfe Abgrenzung von dem religiösen Charakter der Konstitution von Memen in primären Sozialisationskontexten:72 “We sometimes obey orders from one another, but also we sometimes don't. Nevertheless, it is a telling fact that, the world over, the vast majority of children follow the religion of their parents rather than any of the other available religions. Instructions to genuflect, to bow towards Mecca, to nod one's head rhythmically towards the wall, to shake like a maniac, to „speak in tongues'' – the list of such arbitrary and pointless motor patterns offered by religion alone is extensive – are obeyed, if not slavishly, at least with some reasonably high statistical probability.” (Dawkins 1991 …)

Was Meme in evolutionstheoretischer Perspektive gegenüber anderen Elementen der Wahrnehmung auszeichnet, ist ihre Verankerung in kognitiven Strukturen, die aus phylogenetischen Adaptationen des sozialen Verhaltens stammen. Dieser Umstand kann dazu verführen, die Grenzen zwischen Kommunikation und Bewußtsein zu verwischen bzw. Meme ausschließlich über soziale Prozesse zu definieren.73 Demgegenüber ist hier festzuhalten, dass es sich um Einheiten der Wahrnehmung handelt, die gerade durch ihre (in ontogenetischen Prozessen verankerte74) operative Geschlossenheit zur Offenheit – i.S. der kumulativen Lernfähigkeit – der Netzwerke der menschlichen Kommunikation beitragen. 75


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Für Cavalli-Sforza gibt es „kulturelle Lerninhalte, die stabiler sind als andere, und diese Stabilität kann durch biologische Faktoren begünstigt werden, die die Individuen in einem bestimmten Alter aufnahmefähiger für die Übernahme eines bestimmten Verhaltens oder anderer kultureller Änderungen machen.“ Er spricht in dieser Hinsicht von besonderen „Empfänglichkeitsperioden“ und führt dafür besonders die Sprachentwicklung an.76 Im Hinblick auf normale Verlaufsformen der Ontogenese wäre folgenden Fragen nachzugehen (hier aber nur auf entspr. Lit. zu verweisen): 1. ob und inwieweit die grundlegende Bedeutung der primären Sozialisation etwas mit besonderer Empfindlichkeit früher Phasen zu tun hat (Prägung i.S. der Ethologie, s. Lorenz, EiblEibesfeld u.a.) 2. ob und wie das menschliche Gehirn sukzessive seine Offenheit für Neues verliert (Irreversibilität einmal getätigter Investitionen – wie in der organischen Evolution mehr dazu in 2.) 3. durch welche Mechanismen diese Schließung hinausgezögert und damit die Offenheit für Lernprozesse gesteigert wird: a. natürlich durch verzögerte Reifung (Neotenie-These s. Portmann, Montagu etc.) b. kultur-technisch durch Erziehung / Übung / verzögerte Bildungsabschlüsse (Reflexivität - Blumenberg, Sloterdijk – mehr dazu in 2.) c. substitutiv-technisch durch Eingriffe in den Organismus (Gentechnik, Hirnimplantate etc.)

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oder Fertigkeit) um Nachahmung und nicht um eine Abweichung handelt, dann ist es auch innerhalb eines kulturellen Sozialsystems nicht möglich, zwischen Replikation und Variation zu unterscheiden. Die Sicherheit dieser Unterscheidung mag (aus der Perspektive eines wissenschaftlichen Beobachters) als fiktiv bzw. selbst als kulturellelles Konstrukt erscheinen. Sie ist jedenfalls als eine Bedingung kultureller Evolution vorgegeben, denn ohne Variation (Abweichungen im Mempool der Gesellschaft) kann es keine Evolution geben.80 Das Argument für kopiergetreue – gewissermaßen mechanische – Formen der Replikation lässt sich mit Beispielen sozialen Lernens illustrieren, in denen das sinngemäße Verstehen entweder weitgehend ausgeklammert ist (s. mittelalterliche Lateinschulen, Koran-Schulen u.ä.) oder wie in vielen Formen des frühkindlichen Lernens sistiert (zunächst wird nur mit rudimentärer Sinnzuschreibung nachgeahmt, später mit Sinn angereichert und in verändertem Kontext reflektiert). (Ein anderes Argument für die Annahme eines kopiergenauen Replikationsmechanismus bezieht sich auf die Frage der quantitativen Beobachtbarkeit.81 Gegen dieses eher methodologisch angelegte Argument kann eingewandt werden, dass der größte Teil des kulturellen Wissensvorrats seine Wirkung gerade im Zustand der Latenz erzielt, sich also der direkten Beobachtung entzieht. Darüberhinaus kann eingewandt werden, dass sich auch die Vorgänge der genetischen Replikation nicht direkt beobachten lassen.82 Ich lasse das hier beiseite.)

- Techniken der Verbreitung und Transmission

1.3. Kopiergenau oder sinngemäß Eine weitere Frage in der Diskussion über kulturelle Replikationseinheiten bezieht sich auf den Schutz vor äußeren Einflüssen (und damit vor zuviel Variation). Vorgänge der genetischen Replikation sind vor Umwelteinflüssen weitgehend geschützt. Ein solcher Schutz ist in der kulturellen Evolution nicht zu erkennen, solange man nur die Medien und Formen der Weitergabe in den Blick nimmt, die dem intentionalen Zugriff unterliegen. Der Schutzmechanismus ist in dem ontogenetischen Engpass zu erkennen, den kulturelle Replikationseinheiten durchlaufen. Dieser evolutionäre Mechanismus ist gepaart mit weiteren Vorteilen, die sich aus der Mehrstufigkeit des Vorgangs ergeben: Die Genauigkeit wird dadurch erhöht, dass nicht ein wahrgenommenes Verhalten, sondern die Anleitung zum Verhalten kopiert wird. Ein Streitpunkt in der Diskussion über kulturelle Replikationseinheiten bezieht sich auf die Frage, ob es hier – analog zur Replikation der Gene – auf ein hohes Maß an Kopiertreue ankommt, oder ob für die Erklärung kultureller Phänomene von einer eher losen Form der Übernahme und sinngemäßen Wiedergabe auszugehen ist.77 Diese Frage hängt natürlich mit den schon angesprochenen Definitionsfragen (dem ontogenetischen Engpass) zusammen. Ich plädiere auch in dieser Hinsicht (gegen viele Vertreter kultureller Evolutionstheorien wie Sperber78) für die engere Auffassung.79 Das Argument ist relativ einfach: Wenn es für natürliche Teilnehmer kein hohes Maß an Sicherheit dafür gibt, dass es sich bei der Übernahme eines sozialen Verhaltens (Kenntnis

Ein Problem der Unterscheidung zwischen horizontalen und vertikalen Formen der Transmission besteht darin, dass natürliche Beschränkungen der Weitergabe durch die technisch erweiterten Gedächtnisspeicher gewissermaßen unterlaufen – die Weitergabe jedenfalls von der Interaktion mit nahestehender Personen (Eltern und Blutsverwandten) abgelöst werden kann. Dies scheint eine Erweiterung i.S. des horizontalen Ansteckungsmodells nahezulegen. Tatsächlich kann daraus aber keineswegs auf eine Auflösung der Bindung (ontogenetisch primärer Phasen) der vertikalen Transmission an Interaktion unter Anwesenden geschlossen werden.83 Wenn hier zur Spezifikation des kulturellen Replikationsmechanismus84 die vertikale Transmission (nach dem Muster der intergenerativen Tradierung) gegenüber der horizontalen Transmission (nach dem Muster der epidemischen Ansteckung) herausgestellt wurde, so ist doch auch zu berücksichtigen, dass (und wie) beide Formen der Transmission in der kulturelle Evolution zusammenwirken: Nur Ereignisse, die sich im Netzwerk der menschlichen Kommunikation horizontal verbreitet haben, können in den geteilten Wissensvorrat eingehen, der dann den Engpass der vertikalen Transmission passieren muß. Und das Maß der horizontalen Verbreitung kollektiver Wissensbestände in den Sozialsystemen hängt selbst von der Ausdehnung und Verdichtung der Kommunikation mit technischen Mitteln ab. Für die hier skizzierte Argumentation ist also nicht nur relevant, dass die ontogenetische Restriktion in die Definition der Replikationseinheiten eingeführt wird (dass sie also den Test der intergenerativen Weitergabe bestehen müssen), sondern auch zu erklären, warum diese Restriktion kein Hindernis dafür ist, dass der kulturelle Wissensbestand, der von Generation zu Generation weitergegeben wird, sich erweitern und verändern (und wenn man so will: verfeinern) kann. (Dazu mehr in Teil 2.)


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- Die natürliche Trägheit der Meme und ihre Überwindung durch Einschaltung epimemetischer Faktoren Bei der Darstellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen biologischer und kultureller Evolution wird häufig die Unterscheidung der Ebenen vernachlässigt, auf denen die Vehikel der Replikation operieren und dem Selektionsdruck der Umwelt ausgesetzt sind: das ist für die biologische Evolution primär die Ebene der Individuen, auf der sie sich fortpflanzen – für die kulturelle Evolution hingegen von vornherein die Ebene ihrer Sozialsysteme. Der Umstand, dass die Vehikel der kulturellen Replikation primär auf der supraorganischen Ebene der Sozialsysteme operieren, spricht dafür, auch die Informationseinheiten selbst dieser Ebene zuzurechnen. Nur unter dieser Prämisse macht es auch Sinn, die kulturellen Replikationseinheiten nach dem Modell von Viren zu beschreiben, die in Gehirne eindringen und „von Gehirn zu Gehirn springen“ (Dawkins). Andererseits ist auch weiterhin zu unterscheiden zwischen den Replikationseinheiten (als informationelle Einheiten, „bookholders“, Gould) und ihren Transportmitteln (als physisch-organische Einheiten) – für die kulturelle Evolution also zwischen den Memen als dem direkten Umwelteinfluss entzogenen, latenzgeschützten Sinneinheiten einerseits und dem Selektionsdruck der Umwelt ausgesetzten physischorganischen Einheiten. Diese Trägereinheiten sind nun in der kulturellen Evolution primär in den soziotechnischen Mitteln (Sprache, Schrift Buchdruck etc.) zu erkennen, mit denen sie ihre Sozialsysteme als Schutzschirme gegenüber dem Selektionsdruck der natürlichen und sozialen Umwelt ausbauen. Erst sekundär, nämlich über die kulturelle Anpassung der kognitiven Entwicklung der Individuen an die soziotechnisch erweiterten Sozialsysteme kommen hier auch die Trägereigenschaften der neuronalen Systeme erneut in Betracht (und damit eine Koevolution psychisch-organischer und soziokultureller Systeme). Wenn im Anschluß an die von Dawkins eingeführte GenMem-Analogie für die kulturelle Evolution von einem epimemetischen System gesprochen wird, dann ist es wohl in dieser sekundären Rückwirkung der soziotechnischen Einrichtungen auf die kognitive Entwicklung der lebendigen Individuen durch reflexive Unterbrechung im Fluß der Kommunikation, durch Einübung in die Handhabung erweiterter Kommunikationsmittel und Ausbildung technischer Routinen, durch organisierte Erziehung und Ausbildung zu sehen. Damit erhält das epimemetische System jene Schalter, die geeignet sind, die Meme im kulturellen Wissensvorrat anoder abzuschalten, und auf diese Weise die natürliche (durch ihre lebensgeschichtliche Verankerung in frühen Lernprozessen ausgeprägte) Trägheit der Meme zu überwinden und raschere (aber auch riskantere) Anpassungsprozesse an veränderte Umweltbedingungen zu vollziehen. operativ geschlossenes operativ zugängliches Informationssystem Epi-System BE Gen-Pool Epigenetisch KE Mem-Pool Epimemetisch - Leichtigkeit und Trägheit des memetischen Wissens Als ökologische Bedingungen der Konstitution von Memen sind nicht nur primäre sondern auch sekundäre Sozialisationsprozesse von Menschen wirksam. Hier zeigt sich zugleich

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ein folgenreicher Unterschied: Um die Differenz zwischen primären und sekundären Formen der Memkonstitution zu kennzeichnen, ist mit Bezug auf primäre Prozesse von der Leichtigkeit des Lernens85 und mit Bezug auf sekundäre Prozesse von der Trägheit des Lernens die Rede. Evolutionstheoretisch lässt beides sich durch ihre spezifischen Entstehungsbedingen erklären: Die Leichtigkeit des Lernens durch ihre Vorangepasstheit vorangepasst an genetische Dispositionen86 und die Trägheit des Lernens durch Erfahrungen, die als lebensgeschichtliche Investitionen eine erhebliche Irreversibilität aufweisen.87 Erst die Trägheit des Lernens macht es möglich, dass in einer Population von Individuen bestimmte Sinngehalte bevorzugt und andere ausgeschieden werden. Sekundäre Sozialisationsprozesse wirken aufgrund der weitgehenden (allerdings nicht unüberwindlichen) Irreversibilität einmal getätigter Lerninvestitionen nicht nur erschwerend auf die Lernfähigkeit einzelner Individuen.88 Sie sind auch als Mechanismen der reproduktiven Isolierung ganzer Populationen von Individuen und der Ausdifferenzierung ihrer Sozialsysteme zu betrachten.89 - Reversibilität und Irrversibilität von Lernprozessen Die hier vorgeschlagene Engführung im Konzept kultureller Replikationseinheiten richtete sich zunächst gegen den zu weit gefassten Mem-Begriff von Dawkins. Dafür musste die besondere Bedeutung der vertikalen Tradierung (der intergenerative Engpass) gegenüber der horizontalen Verbreitung (die interaktive Ansteckung) herausgestellt werden. Die Eigenart kultureller Replikationseinheiten ist nicht zu verstehen, solange nicht ihre Rückbindung an die ontogenetische Entwicklung ihrer Träger, der menschlichen Individuen in die Betrachtung einbezogen wird. Menschliche Individuen sind weder bloß „Vehikel“ (Dawkins 1996) ihrer Gene noch ihrer Meme. Um diese Argumentation zu vervollständigen ist die bisher skizzierte Argumentation mit gewissen Einschränkungen auf den gesamten Lebensprozess als Lernprozess auszudehnen.90 Zwar nehmen mit zunehmendem Lebensalter die (unreflektierten und gerade dadurch nachhaltig wirksamen) Formen der Übernahme von Wissen durch Nachahmung ab. Sie werden zunehmend begleitet 1. von Reflexionsprozessen, die die Distanzierung von Wissenseinheiten ermöglichen, die sich als unpassend erweisen haben91 und 2. von sekundären Sozialisationsprozessen, in denen auch solches Wissen aus dem kulturellen Vorrat angeeignet (und über Routinebildung mit Latenzschutz versehen) wird, das die kognitiven Filter der frühkindlichen Entwicklung nicht passieren kann (Schule etc.) Der springende Punkt ist aber, dass auch in diesem erweiterten Modell der Tradierung jede Investition in Lernprozesse mit einer lebensgeschichtlichen Markierung versehen ist, die die Reversibilität beschränkt. Zwar sind die Beschränkungen hier nicht zu erklären nach einem Behälter-Modell. Demnach könnte nichts mehr gelernt werden, wenn der individuelle Behälter voll ist. Tatsächlich kann aber umso mehr gelernt werden, je mehr schon gelernt wurde. Es gilt also eher ein Baum-Modell. Trotzdem gilt, dass jede Investition in einen Zweig dieses Baums irreversibel ist und für andere Verzweigungen nicht mehr zur Verfügung steht. Es ist diese lebensgeschichtliche Irreversibilität von Lernprozessen, die auch


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erklären kann, warum nicht nur einfache Replikationseinheiten (die ihren Platz im individuellen Gedächtnisspeicher suchen) sondern auch große kulturelle Memkomplexe wie die Orientierung an den grundlegenden Mustern sozialer Differenzierung miteinander konkurrieren und in kulturelle Konkurrenzkonflikte geraten. Im zweiten Teil des Vortrags ist darauf einzugehen, wie mit den durch die vorgeschlagene Definition ausgegrenzten Formen der Transmission im Netzwerk der menschlichen Kommunikation umzugehen ist. Ich schlage dafür ein FramingModell vor: Alle erweiterten Formen der Weitergabe – sowohl unter lebenden wie auch durch Lektüre gespeicherter Beiträge gestorbener Personen – werden interpretiert im Rahmen der primordial erworbenen Hintergrundüberzeugungen. In diesem Kontext ist dann auch auf die evolutionär besonders unwahrscheinliche, für die zivilisatorischen Errungenschaften aber besonders relevanten Konstellationen einzugehen, in denen diese Überzeugungen im Lebenslauf in Frage gestellt und verändert werden können.

2. Meme als Objekte der Selektion Vor dem Hintergrund der skizzierten Definitionsentscheidungen sind kulturelle Replikationseinheiten im Rahmen der Darwinschen Selektionstheorie zu interpretieren. Analog zur Mehrebenenselektion kann kulturelle Replikation als Vorgang betrachtet werden, der evolutionäre Vorteile daraus zieht, dass er auf mehreren Ebenen verläuft. Auf dieser Grundlage lässt sich zeigen, dass Konkurrenzkonflikte in kulturellen Sozialsystemen auf zweierlei Weise verarbeitet werden: 1. durch Externalisierung des Konflikts - und damit Verlagerung auf eine höhere Ebene, 2. durch Binnendifferenzierung der Sozialsysteme - und damit Reinternalisierung des Konflikts in zivilisatorisch regulierten Formen. Ich habe im ersten Teil des Vortrags die Auffassung von Schurz (im Anschluss an Cloak und in Abgrenzung zu Blackmore und Gatherer) unterstützt, wonach die kulturellen Gen-Äquivalente (als Informationseinheiten) primär in den Köpfen (der Wahrnehmung) der Individuen verankert sind und ihre Ausformung in Medien der Kommunikation als phänotypisch betrachten sind. Den entscheidenden Grund dafür, mit dem ich nun über das methodologische Argument von Schurz hinausgehen möchte, sehe ich in der Einbettung dieses Modells in die Darwinsche Theorietradition der Mehrebenenselektion.92 So wie in der kulturellen Evolution eine Verlagerung der Selektion von der Ebene der Individuen auf die Ebene ihrer Sozialsysteme zu beobachten ist, so kann entsprechend eine Verlagerung der Replikation (und Variation) von der Ebene der Gene auf die Ebene der Individuen (und darüberhinaus) beobachtet werden.93

2.1 Konkurrenz und Konflikt Nachahmung ist keineswegs nur ein Vorgang, der die Ausbreitung von Wissensvorräten und ihre Weitergabe über Generationen ermöglicht. Jeder Akt der Nachahmung ist auch ein Akt der Kommunikation, in dem die Teilnehmer sich zwischen Konkurrenz und Kooperation

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entscheiden können - und in bestimmten Konstellationen entscheiden müssen. Wo unhintergehbare (also nicht weiter lernbereite) Überzeugungen geäußert werden, kann es keine Kompromisse geben. Das ist die Seite memetischer Konkurrenzkonflikte. Die andere Seite ist darin zu erkennen, dass in allen kulturellen (wie in natürlichen) Sozialsystemen immer schon Vorkehrungen zur Konfliktverarbeitung existieren. Replikation ist immer schon beschränkt durch die Konkurrenz der Mem-Anbieter um die (natürlich-organisch-kognitiv) knappen Ressourcen der Mem-Abnehmer. Memproduzenten suchen kopiergenaue Nachahmer („Proselyten“) und unterdrücken (sofern sie die Macht dazu haben) Nachahmer mit Abweichungen, die durch ihre Abweichung evtl. selbst zu erfolgreicheren Mem-Anbietern werden könnten. Die Unterdrückung von Nachahmung mit Abweichung erfolgt keineswegs immer intentional (als bewußtes Motiv der Memproduzenten) sondern ist bereits als Selektionsmechanismus in das Netzwerk der menschlichen Kommunikation eingebaut. Nicht alle Abweichungen sind kommunikativ anschlußfähig. Abweichung wird als Verstoß gegen Konformitätserwartungen (Konflikt) wahrgenommen und im Sozialsystem isoliert oder aus dem System ausgestoßen. Andererseits wird ein gewisses Maß an Abweichung nicht nur toleriert, sondern zur Bedingung erfolgreicher Anpassung an sich ändernde Umweltbedingungen. Die kulturellen Sozialsysteme haben eine Vielzahl von Mechanismen entwickelt, um solche Konflikte zu verarbeiten: Die primordiale Form der Konfliktverarbeitung ist die soziale Systembildung selbst, die Abweichendes ausschließt und den Konflikt auf die Ebene konkurrierender Systeme verlagert. In dieser Konkurrenz erweisen sich jedoch diejenigen Sozialsysteme als erfolgreicher, die mehr Abweichung (also Variation im Mempool) im Inneren vorhalten. Der Mechanismus, der dies ermöglicht, ist soziale Binnendifferenzierung. - Zur Ambivalenz des Lernens durch Nachahmung Wie in der natürlichen Evolution der Lebewesen ist auch in der kulturellen Evolution zwischen zwei Arten der Konkurrenz zu unterscheiden: der Konkurrenz um materielle Ressourcen des Überlebens und der Konkurrenz um Fortpflanzungsmöglichkeiten. Letztere ist bei zweigeschlechtlich sich vermehrenden Lebewesen eingebettet in die Formen ihres Zusammenlebens. Wenn im Hinblick auf die Sozialsysteme von Menschen von einer Konkurrenz der kulturellen Replikationseinheiten gesprochen wird, dann handelt es sich primär um eine Konkurrenz des zweiten Typs: es geht um die Fortpflanzung und Vermehrung bestimmter Sinneinheiten. Die Selektion verläuft nach dem Muster der sexuellen Selektion.94 Allerdings reproduziert sich auch der erstgenannte Konkurrenztyp in der kulturellen Evolution: die Überlebenskonkurrenz verlagert sich von der Ebene der Individuen auf die Ebene ihrer Sozialsysteme. Konflikte zwischen konkurrierenden Replikationseinheiten sind nicht nur aus der Konkurrenz um knappe Ressourcen des menschlichen Bewußtseins zu begreifen (i.S. einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, für die sich v.a. die Werbebranche interessiert). Um ihre Bedeutung für die Entstehung und Entwicklung menschlicher Sozialsysteme zu verstehen, muß ihre Analyse evolutionstheoretisch tiefer ansetzen in der


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sozial grundlegenden Ambivalenz von Nachahmungsprozessen.95 Nachahmung ist kein neutraler Vorgang, der für die Ausbreitung von Wissensvorräten sorgt. Jeder Akt der Nachahmung ist auch ein Akt der Kommunikation, in dem die Teilnehmer sich zwischen Konkurrenz und Kooperation entscheiden. Der Sohn kann den Vater nachahmen, um ihn bei der Mutter auszustechen (Ödipus). Der Meister kann den Schüler als potenziellen Rivalen empfinden und sich der Bedrohung erwehren. Der Nachgeahmte kann den Nachahmer mit Patentklagen überhäufen (Apple). Die Evolution kultureller Sozialsysteme bietet deshalb vielerlei (hierarchische und vertragliche) Formen an, in denen Nachahmer und Nachgeahmte kooperieren können (wodurch der Konflikt latent bleiben kann). - Traditionelle Formen sozialer Konfliktverarbeitung Wo unhintergehbare (also nicht weiter lernbereite) Überzeugungen geäußert werden, kann es keine Kompromisse geben – das ist die Seite memetischer Konflikte.96 Die andere Seite ist darin zu erkennen, dass in allen kulturellen (wie schon in natürlichen) Sozialsystemen immer schon Vorkehrungen zur Konfliktverarbeitung existieren. In evolutionstheoretischer Perspektive ist also zu fragen, wie Konflikte zwischen konkurrierenden Mem-Komplexen gelöst werden? Wer die Evolution kultureller Replikationseinheiten verstehen will, kann dies an der Wirkungsweise religiöser Überzeugungen in der Geschichte menschlicher Sozialsysteme studieren97: die Austreibung von Konkurrenzkonflikten auf der Ebene der Individuen und ihre Verlagerung auf die Ebene ihrer Sozialsysteme – friedlich nach Innen und kriegerisch nach Außen.9899 Die Frage nach den Formen der Konkurrenz100 (dementsprechenden Konkurrenzkonflikten und ihrer kulturellen Verarbeitung in soziokulturellen Systemen) ist auch von Dawkins aufgeworfen worden: „Hier stellt sich nun ein Problem, das die Natur der Konkurrenz betrifft. Wo es geschlechtliche Fortpflanzung gibt, konkurriert jedes Gen vor allem mit seinen eigenen Allelen - Rivalen für dieselbe Stelle auf dem Chromosom. Bei den Memen scheint es nichts den Chromosomen Entsprechendes zu geben und nichts, was den Allelen entspricht. Ich nehme an, in einem banalen Sinne kann man bei vielen Gedanken von ihren „Gegensätzen" sprechen. Doch im großen und ganzen gleichen die Meme eher den frühen sich replizierenden Molekülen, die frei und ungeordnet in der Ursuppe trieben, als den modernen Genen in ihren ordentlichen, paarweise vorhandenen Chromosomenregimentern. In welchem Sinne also konkurrieren die Meme miteinander? Sollen wir annehmen, daß sie „eigennützig" oder daß sie „rücksichtslos" sind, wenn sie keine Allele haben? Tatsächlich können wir dies erwarten, denn in gewissem Sinne müssen Meme sich auf eine Art Konkurrenz miteinander einlassen. Jeder, der einmal einen Großrechner benutzt hat, weiß, wie kostbar Rechenzeit und Speicherkapazität sind. In vielen großen Rechenzentren muß man dafür tatsächlich Geld bezahlen, oder man bekommt eine Laufzeit zugeteilt, die in Sekunden gemessen wird, und einen Anteil an der Speicherkapazität, der in „Worten" gemessen wird. Die Computer, in denen die Meme leben, sind die Gehirne der Menschen. Bei diesen ist die Zeit möglicherweise ein wichtigerer begrenzender Faktor als der Speicherplatz, und sie ist Gegenstand heftiger Konkurrenz. Das menschliche Gehirn und der Körper, den es steuert, können nicht mehr als eins oder einige wenige Dinge gleichzeitig tun. Wenn ein Mem die Aufmerksamkeit eines menschlichen Gehirns in Anspruch nehmen will, so muß es dies auf Kosten „rivalisierender" Meme tun. Andere Gü-

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ter, um die Meme konkurrieren, sind Sendezeiten in Rundfunk und Fernsehen, Raum auf Anschlagtafeln und in Zeitungsspalten sowie Platz in Bücherregalen. Was die Gene betrifft, so haben wir in Kapitel 3 gesehen, daß im Genpool koadaptierte Genkomplexe entstehen können. Eine für die Mimikry bei Schmetterlingen verantwortliche große Gruppe von Genen ist auf demselben Chromosom fest miteinander gekoppelt, derart fest, daß man sie wie ein einziges Gen behandeln kann. In Kapitel 5 haben wir den komplizierten Gedanken des evolutionär stabilen Gensatzes kennengelernt. Jeweils zusammenpassende Zähne, Klauen, Eingeweide und Sinnesorgane bildeten sich in Fleischfresser-Genpools heraus, während gleichzeitig ein anderer stabiler Satz von Merkmalen aus Pflanzenfresser-Genpools hervorging. Geschieht in Mempools irgend etwas Vergleichbares? Ist das Gott-Mem zum Beispiel mit anderen speziellen Memen verknüpft worden, und fördert diese Verbindung das Überleben jedes der beteiligten Meme? Vielleicht können wir eine organisierte Kirche mit ihrer Architektur, ihren Ritualen und Gesetzen, ihrer Musik und Kunst sowie ihrer geschriebenen Tradition als einen koadaptierten stabilen Satz sich gegenseitig stützender Meme betrachten.“ (315f)

Dawkins Antwort auf die Frage, wie Meme konkurrieren, ist m.E. durchaus anschlussfähig, aber zuwenig ausgearbeitet. Es fehlt (wie im 1. Teil schon ausgeführt) eine angemessene Unterscheidung zwischen Kommunikation und Bewußtsein. Im Medium sprachlicher Kommunikation und ihrer technischen Erweiterung entstehen gar keine Konkurrenzkonflikte. Sozialer Sinn ist eine unbegrenzt verfügbare Ressource. Knappheit (und Konkurrenz um Aufmerksamkeit) entsteht überhaupt erst durch die beschränkten Aufnahmekapazitäten, über die die kognitiven Systeme menschlicher Individuen verfügen. Und in dieser Hinsicht fehlt die Unterscheidung zwischen horizontalen und vertikalen Formen der Weitergabe.101 Denn im Hinblick auf die Reproduktion des gesellschaftlichen Wissensvorrats interessieren nur die Konkurrenzkonflikte, die sich in der Weitergabe von Memen und Memkomplexen von Generation zu Generation ergeben.102 - Nachahmung und Innovation Im Zeitgeist der Moderne wird die Nachahmung geringer geschätzt als die Innovation, obwohl schon die einfachste Überlegung zeigen kann, dass jede kulturelle Innovation auf der Tradierung von Errungenschaften vergangener Zeiten, also auf der Fähigkeit zur Nachahmung basiert.103 Dies gilt nun sowohl in ontogenetischer wie auch in phylogenetischer Hinsicht.104 Auf ontogenetischer Ebene ist zu erkennen, dass jede Nachahmung für das psychische System, das diese Operation vollzieht, selbst immer schon eine Innovation (die „Einverleibung“ fremden Gedankenguts durch Meme) darstellt. Auf phylogenetischer Ebene wird vollends deutlich, dass die Fähigkeit zur Nachahmung ebenjenes Potenzial darstellt, das die Sonderform der kulturellen Evolution ermöglicht hat: die Weitergabe lebensgeschichtlich erworbener Eigenschaften von Generation zu Generation.105 Nicht ohne Grund, ist der Generationswechsel von vielen Autoren dramatisch als Ansturm von Barbaren auf die Errungenschaften der Kultur dargestellt worden. Andererseits ist aber auch nicht zu bestreiten, dass die nachwachsende Generation in der Interaktion mit der Älteren Sozialisationsprozessen ausgesetzt ist, die nicht immer wieder am Ausgangspunkt der kulturellen Evolution ansetzen, sondern schon auf den zivilisatorischen Anstrengungen vieler Generationen aufbauen.106


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Angesichts der Ausdehnung und Verdichtung menschlicher Sozialität zu einem globalen Sozialsystem wird erkennbar, warum die traditionellen Formen der Konfliktverarbeitung heute nicht mehr funktionieren: Es gibt keine konkurrierenden Sozialsysteme (jedenfalls keine menschlichen) in der Umwelt der modernen Weltgesellschaft. Jeder Versuch zur Externalisierung kehrt in die erweiterte Innenwelt der Gesellschaft zurück, wird zum Virus, der ihre innere Ordnung bedroht. Die moderne Gesellschaft kann nicht weitermachen mit den traditionell im kulturellen Wissensvorrat bevorzugt verankerten Memen der religiösen Doppelmoral. Daher wird es zu einer Überlebensfrage der Menschheit, das genetisch angelegte Potenzial menschlicher Individuen zur Aneignung kultureller Replikationseinheiten (das sichere Wissen) zu erweitern durch Bildungsprozesse der Individuen, die ihnen gesteigerte Möglichkeiten zur reflexiven Anpassung an ihre veränderte soziale Umwelt verschaffen.107

2.2 Ebenendifferenzierung Ebenendifferenzierung ist nicht nur ein Konstrukt wissenschaftlicher Beobachtung, sondern der Evolution. Insbesondere in der kulturellen Evolution ist eine zunehmende Differenzierung der Ebenen beobachten, auf denen die Mechanismen der Replikation, Variation und Selektion zur Wirkung kommen. Das treibende Moment der Ebenendifferenzierung ist in den evolutionären Vorteilen sozialer Systembildung („Superorganismen“) zu erkennen, die mit Steigerung der Kooperation und Unterdrückung von Konflikten verbunden ist. Die Unterdrückung von Konflikten im Inneren geht einher mit einer Verlagerung der Konflikte auf die Ebene konkurrierender Sozialsysteme. Hier ist noch einmal anzuknüpfen an die Hinweise108 auf Koevolution zwischen Memen als Einheiten des menschlichen Bewußtseins und den Strukturen menschlicher Sozialität in (und vermittels der) Medien der menschlichen Kommunikation.109 Es geht immer um Nachahmung mit Abweichung, also Variation als Voraussetzung von kultureller Selektion und darüberhinaus um die theoretische Einbettung des MemKonzepts110 in die Darwinsche Theorie der Mehrebenenselektion. Die Unterscheidung verschiedener Ebenen ist selbst ein Produkt der Evolution. Insbesondere die kulturelle Evolution wird in hohem Maße durch Ausdifferenzierung der Ebenen vorangetrieben. Das antreibende Moment ist in den evolutionären Vorteilen sozialer Systembildung („Superorganismen“) zu erkennen, die mit Steigerung der Kooperation und Unterdrückung von Konflikten verbunden ist. Die Unterdrückung von Konflikten im Inneren geht einher mit einer Verlagerung der Konflikte auf die Ebene konkurrierender Sozialsysteme.111 - Mehrebenenreplikation Marsden (2000) hat vorgeschlagen, den Ansatz der Memtheorie im Sinne einer Mehrebenenselektionstheorie zu refomulieren: „One way to conceptualise memetics is as a stance that seeks, using a selectionist rationale, to interpret the human social world in terms of the ongoing differential reproduction of traits describing that social world (Marsden 1999). Reproduction in the social world may occur at many levels;

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objectified individual acts are replicable and can become typified and habitual, thereby becoming practices, themselves reproducible, and through typified reciprocal interaction, institutions can emerge with roles that serve their own propagation (cf. Price and Shaw 1998). Through this multi-level sociological dance of reproduction, we both produce and are produced by the social world. The idea is that by employing a selectionist rationale, essentially the Law of Effect and perhaps a heuristic of inclusive memetic fitness, memetics may come to provide some purchase on how acts, practices and institutions provide for their own self-emplacement in a world where the products of variation outnumber the capacity for subsequent selection and reproduction.” Für die folgende Argumentation ist noch einmal Cloaks Unterscheidung zwischen einer genotypischen I-Kultur und einer phänotypischen M-Kultur aufzugreifen und i.S. der operativen Geschlossenheit der memetischen Sinneinheiten (Latenzschutz), und der operativen Offenheit der im Netzwerk der Kommunikation kursierenden Sinneinheiten (Replikation, Variation) zu interpretieren.112 Die Koevolution zwischen den genotypischen und den phänotypischen Einheiten lässt sich im Anschluß an die Ausführungen bei Blackmore über die evolutionären Vorteile des Kopierens von Anleitungen113 (und analog zum Modell der Mehrebenen-Selektion) auch als Mehrebenen-Replikation beschreiben. Der Mechanismus der Replikation verlagert sich in der kulturellen Evolution mit den sprachlichen Mitteln symbolischer Generalisierung von der 1:1 Beziehung auf wahrgenommenes Verhalten zu abstrakt-allgemeinen Verhaltensanleitungen. Der Replikationsmechanismus wirkt dabei immer noch kopiergenau (vielleicht sogar genauer als in der primordialen Interaktion unter Anwesenden, weil technisch kontrollierbar). Zugleich aber steigt der Anteil der Mutanten (Nachahmung mit Abweichung) weil die kulturellen Replikationseinheiten mit ihrer symbolischen Generalisierung und technisch vermittelten Ausbreitung zunehmender Reflexion ausgesetzt sind.114 Probleme zunehmender Abweichung werden aufgefangen durch Hierarchisierung: die Verankerung des Replikationsmechanismus in obersten Werten. Kopiert werden darf nur, was der Wertordnung des Sozialsystems entspricht. Die Werte werden ihrerseits in primären Sozialisationsprozessen verankert, die die Orientierung mit den genetisch disponierten Affekten vorstrukturieren.

2.3 Binnendifferenzierung Soziale Differenzierung gehört wahrscheinlich zu den ältesten Memen der Menschheitsgeschichte. Den Mitgliedern von Stammesgesellschaften wurden sie in die Haut geritzt. Die historische Entwicklung sozialer Differenzierungsformen (grob: segmentär, hierarchisch, funktional) kann als Steigerung von Freiheitsspielräumen durch Binnendifferenzierung interpretiert werden. Ältere Formen sozialer Differenzierung verschwinden nicht, sie werden durch das Aufkommen neuer Formen relativiert. Was in der modernen Gesellschaft durch ihre globale Ausdehnung verschwindet, sind aber die traditionellen Möglichkeiten der Konfliktexternalisie-


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rung. Konflikte verlagern sich auf eine Metaebene, auf der die Konkurrenz der kulturellen Replikationseinheiten als Konflikt der Differenzierungsformen ausgetragen wird. Es geht in diesem Abschnitt um Systemdifferenzierung als Form der Abweichungsverarbeitung und Steigerung des Variationspotenzials. Soziale Differenzierung muß als eine tief in der kulturellen Evolution verankerte, grundlegende Replikationseinheit betrachtet werden. Als erste Form ist die Ausdifferenzierung von Sozialsystemen gegenüber ihrer Umwelt anzusehen. Bereits in den ältesten Formen menschlicher Sozialität ist die prominente Bedeutung symbolischer Markierungen115 für die Abgrenzung zwischen verschiedenen Sozialsystemen (der Zuordnung ihrer Mitglieder) zu beobachten. Diese symbolischen Markierungen nisten nicht nur als Meme im menschlichen Gehirn, sondern sind häufig auch als Tätowierungen auf der menschlichen Haut eingeritzt. Das Prinzip der symbolischen Markierung der Differenzen setzt sich fort in den Formen sozialer Binnendifferenzierung – mit zunehmender Generalisierung der symbolischen Formen und zunehmenden Spielräumen für Variation bis hin zu den höchst unwahrscheinlichen und ökologisch riskanten Errungenschaften funktionaler Differenzierung in der modernen Gesellschaft. Ältere Formen sozialer Differenzierung – also grob vereinfacht: die segmentären Formen der Stammesgesellschaften und die hierarchischen Formen traditioneller Hochkulturen – verschwinden nicht im Verlauf dieser Evolution, sie werden aber in ihrer Stellung relativiert durch das Aufkommen neuer Formen. Die Evolution kultureller Sozialsysteme ist traditionell bestimmt durch die Verlagerung von Konkurrenzkonflikten zwischen Individuen auf die Ebene ihrer Sozialsysteme. In den älteren Formen sozialer Differenzierung reproduziert sich das Muster der Verlagerung von Konflikten im Inneren auf die Ebene konkurrierender Sozialsysteme. In der Moderne ist dieses Konfliktverhalten so nicht mehr fortsetzbar, weil in Folge der globalen Ausdehnung der Gesellschaft keine konkurrierenden Sozialsysteme mehr zur Verfügung stehen. Die Konkurrenz verlagert sich auf die Metaebene symbolischer Generalisierungen als memetische Konkurrenz der Differenzierungsformen innerhalb der Gesellschaft. - Formen sozialer Differenzierung als Medien der Konfliktverarbeitung116 Alle Formen der Binnendifferenzierung sozialer Systeme sind als Mittel der internen Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten in Verbindung mit der Ausdehnung und Verdichtung menschlicher Sozialität zu betrachten. Sobald sich ein Sozialsystem in seiner Umwelt ausdifferenziert hat, gibt es immer zwei Möglichkeiten, intern weiter zu prozedieren.117 Soziale Differenzierung vollzieht sich nicht nur als Fortsetzung der System-Umwelt-Differenzierung im Inneren der Sozialsysteme (also in kommunikativ gegenüber dem individuellen Erleben verselbständigten und dadurch operativ geschlossenen Sinnstrukturen), sondern immer auch in (physisch-organisch gestützten) Interaktionsketten118 kooperierender und konkurrierender Akteure, die nicht operativ geschlossen sind. Es handelt sich um einen Wiedereintritt119 beider Seiten der System/Umwelt-Unterscheidung im Inneren der Sozialsysteme:120 Umwelten im System werden gebildet durch die Publikumsbeziehungen der individuellen und kollektiven Akteure. In

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diesen Beziehungen kommt der durch kulturelle Gruppenevolution ins Innere der Gesellschaft verlagerte Selektionsdruck der Umwelt zur Wirkung, demgegenüber die miteinander kooperierenden und konkurrierenden Akteure keine operative Geschlossenheit besitzen. Wenn die soziologische Systemtheorie in symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien121 den Selektionsmechanismus der kulturellen Evolution sieht, dann bezieht sie sich auf die inneren Umwelten kultureller Sozialsysteme, in denen ein Publikum als unbeteiligter Dritter122 die konkurrierenden Akteure erlebt und über ihren Erfolg entscheidet. Der in den Publikumsbeziehungen der Akteure (Öffentlichkeiten, Märkte) wirksame Selektionsdruck wird einerseits gesteigert (ausgedehnt und höher aggregiert) durch technisch erweiterte Mittel der Kommunikation und andererseits verringert durch Binnendifferenzierung der innergesellschaftlichen Umwelten. Systeme im System werden gebildet durch Binnendifferenzierung. So entstehen Einheiten, die gegen den Selektionsdruck der Umwelt geschlossen erscheinen. Als solche kommen in der kulturellen Evolution nur Gesellschaften, ihre im Medium der Kommunikation (segmentär, stratifikatorisch, funktional) ausdifferenzierten Teilsysteme und ihre symbolisch generalisierten Elementareinheiten in Betracht. Die operative Geschlossenheit dieser Systeme wird auf der Metaebene123 der symbolisch generalisierten Formen erzeugt und in den Orientierungen der individuellen und kollektiven Akteure (auf Mikro- und Makroebene) verankert, mit denen sie die innergesellschaftlichen Umwelten voneinander abgrenzen, in denen sie miteinander konkurrieren. - Zur Selektion memetischen Wissens Selektion im Darwinschen Sinne vollzieht sich nicht auf der Ebene der (wahrgenommenen) Arten, sondern auf der Ebene der (lebendigen) Populationen.124 Übertragen auf kulturelle Evolution heisst das: sie findet nicht auf der Ebene der Gesellschaften125, sondern auf der Ebene der Populationen126 sozialer Akteure statt. Es ist also zu unterscheiden zwischen zweierlei Objekten der Selektion: nämlich (1.) den sinnlich wahrnehmbaren Objekten, die als variantenreiche Träger von Merkmalen des Genpools und des kulturellen Wissensvorrats zu Angriffspunkten der Selektion werden und (2.) den latenzgeschützten, dem direkten Zugriff der Umwelt entzogenen Objekten, Replikationseinheiten, die als Buchhalter vergangener Selektionen127 fungieren, zugleich (mittels kulturell implementierter Regeln) aber auch zu „stabilisierenden“ Orientierungsmitteln für den Vollzug von Selektion werden.128 In einem metaphorischen Sinne können Meme „sterben“, indem ihnen die Situationen und Anlässe ausgehen, für die sie gebraucht und aktualisiert werden.129 (Es handelt sich gewissermaßen um eine evolutionäre Vorstufe - und soziokulturellen Hintergrund - zu dem von Popper beschriebenen Hypothesensterben, das sich ja immer schon auf unsicheres Wissen stützt.) Zunächst einmal konkurrieren Meme mittels ihrer Träger: das sind primär immer Individuen, sekundär Organisationen, die mit ihren technisch erweiterten Mitteln für die Verbreitung und Speicherung von Memen sorgen.130 Häufig eher indirekt, indem an einem skandalisierten Fall auf latente Hintergrundüberzeugungen Bezug genommen wird und diese wiederum dadurch in ihrer Geltung bestärkt werden.


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Warum können sich bestimmte Meme sehr schnell verbreiten, andere nur langsam oder gar nicht? Kommunikation besteht aus der selektiven Verknüpfung der Komponenten Information, Mitteilung und Verstehen (also mindestens einer Handlungs- und mindestens zwei Erlebenskomponenten). Die Chance, dass eine Information verstanden (etwas Neues „gelernt“ und dem vorhandenen Gedächtnisspeicher hinzugefügt) wird, ist umso größer, je besser die Information bereits in den Rahmen der selbstverständlichen Hintergrundüberzeugungen „passt“. Hier wirkt also ein internalisierter (in das individuelle Bewußtsein verlagerter) Selektionsmechanismus. Was in diesem Sinne nicht passt, wird abgewehrt. (Dieser psychische Mechanismus kann als „letzte“ Stufe der Verarbeitung des Selektionsdrucks der natürlichen Umwelt durch Binnendifferenzierung betrachtet werden.) Auf der anderen Seite kann aber die memgestützte Abwehrstrategie der Individuen auch zu Fehlanpassungen führen, die im kommunikativ erweiterten Binnenraum der Sozialität beobachtet und durch entsprechende kognitive Umbaumaßnahmen kompensiert werden. Dazu gehören alle Anstrengungen der Erziehung und Schulung nachwachsender Generationen bis hin zu den extrem erweiterten Formen des modernen Bildungssystems mit der reflexiven Einübung in unsicheres Wissen. - Sicheres und unsicheres Wissen Eine praktische (also nicht nur als Definition eines Beobachters vollzogene) Abgrenzung der Meme von anderen Formen der menschlichen Kommunikation erfolgt dadurch, dass deren Handlungs- und Erlebenskomponenten (1.) mit technischen Mitteln verselbständigt und aggregiert und (2.) auf einer Metaebene der Kommunikation reflektiert und rationalisiert werden können.131 Ebenso wie die Evolution natürlicher Lebewesen nicht nur auf der Ebene der Gene, sondern auch auf der Ebene der Organismen und Populationen statfindet, ist auch kulturelle Evolution nicht nur auf der Ebene der Meme, sondern auch auf der Ebene der Individuen und ihrer Sozialsysteme zu betrachten. Hier ist zu unterscheiden zwischen „sicherem“ und „unsicherem“ Wissen (wobei vereinfachend davon abzusehen, dass auch eine Grauzone dazu gehört – ähnlich dem „Schleier des Unwissens“). Dabei ist zunächst jede Bewertung – fundamentalistische Aufwertung des „sicheren“ ebenso wie eine techno-heroische Aufwertung des „unsicheren“ Wissens – zu vermeiden. In diesem Sinne sind im Folgenden weitere Ausführungen zu einer „Epimemetik“ zu machen: a.

b.

allgemein i.S. der Verselbständigung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation mit technischen Mitteln132 und spezifisch für die moderne Gesellschaft i.S. der Unterscheidung zwischen den ungleichen Formen der Wissensverarbeitung in Organisationen und Öffentlichkeiten. Öffentlichkeit als zivilisatorische Reinternalisierung der Konkurrenz zwischen konkurrierenden Akteuren.

- Organisation und Öffentlichkeit Die Monopolisierung von Wissensvoräten durch eine Priesterkaste, Expertokratie o.ä. kann als historische Sekundärform von operativer Schließung, also als Paradox einer intentionalen Mem-Konstruktion aufgefasst werden.133

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Die Transformation dieser Vorräte in der modernen Form funktionssystemischer Öffentlichkeiten kann als praktische Auflösung dieser Paradoxie betrachtet werden. Dasselbe noch einmal unter dem Aspekt der zivilisatorischen Einhegung von Mem-Konflikten betrachtet: 1. die traditionelle Form der Monopolisierung von Wissensvorräten als Machtmittel 2. die wettbewerbsförmige Demokratisierung von Wissensvorräten in funktionssystemischen Öffentlichkeiten Beides fungiert aber immer schon als reflexives Wissen, das nur noch lose an die latente Funktion vom Memen andockt ... Variation Selektion Technisierung Wettbewerb Makroebene

Organisation

Öffentlichkeit

Mikroeebene

Interaktion

Privatheit

Handeln

Erleben

Eine grafische Darstellung der Verselbständigung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation unter besonderer Berücksichtigung von memetischen Wissensvorräten – ihrer Variation in Organisationen und ihrer Selektion in Öffentlichkeiten. ...134

- Schluss Als Folgerung hier evtl. noch, dass die Mem-Theorie als Schlüssel zum Verständnis von Phänomenen der kulturellen Evolution sich selbst blockiert hat, weil sie (auch) in konflikttheoretischer Hinsicht zu wenig spezifiziert wurde.135 Was hat die hier vorgeschlagene Engführung in der Definition kultureller Replikationseinheiten demgegenüber erbracht? Hervorhebung der Stabilisierungsfunktion der einschränkenden Rückbindung der kulturellen Replikationseinheiten an ihre natürlichen (ontogenetischen) Voraussetzungen – aber eben auch des Konfliktpotenzials, das in dieser Funktion steckt. Ihre Relevanz für die Diagnose von Zivilisationsproblemen – insbesondere auch für Konflikte der modernen Gesellschaft.136

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Anmerkungen & Materialien 1 Dies ist ein soziologischer Beitrag. In einem Kreis, in dem Psychologen in der Überzahl sind – muß ich das erwähnen, weil das Thema, über das ich sprechen will, schon vielfältig von Biologen und Psychologen behandelt worden ist und ohne deren Erkenntnisse auch nicht angemessen behandelt werden kann. Ich hoffe aber zeigen zu können, dass dieses Thema auch Fragen aufwirft, die in der soziologischen Theorietradition behandelt worden sind, und insofern auch ohne deren Erkenntnisse nicht angemessen behandelt werden kann. Die Beschränkung auf Soziologie ist hier nur vortragstechnisch gemeint. In evolutionstheoretischer Perspektive ist eine methodologisch strikte Abgrenzung gegenüber Psychologie und Biologie nicht zu rechtfertigen. Dies gilt allerdings auch für die Unabdingbarkeit des soziologischen Beitrags. In diesem Sinne Marion Blute, 2005: “Those who hope to make a contribution to memetics in the future require knowledge of one or more topics or fields in biological as well as in a social science discipline or disciplines.” Ich habe mich relativ spontan zu diesem Vortrag gemeldet, nachdem ich auf einer anderen Tagung einen Vortrag von Herrn Patzelt über Meme gehört und Einwände gegenüber der m.E. darin zu weit gefassten Definition hatte. Bei der Ausarbeitung meines Beitrags habe ich mir dann erst die sehr verzweigte Literatur über Meme und kulturelle Replikation angesehen, darunter auch die entsprechenden Kapitel in der Monographie von G. Schurz über „Evolution in Kultur und Natur“, auf die auch Patzelt verwiesen hat. Dort habe ich zwar auch die (m.E. zu) weit gefasste Definition kultureller Replikationseinheiten gefunden, aber auch viele Hinweise, die für eine Engführung sprechen. Tatsächlich habe ich viel von den Ausführungen bei Schurz profitiert. Ich teile auch seine Auffassung, dass die Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft sind, kulturelle Replikationseinheiten zu bestimmen, auch wenn der Versuch, Memetik als eigenständige Disziplin zu etablieren, als gescheitert angesehen werden kann (Schurz 2011. 208) 2 Tarde 2009, 95. Zu Tarde als Vorvater der Memetik s. auch Marsden 2000, Schmid 2009. 3 Aus einem Artikel des Journal of Memetics, das inzwischen eingestellt ist, dessen Beiträge aber online noch verfügfbar sind – s. links in Literaturliste. 4 Andrew Whiten, Behavioral and Brain Sciences 24:2, 359-60, 2001 – entnommen aus Blute 2010. 5 Schurz 2011: 203 6 Hinweis auf Tardes „Gesetze der Nachahmung“ (1890) und die neuere Rezeption (Deleuze/Guattari, Latour, Borch/Staeheli, Gilgenmann). 7 Um die gesamte Diskussion über Definitionsprobleme bezüglich der Replikationseiten zu referieren, wäre hier noch einmal Kap. 5 in Blute 2010 heranziehen. Die Eckpunkte dafür sind 1. dass die Definitionsprobleme schon beim Konzept der Gene (also mit der Unterscheidung zwischen Informationseinheit und materiellem Substrat) anzusetzen sind, und 2. dass die kulturellen Äquivalente primär im Gebrauch der Sprache anzusetzen sind, bei der ebenfalls zwischen Informationseinheit und materiellem Substrat bzw. Medium der Transmission zu unterscheiden ist. 8 So weist Blackmore darauf hin, dass es neben der von ihr bevorzugten Definition im Anschluss an Dawkins „noch eine Reihe anderer, formaler wie nicht-formaler Definitionen des Mems und dementsprechend auch viel Streit darüber [gibt], welche die beste sei. Diese Definitionen weichen in bezug auf zwei grundsätzliche Fragen voneinander ab: (1) ob Meme nur im Gehirn existieren oder auch außerhalb; (2) auf welche Weise sie übermittelt werden.“ (2009: 55). 9 Ich spreche hier (im Anschluss an E. Mayr) von Replikationseinheiten und vermeide den von Dawkins, Blackmore und anderen verwendeten Terminus „Replikator“, weil damit – auch für Meme analog zu der Rede vom „egoistischen Gen“ – schon eine Festlegung auf sich selbst (und Individuen als Vehikel) steuernde Ei-


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genschaften dieser Einheiten getroffen wäre. Demnach wären die Replikatoren (und nicht die lebendigen Individuen) die eigentlichen „Nutznießer“ evolutionärer Prozesse (Blackmore 2003: 52) Dazu kritisch M. Blute (2010: 117): „Dawkins introduced the term "replicator" in his classic, The Selfish Gene. Not only did it carry the unfortunate connotation that genes replicate themselves instead of being replicated by enzymes, imply that the origin of life problem was pretty much one of "once upon a time there came a replicator", and lent itself to misunderstanding by uninformed readers that the primordial replicator might possibly have been DNA …” Dagegen auch E. Mayr (1997): „With the phenotype of the individual rather than the gene being the target of selection, the term replicator becomes irrelevant. The term is, of course, in complete conflict with the basic Darwinian thought. What is important in selection is the abundant production of new phenotypes to permit the species to keep up with possible changes in the environment. This is made possible by meiosis and sexual reproduction. The replication of DNA has nothing to do with this.” – In diesem Sinne auch die einschränkende Bezeichnung von Genen als „Buchhalter“ bei Gould. 10 Ein grundlegender Mangel des memtheoretischen Ansatzes von Dawkins, Dennett und Blackmore scheint mir darin zu liegen, dass das Konzept damit belastet wird zu erklären, wie es möglich ist, dass die Steuerung des menschlichen Verhaltens durch „egoistische Gene“ in sozialer Hinsicht transzendiert werden kann. Dies ist eine Folge der Vermeidung von Gruppenselektionstheorie, mit der ja gut zu erklärt werden kann, warum altruistisches Verhalten schon im Tierreich vorkommt (s. dazu u.a. de Waal). Gruppenselektion jenseits von Verwandten wird im mainstream des Neodarwinismus abgelehnt. Sie bildet aber das „missing link“ zwischen natürlicher und kultureller Evolution. Dawkins (1996, 322): „Wir sind als Genmaschinen gebaut und werden als Memmaschinen erzogen, aber wir haben die Macht, uns unseren Schöpfern entgegenzustellen. Als einzige Lebewesen auf der Erde können wir uns gegen die Tyrannei der egoistischen Replikatoren auflehnen.“ Dennett (1995, 514): „Für die Entwicklung einer strengen Wissenschaft der Memetik bestehen nur zweifelhafte Aussichten, aber die Vorstellung bietet einen nützlichen Blickwinkel, aus dem heraus man die komplexe Beziehung zwischen kulturellem und genetischem Erbe untersuchen kann. Insbesondere verleihen uns die Meme, indem sie unseren Geist formen, die Autonomie, über unsere egoistischen Gene hinauszuwachsen.“ Dazu in kritischer Einstellung zusammenfassend Schmid 2009: „Bei Darwin sind es Individuen (bzw. Gruppen), die im Scheinwerferlicht der Evolutionstheorie stehen und auf der Bühne des Kampfes um Reproduktion die Helden geben. Das hat sich mit einer einflußreichen Deutung der modernen Synthese gründlich geändert. [Das wird aber schon wieder korrigiert! s.EvoDevo-Theorie.] Wir haben in dieser Rolle ausgedient. Nicht mehr wir sind die Akteure auf der Bühne des evolutionären Selektions-, Mutations-, und Reproduktionsgeschehens. Die Akteursrolle im Epos survival of the fittest ist umbesetzt worden: durch sie, die Gene. Eine einflußreiche moderne Version der evolutionären Ge¬schichte wird aus der sogenannten genes eye perspective erzählt. Aus dieser Sicht geht es bei der Evolution ausschließlich um die Replikation von Genen, nicht von Individuen oder Gruppen. Während nun die Gene als die Akteure im Kampf ums survival of the fittest auf der Bühne stehen, bleibt uns - den Individuen - bloß noch die wenig würdige Rolle der mehr oder weniger kontingenten Staffage. In den Worten von Richard Dawkins, der die genes eye perspective in seinem Buch The Selfish Gene (1976) eindringlich und höchst einflußreich dargelegt hat, haben die Körper und Geister, die wir sind, in der Evolution bloß die Bedeutung und Rolle von survival machines, von Überlebenshilfen für die Gene, also von Instrumenten, welche sich Gruppen von mehr oder weniger kooperierenden Genen zwecks Selbsterhaltung bzw. Verbesserung ihrer Replikationschancen gebaut haben. »They are the replicators and we are their survival machines. When we have served our purpose

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we are cast aside. But the genes are denizens of geological rime: genes are forever« (Dawkins 1976: 37). Oder, in anderen Worten: Wir sind bloß die »robot vehicles blindly programmed to preserve the selfish molecules known as genes« (Dawkins 1976: ix).” Gegen das Konzept der eigenständig operierenden Meme wendet Millikan (2003: 106) ein: „Doch was auch immer der eigentliche Prozeß sein wird, durch den praktische Fähigkeiten und praktische Artefakte kopiert werden — sie werden in erster Linie kopiert, weil sie sich als nützlich für das Verfolgen der Projekte von Personen erweisen, und nicht etwa, weil sie sich als nützlich für das Verfolgen der privaten Projekte der Meme erwiesen. Technische Meme erreichen ihre Replikation dadurch, daß sie den vorgängigen Interessen der Menschen dienen. In der Tat haben sie auch ihre eigenen Ziele. Sie haben Effekte gezeitigt, die für ihre fortgesetzte Reproduktion verantwortlich waren. Doch diese Ziele fallen notwendigerweise mit den Zielen der Menschen in eins. Im Reich der Technik sind die Ziele der Meme keine neue Entdeckung. Es ist wahr, daß einige technische Innovationen leichter verstanden und memorisiert werden als andere und sich darum schneller verbreiten. Sie sind zum Teil für ihre Fähigkeit selektiert worden, über das spezifische Medium menschlichen Verstands und menschlicher Hände reproduziert zu werden. Doch untergräbt dies in keiner Weise ihre essentiell menschengemachten Ziele. Im Reich der Technik führen Meme keine neuen Ziele ein.“ 11 Marion Blute hat darauf hingewiesen, dass Ursachen des Streits über kulturelle Replikationseinheiten sich bereits in Definitionsproblemen der biologischen Replikationseinheiten finden lassen: „Genetic units of structure, function, replication and recombination do not coincide with one another. Units of structure include base pairs, nucleosomes, 30-nm fibres, loops, and chromosomes. Units of function include codons, the traditional molecular 'gene' of a DNA sequence coding for a single strand of a protein molecule, as well as many, many potential others e.g. with introns counted in or out, adjacent and even distantly acting regulatory sequences in or out, sequences coding for other strands of the same protein in or out, sequences coding for other enzymes functioning in the same pathway in or out, and ultimately even whole hierarchies and networks serving some particular ecological, sexual or social function. Units of replication are replicons and chromosomes. Units of recombination can be sequences of a length 'short enough to be different and long enough to make a difference' as the popular version of Williams (1966) definition has it in crossing over, and are chromosomes in independent assortment... This lack of precise correspondence and consequent multiple 'gene' concepts has been the source of endless angst in the history of biology.” (Blute 2005:404 – zit. in Blute 2010: 115) „Whatever term is chosen and whatever description of the criteria is used, the important point is that the evolutionary gene combines a unit of recombination (which is the unit of genetic transmission in sexual species) with a unit of function. However, since these do not in fact always or perhaps even often coincide - the evolutionary gene or replicator is as much a fiction, a theoretical construct rather than a hypothetical entity, as is an ideal gas for example. Williams understood this. He often spoke of "hereditary information" instead of genes, sometimes put "the gene" in quotations marks, called it the "abstract" gene of population genetics (1966:24), and noted that such a gene "would produce or maintain adaptation as a matter of definition" (1966:25).“ (Blute 2010: 117) 12 Im Hinblick auf die kulturellen Replikationseinheiten bekennt sich Dawkins ausdrücklich dazu, nicht alle Phänomene auf genetische Ursachen zurückzuführen, bleibt jedoch bei einer Analogiekonstruktion (1994, 307): „Ich behaupte, daß wir uns, um die Evolution des modernen Menschen verstehen zu können, zunächst davon freimachen müssen, das Gen als die einzige Grundlage unserer Vorstellung von Evolution anzusehen. Ich bin ein begeisterter Darwinist, aber ich glaube, der Darwinismus ist eine zu gewaltige Theorie, als daß man ihn auf den engen Rahmen des Gens beschränken könnte. Ich werde das Gen als ein Analogon in meine These einbeziehen, nicht mehr.“ Dawkins spricht hier also von


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kultureller Evolution ähnlich wie Luhmann – ohne die Frage ihrer Einbettung in die natürliche Evolution der Organismen weiter zu verfolgen. Dahinter steckt die Hypothese, dass auch die in der Biologie beschriebene Evolution nur der Anwendungsfall einer allgemeinen Theorie der Evolution sei. (So Dawkins in seinem Aufsatz Universal Darwinism und im letzten Kapitel seines Buches Der blinde Uhrmacher.) Dennett (1997, 479) geht in seiner Interpretation des Dawkinsschen Konzepts allerdings darüberhinaus und stellt auch die Bedingungsverhältnisse zwischen natürlicher und kultureller Evolution heraus: „Die Evolution der Meme ist laut Dawkins der biologischen Evolution der Gene nicht nur analog. Sie ist nicht nur ein Vorgang, den man metaphorisch mit diesen Begriffen aus der Evolution beschreiben kann, sondern sie gehorcht ganz genau den Gesetzen der natürlichen Selektion. Nach seiner Ansicht ist die Theorie der Evolution durch natürliche Selektion neutral, was den Unterschied zwischen Memen und Genen angeht; beides sind nur verschiedenartige Replikatoren, die in verschiedenen Medien und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit eine Evolution durchmachen. Und genau wie die Gene für Tiere auf der Erde nicht auftauchen konnten, bevor die Evolution der Pflanzen ihnen den Weg geebnet hatte (weil sie für eine sauerstoffreiche Atmosphäre und einen stetigen Nachschub verwertbarer Nährstoffe sorgten), so konnte auch die Evolution der Meme erst in Gang kommen, nachdem die Evolution der Tiere den Weg dazu geebnet hatte: Sie mußte erst den Homo sapiens entstehen lassen, eine Spezies mit einem Gehirn, das Behausungen und Kommunikationsgewohnheiten entwickeln und so das Übertragungsmedium für die Meme bereitstellen konnte.“ 13 “...natural selection should act on culture-type, increasing the frequency of those items of culturally coded information in a population which. ... produce phenotypes that are more successful in passing the culture-type to the next generation” … “..the precise mechanism of inheritance of the code is likely to be largely irrelevant” (Richerson and Boyd 1978, p.132). – Zum Verzicht auf eine Definition kultureller Replikationseinheiten noch Passage aus Richerson/Boyd 2005 heranziehen. Zusammenfassend Schurz 2000: „Zwischen kultureller und biologischer Evolution sind diverse Interaktionen möglich. Boyd und Richerson (1985, 98f) nehmen eine Art ‘Kulturgen’ an, das die Bereitschaft eines Individuums prägt, sich auf Traditionen der Vorgängergeneration zu stützen, oder im Gegensatz dazu seine Kenntnisse durch Eigenerfahrung zu erwerben. Eine solche genetische Disposition zur Kultur impliziert nicht, dass der Gehalt kultureller Evolution genetisch bedingt ist, sondern nur die Tendenz zu kultureller Evolution. Boyd und Richersons mathematische Modelle gelangen zu folgenden, grob zusammengefassten Resultaten. Ein Kulturgen wird sich dann ausbreiten, wenn die Fehlerrate individuellen Lernens größer ist als die Fehlerrate von Lernen durch Traditionsübernahme (102ff); dies wiederum ist nur dann der Fall, wenn die Lebensbedingungen von einer Generation zur anderen verhältnissmässig konstant sind. Würde jede Generation in eine komplett andere Welt hineingeboren werden, so hätte Traditionsübernahme gar keinen Sinn. Boyd und Richerson untersuchen auch die relative Vorteilhaftigkeit von kulturell versus genetisch verankerter Evolution, mit dem Ergebnis, dass wenn die Lebensbedingungen zwischen den Generationen entweder extrem stark und unregelmässig variieren, sodass nur ein langfristiges Mittelmaß eine selektive Rolle spielt, oder aber wenn die Lebensbedingungen sich so gut wie nie ändern, eine ausschließlich genetisch basierte Evolution vorteilhaft oder zumindest nicht nachteilhaft ist; in allen anderen Fällen ist zusätzliche kulturelle Evolution von Vorteil (127).“ 14 Stichweh verweist in einer Überblicksdarstellung auf Autoren, die es ablehnen, für die kulturelle Evolution basale Replikationseinheiten zu bestimmen: „Manche Theorien zweigen an dieser Stelle ab. Dan Sperber bestreitet die Möglichkeit der Replikation eines kulturellen Elements, da bereits in einem elementaren Akt

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der Kommunikation nie Identität des Sinngehalts bei Sender und Empfänger unterstellt werden könne. Er spricht deshalb von epidemiologischen oder einflußtheoretischen Modellen, die er aber in eine weit ausgelegte und emphatisch favorisierte neodarwinistische Tradition einordnet. Eine interessante Lösung dieses von Sperber zugespitzten Problems bietet vielleicht der Begriff einer reproduktiven Kontinuität in einer Kette von Elementen (als Substitut für identische Reproduktion), den Ruth Garrett Millikan herausgearbeitet hat (Millikan 1984;1993).“ (Stichweh u.a. 1999, 16) Ein dementsprechender Hinweis bei Gatherer 1998: “Others have criticised memetics by claiming variously that the meme is a useless abstraction, or that memetics has nothing to contribute to the theory of cultural evolution, or that culture does not evolve (eg. Rose et al. 1984, Barbrook 1996, Gould 1996, Harms 1996, Pinker 1998).” (Alle Beiträge online jom-emit) Zu der Frage, ob für die kulturelle Evolution spezifische Replikationseinheiten benötigt werden oder ob ein Reproduktionsmechanismus genügt, hier noch eine Passage aus Abrutyn (ZfS 2012, noch nicht zitierbar): „The two disciplines primarily in question here, which are sociology and biology, have dealt with dissimilar aspects of the aforementioned doctrine. In sociology, essentialism became the "bogeyman" of most constructivist approaches. In biology, the essentialist (or "typological") view that species must be understood as fixed groups of organisms, of the same kind and united by essential morphological features, was the dominant view for centuries. This changed with the rise of the "biological species concept," based on the "populational view" that Darwin proposed, which conceived populations as reproductive communities, with organic forms of the "same kind" and strictly understood in terms of their common descent. Research pragmatism certainly dictates to perceive populations of social forms by easy-to-observe, obvious features; however, for theoretical reasons, it is worth stressing that this model of evolutionary differentiation is built upon the old idea that reproduction is what matters most in society (Marx 1890). It follows the conceptual shift in biology, from typological to populational thinking, an idea that may sound more exotic to sociologists than it actually is at first sight. Population thinking is about the historical relationship of particular social phenomena to their forerunners. Most sociologists will agree with the statement that there is nothing new under the sun in the social world—any social phenomenon repeats, as it re-enacts older scripts, re-stages former roles, iterates given meanings, and refers to former communications. At the center of populational thinking is the simple idea that the diversity of such social phenomena should not be classified by any "essential" properties, such as belonging to "the economy," "science," or a specific "functional equivalence." A strictly populational perspective builds the taxonomy of social diversity, and thereby the structure of social differentiation, on the grounds of the heritage of social forms. It focuses on the heritage lines of reproducing forms, and what causes them; in current sociology, Thomas Luckmanns' (1986) concept of "Kommunikative Gattungen" ("communicative species/genres/genera") comes closest to this idea. Whatever serves as a guideline for the classification of a social population, its diversity must be depicted in empirical terms. As a research strategy, any model of the social differentiation of populations of social forms, whether these be organizations, strategies, patterns of meaning, or whatever, must start with an observation of the diverse traits, and their distribution, within the population in question. The methods used to grasp such data differed in the past in evolutionary literature; the "naturalist tradition in sociology" (Lofland 1969), represented by the Chicago School's research on urban diversity, favors qualitative methods. More recently, the interdisciplinary discourse on social ecologies and social evolution has adopted a variety of powerful mathematical tools for modeling social evolution and, as part of that, social populations (McElreath, Richard/Boyd, Robert 2007).


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The description of social diversity must be distinguished from the set of questions about what mechanisms are driving the reproduction of such social populations. It is a common misperception that an evolutionary theory in the social sciences requires some kind of conceptual pendant on the biological notion of DNA. Alternatively, one may assume a variety of different mechanisms that explains the cause of reproduction in the social world. The question of which mechanisms contribute to the reproduction of such expectations is open to empirical research. Donald T. Campbell, for example, who always pled for an empirical approach to such questions, saw the entire apparatus of socializing agents in society at work and highlighted the role of the media.” Vielleicht ist aber nur noch nicht die richtige Definition dafür gefunden! 15 Zur Kritik an der Memetik innerhalb der Evolutionsbiologie Marion Blute (2005): “According to some critics, memetics has joined extraterrestrial, exo- or zenobiology as a science devoted to a subject matter whose very existence remains in dispute! However, those who view the meme concept as more amorphous or ambiguous than that of the gene have insufficient knowledge of biology. In those long molecules of DNA, the fact that none of the units of structure, function, replication and recombination coincide means that the gene concept is similarly ambiguous (for a useful review see Griffiths 2002). Of course one might then endorse abandoning the gene concept rather than adding a meme concept but in the age of genomics there is little chance of the former at least.” Blute folgert milde skeptisch: “According to evolutionary epistemology (Campbell 1970), universal Darwinism (Cziko 1995, Dennett 1995), or multi-process selection theory, selection processes are selection processes and the same general principles should apply whether realized biologically (gene-based evolution by natural selection), socioculturally (meme or social learningbased sociocultural evolution by sociocultural selection), or psychologically (neural-based learning by reinforcement and punishment) for example (Hull Langman and Glenn, 2001). Hence there is no point reinventing the wheel.” Generell zur Rezeption des Mem-Konzepts in der Wissenschaft noch einmal Blute 2010, 113ff: „The concept of evolution is central to any discussion of "memes". It was because of the possible existence of evolutionary processes beyond the gene-based biological that Richard Dawkins introduced the concept (suggestive of "m" for memory and "ene" of gene-like) as a possible substrate (1976:191-201, 322-31). Strangely enough he, of all people, did not initially clearly distinguish the gene and genome-like from the phene and phenome-like aspects of cultural evolution, a confusion which he corrected thereafter (e.g. 2003:119-127). The meme concept spread rapidly in popular culture. In his foreword to Blackmore (1999), Dawkins reported almost as many Google hits for "memetic" as for "sociobiology". However, it was generally not enthusiastically received in academic circles. Books on memetics (of which there have been at least seven - Brodie 1996; Lynch 1996; Blackmore 1999; Aunger 2000; Cullen 2000; Aunger 2002; Distin 2005) were interdisciplinary, which can itself be a problem. They often ignored many of the conventions of academic discourse, were sometimes written by non-professionals for a popular audience, and they were commonly viewed by social scientists, when they paid any attention at all, as yet another (post-sociobiology) incursion by biologists into their subject matter. In addition, a fratricidal war between adherents of the gene-like biologically adaptive view (which can most obviously be associated with vertical transmission) and adherents of the virus-like biologically maladaptive view (which can most obviously be associated with horizontal transmission) did not help when it should have been obvious that both are possible (see Chapter 9). The overall negative result was predictable - including among other things, the eventual demise of the Journal of Memetics (although it remains available on-line). On the other hand, the reception among those interested in Darwinian-style theories of cultural evolution was more mixed. For

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example, Aunger was able to gather a group of academics including some well known ones including David Hull, Daniel Dennett and Robert Boyd for a conference that led to the anthology on "Darwinizing Culture" (Aunger 2000). Some of that interest has continued (e.g. see articles by Gil-White, Greenberg, and Chater in Hurley and Chater 2005). Moreover, a lot of those doing empirical and/or theoretical work on Darwinian-style cultural evolution in various social science disciplines often at least casually refer to memes. They commonly do so because it helps to distinguish what they are doing from sociobiology/ human behaviour ecology/evolutionary psychology as well as from the developmental stage theories of history traditionally called "evolutionary" in the social sciences. Examples that come to mind are Van Driem's (2001) symbiotic theory of language and some of the essays in Lipo et al. (2006) on archaeology and prehistory. And of course, the internet generation takes the concept of memes - roughly "ideas which spread" for granted (but see Section 5.5 below). As a colleague put it to me, "the concept is out there" (my local newspaper publishes a "meme of the week") and it gets, and undoubtedly will continue to get picked up and used in interesting and surprising ways. For example Keith Stanovich, an accomplished cognitive psychologist, argued in The Robot's Rebellion: Finding Meaning in the Age of Darwin (2004) that in pursuit of humanistic and democratic values, we (the robots of the title) need to bootstrap our way to rebellion against both our genes and our memes. Given that in addition to Dawkins himself, some of the greatest evolutionary biologists of our time including George Williams (1992:15-16, 18-19), John Maynard Smith (Maynard Smith and Warren 1982; Maynard Smith and Szathmary 1995:309) and Paul Ehrlich (2000) have made clear their awareness of the significance of a Darwinian cultural evolutionary process, and some, including Luigi Cavalli-Sforza and Marcus Feldman (1981, and subsequently for Feldman) have even made it a major part of their work, one might have expected biologists to display more enthusiasm. There currently are some biologists working on cultural evolution (e.g. Mesoudi, Whiten and Laland 2006) albeit with little or no reference to memes. I believe there is a reason why such work is not more widespread among biologists. The meme concept was introduced just at a time when there were rising "discontents" (Ruse 2006) within the biological community with neo-Darwinism (as it was known in Britain), or the synthetic theory of evolution (as it was known in America), i.e. with population genetics or the genetical theory of evolution. Those discontents included an implicitly naive view of the origin of life; an extreme micro and gradualist emphasis; an overemphasis on conflict as opposed to cooperation; a relative neglect of development and ecology; and overly restrictive theories of speciation and macroevolution. Moreover, it was introduced by the very person, Richard Dawkins, around whose work many of those discontents crystallized. Nevertheless, it is fair to suggest that, by its linkage in people's minds, the wide diffusion of the meme concept gave Darwinian-style cultural evolution a lift, helping move the latter some distance out of the small, scattered academic niches in which it dwelt at the time.“ 16

Auch M. Blute (2010: 113ff) kennzeichnet die Kulturelle Evolutiona als auf sozialem Lernen basierend. Damit wird die Differenz im Replikationsmechanismus jedoch nur unzureichend bestimmt – denn nicht alles, was sozial (also durch Kommunikation mit Anderen und nicht direkt durch Beobachtung des Geschehens) gelernt wird, wird auch vertikal (von Gneration zu Generation) tradiert. Vieles, was sozial gelernt wird, wird im wechsel der Generationen wieder vergessen.

17 Obwohl ich hier nicht einem soziobiologischen Ansatz folge, wonach die Gene die Kultur an einer relativ kurzen Leine führen, kann ich mich auch nicht mit dem Ansatz einer allgemeinen Evolutionstheorie anfreunden, in dem die Theoriebegriffe von dem biologischen Kontext abgelöst werden, in dem sie von Darwin zuerst entwickelt wurden (Universal Darwinism). Ein solcher Ansatz kann allzuleicht als Freibrief dafür verwendet werden, histo-


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rische Übergänge und andauernde Abhängigkeiten der kulturellen Evolution von ihren natürlichen Voraussetzungen gar nicht mehr zu thematisieren. – Dies gilt nicht für Ansätze einer „verallgemeinerten Evolutionstheorie“ (Schurz 2011), aber für systemtheoretische und organisationstheoretische Ansätze. 18 Evtl. auf Ausführungen im 2. Abschnitt vorgreifender Hinweis auf meine Thesen im Delmenhorst-Vortrag (2012) über „Konkurrenzkonflikte – der vergessene Grund soziologischer Differenzierungstheorie“. 19 Zu den Vortragsfolien: http://www.home.uniosnabrueck.de/kgilgen/archiv/kg-12-Dresden-MVE-Vortragsfolien.pdf 20 Der in der evolutionstheoretischen Literatur vorzugsweise verwendete Begriff der Transmission ist nicht festgelegt hinsichtlich der Unterscheidung zwischen horizontalen und vertikalen Formen der Weitergabe kulturellen Wissens, während der Begriff der Tradierung (Tradition) von vornherein auf die (vertikale) Weitergabe von Generation zu Generation focussiert. 21 Dieser zweite Programmpunkt für die folgenden Ausführungen steht im Kontrast zu der dominanten Stoßrichtung der an Dawkins anschließenden Memetik, nämlich der Abwertung der menschlichen Individuen zu bloßen Vehikeln der basalen Replikationseinheiten. In diesem Sinne zusammenfassend Schmid 2009: „...so wie Dawkins die genetische Evolution aus der g e n e s e y e p e r s p e c t i v e erzählt, stehen nun die Meme als die Akteure auf der Bühne der kulturellen Evolution - und nicht etwa wi r , die wir uns doch gern als die großen kulturschaffenden Wesen sehen. Dieser Gestus der Dezentrierung, der unüberbietbaren Beschämung unserer Subjektivität, der ultimativen Kränkung menschlicher Selbstliebe ist für die Memetik im ganzen kennzeichnend. Das memetische Programm verjagt uns mit Schimpf und Schande aus der Position der Autoren und Schöpfer der kulturellen Artefakte. In dieser Sicht sind nicht wir diejenigen, die im Kulturellen das Sagen haben: es sind vielmehr s i e , die Meme. Kultur soll nicht mehr als Angelegenheit unserer Interessen, Absichten, Entscheidungen und Überzeugungen begriffen werden, sondern als Sache der differentiellen Replikation von Memen. Gelehrte sind nicht Autoren großer Entdeckungen; sie sind schlicht ein Mittel von Bibliotheken, neue Bibliotheken zu erzeugen. ... Was die g e n e s e y e p e r s p e c t i v e aus unserem individuellen Körper macht, macht die m e m e ' s e y e p e r s p e c t i v e aus unserer Subjektivität und unserem Geist. “ Diese Sichtweise kommt gewissen Tendenzen in Theorien der Postmoderne, der Latourschen Akteur-Netzwerk-Theorie sowie auch der Luhmannschen Systemtheorie entgegen. 22 Evtl. Hinweise auf die Terminologie vom sozialen Organismus ... von Spencer bis zu neueren Theorien der Mehrebenenselektion. 23 Hier muss ich einräumen, dass ich selbst geschwankt habe, welcher Auffassung ich den Vorzug geben soll. Mir ist auch nicht eingefallen, wie man das mit empirischen Methoden entscheiden könnte. Es sei denn die Gehirnforschung entdeckt nicht nur den Ort der Spiegelneuronen, sondern auch der gespiegelten Informationen im neuronalen System. 24 Diese Nichtunterscheidung wird von Blackmore gegen die spätere Auffassung von Dawkins verteidigt, in der er Meme ausdrücklich auf die Verortung in Gehirnen beschränkt. Für seiner spätere Version stützt sich Dawkins auf Delius (1989), wo Meme als »Konstellationen von aktivierten und nicht-aktivierten Synapsen innerhalb neuronaler Gedächtnisnetzwerke« (neural memory networks) (1989: 45) oder auch als »Arrangements von modifizierten Synapsen« (1989: 54) bezeichnet werden. Dagegen Blackmores Schlußfolgerung: „Der ganze Sinn der Meme besteht darin, sie als Information anzusehen, die in einem Evolutionsprozeß kopiert wird (das heißt unter den Bedingungen von Variation und Selektion). Angesichts der Komplexität der menschlichen Lebensformen kann Information auf unzählige Weisen kopiert werden. Wir tun dem Grundbegriff des Mems unrecht, wenn wir versuchen, ihn auf die in den Köpfen von Menschen gespeicherten Informationen einzuschränken — ganz abgesehen davon, daß wir damit allen möglichen weiteren Verwirrun-

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gen Tür und Tor öffnen. Aus diesem Grund stimme ich mit Dennett, Wilkins, Durham und Dawkins A überein, die allesamt den möglichen Sitz der Meme nicht auf das Gehirn einschränken.“ (2003: 59) S. dazu auch die hier zit. Ausf. von Gatherer 1998 zu Dawkins A vs. Dawkins B. 25 Dazu Schurz (2011: 210f.): „Im Vergleich zum Gen ist das Konzept des Mems abstrakt und vage. In diesem Abschnitt behandeln wir die Frage, welche Art von Entitäten denn Meme sind, wo sie lokalisiert sind und was ihre Identität festlegt. Hierzu gibt es mehrere Auffassungen. Der Standardauffassung zufolge, der ich mich anschließe, sind Meme letztlich im Gehirn von Menschen lokalisiert, als deren erworbene und tradierte Software. Meme sind dieser Auffassung zufolge neuronale oder aber mentale Strukturen, je nachdem ob man Mentales auf Neuronales reduzieren möchte oder nicht. Obwohl die neuronale Interpretation von Memen m. E. plausibel ist, ist die Theorie der KE von dieser Entscheidung unabhängig. Die Auffassung von „Memen im Gehirn" wurde unter anderem von Dawkins (1982, 109), Gabora (1997) und Delius (1989) vertreten. Sie hat den Vorteil, eine klare Unterscheidung zwischen Memen qua Repronen und den durch sie bewirkten Phänen bzw. phenetischen Merkmalen zu ermöglichen. Die Meme-im-Kopf sind demnach also dasjenige, was direkt voneinander reproduziert wird, während Fertigkeiten, Verhaltensweisen, technische Artefakte, Schriften oder mündliche Äußerungen zu den phenetischen Merkmalen zählen, welche von menschlichen Gehirnen in Interaktion mit der natürlichen und sozialen Umgebung produziert bzw. kommuniziert werden (ein Vorläufer dieser Unterscheidung ist Cloak 1975).“ Die Unterscheidung zwischen Memen-im-Kopf und kulturellen Phänen verläuft parallel zur biologischen Unterscheidung zwischen den Genen eines Organismus und seinen phänotypischen Merkmalen, und sie löst das von Hull (1982) aufgeworfene Problem, dass es im Bereich der KE keine klare Unterscheidung von Memen und Phänen gäbe. Da Gehirnstrukturen jedoch nicht direkt voneinander kopiert, sondern deren semantische Informationsgehalte indirekt von Mensch zu Mensch übertragen bzw. kommuniziert werden, ist die Gen-Mem-Parallelität nicht so eng, wie es zunächst scheint .... [Das Kopieren findet aber tatsächlich statt – wenn auch nicht im Kopf, sondern im sozialen Verhalten der Individuen und unter Einschluß technisch erweiterter Kommunikationsmittel.] Der anderen Auffassung zufolge sind Meme erworbene Informationen, die auch außerhalb der Köpfe von Menschen abgespeichert sein können, z. B. in der Form von Bildern, Printmedien, filmischen oder elektronischen Medien. Dieser Auffassung zufolge unterscheiden sich Meme von Genen, die nur im menschlichen Organismus gespeichert sowie repliziert werden können — zumindest wenn man von künstlicher Vermehrung absieht. In dieser Linie hat Dennett (1997, 483) vorgeschlagen, unter Memen beliebige Informationseinheiten zu verstehen, egal ob innerhalb oder außerhalb des Gehirns lokalisiert, und Durham (1991) vertrat dieselbe Auffassung.“ 26 Zu der Frage der Verortung von Memen in Köpfen oder Artefakten noch eine Passage von Schurz (2011: 229f) : „In der Biologie unterscheidet man zwischen Fertilitätsfitness und Vitalitätsfitness (Sober 1993, 57 [s. Philosophy of Biology]). Die Fertilitätsrate ist die Anzahl von Nachkommen im „Babystadium", die Vitalitätsrate die Anzahl jener Nachkommen unter allen „Babynachkommen", die es bis zur ihrer Reproduktion „geschafft" haben (die effektive Reproduktionsrate ist das Produkt der beiden). Der Vorteil einer höheren Fertilitätsrate geht schnell gegen Null, insofern viele Neugeborene lediglich als Futter für in der Nahrungskette Höherstehende dienen (Insekten, Fische oder Schildkröten legen bekanntlich Tausende befruchteter Eier; Millikan 1989, 62 f). Entscheidender für den effektiven Reproduktionserfolg ist die Vitalitätsselektion. Was bedeuten diese Begriffe in der KE? Hohe kulturelle Fertilität besitzt jemand, der seine eigenen Meme bzw. Uberzeugung über


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geeignete Medien vielfältig verbreiten kann, sodass seine Meme von anderen Personen zumindest kurzfristig aufgenommen werden. Der Zusammenhang von Publikationsrate und Memfertilität hängt davon ab, ob man Meme innerhalb oder auch außerhalb von Gehirnen lokalisiert (► Abschnitt 9.4). Lokalisiert man sie, so wie wir, nur innerhalb, bedeutet eine hohe Publikationsrate noch keine hohe Fertilitätsrate - dann hat ein Wissenschaftler, dessen Publikationen trotz hoher Publikationsrate kaum gelesen werden, eine nur geringe Memfertilität, da seine Ideen nicht in die Gehirne anderer Personen gelangen. Lokalisiert man Meme dagegen auch außerhalb in Artefakten, fallen Memfertilität und Publikationsrate zusammen. Die Vitalitätsfitness eines Mems besteht dagegen sozusagen in seiner Überlebensdauer in menschlichen Gehirnen. Sie hängt davon ab, ob Personen, die das Mem semantisch aufnehmen, es auch attraktiv genug finden, um es langfristig beizubehalten. [Der springende Punkt ist hier: ohne Mem-Fertilität (hier also Publikationen) kann es auch keine Replikation (Nachahmung durch andere) geben. Es gibt also zunächst einen quantitativen Zusammenhang zwischen der Memfertilität und der Memvitalität. Der ist jedoch durch qualitative Kriterien der Selektion bei den Adressaten (etwa die mittlere Dosis zwischen Vertrautheit und Neuigkeit) modifiziert. ] Kulturelle Fertilitätsfitness hängt eng mit Werbung zusammen. [Brautwerbung!] Sie ist in jenen Kulturbereichen selektiv bedeutsam, die stark von Werbung bestimmt sind, also wo die Einnistungswahrscheinlichkeit eines Mems in ein Gehirn mehr von seiner sensorischen Aufdringlichkeit als von seiner Bewertung durch den Rezipienten abhängt. Es gibt in der KE zwar keine Memfresser - die Analogie zu biologischen Ei- oder Babyvertilgern wäre die direkte neuronale Softwareelimination durch Gehirnspülung. Es gibt jedoch kognitive Memfilter im Sinne einer Aufmerksamkeitsselektion, durch die Menschen gezielt nur gewisse Memarten aufnehmen, also z. B. nur gewisse Zeitschriften lesen (vgl. Dennett 1997, 487 f; Aunger 2000, 134). Festingers kognitive Dissonanztheorie (1957) besagt, dass Menschen (ceteris paribus) solche Information bevorzugt aufnehmen, welche kognitive Dissonanzen reduzieren und ihre bisherigen Entscheidungen bestätigen. Es bedarf eines Aufwands, um durch die Memfilter der Menschen durchzudringen. Den finanziellen Aufwand einer Memwerbung per Massenpostsendung oder Werbeeinschaltung im Fernsehen können sich nur die Mächtigsten oder Reichsten der Gesellschaft leisten. Insbesondere in der heutigen Informationsgesellschaft, im Zustand der tendenziellen Informations Überflutung, konkurrieren viele Meme um nur wenige „Nistplätze" in Gehirnen, und es kommt zu einer kulturellen Koevolution von immer raffinierteren Reklamememen und immer wirksameren Memfiltern (Dennett 1997, 488). [Der wichtigste Memfilter ist aber die ontogenetische Entwicklung der Kognition selbst!] Die allgemeine Charakterisierung von Vitalitätsfitness ist dagegen schwierig. In der Biologie können zumindest die Ziele der Vitalitätsselektion ohne direkte Bezugnahme auf den Reproduktionserfolg charakterisiert werden - es geht um das Überleben, also um Nahrungsbeschaffung, Schutz vor Feinden, Gelegenheit zur Fortpflanzung und Aufzucht der Nachkommen. Allerdings sind die optimalen Mittel hierzu in unterschiedlichen ökologischen Nischen verschieden, weshalb auch in der Biologie eine allgemeine Definition von Vitalitätsfitness ohne Bezug auf den Reproduktionserfolg unmöglich ist. In der KE können dagegen anscheinend nicht einmal die Ziele der Vitalitätsfitness von Memen ohne Bezugnahme auf den Reproduktionserfolg allgemein definiert werden: Was für die Beibehaltung eines Mems wichtig ist, hängt nämlich völlig vom kulturellen Kontext bzw. Bereich ab. Man kann nicht allgemein sagen, jene Meme setzen sich durch, die eher der Wahrheit dienen, oder aber eher der Illusion, der Macht oder der Schönheit, ohne den Kontext bzw. Bereich zu spezifizieren. In der Technik ist es in der Erfindungsphase zunächst der Konstrukteur selbst, der selektiert, in der wirtschaftlichen Absatzphase

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jedoch der ökonomische Markt. Selektiert wird hier nach explizierbaren - obwohl historisch wandelbaren — Kosten- NutzenKriterien, wobei der Nutzen bzw. der finanzielle Ertrag eines neuen Produkts vom gesellschaftlichen Bedarf bestimmt werden, welcher wiederum stark von Werbung und kulturellem Umfeld abhängt. ...“ 27 Dagegen formuliert Ruth Millikan (2003: 104): „Es gibt eine schon lange anhaltende Diskussion darüber, was Meme eigentlich sind. Sind sie Objekte und Strukturen, sind sie Ideen, oder sind sie Informationen? Da es im Fall der Meme nichts gibt, was der sich direkt replizierenden Keimbahn der Gene entspräche, läßt sich diese Frage nicht abschließend beantworten. Doch ich glaube, daß wir unsere Gedanken klarer fassen können, wenn wir, wo immer möglich, Meme als konkrete Formen — wie etwa Artefakte oder Verhaltensmuster - betrachten.“ – Vielleicht lässt sich aber für die Beschreibung der Meme doch ein Äquivalent der Keimbahn identifizieren: die ontogenetische Entwicklung des menschlichen Bewußtseins. 28 Die entsprechende Passage aus Cloak 1975: “On the basis of various natural experiments and observations, I believe that culture is acquired in tiny, unrelated snippets, which are specific interneural instructions culturally transmitted from generation to generation. These "corpuscles of culture" are transmitted and acquired with fidelity and ease because the organisms in question are phylogenetically adapted for transmitting and acquiring cultural corpuscles, an adaptation that has required at least 2 million years, and perhaps 40 million, of intense "selection pressure." In most social science discourse, "culture," like "behavior," is used in two senses bearing causal relationships to each other. In the case of culture, the causal relationships seem to be more complicated and profound than do those between an instruction and its behavior. If we investigate this ambiguous usage, we find that what can be called the i-culture of a people is the set of cultural instructions they carry in their central nervous systems. The mculture of the people encompasses the material structures, relationships among material struc-tures, and changes in these relationships which are actually brought about or maintained by behaviors of those cultural instructions. Features of a people's mculture thus include features of their behavior, their technology, and their social organization (and their ideology when considered as a set of verbal behav¬iors). It is curious that while the elements of i-culture are tiny, unrelated snippets, acquired and stored in a rather helter-skelter fashion like a genotype, the behavioral outcomes of those elements, the features of m-culture, often exhibit a high level of orderliness, pattern, functional integration, etc., like a phenotype. How does this orderliness come about? We shall deal with this question shortly. To illustrate the distinction, and the causal relationships, between i-culture and m-culture, let us look at them in the context of an individual culture carrier, Joe. First, i-culture affects m-culture. When any of Joe's cultural instructions are executed, he usually modifies his surroundings, thus contributing to the building and/or maintenance of the m-culture he lives in. He may greet a friend, participate in a ritual, get married, help build a house, etc. Second, i-culture affects itself. This occurs when the process of observational learning operates and one of Joe's cultural instructions thereby replicates itself in the nervous system of an observing organism, for example, his child. Third, m-culture affects itself. If an m-culture feature cues one of Joe's cultural instructions, it is a cause of his behavior, an mculture feature. Or an m-culture feature may facilitate or prevent the occurrence of another m-culture feature, partially or completely, by interfering somewhere in the sequence of outcomes of behavior that result from one of Joe's cultural instructions. Fourth, m-culture affects i-culture. For instance, some of Joe's mculture behavior may expose Joe differentially to potential demonstrators — sources of observational learning — thus determining what additional cultural instructions he acquires. Other mculture features may reward certain trial responses he makes and


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punish others, thus helping to determine what interneural instruc¬tions he acquires through conditioning. Further, certain of Joe's m-culture behaviors may put him in a better position to be a demonstrator. In other words, features of m-culture, like other environmental features, help determine the occurrence of cultural instructions in certain locations, either by helping to put a human nervous system into a location or by helping to put a cultural instruction into a nervous system already in a location. Thus mculture features are causal in the process of natural selection of cultural instructions.” Wechselwirkungen nach Cloak als Vierfelder-Tafel genotypisch: i-culture phänotypisch: m-culture i-culture i-c affects itself m-c affects i-c m-culture i-c affects m-c m-c affects itself 29 Da die Unterscheidung bei Cloak nicht nur auf die kulturellen Formen beim Menschen bezogen ist, sondern auch auf entsprechende Instruktionen im Tierreich, wäre die genotypische Form in den Programmen zu suchen, die dem Sozialverhalten zugrundeliegen. 30 Eine Unterscheidung nach dem Genotyp/Phänotyp-Modell ist auch bei Dennett (1997: 483) zu finden, der es aber ablehnt, die Meme dem neuronalen System zuzuordnen: „Gene sind unsichtbar; sie werden von ihren Vehikeln (den Lebewesen) weitergetragen und erzeugen bei diesen in der Regel bestimmte Wirkungen (phänotypische Effekte), die auf lange Sicht über ihr Schicksal bestimmen. Meme sind ebenfalls unsichtbar und befinden sich in Vehikeln - in Bildern, Büchern und Aussprüchen (in bestimmten Sprachen, gesprochen oder geschrieben, auf Papier oder magnetischen Trägern, und so weiter). Auch Werkzeuge, Gebäude und andere Erfindungen sind Memvehikel (Campbell 1979). Ein Wagen mit Speichenrädern trägt nicht nur Getreide oder eine andere Ladung von Ort zu Ort; er trägt auch die ausgezeichnete Idee eines Wagens mit Speichenrädern von Geist zu Geist. Ein Mem ist mit seiner Existenz auf eine greifbare Verkörperung in einem bestimmten Medium angewiesen; zerstört man alle diese greifbaren Verkörperungen, löscht man das Mem aus. Natürlich kann es später unabhängig davon erneut auftauchen, genau wie die Gene der Dinosaurier im Prinzip in ferner Zukunft erneut zusammenfinden könnten, aber die Dinosaurier, die sie dann hervorbringen und besiedeln, sind keine Nachkommen der ursprünglichen Riesenechsen - oder zumindest keine direkteren Nachkommen als wir. Ganz ähnlich wird auch das Schicksal der Meme dadurch bestimmt, ob ihre Kopien und Kopien von Kopien sich festsetzen und vermehren, und das wiederum hängt von den Selektionskräften ab, die unmittelbar auf die physischen Vehikel, in denen sie enthalten sind, einwirken.“ Aber wo bleibt in dieser Analogie die Kopiertreue der Meme? Durch welchen Mechanismus wird sie hergestellt und gesichert? 31 Diese Unterscheidung – so referiert Blute (2010:116) – ist schon bei Hamilton zu finden: „… in distin¬guishing between the "domains" of information and matter ("codical" and "material" domains respectively), emphasizing that a gene is "a package of information, not an object", he reiterated the theme that to evolve by natural selection, a "given package of information (codex) must proliferate faster than it changes" (1992:11). He also noted that the same thing is true of memes (1992:13).” 32 [Revisionspunkt: In Vortragsfassung schon probeweise umgestellt – hier aber noch nicht angemessen ausformuliert:] In diesem Sinne ist es möglich, die Meme (als genotypische Einheiten) weder dem neuronalen System oder noch dem sozialen Verhaltensystem zuzuordnen und beide Systeme (insbesondere aber auch die menschlichen Gehirne) als ihre phänotypischen Ausprägungen zu betrachten (ohne deshalb die deterministischen Prämissen des Dawkinsschen Vehikel-Theorems zu übernehmen). Dann bliebe zu klären, was die besondere Beschaffenheit der Meme selbst im Unterschied zu ihren phänotypischen Ausprägungen ausmacht. Nach Dennett (1997:490f) sind Meme als Informationseinheiten von

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den Gehirnen zu unterscheiden wie Gene von der DNA. Um zu erklären, wie Meme vor beliebiger Manipulation (und damit zuviel Variation) geschützt sind, müsste dann aber die besondere Dignität des organischen Vehikel-Typs im Unterschied zu den technischen Vehikeln auf der Ebene sozialen Verhaltens herausgestellt werden. 33 Eine Zusammenfassung des Diskussionsstands über die theoretische Einordnung kultureller Replikationseinheiten bei Mesoudi, Whiten & Laland (2006: 344): „Whereas genetic information is represented in sequences of DNA molecules, cultural information is represented primarily in the brain. Viewing culture as comprised of discrete units of information, or memes, can potentially make a complex system theoretically and empirically tractable, in the same way as the gene concept advanced biologists’ understanding of biological evolution. Although memes can be characterised as vague entities with flexible and fuzzy boundaries, so can the modern concept of the gene. It should be remembered that there were at least 50 years of productive investigation into biological microevolution before the molecular basis of genetic inheritance was determined, and even now it is only partly understood. A deeper understanding of the neural and molecular basis of culturally acquired information must rely on technological advances in, for example, neuroimaging techniques. However, we should also reserve the possibility that the same cultural information is specified by different neural substrates in different brains, severely limiting such methods for studying cultural transmission. In this case there may be no cultural equivalent to molecular biology, although models and methods examining cultural transmission at the behavioural and cognitive levels can still provide important insights. Another possibility is that such methods will reveal that certain aspects of cultural transmission are not particulate and are better characterised in terms of a blending process. Even in this case, however, evolutionary models are still applicable (Henrich & Boyd 2002). Indeed, Darwin formulated his theory of evolution with little understanding of genes or Mendelian inheritance. Delineation of the neural basis of cultural information will also bear on another oft-cited putative dis-analogy between biological and cultural evolution: that there is no clear equivalent to the genotype-phenotype (or replicator-interactor) distinction in culture. Loosely, we can speak of culturally acquired semantic information stored in brains as replicators and the expression of that information in behaviour or artifacts as their interactors. However, without further advances in memetics and neuroscience, such a division is somewhat speculative. It may prove that forcing cultural inheritance too tightly into the biological model is in this case unproductive (Aunger [2002], for example, has developed an alternative model of cultural transmission based on signal theory). The delineation of the genotype-phenotype distinction will also bear on whether cultural inheritance can be described as “Darwinian” or “Lamarckian,” the former maintaining Weismann’s barrier between replicator and interactor, and the latter involving the inheritance of acquired phenotypic variation. Ultimately, we do not think that researchers should get too distracted by whether strict analogies to the replicator-interactor distinction can be drawn or whether cultural inheritance is Darwinian or Lamarckian, especially when the necessary neuropsychological evidence is lacking. Many of the methods described elsewhere in this article can be pursued despite a poor understanding of cultural transmission at the neural level.” 34 Diese Unterscheidung muss jedoch nicht so (im Hinblick auf Bewußtsein und Organismus) exkludierend gehandhabt werden wie in der Luhmannschen Systemtheorie. 35 Hier evtl. noch eingehen auf die von Gatherer verwendete (und von Blackmore u.a. aufgegriffene) Unterscheidung zwischen „Dawkins A“ und „Dawkins B“. Ich schließe im Folgenden – mit Schurz und gegen Gatherer und Blackmore – an Dawkins B an.


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36 Auch in der anschaulichen Verwendung der Viren-Metapher bei Dennett erscheint das Gehirn als Wirt und der Virus dringt von Außen ein: „Eines Tages ..., so die wunderschöne Geschichte von Lynn Margulis (1981), wurden ... einige Prokaryonten von einer Art Parasiten besiedelt; das erwies sich als verkappter Segen: Während Parasiten definitionsgemäß schädlich für die Eignung ihres Wirts sind, waren diese Eindringlinge, wie sich herausstellte, durchaus nützlich, das heißt, sie waren keine Parasiten, sondern Symbionten. Wie die von ihnen besiedelten Organismen wurden sie zu Kommensalen — der aus dem Lateinischen stammende Begriff bedeutet eigentlich »Tischgenossen« - oder zu Mutualisten, die gegenseitig voneinander profitieren. Mit vereinten Kräften schufen sie ein revolutionäres neues Gebilde: die Eukaryontenzelle. Damit eröffnete sich ein riesiger Raum der Möglichkeiten, den wir unter dem Namen »vielzelliges Leben« kennen und der zuvor, um es vorsichtig auszudrücken, unvorstellbar war; Prokaryonten sind sicher bei allen Themen ahnungslos. Dann vergingen ein paar hundert Millionen Jahre, in denen die vielzelligen Lebensformen die Ecken und Winkel des Gestaltungsraumes erkundeten. Eines schönen Tages schließlich begann eine weitere Invasion; sie fand in einer einzigen Art von Vielzellern statt, einem Primaten: Er hatte verschiedene Strukturen und Fähigkeiten entwickelt (man wage es nicht, sie Präadaptationen zu nennen!), die sich für diese Eindringlinge zufällig besonders gut eigneten. Daß die Eindringlinge gut dazu angepaßt waren, sich in ihren Wirten niederzulassen, ist nicht verwunderlich, denn die Wirte hatten sie selbst erschaffen, ganz ähnlich wie Spinnen, die Netze aufspannen, oder wie Vögel, die Nester bauen. In einem Augenblick der Evolution — weniger als 100000 Jahren - verwandelten diese Eindringlinge die Affen, die ihre unwissenden Wirte waren, in etwas völlig Neues: in wissende Wesen, die sich dank ihres großen Bestandes an neu eingewanderten Eindringlingen auf einmal das Unvorstellbare vorstellen konnten und damit einen größeren Sprung durch den Gestaltungsraum vollbrachten als je zuvor. In Anlehnung an Dawkins (1976) bezeichne ich die Eindringlinge als Meme, und das grundlegend neue Gebilde, das entsteht, wenn ein Tier ausreichend mit Memen ausgestattet ist oder von ihnen besiedelt wird -, nennt man allgemein Person.“ (1997: 473) Und noch einmal Dennett aus subjektiver Sicht: „Jeder von uns kann Meme benennen, die sich ungebeten und unbeachtet in unserem Geist festsetzen oder sich - wie zum Beispiel Gerüchte - sogar ausbreiten, obwohl diejenigen, die für die Ausbreitung sorgen, sie ganz allgemein mißbilligen.“ (1997: 482) In dieser Darstellung werden m.E. aber zwei Bilder unzulässig vermischt: das der externen (sich selbst steuernden) Eindringlinge und das der vom Organismus erzeugten (von ihm gesteuerten) Instrumente. 37 S. dazu noch einmal Pinker 1996, Der Sprachinstinkt oder 1999, Words and Rules – oder kommt das bei Dennett vor? 38 Zur Kritik des in der Dawkinsschen Memtheorie (als horizontale Transmission) vertretenen „Ansteckungs-Modells“ Gatherer 1998: “The mistake lies in the frequent assumption that individuals have memes. But because, as will be shown, we cannot assign memes to individuals with sufficient reliability or regularity, we cannot produce meme frequencies, defined as the proportion of individuals in a population that possess or have a meme. Gene frequencies are absolutely necessary to population genetics, and if there is to be a population memetics we correspondingly need to have unambiguous meme frequencies. There are some circumstances in which we can derive a statistic of this sort but, as will be demonstrated, this kind of `meme frequency' statistic, if we are to have it at all, must be defined in a purely behaviourist manner. By contrast, individuals do have genes. They may or may not pass them on to the next generation of individuals. However, whatever the reproductive success or otherwise of an individual, that individual carries those genes around in its body for the duration of its life. A population geneticist may derive allele frequencies as the

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proportion of individuals who carry one gene sequence or another. Gene frequencies are of course abstractions, pure quantitative values, but they are abstractions which relate directly to a physical reality, ie. the reality of gene sequences within the bodies of individuals. Thus, providing the required technical methods are available, one may derive an unambiguous estimation of gene frequencies which are comparable between one population and another. Memes, on the other hand, are more difficult to pin down. Dawkins A included concepts, cultural artefacts and subjective states such as beliefs, whereas Dawkins B restricted memes to units of neural information giving rise to behaviours or the production of artefacts (Dawkins 1982, p.109). Dawkins is careful to stipulate that when a meme is transmitted from one brain to another, it is not necessary that exact neural configurations are reproduced. Two individuals who are exhibiting the same mental state, entertaining the same idea, performing the same behaviour, are taken to have the same meme, for all intents and purposes - even if their neural configurations are not identical. Thus at this most basic physical level, Dawkins B memes are less tangible than genes. They are merely informational specifications within brains.” Demgegenüber Gatherers Vorschlag zur Definition von Memen: “an observable cultural phenomenon, such as a behaviour, artefact or an objective piece of information, which is copied, imitated or learned, and thus may replicate within a cultural system. Objective information includes instructions, norms, rules, institutions and social practices provided they are observable.” (1998) Gatherer vollzieht eine strikte Trennung zwischen der kognitivinformationsbasierten Transmission von Memen und von religiösen Überzeugungen (beliefs), in denen die subjektive Einstellung zu den Informationen zum Ausdruck kommt. Er suggeriert, dass diese Einstellungen selbst nicht übertragbar seien. Aber was machen dann eigentlich Missionare? Gatherers Vorschlag, die Definition von Memen aus methodologischen Gründen auf kulturelle Artefakte zu beschränken (und von Bewußtseinsinhalten abzugrenzen), steht dem hier skizzierten Vorschlag diametral entgegen. Damit fehlt die einschränkende Rückbindung an ontogenetische Prozesse in der intergenerativen Kommunikation. 39 In diesem Sinn auch Einwände von Wilkins 1999 gegen Gatherers überscharfe Abgrenzung des Mem-Konzepts gegenüber lebendigen Individuen (und ihrer organischen Entwicklung): „While I agree with much of Gatherer's criticism and many of his conclusions, especially of the thought contagion approach to memetics, I am moved to argue against his major claim that memes aren't to be located in the heads of individuals and to assert the possibility and even immediate attainability of a populational memetics. … Simply because we cannot assay memes except through behaviour, which is quite true, it does not follow that memes of a mental kind are simply hypothetically postulated entities (or HYPEs). To argue this is to confuse information with its expression, the cause with the effect. It is true that we reason backwards from phenomenon to mechanism in science, but HYPEs have this habit of becoming observable, measurable, entities in their own right. … I have two objections to the Benzon-Gatherer "External Meme" thesis, but in so doing I do not wish to reassert the truth of Dawkins B - the thesis that memes are just units of information residing in brains. They are, I aver, informational structures, and they do reside in brains a lot of the time, but as I have argued before (Wilkins 1998a), they also often exist in the cultural relations between brains, and may not even exist in any brains at all at a time or ever. Moreover, I expect that what goes on inside brains will sometimes be, not memes, but meme-like; call them "memoids" after Dawkins' term for design-like objects, "designoids" (Dawkins 1996). They will resemble memes in that they appear to be semantic structures encoded in neural networks, but their selection within the brain will often be hit-or-miss and inconsistent, despite Den-


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nett's thesis of a strict internal selection (Dennett 1991, chapter 8). What counts isn't so much the selection process inside the head as the one outside, and that requires transmission. The first objection to the exclusive External Meme thesis is again a "simply because" objection. Just because we can locate, measure, differentiate and model something is not reason to think that what we (now, or even in principle) cannot is nonexistent or nonsensical. This was the deep error of Skinnerian behaviourism, a holdover of old positivism, and it made of an epistemic limitation an ontological virtue. Although I am sure that neither Gatherer nor Benzon is a positivist, this is still an all-too-common error in science. While we may narrow down the search space of alternative HYPEs in this way, and Occam's Razor may seem to give weight to that approach, the history of science has shown (not least with the notion of a "gene") that it often leads to error and failure of research. We had better not kid ourselves that if we can't see it, it can't affect us, like kids hiding from monsters under the blanket at night. My second objection is related also to the faults of Skinnerian behaviourism - the denial of what we are pretty sure is real and significant. Skinner denied the reality of psychological states - the External Meme thesis seems to be predicated on the denial of concepts. Questions raised by Gatherer of what in philosophy is called the K-K principle (if we know, we must know that we know, ad infinitum) aside, surely if I know how to tie a Windsor knot, some causally relevant structure exists inside my brain? And it must be one that satisfies the relevant semantic relation to the culture that defines Windsor knots and which therefore makes it "about" Windsor knots.” 40 Zur diesbez. Organausstattung beim Menschen und den Unterschieden zwischen Menschen und den nächstverwandten Primaten bez. der Fähigkeit zu Nachahmung (inkl. Empathie) Tomasello 2009, 2010. Tomasello in einem Interview mit Helmut Mayer: „Wir sind die Tiere, die kooperativ kommunizieren, und das Zeigen ist das "Ur-Werkzeug" dieser Kommunikation. Bald darauf entwickelten sich dann ikonische Gesten oder Pantomime, so dass die Kommunikation über abwesende Gegenstände effektiver wurde. Später erst kommt die kraftvolle kulturelle Transmission ins Spiel, wie sie für Sprache notwendig ist. Denn ein zentrales Charakteristikum von Sprache ist, dass sie durch Nachahmung gelernt wird, obwohl Nachahmung nicht alle Probleme löst. Die erste Phase - Zeigen, ikonische Geste, Pantomime - ist noch nicht auf sie angewiesen; diese Fähigkeiten sind uns natürlich. Aber wenn ich diesen Gegenstand hier Bleistift nenne, gab es nur einen Weg, das zu lernen, nämlich es anderen Leuten nachzutun. So entsteht eine auf Konventionen gründende Kommunikationsweise, im Gegensatz zur natürlichen Form von Zeigen und Pantomime.“ (FAZ 23.11.2011) Zu den organischen Voraussetzungen der menschlichen Sprachentwicklung Cavalli-Sforza 1999, 187f: „Die Sprache ist eine zugleich biologische und kulturelle Neuerung, denn die anatomischen und physiologischen Grundlagen, die sie ermöglichen, haben sich genetisch, durch natürliche Selektion entwickelt. Ein Kind wird mit der Neigung und der Fähigkeit, eine Sprache zu lernen, geboren. Es unterscheidet sich dadurch von den Jungen anderer Tierarten, auch der dem Menschen am nächsten verwandten, deren Kommunikationsmittel sehr viel eingeschränkter sind. Vermutlich hatten auch die Neandertaler (die uns am nächsten stehenden prämodernen Menschen) solche Möglichkeiten, allerdings auf einem eher niedrigen Niveau. Man hat die Vermutung geäußert, daß ihr Kehlkopf möglicherweise nicht lang genug war, um die Vielfalt an Vokalen hervorzubringen, über die wir verfügen; allerdings sind die dafür angeführten Beweise nicht genügend begründet. Die Sprache selbst ist eine kulturelle Schöpfung, die durch ein präzises anatomisches und neurologisches Substrat ermöglicht - und vielleicht auch bestimmt - wird. Sie ist auch das Hauptvehikel der Kultur, die mittels der Sprache zum wichtigsten Rückhalt des Menschen werden konnte. Durch die Wirkung, die die Sprache auf die Kultur ausübt und während der ganzen Ent-

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wicklung des Genus Homo ausübte, verschaffte sie dem modernen Menschen einen großen Selektionsvorteil, und auch die biologischen Grundlagen, die sie ermöglichten, entfalteten sich zu ihrer gegenwärtigen Komplexität.“ 41 Zum Problem der Abgrenzung vom Memen als kleinster Einheiten Schurz (2011: 212f): „Wie lassen sich Memkomplexe bzw. zusammengesetzte Meme auf natürliche Weise in klar abgegrenzte oder gar kleinste Einheiten zerlegen? Darin liegt eine große Schwierigkeit. Eine Reihe von Mem-Theoretikern, z. B. Dawkins (1998, 309), Den¬nett (1997, 478) und Wilkins (1998, 8), haben das „Mera" als „kleinste kulturelle Informationseinheit" postuliert, aber diese Charakterisierung bringt wenig, solange unklar ist, wie eine Zerlegung in Informationseinheiten vonstatten gehen kann. Zur Verteidigung von Memen haben Dennett (1997, 491), Hull (2000) sowie Mesoudi, Whiten und Laland (2006, 343) hervorgehoben, dass auch die Identität von Genen schwer zu charakterisieren sei. Das ist zwar wahr, doch die Charakterisierung der Identität von Memen ist weit schwieriger (vgl. auch Laland und Brown 2002). Es gibt, wie in ► Abschnitt 2.3 ausgeführt wurde, zwei Genbegriffe: den molekularen (ein Gen codiert ein Polypeptid) und den funktionalen (ein Gen produziert ein phenetisches Merkmal). Der molekulare Genbegriff ist klar bestimmt, und für ihn gibt es auch eine kleinste Einheit, nämlich das Basentriplett, das eine Aminosäure codiert. Doch auf der Memebene gibt es kein Gegenstück zum molekularen Genbe¬griff. Es wurde vorgeschlagen, das neuronale Gegenstück molekularer Gene seien kleinste neuronale Netzwerkeinheiten oder synaptische Aktivierungsmuster — Aunger (2002) sprach vom „electric meme" - und die Struktur solcher neuronalen Einhei¬ten sei lediglich noch zu wenig bekannt. In Bezug auf Meme befänden wir uns heute noch dort, wo sich Darwin in Bezug auf Gene befand, weil die Gehirnfor-schung noch nicht so weit entwickelt sei, obwohl sie in jüngster Zeit große Fortschritte macht. In dieser Sichtweise liegt sicher etwas Wahres, und dennoch ist die Analogie nicht ganz überzeugend. Denn erstens ist unklar, wie man Netzwerkeinheiten oder Aktivierungsmuster neuronal abgrenzen soll, und zweitens codieren neuronale Akti¬vierungsmuster nichts so direkt, wie DNSStränge Polypeptide codieren. Vielmehr sind die neuronalen Module der Großhirnrinde an perzeptuelle und motori-sche Neuronenareale und diese wiederum an Sinneszellen oder Muskelzellen gekoppelt usw.), und erst diese Verschaltungsstruktur macht aus dem intelligenten Organismus ein semantisches System, das Bedeutungen repräsentieren und kommunizieren kann. Es scheint, dass es auf der Memebene nur ein Gegenstück zum funktionalen Genbegriff gibt. Ein funktionales Mem wäre eine Teilstruktur des Gehirns, welche im Menschen eine gewisse semantische Fähigkeit oder Verhaltensfähigkeit erzeugt. Doch die Identitätsbedingungen dieses funktionalen Membegriffs sind ähnlichen Schwierigkeiten ausgesetzt wie oben erläutert: Funktionale Meme sind verteilte Strukturen, da erst die gesamte Verschaltungsstruktur zwischen zentralen, periphe¬ren und motorischen Neuronen sowie Sinnes- und Muskelzellen eine entsprechende Fähigkeit bewirkt. Dieses Problem des funktionalen Membegriffs ist allerdings nicht grundsätzlich anders als das des funktionalen Genbegriffs, denn auch viele funktio¬nale Gene sind vermutlich verteilte Strukturen. Einem anderen Vorschlag zufolge sollten die memetischen Einheiten nicht auf der neuronalen Ebene, sondern direkt auf der Ebene von Bedeutungen angesiedelt wer¬den. Doch was sollten allgemeine „semantische Einheiten" denn sein? Zunächst ein¬mal kann man nicht vom „Bit" als se-mantischer Informationseinheit sprechen, denn das Bit ist eine syntaktische und keine semantische Einheit. Im Bereich der Sprache wären die Memeinheiten etwa die kleinsten bedeutungstragenden Worteinheiten (Morpheme) des Lexikons. Aber wie steht es mit Hypothesen in der Wissenschaft oder technischen Fertigkeiten? Zwar lassen sich Theorien oder technische Instruk¬tionen auf sinnvolle Weise in Bestandteile zerlegen, doch eine solche Zerlegung kann immer nur im disziplinspezifischen Kontext des jeweiligen Anwendungsbe-


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reichs erfolgen. Es kann wohl kaum eine allgemeine Theorie der Memetik geben, die für alle Bereiche sagt, wie ihre Informationen in memetische Einheiten zu zerlegen sind. Die Schwierigkeiten der Identität von Memen sind allerdings kein Hinderungsgrund für die Theorie der KE. Man kann nämlich, auch ohne die physikalische Struktur des Gehirns zu kennen, Meme als Dispositionen des Gehirns verstehen, gewisse Informationen zu repräsentieren oder Verhaltensweisen zu produzieren. Meme, so schlage ich vor, sollten in diesem dispositionalen Sinn verstanden werden (zumindest solange wir über ihre neuronale Struktur wenig wissen). Meme qua Dis¬positionsmerkmale besitzen zwar keine klar abgrenzbaren kleinsten Einheiten, aber dies ist auch nicht nötig, um die drei Darwinschen Module auf Meme anzuwenden.“ 42 Die Formulierung von der historischen Invarianz wäre nochmal zu überprüfen und evtl. dahingehend zu relativieren, dass sich die Invarianz immer nur auf bestimmte Sequenzen bezieht, die dadurch relativiert werden, dass sie im jeweiligen historischen Kontext (phänotypisch) anders wirken und auch neu kombiniert werden können. – S. meine Argumentation mit Bezug auf die Formen sozialer Differenzierung. 43 In dieser Sicht scheint nichts das Tempo und die Reichweite der Ausbreitung der Meme zu bremsen (Dennett 1997: 482f.) : „Das wichtigste Medium der kulturellen Weitergabe ist sicher die menschliche Sprache, die zuerst gesprochen und in sehr junger Vergangenheit auch geschrieben wurde. Sie schafft die Infosphäre, in der sich die kulturelle Evolution abspielt. Sprechen und Hören, Schreiben und Lesen - diese grundlegenden Methoden der Übermittlung und Vermehrung zeigen eine starke Analogie zu den Methoden der DNA und RNA in der Biosphäre. Ich brauche mich nicht damit aufzuhalten, die altbekannten Tatsachen über die explosive Vermehrung dieser Medien darzustellen, die über die Meme von beweglichen Lettern, Radio und Fernsehen, Xerographie, Computer, Faxgeräte und e-Mail erfolgte. Wir alle wissen heute sehr genau, daß wir in einem Meer papiergebundener Meme schwimmen und eine Atmosphäre elektronisch vermittelter Meme atmen. Meme breiten sich heute mit Lichtgeschwindigkeit über die Erde aus und vermehren sich mit einer Geschwindigkeit, die im Vergleich sogar Taufliegen und Hefezellen wie eingefroren erscheinen läßt. Sie springen promiskuitiv von einem Vehikel und einem Medium zum anderen, und es zeigt sich, daß man sie praktisch nicht unter Quarantäne stellen kann.“ 44 Hinweis auf Tarde (1890) und den Sammelband von Staeheli (2009) zur neueren Tarde-Rezeption mit dem evolutionstheoretischen Beitrag von Schmid. 45 Zu elementaren Replikationseinheiten, die der Kooperation und im weiteren Sinne der sozialen Systembildung dienen Schurz 2000: „Verhaltenswissenschafter haben bei Säugern und Vögel eine Vielfalt von moralanalogem Verhalten beobachtet (Wickler 1975), wobei meines Wissens kein Konsens darüber besteht, ob dieses moral-analoge Verhalten im Tierreich primär unter Verwandten oder auch unter Nicht-Verwandten auftritt. Einige Schilderungen Wicklers (1975, 137f) über das Eingreifen von ranghöchsten Mantelpavianen in den Streit niedrigerer Tiere und die häufige Parteiergreifung für den Schwächeren lassen aber das Auftreten von Sanktionsmechanismen bzw. ‘Richterfunktionen’ bereits bei höheren Primaten vermuten. Es ist insgesamt plausibel, anzunehmen, dass die Disposition menschlicher Gemeinschaften zu sozialen Regelsystemen mit Sanktionsmechanismen nicht nur ein kulturelles Erbe ist, sondern auch eine genetische Grundlage besitzt. Dies wird überraschenderweise durch kognitionspsychologische Untersuchungen eindrucksvoll bestätigt. Es zeigt sich nämlich, dass die natürliche Kognition des untrainierten Erwachsenen in hohem Maß auf das Erkennen von sozialen Reziprozitätsbeziehungen und das Aufdecken von Betrügern spezialisiert ist. Gewisse komplexere Schlüsse (z.B. der ‘Modus Tollens’), die bei Anwendung auf natürliche oder arbiträre Objekte nur sehr schwer beherrscht werden, werden bei Anwendung auf soziale Situationen, in denen die Frage des Einhaltens oder Nichteinhal-

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tens von Regeln zur Disposition steht, plötzlich spielend leicht beherrscht (Cosmides 1989, s. auch Schurz 1999a). Dies ist ein Indiz dafür, dass die Errichtung von sanktionierten Regelsystemen eine universale und genetisch verankerte Innovation der menschlichen Spezies ist, mit gewissen Vorläufern im höheren Tierreich. Es versteht sich von selbst, dass diese Innovation nur möglich war bei gleichzeitiger massiver Evolution des menschlichen Sprachvermögens - beides zusammen hat erst jene Art kultureller Evolution ermöglicht, die die genetische Ebene übersteigen und partielle Autonomie gewinnen konnte.“ Somit hat Ethik eine doppelte evolutionäre Grundlage, genetisch und kulturell. Doch die ethischen Systeme im Verlaufe der kulturellen Evolution sind vergleichs¬weise divergierend; um eine Zahl zu nennen: Ethiken wurden zumeist religiös be¬gründet, und in der Geschichte der Menschheit gab es zirka 100.000 verschiedene religiöse Glaubenssysteme (Wilson 1998, 325). Das Universale in menschlichen Ethiken besteht weniger im Inhalt bzw. im Wie, sondern im Dass, in der Tatsache, dass es überall zu sanktionierten Regelungen grundlegender sozialer Beziehungen kommt, welche im Inhalt durchaus unterschiedlich gestaltet sein können (vgl. Schurz 1995). In allen Regelsystemen geht es um Reduktion von gewaltsamen Konfliktaustragungen innerhalb des sozialen Verbandes, aber mit durchaus verschiedenen - z.B. monarchischen, oligarchischen oder demokratischen - Mitteln. Ich spreche von ,Gewaltreduktion’ und nicht von ‘Gewaltelimination’, weil auch das modernste System rechtsstaatlich legitimierter Sanktionen ein bestimmtes Maß an (rechtsstaatlich legitimierter) Gewalt impliziert. Regelungen des Besitzes, des Paarungsverhaltens oder der Kinderaufzucht (Erziehung) divergieren dagegen in verschiedenen Kulturen erheblich voneinander. Evolutionär wichtig ist es, dass es zu Kooperationen kommt, die allseitigen Nutzen bringt; auf welche Weise dabei der soziale Gerechtigkeitsaspekt optimiert wird, ist demgegenüber eine zweitrangige Frage, und hängt voralledem auch von den Weltbildern ab, auf deren Grundlage ethische Systeme legitimiert und ‘soziale Gerechtigkeit’ definiert wird. Mit der sukzessiven Zunahme der weltweiten Besiedelungsdichte kam es zu einer schrittweise Universalisierung von ethischen Regelsystemen. In demokratischen Systemen ist diese Universalisierungstendenz am stärksten verwirklicht, und ihnen ist aus heutiger Sicht den größten Erfolg in der Reduktion von gewaltsamen Konfliktlösungen zuzusprechen, obgleich auch dies nicht unabhängig zu betrachten ist von der Evolution von Weltbildern, worauf wir nun zu sprechen kommen.“ 46 Weitere Hinweise mit Bezug auf Nachahmung und Konflikt: Tarde, Latour, Girard – mit Bezug auf Kooperation und Konkurrenz: Simmel, Tomasello, Nowak. - S. auch die von Tooby/Cosmides angestoßene Diskussion über genetisch verankerte Dispositionen menschlichen Verhaltens (Module im Gehirn) – s. zusammenfassend Schurz 383ff. 47 Auch bei Dawkins wird diese Verbindung hergestellt – jedoch nicht als Engführung in der Definition von Memen sondern nur als Beispiel für einen Placeboeffekt bestimmter Meme: „Der Überlebenswert des Gott-Mems im Mempool ergibt sich aus seiner großen psychologischen Anziehungskraft. Es liefert eine auf den ersten Blick einleuchtende Antwort auf unergründliche und beunruhigende Fragen über das Dasein. Es legt den Gedanken nahe, daß Ungerechtigkeiten auf dieser Welt vielleicht in der nächsten ausgeglichen werden. Die Arme des ewigen Gottes geben uns in unserer Unzulänglichkeit einen Halt, der - wie die Placebo-Pille des Arztes - dadurch nicht weniger wirksam wird, daß er nur in der Vorstellung besteht. Dies sind einige der Gründe, warum die Idee „Gott" so bereitwillig von aufeinanderfolgenden Generationen individueller Gehirne kopiert wird. Gott existiert, und sei es auch nur in der Gestalt eines Mems, das in der von der menschlichen Kultur geschaffenen Umwelt einen hohen Überlebenswert oder eine hohe Ansteckungsfähigkeit besitzt.“ (310) Dazu genauer Cavalli-Sforza 1999, 206: „Bei der Religion ist die Ähnlichkeit der Kinder mit der Mutter wirklich bemerkenswert, sowohl bei der Wahl der Religion (in gemischten Ehen) wie bei


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wenigstens einer sehr wichtigen Manifestation: der Häufigkeit des Betens. Bei der Wahl der Religion hat diese Feststellung nichts Erstaunliches, denn diese Wahl treffen die Eltern für die Kinder und fast immer in einem Alter, in dem diese noch nicht fähig sind, eigene Präferenzen zu äußern. Natürlich kann es später zu Konversionen kommen, aber das ist selten. Ein zwanzigjähriger Student, der weiterhin zu Gott betet, hat wohl genügend Gelegenheit gehabt, eigene Erfahrungen zu machen und seine religiöse Erziehung zu vergessen, wenn diese nur auf familiärem Druck beruhte. Leider sagen unsere Daten nichts darüber, ob die Betreffenden auch in ihrem ganzen weiteren Leben immer noch eifrig beten werden. Der Vater scheint nur von Belang hinsichtlich der Gewohnheit, zu Gottesdiensten zu gehen, einem eher sozialen als spirituellen Faktum, und hier haben die Einflüsse von Vater und Mutter annähernd das gleiche Gewicht. Bei der Politik ist der Beitrag der beiden Elternteile ausgeglichener als bei der Religion.“ 48 s. Freud, Zukunft einer Illusion (Zitate ...) 49 Aus der Einleitung zu Unsichtbare Religion von Knoblauch: „Luckmann beschritt einen anderen, ebenfalls von Schütz vorge¬zeichneten Weg. Die Theorie der Transzendenzen - Grundlage seiner Religionssoziologie - wird verknüpft mit einer Theorie der Zeichen und Symbole. Nicht der Weg »nach innen« interessiert den Religionssoziologen, sondern die objektivierten Ausdrucks¬formen des Religiösen. Die Konstruktion und vor allem die inter-aktive Vermittlung religiöser Deutungen in der Kommunikation bilden auch, wie Luckmann zu zeigen versuchte, die »materiale Basis« der Transzendenz. (Es ist auffällig, daß Stark und Bainbridge, unabhängig von Schütz und Luckmann, eine ähnliche dreigliedrige Typologie entwickelt haben.) Wissen wird interak¬tiv zu Deutungsmustern objektiviert und in kommunikativen Vorgängen vermittelt; vor allem in der Kommunikation wird das Bewußtsein »objektiv« - sozial und sozialisiert. Religion ist als soziales Phänomen - vorrangig ein kommunikatives Konstrukt. Die Überwindung schon der kleinen, zeitlichen und räumlichen, Transzendenzen des eigenen Bewußtsseinsstroms gelingt nur ver¬mittels gewisser Schemata, die erst im Face-to-Face-Kontakt mit anderen eine gewisse »Außenstabilisierung« und Dauerhaftigkeit erlangen. Diese Vorstellung ist nicht neu. Im Anschluß an Gehlen bilden Handlungen die Grundlage der gesellschaftlichen Wirk¬lichkeit. Unter Rückgriff auf Schütz, Cooley und Mead versucht Luckmann die einzelnen Stufen der Objektivierung subjektiver Erfahrung (in gegenseitiger Spiegelung, Reziprozität und Rollen¬übernahme) zu intersubjektiven Deutungsschemata nachzuzeich¬nen. Die Objektivierung von Erfahrungen in Deutungsmustern ist ein Ergebnis sozialer Handlungen, die in verschiedenen Arbei¬ten detailliert beschrieben wurde. Jede signifikante subjektive Erfahrung ist die Frucht intersubjektiver Vorgänge, durch die subjektive Erfahrung in Deutungsschemata eingefügt werden können. Diese interpretativen Vorgänge haben ihre Basis in Face- to-Face-Interaktionen, wie sie am intensivsten während der Sozialisation eingeübt werden. Erst so wird die Abstraktion, die Ablösung von der Unmittelbarkeit der subjektiven Erfahrung er¬möglicht, derer das solitäre Wesen alleine nicht fähig wäre. Inter¬aktive Vorgänge bilden also gewissermaßen die strukturelle Basis jedweder Transzendenz. Erst wenn Erfahrungen zu intersubjek¬tiven Deutungsmustern objektiviert bzw. »artikuliert« sind, kön¬nen sich Gruppierungen, Organisationen und Experten an deren Weiterentwicklung, Abgrenzung und Ausbau zu Systemen von Deutungsmustern machen. Die soziale Konstruktion von Deu¬tungsmustern führt zu »Weltan-sichten«. Objektivierungen ent¬halten - insbesondere in Sprache geronnene - Vorstellungen über die Wirklichkeit - sei es von Gegenständen, Vorgängen und Handlungen oder von ganzen Wirklichkeitsbereichen. Weltansichten umfassen nicht nur Gebrauchswissen, Rezepte usw; sie schließen auch Legitimationen mit ein, also Vorstellungen darüber, wer Agent von Handlungen sein kann und sich dafür verant¬wortlich zeichnet, oder welche Struktur die Wirklichkeit hat. Die interaktive Konstruktion von Deutungsmustern führt zu¬gleich zur Individuation des Wissens. Erst wenn sich Wissen

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durch interaktive Vorgänge von der subjektiven Erfahrung abgelöst, als Deutungsmuster konstituiert und womöglich zum Zeichen objektiviert hat, erlangt der einzelne die Fähigkeit, sein Ver¬halten langfristig zu steuern (je nach vorhandenen Kategorien über kurze Zeiten hinweg, orientiert an seiner Biographie oder an historischen und transzendenten Zeiten). Dies nennt Luckmann eine persönliche Identität. Persönliche Identität, die langfristige, dauerhafte und bewußte Steuerung des individuellen Verhaltens, entsteht in der Individua¬tion, der »Einverleibung« sozial objektivierten Wissens, in denen sich ein »Selbst« gegen ein »Ich« ausgrenzt. Das Individuum ent¬wickelt ein Selbst, indem es mit anderen ein objektives Univer¬sum konstruiert. Genau in jenen Prozessen, denen eine religiöse Funktion zugeschrieben wird, entsteht die persönliche Identität, in gewissem Sinne die Institutionalisierung eines »Selbst«reflexiven, sich durch gesellschaftliche Objektivierungen verstehenden Ich. Aus dieser anthropologischen Funktion erklärt sich die Ausbil¬dung von Sozialformen der Religion. Der einzelne wird in eine bestimmte Weltansicht hineingeboren, in das, was Luckmann später ein »soziohistorisches Apriori« nennt. In der empirischen Wirklichkeit sind Weltansichten schon immer vorhanden, die wir im Verlaufe der Sozialisation internalisieren. Die Weltansicht ist dem einzelnen immanent und transzendent zugleich. Transzen¬dent, da die Weltansicht schon vor der jeweiligen individuellen Existenz objektiv besteht; immanent, da sie - einmal internalisiert — dem Subjekt die Mittel zur Deutung der subjektiven Erfahrun¬gen zur Hand gibt. Individuation setzt die kommunikative Ver¬mittlung der Deutungsmuster voraus und besteht in der mehr oder weniger vollständigen Internalisierung dieser Deutungsmu¬ster und der darin enthaltenen Orientierungen. So ist die Welt¬ansicht die universale Sozialform der Religion. Erst jetzt klärt sich ein Mißverständnis, das sich vor allem auf den zentralen Begriff der »Privatisierung« auswirkte: die Verwechs¬lung von individueller Religiosität, also dem Ausmaß, in dem das Individuum die Weltansicht internalisiert, und der Kirchlichkeit, also die Übernahme von Glaubensüberzeugungen und Praktiken, die sozial organisiert sind. Individuelle Religiosität ist nicht als empirischer Gegenbegriff zur Kirchenreligion zu verstehen; sie bezeichnet lediglich die subjektive Ausprägung jeder Form von Weltansicht. Kirchlichkeit bzw. kirchlich gebundene Religiosität meint dagegen »das Ganze jener individuell-religiöser Verhaltensweisen, die durch sozial vorgeformte, institutionalisierte Sprach-, Symbol-, Einstellungs- und Handlungsweisen bedingt, begrenzt und gestaltet sind«. »Kirchlichkeit« allerdings setzt zweierlei voraus: die Ausbildung einer auf Religion spezialisier¬ten Institution einerseits und die eines Heiligen Kosmos anderer¬seits.“ Aber die kirchliche Organisation von Religiosität kann sowenig schon das Ganze sein, wie die Gesellschaft die Summe ihrer Organisationen ist. Auch die Unterscheidung zwischen Institution und Organisation ist hier unklar. 50 Hier wäre aber noch zu prüfen, ob es nicht zweckmäßiger wäre, nur von einer Koevolution der verschiedenen Trägereinheiten der Replikation zu sprechen – s. m. Arg. in 1.3 Zur Koevolution zwischen Memen als Replikationseinheiten und den Mechanismen der Replikation im soziokulturellen Gehäuse das ausführliche Zitat von Blackmore: (2011: 79-80): „Der memetische Antrieb hinter der Ausformung des Gehirns läßt sich als Beispiel für einen umfassenderen Evolutionsprozeß betrachten. Dieser besteht in der Koevolution eines Replikators zusammen mit der Maschinerie für seine Replikation. Dies ist ein einfacher Mechanismus. Stellen wir uns zum Beispiel eine chemische Ursuppe vor, in der sich verschiedene Replikatoren finden, manche von ihnen zusammen mit Koenzymen oder anderen Replikationswerkzeugen, manche jedoch auch ohne sie. Diejenigen Replikatoren, welche die zahlreichsten und langlebigsten Kopien ihrer selbst erzeugen, werden den Rest verdrängen, und wenn dies von der Kopplung an eine bessere Kopiermaschinerie abhängig


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ist, dann werden sowohl der Replikator als auch die Maschinerie gedeihen. Etwas in dieser Art hat möglicherweise auf der Erde schon stattgefunden, lange bevor RNA und DNA ihre Konkurrenten fast völlig auslöschten (Maynard-Smith und Száthmary 1995). Die zelluläre Kopiermaschinerie der DNA arbeitet heute so akkurat und zuverlässig, daß wir darüber leicht vergessen, daß sie sich aus etwas anderem, Einfacherem entwickelt haben muß. Meme verfügen über keine derart lange Geschichte. Der neue Replikator treibt, wie Dawkins es sagt, »noch unbeholfen in seiner Ursuppe herum. [...] Das [...] ist die >Suppe< der menschlichen Kultur.« (1996, S. 308) Dessenungeachtet sehen wir denselben allgemeinen Prozeß am Werk, den wir auch für den Ursprung der Gene annehmen können. Dieser Prozeß besteht in der gemeinsamen Verbesserung der Meme und ihrer Kopiermaschinerie. Das große Gehirn ist nur der erste Schritt. Es gab noch viele weitere. In jedem einzelnen Fall übertrumpfen qualitativ hochwertigere Meme qualitativ schwächere, und ihre Vorherrschaft befördert das Überleben des Apparats, von dem sie kopiert werden. Dies lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Frage, was die qualitativ hochwertigen Meme auszeichnet. Dawkins (1996, S. 312) hat dafür Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Wiedergabetreue vorgeschlagen. [Er hat im Hinblick auf die Wiedergabetreue dabei aber eher einen Rückzieher gemacht!] Dies ist die Grundlage für mein Argument über die Ursprünge der Sprache (Blackmore 1999, 2000). Im Umriß sieht es wie folgt aus: Sprache ist eine gute Art und Weise, Meme von großer Fruchtbarkeit und Wiedergabetreue zu erzeugen. Klang überträgt sich besser auf mehrere Personen zugleich als visuelle Reize; in Wörter aufgegliederte Klänge lassen sich mit größerer Genauigkeit kopieren als kontinuierlich variierende Klänge; Klänge, die sich Wortstellungen zunutze machen, öffnen mehr Nischen, die von Memen besetzt werden können — und so weiter. In einer Gemeinschaft von Menschen, die Klänge voneinander kopieren, wird die memetische Evolution sicherstellen, daß die qualitativ höherwertigen Klänge überleben. Der memetische Antrieb bevorzugt anschließend diejenigen Gehirne und Stimmen, die diese Meme am besten kopieren. Darum sind unsere Gehirne und Körper auf das Hervorbringen von Sprache adaptiert. Dieser Theorie zufolge ist die Funktion der Sprachfähigkeit nicht primär biologischer, sondern memetischer Natur. Die Kopiermaschinerie evolvierte Seite an Seite mit den Memen, die sie kopiert. Dasselbe Argument erklärt, warum unsere Gehirne besonders auf die Aufnahme bestimmter Meme adaptiert sind. Zum Beispiel finden die meisten Menschen Mathematik und Lesen schwierig, während ihnen die Teilnahme an religiösen Ritualen, das Geschichtenerzählen und das Liedersingen leichtfallen. Dieses Argument weist eine Parallele zu einem wichtigen Argument aus der evolutionären Psychologie auf. Es ist immer offensichtlicher geworden, daß das Gehirn keine Allzweck-Lernvorrichtung ist, sondern darauf adaptiert ist, auf der Grundlage genetischer Vorteile in vergangene Umwelten bestimmte Dinge leichter zu erlernen als andere (Pinker 1997, Tooby und Cosmides 1992). Das Äquivalent auf der Seite der Meme ist, daß das Gehirn keine AllzweckImitationsmaschine ist sondern eine Apparatur, die von der memetischen und genetischer Evolution dazu verfeinert wurde, bestimmte Meme besser als andere zu kopieren. Lieder, Geschichten und Rituale sind schon seit langer Zeit ein Bestandteil der Koevolution von Genen und Memen während Mathematik und Lesen relativ neue Erscheinungen sind die sich einer Maschinerie bedienen, welche nicht für sie entworfen wurde. Diese neuen Erscheinungen haben nun weitere Möglichkeiten zur Verbesserung der Meme mit sich gebracht, und damit auch weitere Stufen der Gestaltung des Replikationsapparats - doch diesmal außerhalb des Gehirns. Schreiben hat die Langlebigkeit der sprachlichen Meme gesteigert und zugleich die Durchsetzung von Schiefertafeln, Füllern, Bleistiften, und Bibliotheken sichergestellt. Der Buchdruck hat die Fruchtbarkeit der Meme gesteigert,

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und die Verbreitung der gedruckten Bücher hat das Überleben von Druckerpressen, Fabriken und Buchhandlungen sichergestellt. Verkehrsverbindungen per Straße, Schiene, Schiff und Flugzeug dienten der schnelleren Verbreitung von immer mehr Memen, und diese wiederum förderten die Schaffung immer besserer Transportmittel. Wir können erkennen, wie schnell dieser Prozeß gegenwärtig abläuft, zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Kommunikations- und Verkehrstechnologien verbessern. Das Mobiltelefon ist ein gutes Beispiel. Vor zehn Jahren hätte nur eine Handvoll Leute seine phänomenale Ausbreitung vorhergesagt. Vom Privileg einiger reicher Geschäftsleute wurde es zum treuen Begleiter der meisten Teenager. Warum? Ein biologischer Vorteil wird kaum eine Rolle spielen, und der Nutzen für das Individuum ist fragwürdig, da Mobiltelefone die Privatsphäre beschneiden und zugleich Streß und Lärmemissionen steigern. Aus der Perspektive des Mems ergibt es jedoch einen perfekten Sinn. Über ein Mobiltelefon können die Menschen mehr Meme übermitteln als über ein stationäres Telefon. Indem sich diese Meme verbreiten, tragen sie zugleich die Idee des Gebrauchs des Mobiltelefons weiter, welches so Seite an Seite mit den Memen gedeiht, die es übermittelt. Dies legt die überprüfbare Voraussage nahe, daß der Erfolg oder das Scheitern neuer Technologien eng mit ihrer Effizienz als Memverbreitungsvorrichtungen zusammenhängt.“ 51 Da es bei der Betrachtung von Memen um Elemente der Kommunikation geht, kann ich hier absehen von dem in der Evolutionspsychologie ausgetragenen Streit darüber, wo die Grenze zwischen genetisch verankerten und ontogenetisch erworbenen Elementen der Kognition verläuft. Vgl. nur Cosmides/Tooby einerseits, Tomasello andererseits. 52 Dieser eher affirmative Teil der Beschreibung der basalen Replikationseinheiten ist im Folgenden zu relativieren mit Bezug auf die kulturelle Bedeutung der Reflexion und Erweiterung dieses Erbes ... 53 Zur Bedeutung der frühen Kindheit als besonders sensibler Lebensphase gibt es eine breite Literatur (s. u.a. Bowlby) in der allerdings häufig die Einbettung in die natürliche Evolution vernachlässigt wird. Hierzu zusammenfassend Cavalli-Sforza 1999, 187: „Bei Säugetieren und Vögeln ist die Belehrung durch die Eltern, insbesondere die Mutter, für den Großteil der Arten von entscheidender Bedeutung. Es gibt auch sehr indirekte und völlig automatische Formen des Lernens, etwa die Prägung bei den Vögeln, wo das Junge, ausgehend von dem Individuum oder Gegenstand, das oder den es in den ersten vierundzwanzig Stunden nach dem Schlüpfen erblickt, lernt, die Mutter und auch die Art, der es angehört, zu erkennen. Je nach Vogelart ist dieser Prozeß unterschiedlich komplex. Das ist eine biologische Anpassung, für die es möglicherweise auch beim Menschen - sehr wenig untersuchte und sicher weniger deutliche, aber dennoch wichtige - Äquivalente gibt. Man könnte dieses Phänomen als sensible (oder kritische) Periode bezeichnen; wir werden im folgenden auch einige Beispiele für seine Existenz beim Menschen beschreiben.“ Die prägende Bedeutung solcher sensiblen Phasen in der ontogenetischen Entwicklung kann nun auch den Strukturkonservatismus der vertikalen Übermittlungsform in Familien erklären. In diesem Sinne Cavalli-Sforza 1999, 199f.: Ich glaube nicht, daß man die Gründe für politische Präferenzen in den Genen suchen sollte; die soziologische Erklärung für den Zusammenhang zwischen familiärem Mikrokosmos und gesellschaftlichem Makrokosmos scheint mir einleuchtend zu sein, und das Beibehalten der Familienform stimmt ausgezeichnet mit unserer Theorie von der kulturellen Übermittlung überein. Alte ethnische Unterschiede können ganz leicht zweitausend Jahre und noch länger erhalten bleiben, weil es ihnen die außerordentliche kulturelle Stabilität der Familienstruktur ermöglicht, die dadurch zustande kommt, daß diese Struktur innerhalb der Familiengruppe zwangsläufig durch vertikale Übermittlung vererbt wird. Diese wird verstärkt durch den sozialen Druck innerhalb der Familie, der den Charakter einer Übermittlung »von vielen zu einem« hat und auf die


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neuen Familienmitglieder einwirkt, wenn sie empfänglicher, nämlich jünger sind. Hier kooperieren also alle, um die Familienstruktur intakt zu erhalten. Bemerkenswerterweise ist diese Hypothese durch eine unabhängige Arbeit bestätigt worden. Bei einer Analyse der kulturellen Merkmale, die der ethnographische Atlas von Murdock (1967) angibt - diese Analyse beschränkte sich zunächst auf Afrika -, stellten wir fest, daß die beständigsten kulturellen Merkmale die der Familie sind. Die Erhaltung dieser Merkmale wurde erwiesen aufgrund der Korrelation mit der Linguistik, die ganz allgemein die größte Entsprechung zur Genetik aufweist. Die genetischen Daten waren nicht vollständig und detailliert genug, um eine Analyse ihres Zusammenhangs mit den kulturellen Daten über die Familienstruktur zu ermöglichen; die linguistischen indes erwiesen sich bei der Rekonstruktion der Geschichte der afrikanischen Gesellschaften als ausgezeichneter Ersatz. Diese Untersuchung hat gezeigt, daß sehr wenige kulturelle Merkmale außer den familiären so gut erhalten bleiben: nur Form und Aufbau der Hütte und außerdem einige sozioökonomische Merkmale, die vom Grad der gesellschaftlichen Entwicklung abhängen und sich nicht schnell ändern können, sondern sich zwangsläufig langsam entwickeln.“ Zur Beschreibung der sensiblen Phasen Cavall-Sforza 1999, 210f: „Zumeist sind die kulturell bedingten Merkmale leichter modifizierbar als die genetisch bedingten. ... Dennoch gibt es kulturelle Lerninhalte, die stabiler sind als andere, und diese Stabilität kann durch biologische Faktoren begünstigt werden, die die Individuen in einem bestimmten Alter aufnahmefähiger für die Übernahme eines bestimmten Verhaltens oder anderer kultureller Änderungen machen. Man kann hier von Empfänglichkeitsperioden sprechen. Einige Beispiele: Die vielleicht ausgeprägteste - wenngleich noch wenig untersuchte - dieser Perioden betrifft die Fähigkeit, eine fremde Sprache und vor allem die Aussprache der Laute zu erlernen, die in den verschiedenen Sprachen bekanntlich sehr unterschiedlich sind. Bei den meisten Menschen fällt die Periode, in der sie fähig sind, diese Laute zu erlernen, in den Altersbereich von zwei bis zwölf Jahren; mit dem Beginn der Pubertät verschwindet diese Fähigkeit zumeist, und es gibt sehr wenige Menschen, die sie auch nach dieser Zeit noch behalten. Für die Unterrichtsministerien ist dies eine sehr wichtige Information, denn an den meisten Schulen beginnt der Fremdsprachenunterricht erst in einem Alter, wo es zu spät ist, um Fremdsprachen gut zu erlernen. Die Jahre vor der Pubertät sind auch die Empfänglichkeitsperioden für ein noch wichtigeres Phänomen: die Entstehung des Inzest-Tabus. Der Anthropologe E. A. Westermarck hat die These aufgestellt, daß das gemeinsame Leben von Brüdern und Schwestern vor der Pubertät das sexuelle Interesse der Geschwister füreinander vermindern und der Grund dafür sein könnte, daß beim Menschen und bei den übrigen untersuchten Säugetieren der Inzest ziemlich selten ist. Zwar wurde in einigen Dynastien des Altertums (Ägypten, Persien) die Eheschließung zwischen Geschwistern gefördert; aber dieser Brauch hielt sich nicht lang. In manchen Gemeinschaften des Mittleren Ostens und Indiens sind Ehen zwischen engen Verwandten (Onkel-Nichte, Vetter-Base) noch recht häufig; doch das ist etwas anderes.“ 54 Zur Platzierung psychischer Systeme (ohne eigenständige Formen der Evolution) zwischen lebenden Organismen und ihren Sozialsystemen Stichweh (2007: 530): „On the more formal level of neodarwinistic theorizing one has to take into account biological evolution and sociocultural evolution. That is, there are three levels for structural couplings but only two levels with evolutionary processes of their own. The reason is that there is no autonomous level of the evolution of psychic systems as this would presuppose a replicator in psychic systems which is able to produce copies of itself in other psychic systems and this simply is not possible, as there exists no copying from one psychic system to another psychic system.” …

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Zu der Frage nach Replikationseinheiten der kulturellen Evolution Stichweh weiter: „If communication and symbolic language are both available in a communica¬tion system they can function as catalysts of the separation of two types of evolutionary processes which are analogous but operate completely [?!] separate: Biological and sociocultural evolution. Today the models which describe this type of evolutionary separation are normally called dual inheritance theories (Boyd/Richerson 1985; Cavalli-Sforza/Feldman 1981; Richerson/Boyd 2005; Durham 1991). This name points to two separate ways for the transmission of information: information is transmitted via genes or via symbolically mediated communication. From this kind of thinking arose theories of sociocultural evo¬lution among which we can count the theory presented by Niklas Luhmann. But for such a theory one needs an elementary unit which is the elementary unit of variation and of which copies can be made. Richard Dawkins has well described such a unit: »The real unit of natural selection [is] any kind of replicator, any unit of which copies are made, with occasional errors, and with some influence or power over their own probability of replication« (Dawkins 1999, XVT; cf. on sociocultural replicators Bühler 2007). It is not yet very clear which is the most plausible and fruitful candidate for being a replicator in sociocultural evolution. But there are several candidates which have been nominated explic¬itly or implicitly: Symbols (Parsons 1971, 280-1); Memes (Dawkins 1999); Expectations (Luhmann 1984, Ch. 8); Routines (Nelson/Winter 1982); Rules (Bucha¬nan 1990; Vanberg 1994). A more general theory will probably relate these candidates among one another. Besides these replicators a theory of sociocultural evolution needs interactors, more complex units which typically integrate a plurality of replicators and which function as the units of selection.“ Damit hat nun aber eine Theorie Probleme, die die lebendigen Individuen nicht als „interactors“ also prozessierende Einheiten der Kommunikation sondern als Elemente der Umwelt auffasst. 55 Mit der Formulierung vom doppelten Engpass spiele ich auf eine Analogie zur Weitergabe der Gene an, deren „Überleben“ ja auch davon abhängt, dass sie den Engpass der menschlichen Keimbahn und damit auch der ontogenetischen Entwicklung von Individuen bis zu deren geschlechtlicher Fortpflanzung passieren müssen. 56 Dazu noch einmal M. Blute 2005: “Everything which evolves under ecological control also develops under ecological influence and that includes the sociocultural. Artifacts and social identities for example not only evolve but also have a life course. “ 57 In dieser Hinsicht hier evtl. noch einmal abgrenzende Bemerkung zum Replikator-Konzept von Dawkins und Blackmore. Auch Gene replizieren sich ja nicht von selbst, sondern benötigen dazu lebendige Individuen, die ontogenetisch herangereift und in der Konkurrenz um Fortpflanzungschancen erfolgreich sein müssen. Die Gene sind (als Bestandteile individueller Organismen) in der Lage, sich selbst zu replizieren, sie sind jedoch nicht in der Lage, selbständig mit der Umwelt der Individuen zu interagieren. Sie sind daher eher passive Medien der Umweltselektion (s. das Buchhalter-Argument von Gould 2002). Dementsprechend sind auch die kulturellen Replikationseinheiten eher als passive Medien der Umweltselektion zu betrachten. Sie sind allerdings nicht Bestandteile individueller Organismen, sondern ihrer sozialen Organisation. Sie bewahren die Erinnerung an bewährte Orientierungen, sie vermehren sich auch nicht von selbst. Zwar kann man sagen, dass die Individuen kaum eine Alternative haben, als – ggf. abweichend - nachzuahmen. Insofern ist die metaphorische Beschreibung der Individuen als Vehikel ihrer Meme verständlich. Sie darf jedoch nicht dazu führen, Meme selbst als Akteure, als sich selbst steuernde Einheiten zu betrachten. Auch Konkurrenz und Konflikt im Bezug auf Replikationseinheiten setzt immer noch lebendige Individuen oder kollektive Akteure (zB. Staaten) voraus, die dies ausfechten. 58 An dieser Stelle evtl. eine Passage aus der Evolutionsbiologie über Erstbesiedler von Territorien zitieren. – Außerdem wäre hier


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auch noch einmal die (mit dem Ansteckungsmodell der Transmission verbundene) Metaphorik von Viren, Parasiten und Symbionten aufzugreifen. 59 Vor- oder übergeordnet insofern, als die Frage nach dem Transmissionsmodus auch von Autoren wie Richerson/Boyd aufgeworfen wird, die es nicht für nötig halten, kulturelle Replikatoren zu bestimmen. 60 Zur Kritik an dem metaphorischen Gebrauch des Mem-Begriffs als „Viren des Geistes“ Schurz (2011: 208ff): „Eine von vielen Autoren vorgetragene Kritik gilt nicht der kulturellen Evolutionstheorie im Allgemeinen, sondern der Konzeption von Memetik als eigenständigem Wissenschaftszweig. Dieser Kritik schließe ich mich an. Denn die Rede von einer „Memetik" hört sich tatsächlich so an, als ob diese Wissenschaft von Memen als einer bisher unbekannten Art von quasigeisterhaften Wesen handelt, die sich gemäß eigenen Gesetzen in den Köpfen der Menschen festsetzen und weitervererbt werden. Etliche Passagen von Blackmore (1999), aber eben auch leichtfertige Metaphern von Dawkins und Dennett suggerieren dieses Bild von Memen als Viren des Geistes. Dawkins (1987, 316-318) verglich das Mem Gott mit einem mentalen Parasiten, der sich Menschen ins Gehirn setzt. Und Dennett (1997, 473 f) beschreibt Meme als Viren des Geistes, die in Schimpansen eingedrungen seien, so als hätten sie schon vorher geisterhaft bzw. „platonisch" existiert. Auch wenn später klar wird, dass Dennett nicht wirklich an einen platonischen Ideenhimmel glaubt, der unabhängig von der physikalischen Welt existiert, so spielt er dennoch suggestiv mit dieser Vorstellung. Zum Beispiel führt er an, dass sich viele Gedanken geradezu aufdrängen, und zitiert an dieser Stelle (1997, 481 f) Mozart. Doch dieses Sichaufdrängen kann auch ohne ein platonisches Geisterreich durch die Existenz unbewusster kognitiver Vorgänge erklärt werden, die in gewissen Momenten Informationen ins Bewusstsein senden ... Insbesondere Blackmore spielt mit der Vorstellung von Memen als Viren des Geistes, und obwohl sie deren spiritualistische Existenz nirgendwo behauptet, grenzt sie sich auch nicht klar von dieser Vorstellung ab und verstärkt damit das mögliche Vorurteil, das aus ihrer früheren Beschäftigung mit parapsychologischen Phänomenen resultieren könnte. In der Tat, gäbe es wirklich kollektive spirituelle Gedankenübertragungsphänomene (was Esoteriker wie z. B. Sheldrake 2008 behauptet haben), sodass jemanden Nazigedanken befallen, wenn er in eine Gruppe von Nazis geht, oder jemandes phy¬sikalische Fähigkeiten ansteigen, wenn er in einem Physikerviertel wohnt, dann wäre Memetik als eigenständige Wissenschaft berechtigt. Aber Meme übertragen sich eben nicht von selbst von Gehirn zu Gehirn, im Sinne eines Nürnberger Trichters, sondern nur über den mühsamen Umweg des Lernens, das auf Wahrnehmung und mündlicher oder schriftlicher Kommunikation basiert. Meme sind also keine speziellen, ontologisch irreduziblen Entitäten. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um erlernbare Informationen, die verschiedenste Formen annehmen bzw., wie der Informationstheoretiker sagt, in verschiedenster Weise codiert sein können. Trotz seiner verfänglichen Virenmetaphern räumt auch Dennett an späterer Stelle ein (1997, 490 ff), dass Meme keine syntaktischen, sondern semantische Entitäten sind, die syntaktisch verschieden repräsentiert werden können, sei es durch Bilder, Laute, Schriftsprache oder neuronale Strukturen (Aunger 2000, 3).“ 61 Mit der Bezeichnung der vertikalen Weitergabe als lamarckistisch ist natürlich nicht die in der Evolutionsbiologie widerlegte Theorie der genetischen Reproduktion lebensgeschichtlich erworbene Eigenschaften gemeint, sondern die kulturelle Sonderform ihrer Weitergabe als memetische Einheiten. 62 S. dazu auch die unten zit. Passagen von Gatherer. Evtl. aber die Gegenüberstellung zu Artefakten hier noch ganz weglassen und in 1.3 im Zusammenhang mit technisch erweiterten Kommunikationsmitteln aufnehmen. 63 Auch bei Cloak 1975 findet sich bereits die Verwendung der Virus-Metaphorik mit Bezug auf die Koevolution zwischen den

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memetischen Instruktionen der „i-culture“ und ihren manifesten Ausformungen in der „m-culture“: „Just as the survival value of an m-culture feature is the same as its function, so the survival value of a cultural instruction is the same as its function; it is its value for the survival/replication of itself or its replica(s), irrespective of its value for the survival/reproduction of the organism which carries it or the organism's conspecifics. In a human carrier, then, a cultural instruction is more analogous to a viral or bacterial gene than to a gene of the carrier's own genome. It is like an active parasite that controls some behavior of its host. It may be in complete mutual symbiosis with the human host, in which case the behavior it produces has survival value for itself through the value it has for the survival/ reproduction of the host. On the other hand, it may be like the gene of a flu or "cold" virus; when the virus makes the host behave, e.g., sneeze, that behavior results in extraorganismic selfreplication of the virus gene but not in survival or reproduction of the host or his conspecific. From the organism's point of view, the best that can always be said for cultural instructions, as for parasites of any sort, is that they can't destroy their hosts more quickly than they can propagate. In short, "our" cultural instructions don't work for us organisms; we work for them. At best, we are in symbiosis with them, as we are with our genes. At worst, we are their slaves (Henry, 1963; Sapir, 1924).” Cloaks provokative These, dass die im Bewußtsein verankerten Einheiten nicht dem Überleben des Individuums dienen, sondern sich wie Parasiten gegenüber dem Wirt verhalten, wäre m.E. zu relativieren im Rahmen von Mehrebenenselektionstheorie (s. dazu Teil 2). 64 Darstellung angelehnt an die grafische Darstellung der Hauptmechanismen kultureller Übermittlung bei Cavalli-Sforza 1996, 201:

65 Marion Blute (2005) weist ausdrücklich auf den Unterschied zwischen vertikaler und horizontaler Transmission (gene-like vs. virus-like-view) hin, allerdings ohne Präferenz für die Definition der kulturellen Replikationseinheiten: „In one sense, only the term “meme” was new with Dawkins. For some time some social scientists studying a wide variety of phenomena including languages, science and technology, and economic organizations and institutions for example as well as theory in general had been applying a Darwinian-style evolutionary theo-


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ry of “descent with modification” involving cultural transmission, variation and selection to their respective subject matters. Among memeticists, some difference of opinion exists over whether memes should be thought of as gene-like or virus-like but both points of view have made useful contributions to evolutionary social science. The gene-like view. Social scientists tend to wonder whether they need a common term like meme across their various subject matters. It may or may not turn out to be useful in the long run but if nothing else, the gene-like concept of a meme has reminded us that cumulative evolution of complex entities requires digitallyencoded information. Social learning by ‘observation’ in a variety of sensory modalities can support a primitive form of cultural evolution as it does among chimpanzees (Whiten et. al. 1999) and Cetaceans (Rendell & Whitehead 2001) for example. However, only social learning by ‘instruction’, employing information encoded digitally in a string of symbols, among humans normally strings of phonemes or letters in sentences in a natural language, can a) support the inheritance of a large number of possible states (Maynard Smith and Szathmary’s “unlimited inheritance” 1995) and b) avoid the cumulative degradation characteristic of analogue systems (Dawkins 1995) and hence is required to support the cumulative evolution of complex sociocultural entities. The virus-like view. The virus-like view of memes has usefully reminded us that much, even most cultural transmission in modern societies takes place horizontally rather than vertically relative to genes. Social scientists have always been aware of this but have not paid sufficient attention to the implication that culture therefore evolves in a fashion that may be indifferent to its ‘host’s’ biological fitness. Many memeticists emphasize that our culture, in fact, commonly parasitizes our biology. The “memplexes” that characterize membership in sects or cults, to cite an extreme example, often ruthlessly exploit the biology of their members, convincing them with mythical appeals to “family” to isolate themselves from their real families and dedicate their all to the survival and spread of the social identity of cult membership. This virus-like view suggests the application of basic principles of the epidemiology of infectious diseases (e.g. Ewald 2000) to culture to predict the conditions under which it will evolve to be benign or virulent relative to genes. According to those principles culture (like infectious diseases) with vertical transmission, a low multiplicity of infection, and infection by means of direct contact will tend to evolve to be more benign. By contrast, culture which is transmitted horizontally, with a high multiplicity of infection, and infection by means of vectors will tend to be more virulent. Assuming you care more about your biology than your culture (which is not necessarily the case - ‘you’ after all are a combination of both), practical lessons, particularly for teenagers, emerge from memetics. Listen more to mommy and daddy and less to your friends! Beware more of fads and fashions which can infect you multiply than of whole social identities like ethnic, religious and occupational identities. One of these latter normally precludes another and hence may be willing to leave something of your biology for itself to live on tomorrow! And finally, trust information conveyed personally rather than via mass media which, like insect-borne diseases, can get to you even when you are down and unable to circulate!” Eine grundlegende Kritik des Virus-like-view formuliert Gatherer 1998: Why the `Thought Contagion' Metaphor is Retarding the Progress of Memetics: “This paper provides two objections to the `thought contagion'/`mind virus' theory: a) that the concept of a transmitted belief, as opposed to transmitted information, is highly problematic, and b) that in any case the concept of a meme-host duality is equally suspect. It is suggested that the least philosophically problematic constitution for a science of memetics would be to adopt a behaviourist stance towards memes, to restrict the use of the term to those replicating cultural phenomena which can be directly observed or measured …. This would release us from the difficulties of the indefinable meme-host rela-

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tionship, and also have the merit of making memetics more directly comparable to animal behavioural ecology, to the existing branch of social psychology known as social contagion theory, and to the sociological field of empirical diffusion studies.” Gatherer verweist darauf, dass Dawkins selbst sein Memkonzept geändert hat, hält diese Änderung aber eher für unbrauchbar: “This article is designed to complement the on-going debate concerning the definition of the term `meme', by investigating some of the limitations consequent on certain usages of the word. Broadly, my intention is to show that what is probably the most popular, even one might say the `orthodox', definition of the meme as a `unit of information residing in a brain' (which I shall term Dawkins B, see Dawkins 1982), presents us with serious philosophical difficulties that may hamper (and indeed are already hampering) the development of memetics as a science. I shall argue that an earlier and broader picture of the meme as a `unit of cultural transmission, or a unit of imitation' (which I shall call Dawkins A, see Dawkins 1976), is in many respects a better working definition, despite the fact that it is now generally regarded as obsolete. The conclusion of this argument is that the best current definition is that of Benzon (1996) although, as with any definition, there is scope for refinement.” Im Weiteren unterscheidet Gatherer dann zwischen der “social contagion school of social psychology” und dem “thought contagion wing of the memetics movement”. Er schließt also die horizontale Transmission mit virusartiger Ansteckungsweise in sozialer Hinsicht nicht aus, sondern nur die Transmission gedanklicher Entitäten. Mit etwas anderer Terminologie reformuliert auch Wilkins 1999 diese Unterscheidung: „The different approaches I call the "genes" and the "germs" view of memes are based respectively on Dawkins B and Dawkins A. The genes view seeks to understand memes as analogous to the information units of selection and the causes of (in this case, sociocultural) evolution. Memes are units of cultural heredity, just as genes are units of biological heredity on this approach. The germs view seeks to explain the epidemiological spread of memes, like viruses through a population. It does not explicitly concern itself with selection or evolution.” An dieser Stelle evtl darauf hinweisen, dass auch Luhmann in seiner Theorie der kulturellen Evolution am „germs-“ oder “virus-view” angesetzt hat (s. mit Bezug auf Serres Formulierung „Die Evolution bringt den Parasiten hervor, der wiederum die Evolution hervorbringt.“ Luhmann 1997, 661) Für ein in evolutionstheoretischer Hinsicht auf die vertikale Dimension beschränktes Modell der kulturellen Transmission s. CavalliSforza and Feldman, 1981. Zusammenfassend Gatherer: „Where social contagion theory enters the evolutionary camp, in the work of Cavalli-Sforza and Feldman (1981), the point is made that innovations tend to spread horizontally whereas long-standing elements of culture tend to be transmitted vertically from elder members of families (and are thus analysed using a population memetics approach). Innovation, especially technological innovation, can be an important fact producing major changes in society (eg. the introduction of motor cars, antibiotics, computers etc.), but once established as part of a culture, the horizontal, social contagion model of transmission is frequently superseded by the vertical, population memetics model.” Dazu ausführlicher noch einmal Cavalli-Sforza, 1999, 193ff (s. auch die Grafik in der Endnote unten): „Bei der vertikalen Übermittlung unterscheiden wir verschiedene Formen und bei der horizontalen drei Übermittlungsmechanismen: ein Übermittler und ein Empfänger, ein Übermittler und mehrere Empfänger, mehrere Übermittler und ein Empfänger. 1) Die vertikale Übermittlung verläuft von einem Individuum, das einer Generation angehört, zu einem anderen aus der darauffolgenden Generation, beispielsweise zwischen Eltern und Kindern. Die an der Übermittlung Beteiligten müssen nicht biologisch miteinander verwandt sein. Bei der biologischen (oder Adoptiv-) Elternschaft kann sich der elterliche Einfluß über eine sehr große


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Skala kultureller Merkmale erstrecken. Diese Übermittlungsart hat evolutive Auswirkungen, die denen der biologischen Übermittlung sehr ähnlich sind, insbesondere, wenn nur ein Eltern teil als Übermittler fungiert: Sie folgt praktisch den gleichen Regeln wie die biologische Übermittlung. Wird das Kind jedoch von beiden Eltern beeinflußt, so tendiert das Resultat zu einem Durchschnittsgleichgewicht, und bei quantitativen Merkmalen nimmt die Variation zwischen Individuen ab und tendiert zum Verschwinden. Ein Sonderfall ist die blending inheritance (Mischvererbung), bei der jedes Kind den Mittelwert aus den Werten beider Eltern erbt. Fisher hatte schon gezeigt, daß dabei eine erbliche individuelle Variation nicht erhalten werden kann.65 Indes kann die soziale Schichtung in Klassen auch dann eine individuelle Variabilität erhalten, wenn es keine genetische Basis für die Variation gibt. Es ist bemerkenswert, daß die vertikale Übermittlung ebenso konservativ sein kann wie die Vererbung mittels der Chromosomen. Variation entsteht hier nur durch Mutation (oder durch Immigration von Individuen aus einer Gesellschaft, die sich in dem betreffenden Merkmal von der betrachteten unterscheidet). Die Übermittlung von den Großeltern auf den Enkel ist doppelt so konservativ wie die von den Eltern auf die Kinder, und die Übermittlung über mehrere Generationen (man denke an den Einfluß der großen griechischen Philosophen wie Plato und Aristoteles über Jahrhunderte hinweg bis zur Renaissance, den der großen Philosophen der katholischen Kirche, wie Augustinus und Thomas von Aquin, und an die mündliche Übermittlung der Texte mancher Religionen vor der Einführung der Schrift) kann große und wichtige kulturelle Bereiche konservieren. Die meisten Religionen behalten ihre Riten und Dogmen weitgehend unverändert bei. 2) Die horizontale Übermittlung, die mehr der Übertragung einer Infektionskrankheit ähnelt, ist die zwischen zwei Individuen, die der gleichen oder verschiedenen Generationen angehören können, aber nicht wie bei der vertikalen Übermittlung in einer präzisen und dauerhaften Beziehung zueinander stehen. Bei einer Epidemie kann der Kontakt, der die Krankheit von einem Erkrankten auf einen Gesunden überträgt, sehr kurz sein, gerade lang genug, um das krank machende Agens vom einen auf den anderen übergehen zu lassen; bei den kulturellen Inhalten muß die Kommunikation gewöhnlich enger und länger sein. Für die Fälle, wo der Übermittler einer Generation angehört, die vor der des Empfängers liegt, haben wir den Begriff schräge Übermittlung eingeführt. Diese Ergänzung ist notwendig, weil durch sie auch die Informationsübermittlung von einer Generation zu einer anderen mit einbezogen wird. Eine vollständige Analyse der Altersstruktur der Population und der Übermittlungswahrscheinlichkeit je nach dem Alter von Übermittlern und Empfängern ist zwar möglich, läßt sich aber wegen mathematischer Komplikationen schwer generalisieren. Bei einer eingehenden Untersuchung der theoretischen Probleme stellt sich heraus, daß sie denen bei Epidemien von Infektionskrankheiten sehr ähneln. Das dabei verwendete theoretische Instrumentarium kann man fast unverändert auf die kulturelle Übermittlung anwenden, auch wenn die praktischen Ziele in beiden Fällen nicht unbedingt die gleichen sind. Ganz allgemein kann man sagen, daß eine erfolgreiche kulturelle Mutation eine kulturelle Epidemie auslöst. Die Erfolgswahrscheinlichkeit hängt von einer Reihe von Faktoren ab; einer davon ist die Attraktivität der Neuerung. Das ist vergleichbar mit den Verhältnissen bei einer Infektionskrankheit, wo die Fähigkeit des Virus oder Parasiten, sich im Wirtsorganismus festzusetzen und fortzupflanzen, einen bestimmten Schwellenwert der Infektiosität übersteigen muß, ehe die Epidemie beginnen und sich ausbreiten kann. 3) In der Zeit, die auf die Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht folgte, sind die sozialen Strukturen komplexer geworden und haben sich immer mehr von der Überschaubarkeit der Jägerund Sammlergesellschaften entfernt, die - nach den ethnographischen Daten zu urteilen - egalitär waren. Mit der Vergrößerung der sozialen Gruppen wuchs zwangsläufig auch die Autorität der Stammeshäuptlinge, entweder aus Effizienzgründen oder weil es

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schwieriger wurde, ihr zu widerstehen. Später gliederte sich die Gesellschaft in soziale Klassen, mit einer oft sehr präzisen Hierarchie. Unter solchen Bedingungen ermöglicht der Mechanismus der Übermittlung von einem Übermittler zu vielen Empfängern, mit der Institution mehrerer hierarchischer Ebenen, das Funktionieren einer komplexen Gesellschaft. Wichtig wurde diese Übermittlungsform auch, als das Lernen institutionalisiert wurde und ein Lehrer mehrere Schüler hatte. Die Übermittlung »von einem zu vielen« findet also statt sowohl im Fall des Häuptlings gegenüber den ihm Untergeordneten wie im Fall des Schullehrers gegenüber seinen Schülern und auch im Verhältnis eines angesehenen oder beliebten Menschen gegenüber denen, deren Gunst er genießt. Vor allem mit den modernsten Kommunikationsmitteln wächst die Übermittlungsgeschwindigkeit bis zu einem sehr hohen theoretischen Grenzwert. Informationen über wichtige Ereignisse können - fast -simultan an Milliarden von Menschen übermittelt werden. Die kulturelle Übermittlung wird leichter, schneller und effektiver, wenn ein autoritärer und mächtiger Führer dafür sorgt, daß eine Neuheit akzeptiert wird. Viele soziale Veränderungen haben sich möglicherweise auf diese Weise durchgesetzt. Religiöse Führer können mit ihrer Autorität neue Dogmen einführen, die bei Strafe des Ausschlusses aus der Gemeinschaft angenommen werden müssen. 4) Das umgekehrte Verfahren, die Übermittlung von vielen zu einem einzigen Empfänger ist ein weiteres wichtiges Paradigma der kulturellen Übertragung. Es kommt in einer sozialen Gruppe oft vor, daß viele ihrer Mitglieder - potentiell alle - psychologischen Druck auf ein neues Mitglied (Adept, Einzuweihender oder lediglich jünger) ausüben. Hier handelt es sich um ein konzertiertes Lehren. Es wiederholt sich bei neuen Adepten. Jeder von ihnen ist dann Mittelpunkt vieler Pressionen, die alle in die gleiche Richtung zielen und darum viel wirksamer sind, als wenn nur ein einziger übermitteln würde. Dieser Gruppendruck kann in kleinen Gruppen, wie einer Kernfamilie, wirken, aber auch in größeren. Erforderlich ist dabei, daß die Übermittlung kohärent und konzertiert ist, daß also alle Übermittler die gleiche Botschaft an alle Gruppenmitglieder übermitteln. Daraus resultiert ein außerordentlicher kultureller Konservatismus; im Gegensatz zur vertikalen Übermittlung durch nur einen Elternteil besteht bei dieser Übermittlungsform eine Tendenz, die individuelle Variation der einzelnen Gruppenmitglieder einzuschränken und die Gruppe homogener werden zu lassen, ein Bestreben, Veränderungen auszuschließen. Es handelt sich hier wohl um die konservativste Übermittlungsform. Die wichtigste soziale Gruppe ist die Familie. Sie übt einen enormen Druck vor allem auf ihre jüngeren Mitglieder aus, die der Übermittlung durch die Eltern und alle übrigen Familienmitglieder ausgesetzt sind. Begünstigt wird die Übermittlung hier dadurch, daß die Empfänger zunächst sehr jung sind, in einem Alter, das noch nicht kritikfähig ist und kaum die Kraft zum Widerstand hat. Deshalb kann die Beeinflussung durch die Familie sehr stark sein. Dennoch gibt es bekanntlich auch Kinder, denen es gelingt, Widerstand zu leisten. Das Aufbegehren erwacht in solchen Fällen gewöhnlich erst später und führt zu der Neigung, Entscheidungen zu treffen, die denen, die sich anderenfalls entwickelt hätten, gerade entgegengesetzt sind. Doch wenn diese Übermittlungsform wirklich kohärent ist in dem Sinn, daß sämtliche Mitglieder der Gruppe, die als Erzieher fungieren, auf alle zu erziehenden Mitglieder den gleichen Einfluß ausüben, dann ist sie die mächtigste. Nicht zufällig hat die Mafia ihren Ursprung und ihre Kraft in der Familie.“ [Die Mafia hat aber ebensoviel von der primordialen Form der Familie wie von der sekundären Form des Staats als Superagenten!] 66 Zu kognitiven Filtern s. die Ausführungen bei Schurz (2011: 257ff) über Prägung und konditioniertes Lernen. 67 Zur Ähnlichkeit der kulturellen Replikationseinheiten mit Genen unter dem Aspekt ihrer Variation Cavalli-Sforza 1999, 189: „Die Kultur ähnelt dem genetischen Erbe darin, daß in beiden Fällen


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eine Informationsübermittlung von einer Generation zur nächsten stattfindet. Das Genom wird übermittelt durch die Verdopplung der DNS; die kulturelle Information geht von den Nervenzellen im Gehirn eines Individuums über zu denen eines anderen. Dies geschieht bei der Übermittlung der Kultur entweder auf dem traditionellen Weg (durch Beobachtung und Gespräch) oder durch Bücher, Magnetbänder und andere Verfahren der modernen Technik. Die kulturelle Entwicklung ist die Folge der Anhäufung neuer Informationen. Diese »neue Information« kann auch, wie bei der biologischen Mutation, ein bloßer Übermittlungsfehler zwischen Übermittler und Empfänger sein - also eine Differenz zwischen dem Original-»Text« und seiner Kopie. Wie bei der biologischen Mutation kann eine kulturelle Veränderung nützlich, neutral oder schädlich sein. Die biologische Mutation ist, soweit wir heute wissen, ein spontanes und zufälliges Ereignis. Auch das Äquivalent der Mutation in der Kultur kann ein - zuweilen sehr kleines - Zufallsereignis sein, so wie es oft bei einer biologischen Mutation der Fall ist. Doch besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen biologischer Mutation und dem, was man als kulturelle Mutation bezeichnen könnte: Die kulturellen »Mutationen« sind meistens gewollte und zielgerichtete Innovationen, während die biologische Mutation nicht auf eine Verbesserung des Ergebnisses abzielt, sondern allein vom Zufall bestimmt wird. Auf dem Niveau der Mutation kann die kulturelle Evolution also absichtsvoll sein, die biologische hingegen ist es nicht.“ Der springende Punkt für die Beschreibung kultureller Zufallsvariation ist aber nicht, ob ihr Absichten zugrundeliegen, sondern ob auch die Effekte den Absichten folgen – also positiv selegiert wird. Das kann man wohl bei den meisten Anstrengungen zum Ausbau der soziokulturellen Nische mit technischen Mitteln bestreiten. 68 Die Bezeichnung als „Entwicklungstatsachen“ ist von S. Bernfeld (1921) in einer kritischen Wendung gegen einen soziologisch-milieutheoretisch inspirierten pädagogischen Optimismus eingeführt worden. 69 Das Argument der Vernachlässigung ontogenetischer Entwicklung gilt primär für die funktionalistische Theorietradition von Durkheim über Parsons zu Luhmann (bei Letzterem sogar mit der Zuspitzung, dass der Rekurs auf lebendige Individuen vollständig aus der soziologischen Erklärung ausgeklammert wird). Es gilt aber in gewissem Umfang auch für die konkurrierende handlungstheoretische Tradition, in der Individuen häufig nur methodologisch als black boxes und nicht im Sinne ontogenetisch entwickelter Lebewesen eingeführt werden. 70 Der Streit hat über die Erklärung sozialer Phänomene im Rekurs auf elementar-allgemeine Replikationseinheiten oder historischspezifische Beschränkungen hat die soziologische Theorietradition von Anfang an begleitet. S. dazu eine Passage von M. Blute über Durkheim vs. Tarde: “… the problem of "history versus necessity" is imbedded deeply in the practice and history of all of the social sciences. Are differences in the education, occupational achievement and socioeconomic status by race, sex and class a result of a history of slavery, misogyny and oppression which has become embodied in the people and their families themselves or is it a result of current discrimination? It is what divided the two greatest sociolo-gists of nineteenth-century France - Emile Durkheim and Gabriel Tarde, and sociology from anthropology. Emile Durkheim (1858-1917) is usually considered the founder of sociology in an institutional sense - first course, first chair, cofounder of the first journal and so on and remains rightfully renowned even in introductory sociology courses and texts to this day. In his time, however, Gabriel Tarde (1843-1904) was equally renowned. He won out over the philosopher Henri Bergson for the chair of moral philosophy at the Collège de France and there is not only a "Rue Gabriel Tarde" in Sarlat but also a statue outside the Palace of Justice - a memorial to one of its most famous sons. Durkheim and Tarde debated with each other both in person and in print. They agreed that a new science of the social was required

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but disagreed most fundamentally over what its basic subject matter should be. Tarde was convinced that the basic subject matter of sociology should be "imitation" (or what has since been called social learning, contagion, diffusion, collective behaviour, socialization or culture in various literatures) - the "inter-mental", while the "intra-mental" was the subject matter of psychology (e.g. Tarde 1903). (Tarde had been a judge and magistrate in his earlier career and he felt that he learned from those many years of experience that criminals learn to be criminals from other criminals.) There were really two Durkheims. There was the "society as a developing organism" Durkheim of The Division of Labor in Society and The Elementary Forms of the Religious Life. Then there was the structuralist Durkheim of The Rules of Sociological Method and On Suicide. To the latter Durkheim, the basic subject matter of sociology was to be social "facts", the social "forces" which push and pull people around by exercising "constraints" on them. These provide the "efficient" causes celebrated in the Rules (1895,1982) as opposed to the functional, which is also nice to know, and the genetic, in the nineteenth-century sense of historical which, according to Durkheim, is bunk. (The latter position was a strange one indeed for Durkheim to take, given that a form of mythical history at least lay behind his other organic accounts once upon a time there was no division of labour, no religion, etc.) In any event, he made his structural case well empirically two years later in On Suicide (1897, 2006) where he showed that suicidal behaviour is more predictable than death. It is governed by the social forces that act on occu¬pants of different kinds of statuses particularly - the altruistic (e.g. in the military, volunteers, officers, longer in service), the egoistic (e.g. Protestants, divorced, the educated except among Jews), and the anomic (e.g. in times of social change whether for better or worse). So who was right? It seems obvious in retrospect that both were. As described in the previous chapter, in the twentieth century, David Phillips and his associates well documented the importance of diffusion with Durkheim's most celebrated subject matter, no less, suicide. At the same time, it is obvious that sociocultural phenomena in general, let alone suicide, do not spread indiscriminately. Most people who are exposed to publicity about suicides do not therefore commit suicide. Structurally acting forces act selectively, facilitating or hindering, so that something spreads or not, and does so into some niches rather than others such as those documented for suicide in the nineteenth century by Durkheim for example. On a larger scale it is also part of what tended to divide anthropologists and sociologists. Of course a major division there was that while sociology had it roots in the study of the industrializing nations of western Europe, anthropology had its roots in the study of small, isolated and non-literate societies of the Pacific islands, Africa south of the Sahara and the first nations of the Americas. However, in the nineteenth century both groups agreed that a new science of what to be neutral, we will call the "sociocultural" was required, but disagreed on what its basic subject matter should be. After Tyler, anthropologists generally adopted "culture" as their subject matter, the way of life of a people including languages and "all those other things that are acquired by man as a member of society" (Tylor 1871, 1958:1), i.e. that are passed on historically by non-genetic means. On a macro scale, their solution more resembled that of Tarde in sociology. Sociologists, on the other hand, more often than not adopted the "social forces" structuralist approach of the one Durkheim, whose work on suicide continues to be held up as a model of sociological explanation. Through time there have of course been departures from these prevailing traditions in both disciplines. The British anthropologist Radcliffe-Brown took the inspiration for his structuralism from Durkheim and the study of culture is popular in sociology today but these have been divergently selected departures from the two disciplines' more mainstream and different historical traditions.” (Blute 2010, 73ff.) 71 S. dagegen die Anerkennung epigenetischer Faktoren in der sogenannten EvoDevo-Theorie Carroll 2008. Programmatisch in


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diesem Sinne schon Cloak 1975: „A characteristic of ethology is that it recognizes and studies several modes of acquisition rather than specializing in the study of only one mode. I think it may be fairly said, however, that most ethologists regard genetically pro¬grammed instructions as somehow fundamental or basic (Tinbergen, 1969; Crook, 1970; Hinde, 1966). In other words, the idea of instructions seems implicit in their work, but only when they are discussing genetically programmed mechanisms. They seem to see learning or other forms of experience in the organism's environment as somehow "modifying" the genetically programmed repertory or even as merely influencing its expression; they do not speak of envi-ronmental or cultural programming. This bias is understandable, arising from the emphasis on species specificity of behavior, but I believe it is incorrect. ... So, to generalize again, the role and relative importance of an instruction are independent of its mode of acquisition. If this generalization holds, it follows that controversies about "nature vs. nurture," and about the innate nature of the human species, are founded on false premises — not because the nervous system is infinitely "plastic" but because the infant nervous system, constructed and programmed by the genetic system, requires, demands, and seeks a great many specific kinds of environmental inputs in order to acquire the neural instructions which make it a normal adult nervous system. So, functionally speaking, learning is part of the ontogeny of an individual animal. Just as it needs the right enzymes, etc., produced inside its skin and, therefore, the right nutrients available outside it, so also it needs a set of instructions normal for its kind, and, therefore, the right species-specific sensory and motor experiences. The latter may be provided by the behaviors of its conspecifics or by other environmental features. Once these instructions have been acquired, however, they are as much a part of the animal as its cells, tissues, and organs, and, of course, its genetically programmed instructions.“ 72 An dieser Stelle führt Dawkins auch einmal die Unterscheidung zwischen horizontaler und vertikaler Transmission ein: “If the patient is one of the rare exceptions who follows a different religion from his parents, the explanation may still be epidemiological. To be sure, it is possible that he dispassionately surveyed the world's faiths and chose the most convincing one. But it is statistically more probable that he has been exposed to a particularly potent infective agent – a John Wesley, a Jim Jones or a St. Paul. Here we are talking about horizontal transmission, as in measles. Before, the epidemiology was that of vertical transmission, as in Huntington's Chorea.” (Dawkins 1991…) 73 Was zunächst als eine „hybride“ Kombination von operativ geschlossenen (im ZNS verankerten) organischen und operativ geschlossenen symbolischen Elementen erscheinen mag, kann aber auch als emergente Erscheinungsform (Einheit) des Psychischen betrachtet werden, da es individuelle Wahrnehmungen der natürlichen und sozialen Umwelt überhaupt erst ermöglicht. – s. dazu u.a. die Argumente bei Wilkins 1999. 74 Dazu eine Passage aus meinem ZfS-Beitrag 2006 (mit Ausf. zu dem oben schon angeführten Piaget-Zitat): „In kulturtheoretischer Perspektive ist immer wieder herausgestellt worden, dass es sich bei der menschlichen Ontogenese um eine im Vergleich mit anderen Lebewesen ungewöhnlich ausgedehnte Lebensphase handelt (Bjorklund, 1997, Montagu 1984, Popitz 2006). Dieser Umstand erscheint nicht nur geeignet, besondere Lernfähigkeiten zu erklären, sondern auch das Ausmaß, in dem sich Effekte der kulturellen Selektion von denen der natürlichen Umweltselektion unterscheiden und zum Teil sogar konträr zueinander verlaufen können. Wenn wir die ontogenetische Entwicklung beim Menschen als Engpass der kulturellen Evolution bezeichnen, dann scheint dies im Widerspruch zu dieser Perspektive zu stehen. Soweit Theorien der kulturellen Evolution auf die besondere Bedeutung der Ontogenese eingehen, bevorzugen sie es, deren kulturermöglichende Seite zu betrachten (so auch Tomasello 2002: 245ff). Dass die Funktion der menschlichen Ontogenese in der kulturellen Evolution zugleich als ermöglichend und

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beschränkend beschrieben werden kann, stellt jedoch keinen Widerspruch dar. Die Bedeutung der Ontogenese kann in der Perspektive primordialer Strukturen in der Ermöglichung von Kultur gesehen werden, und sie kann in der Perspektive bereits evoluierter kultureller Strukturen als Beschränkung gesehen werden, die den Fortgang von Evolution sichert. Die ultimaten Gründe für diese Beschränkung sind in der evolutionären Riskiertheit vieler Formen der Kultur zu erkennen. Menschliche Individuen sind weder die vorausschauenden Schöpfer ihrer Sozialsysteme noch deren blinde Vollzugsorgane. Nach Popper (1974: 124) können wir sie einfach als unberechenbare Elemente betrachten: ‚Anstatt soziologische Überlegungen auf die scheinbar feste Grundlage der Psychologie der menschlichen Natur zurückzuführen, könnten wir sagen, daß der menschliche Faktor das letztlich Ungewisse und unberechenbare Element im gesellschaftlichen Leben und in allen so¬zialen Institutionen ist. In ihm haben wir wirklich das Element vor uns, das letztlich von den Institutionen nicht vollkommen beherrscht werden kann.‘ Diese Aussage verdeutlicht noch einmal, dass Menschen evolutionstheoretisch in erster Linie als Quelle der Variation in Betracht kommen. Der kulturelle Spielraum der Variation in der ökologischen Nische des Menschen ist aber nicht beliebig groß. Deshalb wäre es falsch, daraus zu schließen, dass die in der Psychologie gewonnenen Erkenntnisse über die menschliche Natur für soziologische Erklärungen ohne Belang wären. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der ontogenetischen Entwicklung menschlicher Individuen und der historischen Entwicklung ihrer sozialen Institutionen hat eine lange Tradition. Einen frühen Höhepunkt bilden darin Durkheims Vorlesungen zur Pädagogik (1902–03, 1984), in denen er einem soziologisch informierten Schulunterricht die Aufgabe zuschrieb, die durch den Säkularisierungsprozess geschwächten Bindekräfte der Gesellschaft zu heilen. Seitdem sind Sozio-logie und Erziehungswissenschaften aber mehr und mehr getrennte Wege gegangen. In der Sozio-logie ist der aufklärerische Optimismus geschwunden, grundlegende Probleme der Gesellschaft mit pädagogischen Mitteln zu bearbeiten, und auch die Erziehungswissenschaften haben sich Problemen geringerer Reichweite zugewandt. Man kann jedoch nicht behaupten, dass sich das von Durkheim aufgeworfene Problem aufgelöst habe – es scheint sich in jeder Generation von neuem zu stellen. In seiner Studie über das moralische Urteil beim Kind hat Piaget Durkheims Auffassung in einem entscheidenden Punkte zurückgewiesen: ‚Durkheim argumentiert, als seien die Alters- und Generationsunterschiede ohne Bedeutung. Er spricht von homogenen Individuen und sucht die Auswirkung der verschiedenen möglichen Typen der Gruppe auf ihr Bewußtsein festzustellen. Alles, was er hierbei entdeckt, ist durchaus richtig, bleibt jedoch unvollständig: es genügt, sich für einen Augenblick eine in Wirklichkeit natürlich unmögliche Gesellschaft vorzustellen, in der alle Individuen das gleiche Alter hätten, eine Gesellschaft, die aus einer einzigen, sich ins Unendliche fortsetzenden Generation bestehen würde, um die ungeheure Bedeutung der Alters-Beziehungen und insbesondere der Beziehungen von Erwachsenen zu Kindern zu erkennen. Hätte eine solche Gesellschaft jemals einen zwangmäßigen Konformismus gekannt? Würde sie die Religion oder zumindest die Religionen, die einen transzendenten Glauben voraussetzen, kennen? Würde man bei solchen Gruppen eine einseitige Achtung und ihre Auswirkungen auf das moralische Bewußtsein feststellen können? Wir beschränken uns darauf, diese Fragen zu stellen. Möge man sie jedoch in einem oder anderen Sinne lösen, so gibt es jedenfalls keinen Zweifel, daß man mehr als dies gewöhnlich geschieht, die Zusammenarbeit dem gesellschaftlichen Zwang gegenüberstellen muß, wobei dieser vielleicht nur auf den Druck der Generationen aufeinander zurückzuführen ist, während jene die grundlegendste und für die Au¬arbeitung rationaler Normen vielleicht wichtigste, soziale Beziehung darstellt.‘ (Piaget [1932] 1973: 113f)

Durkheims pädagogische Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung erscheint zunächst als Unterschätzung des Problems. Durkheim verkennt, dass das Problem nicht erst mit der Arbeitsteilung der modernen Gesellschaft sondern bereits bei der Ausdehnung menschlicher Sozialität über die Grenzen stammesgesellschaftlicher Verwandtschaftssysteme auftaucht. Nimmt man Piagets Einwand ernst, so ist das


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Problem auch nicht primär in den nachlassenden Bindungskräften der Religion zu suchen, sondern darin, dass Menschen nicht als erwachsene Individuen auf die Welt kommen – also in dem Umstand, dass sie in organischer und mentaler Hinsicht eine im Vergleich zu anderen Lebewesen lange Entwicklung durchlaufen, in der sie besonders empfindlich für Prägungen ihrer sozialen Umwelt sind. Piagets Kritik enthält eine biologisch und evolutionstheoretisch erweiterte Perspektive, die auch die von Durkheim anvisierte pädagogische Lösung des Problems reformuliert. Allerdings hat auch Piaget das kulturelle Problem, auf das Durkheim eine Antwort geben wollte, unterschätzt, indem er (in dieser frühen Schrift) unterstellte, dass es sich von selbst lösen würde, wenn autoritäre Zwänge in der sozialisatorischen Interaktion vermieden würden. Damit wird die grundlegende Bedeutung von Identifikation und Nachahmung in der kulturellen Evolution unterschätzt.“ Piagets Einwand gegen Durkheim lässt sich verallgemeinern zur Kritik an Topdown-Erklärungen in der soziologischen Theorietradition, die den Bezug auf lebendige Individuen und ihre ontogenetische Entwicklung ausklammern. 75 Zur operativen Geschlossenheit und strukturellen Koppelung der Meme an organische Voraussetzungen (der oben schon im Dawkins-Zitat erwähnte) Juan Delius 1991, S.84 „Meme können Anweisungen geben, nicht zur Proteinsynthese wie die Gene, sondern zu Verhaltensweisen. Aber das können Gene über die Proteinsynthese indirekt auch. Andererseits ist die Replikation der Meme, an der ja Abwandlungen der neurologischen Strukturen beteiligt sind, zwangsläufig mit der Induktion der Proteinsynthese verbunden.“ Die von Dawkins unter Berufung auf Delius vertretene Auffassung, dass Meme als neuronale Strukturen im Gehirn lokalisierbar wären, ist u.a. von Wilkins 1999 kritsiiert worden. 76 Cavalli-Sforza (1999) spricht von besonderen „Empfänglichkeitsperioden“ und führt als Beispiele die Sprachentwicklung und das Inzesttabu an: „Zumeist sind die kulturell bedingten Merkmale leichter modifizierbar als die genetisch bedingten. Allerdings kann auch bei den ausgeprägtesten genetischen Krankheiten das Auftreten der Symptome sehr lange auf sich warten lassen, wobei diese Symptome bei den einzelnen Individuen generell sehr unterschiedlich ausfallen können: Die von Chorea Huntington können schon mit zwei, aber auch erst mit achtzig Jahren auftreten, meistens aber manifestiert die Krankheit sich zum erstenmal mit etwa vierzig Jahren. Manchmal verschwindet eine genetische Pathologie im Lauf des Lebens, so wie das zuweilen bei der Gluten-Intoleranz nach der Pubertät vorkommt. Im allgemeinen aber sind die durch die Gene bestimmten Merkmale stabil und kaum reversibel. Bei den kulturellen Merkmalen ist das anders; wir sprachen schon davon, daß man aufgrund mehr oder weniger spontaner Bekehrungen die Religion wechseln kann. Auch die politische Partei, der man anhängt, kann wechseln. Dennoch gibt es kulturelle Lerninhalte, die stabiler sind als andere, und diese Stabilität kann durch biologische Faktoren begünstigt werden, die die Individuen in einem bestimmten Alter aufnahmefähiger für die Übernahme eines bestimmten Verhaltens oder anderer kultureller Änderungen machen. Man kann hier von Empfänglichkeitsperioden sprechen. Einige Beispiele: Die vielleicht ausgeprägteste - wenngleich noch wenig untersuchte - dieser Perioden betrifft die Fähigkeit, eine fremde Sprache und vor allem die Aussprache der Laute zu erlernen, die in den verschiedenen Sprachen bekanntlich sehr unterschiedlich sind. Bei den meisten Menschen fällt die Periode, in der sie fähig sind, diese Laute zu erlernen, in den Altersbereich von zwei bis zwölf Jahren; mit dem Beginn der Pubertät verschwindet diese Fähigkeit zumeist, und es gibt sehr wenige Menschen, die sie auch nach dieser Zeit noch behalten. Für die Unterrichtsministerien ist dies eine sehr wichtige Information, denn an den meisten Schulen beginnt der Fremdsprachenunterricht erst in einem Alter, wo es zu spät ist, um Fremdsprachen gut zu erlernen.

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Die Jahre vor der Pubertät sind auch die Empfänglichkeitsperioden für ein noch wichtigeres Phänomen: die Entstehung des Inzest-Tabus. Der Anthropologe E. A. Westermarck hat die These aufgestellt, daß das gemeinsame Leben von Brüdern und Schwestern vor der Pubertät das sexuelle Interesse der Geschwister füreinander vermindern und der Grund dafür sein könnte, daß beim Menschen und bei den übrigen untersuchten Säugetieren der Inzest ziemlich selten ist. Zwar wurde in einigen Dynastien des Altertums (Ägypten, Persien) die Eheschließung zwischen Geschwistern gefördert; aber dieser Brauch hielt sich nicht lang. In manchen Gemeinschaften des Mittleren Ostens und Indiens sind Ehen zwischen engen Verwandten (Onkel-Nichte, Vetter-Base) noch recht häufig; doch das ist etwas anderes.“ (1999 aus Kap. 6) 77 Dawkins selbst räumt ein, dass seine Definition von Memen im Hinblick auf eine mit den Genen vergleichbare Kopiergenauigkeit schlecht begründet ist (was er m.E. auch durch die an das Zitat anschließende Konstruktion von „Memplexen“ nicht ausräumen kann): „Dies bringt mich zu der dritten allgemeinen Eigenschaft erfolgreicher Replikatoren: der Kopiergenauigkeit. Hier befinde ich mich, wie ich zugeben muß, auf schwankendem Boden. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als seien Meme überhaupt keine Replikatoren mit hoher Wiedergabetreue. Jedesmal, wenn ein Wissenschaftler einen Gedanken hört und ihn an jemand anders weitergibt, wird er ihn wahrscheinlich ein wenig verändern. Ich habe kein Geheimnis daraus gemacht, wie sehr dieses Buch den Gedanken von R. L. Trivers verpflichtet ist. Doch ich habe Trivers' Vorstellungen nicht mit seinen eigenen Worten wiedergegeben. Ich habe sie für meine eigenen Zwecke umgeformt, habe einen anderen Schwerpunkt gesetzt, sie mit meinen eigenen und anderer Leute Gedanken vermischt. Die Meme wurden dem Leser in veränderter Gestalt weitergegeben. Das sieht der partikelweisen Alles-oder-nichts-Natur der Genvererbung nicht im geringsten ähnlich. Es scheint vielmehr, als sei die Mem-Übermittlung ständiger Mutation und Mischung unterworfen.“ (312f) Zu der Frage, ob es sich bei Replikation um einen (genauen) Kopiervorgang handelt Schurz (2011: 217f): „Blackmore legt deshalb so großen Wert auf Imitation als Transmissionsmechanismus, weil ihr zufolge Transmission einer Replikation qua Kopiervorgang ähnelt. Sind Nachahmungen wirklich Kopiervorgänge? Um die Frage beantworten zu kön¬nen, wollen wir den Begriff des Kopiervorgangs zunächst allgemein definieren. Unzweifelhafte Beispiele für Kopiervorgänge sind etwa das Abpausen eines Bildes, das fotografische Abbilden eines Bildes (worin jeder Gegenstandspunkt auf einen Bildpunkt abgebildet wird), das Einscannen einer Schrift, das Abmodellieren einer Oberfläche mit Gips oder die Replikation der DNS. In all diesen Fällen besteht die zu kopierende Struktur aus einer Anordnung von vielen kleinsten Teilen, und der Kopiervorgang ist ein Algorithmus, der unter Bewahrung der Anordnung sämtliche Teile durchwandert und eindeutig dupliziert. Unter Replikation verstehen wir im Folgenden immer einen solchen Teil-für-Teil-Kopiervorgang. Es ist dabei unwesent¬lich, ob die Kopie sogleich als Positiv hergestellt wird oder zunächst als Negativ, woraus in einem zweiten Kopiervorgang ein Positiv gemacht wird. Entscheidend ist, dass die Einzelteile nur einen geringen Variationsspielraum besitzen (zehn Graustu¬fen, vier DNS-Basen, 26 Buchstaben des Alphabets), sodass die Dup-likation der Einzelteile ein einfacher physikalischer Vorgang sein kann und die Schwierigkeit nur darin liegt, dass der Kopieralgorithmus sämtliche Einzelteile so durchläuft, dass zum Schluss die duplizierten Einzelteile in derselben Anordnung zueinander stehen wie die Einzelteile des Originals. Ein Replikationsvorgang qua Teil-für-Teil-Kopiervorgang ist ein physikalisch-syn¬taktischer Vorgang, die Erkenntnis des „Ganzen" bzw. der Gesamtbedeutung (falls eine solche existiert) wird dabei nicht vorausgesetzt. Im Gegensatz dazu wäre ein semantischer Reproduktionsvorgang ein intelligenter Mechanismus, der zunächst ein kognitives Gesamtmodell der zu reproduzierenden Struktur entwirft und entspre¬chend diesem Gesamtmodell die zu reproduzierenden Struktur dann nachkonstru¬iert. Ein Beispiel


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wäre das Nachzeichnen eines bedeutungsvollen Bildes, etwa eines Sternes oder Tierkopfes, ohne das Bild dabei abzupausen. Unter Reproduktion ver¬stehen wir im Folgenden, allgemeiner als Replikation, sowohl syntaktische Replikation als auch semantische Reproduktion im gerade erläuterten Sinn. [Das ist bei Kindern ja häufig der Fall, dass zunächst kopiert und oft erst später die Bedeutung erschlossen wird. Davon machen auch Latein- und Koranschulen Gebrauch. Wer Replikation an semantisches Vollverstehen bindet – wie Dawkins 1999 zum Zweck der Fehlerreduktion – vernachlässigt die ontogenetische Entwicklung in Prozessen der Nachahmung! ] Millikan (2003, 104) weist daraufhin, dass es bei Memtransmission nichts gebe, was - so wie bei den Genen — einem direkten Kopiervorgang entspricht. Schließlich werden bei der Imitation oder während eines sozialen Lernprozesses keine Neuronenmuster abgelesen. Man könnte argumentieren, dass zumindest die Funktionsweise der oben erwähnten Spiegelneuronen einer Replikation nahekommt. Aber auch hier handelt es sich um keinen echten Kopiervorgang, sondern um eine unbewusst-neuronale Interpretation, da der Gehirnzustand der anderen Person nicht kopiert wird, sondern ein sichtbares Verhalten erzeugt, das der Nachahmer sieht, visuell interpretiert und durch Spiegelneuronen nachsimuliert. Blackmores These, dass es sich bei Memtransmissionen um Kopiervorgänge handelt, ist daher kaum haltbar; vielmehr handelt es sich dabei (zumindest überwiegend) um semantische Reproduktionsvorgänge.“ Das aber nur für die Verankerung im Gehirn. Auf der Verhaltensebene gibt es eben doch ziemlich genaue Kopiervorgänge – Fehler immer eingeschlossen! Schurz weiter (2011: 220): „Semantische Reproduktionen sind zwar aus der reflexiv-verstehenden Perspektive ein „höherer" Intelligenzvorgang als syntaktische Replikationen. Umgekehrt sind aber syntaktische Replikationen oftmals wesentlich komplexere Vorgänge als semantische Reproduktionen und können, wenn sie ausgeklügelte Reparaturmechanismen besitzen, auch reliabler sein. Ein syntaktischer Kopiervorgang ist unabhängig von Fehlern der semantischen Modellbildung und damit originalgetreuer und vollständiger, sofern seine Einzelkopierschritte präzise und zuverlässig sind. Eine neuronale Kopiermöglichkeit der Gehirninhalte wissender Personen, im Sinne eines „Nürnberger Trichters", wäre insofern jeder herkömmlichen Möglichkeit des Lernens durch Lehrer überlegen. Aber eine exakte Replikation von komplexen Systemen ist physikalisch nur schwer zu realisieren, und wir müssen stattdessen auf semantische Reproduktion zurückgreifen. Transmission von Memen beruht fast immer auf semantischer Reproduktion statt auf Replikation, und dies genügt für kumulative Evolution. Auch Boyd und Richerson haben argumentiert, dass Replikation für Evolution von Memen nicht nötig sei. Ihrer Auffassung nach genügt für kumulative Memevolution sogar ein hinreichend hohes Maß an Informationsübertragung im statistischen Sinn, kombiniert mit statistischer Variation und Selektion. Boyd und Richerson (2000) geben zwei Argumente für ihre Auffassung: Argument 1 (ebd., 155 f): Dieselben Verhaltensfähigkeiten können durch viele unterschiedliche Regelsysteme oder neuronale Netzwerke generiert werden. Es ist keineswegs gesagt, dass zwei Personen, die dasselbe Lied auf dieselbe Weise singen können, dies durch Aktivierung derselben neuronalen Strukturen tun. Auch die Geometrie von Mund, Stimmband und Zungenbewegung bei der Phonemerzeugung variiert von Individuum zu Individuum. Wesentlich ist nicht exakte Replikation, sondern nur ein hinreichend hohes Maß an Ähnlichkeit in den relevanten Merkmalen. Argument 2 (ebd., 159 f): Bei der Memtransmission dienen typischerweise viele Personen als Vorbild - beispielsweise hört das Kind viele andere Personen sprechen, wenn es sprechen lernt —, sodass im Regelfall keine bestimmte Person nachgeahmt wird. Das Resultat des sozialen Nachahmungsprozesses ist stattdessen ein gewisser statistischer Durchschnitt, und dieser statistische Mi-

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schungsprozess ist ebenfalls von ganz anderer Natur als Replikation.“ 78 Zu der Diskussion über Kopiertreue im Replikationsmechanismus eine Passage von Schurz (2011: 214ff): „Einigkeit besteht dahingehend, dass es sich bei der Transmission von Memen nicht um individuelles, sondern immer um soziales Lernen handelt. Während bei sozialem Lernen etwas von einer anderen Person gelernt wird, erfolgt individuelles Lernen ohne Gegenwart einer anderen Person, lediglich durch Auseinandersetzung mit einem Problem, z.B. in Form des Trial-and-Error-Lernens (►Abschnitt 11.1.3; Blackmore 2003, 62). Der Vorteil sozialen Lernens im Vergleich zum bloß individu¬ellen Lernen liegt natürlich darin, den Erfolg einer evtl. langen Lerngeschichte einer oder vieler anderer Personen übernehmen zu können, ohne die Kosten der Lernge-schichte in Form investierter Zeit und Anstrengungen zahlen zu müssen. Darüber hinaus gibt es zur Frage der Transmission von Memen zwei Auffassun¬gen. Eine Mehrheit der Autoren sieht dabei eine Pluralität von Mechanismen am Werk, die allesamt für die KE relevant sind. Nach Cavalli-Sforza und Feldman (1981) spielen bei der Transmission von Memen sowohl Prägung, Konditionierung, Beobachtung, Imitation als auch persönliche Unterrichtung eine Rolle. Durham (1991) und Runciman (1998) unterscheiden zwischen Imitation und Lernen als Mechanismen der Memtransmission. Für Laland und Odling-Smee (2000) umfasst Memtransmission alle Formen sozialen Lernens. Blackmore (2003, 62 ff) hat dagegen eine wesentlich engere Auffassung von Memtransmission vertreten: Sie schränkt Memtransmission und damit Meme selbst auf den Mechanismus der Imitation im engen Sinne ein, als eines Stück-für-StückKopiervorgangs bzw. Nachahmungsvorgangs, der dem genetischen Vorgang der Replikation so weit als möglich ähneln soll. Blackmore grenzt Imitation von folgen¬den drei anderen Formen des sozialen Lernens ab: der Zielsimulation, der Reizver-stärkung und der lokalen Verstärkung. In diesen drei Fällen lernt ein Organismus von einem anderen Orga-nismus, eine bereits vorhandene Fähigkeit auf ein neues Ziel auszurichten oder unter neuen Bedingungen auszuüben. Die Fähigkeit selbst aber hat er nicht durch Imitation des anderen Organismus erworben, sondern sie war bereits zuvor (entweder angeborenerweise oder durch individuelles Lernen) vor¬handen. Pars pro toto erläutern wir hier die Zielsimulation (Tomasello 1996). Dabei beobachtet ein Tier, wie sich ein anderes Tier eine neue Futterquelle verschafft, indem es z. B. Bananen aus einer bestimmten Kiste nimmt, und versucht, dasselbe zu tun, ohne dabei die Tätigkeit des Banane-aus-einer-KisteNehmens zu imitieren, denn diese Tätigkeit beherrscht es schon was es sozial lernt, ist nur, dass in dieser Kiste Bananen zu holen sind. In solchen Fällen findet Blackmore zufolge keine echte Replikation statt, da das jeweilige Verhalten schon vorhanden ist und lediglich an neue Ziele oder Bedingun-gen angepasst wird. Nun wird jedoch auch in der Ausrichtung eines Verhaltens auf neue Ziele bzw. Bedingungen zumindest etwas sozial gelernt. Deshalb ist Blackmo¬res Schlussfolgerung, dass dabei keine echte Memtransmission stattfindet, nicht son¬derlich überzeugend. Schon plausibler ist Blackmores zweites Argument, dem zufolge der Mechanismus der Zielsimulation zumindest keine kumulative Evolution ermöglicht, da es in gegebenen Umweltbedingungen nur eine begrenzte Menge von möglichen Zielen gibt. Hat der Affe einmal gelernt, in welchen Kisten Futter zu holen ist, ist der Lernprozess beendet. Anders gesprochen, der innere Möglichkeits¬raum von Variationen ist bei dieser Art des sozialen Lernens sehr gering und bald erschöpft. Nachhaltig kumulativ im Sinne von potenziell unbegrenzt fortsetzbar wird die Memevolution erst, wenn nicht nur das Ziel, sondern auch die Techniken der Ziel¬erreichung Gegenstand der Memtransmission werden. Dies ist nach Blackmore nur bei echter Imitation der Fall (vgl. auch Whiten et al 1996). Menschen und insbe¬sondere Kinder sind perfekte Imitierer und ahmen ganze Verhaltenssequenzen nach (Blackmore 2003, 65-68; Meltzoff


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1996). Echte Imitation tritt nach Blackmore zwar auch bei sehr intelligenten Tieren wie Wellensittichen, Tauben, Ratten oder Schimpansen auf. Aber nur beim Menschen kann sich, so Blackmore, Imitation kumulativ entfalten, und zwar aus zwei Gründen. Erstens besitzen Menschen im Gegensatz zu den meisten Tieren die Fä-higkeit, sich in die Sichtweisen und Absich¬ten anderer Personen hineinzuversetzen, und dies ist für Imitation essenziell. Zwei¬tens führte die menschliche Fähigkeit der Imitation von Lauten zur Evolution der mündlichen Sprache. Beides zusammen ermöglichte erst die Imitation komplexer Fertigkeiten, die nur dem Menschen gelingt. Blackmore vertritt damit im Gegensatz zu zahlreichen Evolutionsbiologen die These, dass sich genuine KE auf den Men¬schen beschränkt (Näheres im nächsten Abschnitt). Eine Mehrzahl von Autoren hat Blackmores Position kritisiert, und zwar nicht, weil sie darin Unrecht hätte, dass bloße Ziel- oder Reizsimulation zu wenig ist für nachhaltige KE, sondern weil die Formen des sozialen Lernens, welche nachhaltige KE ermöglichen, nicht auf eine eindeutig abgrenzbare Art von „Imitation im engen Sinn" eingeschränkt werden können. Vielmehr scheinen bei dem, was wir Nachah¬mung im weiten Sinn nennen, meist mehrere unterschiedliche Lernmechanismen am Werk zu sein - von instinktiven bis zu bewusst ablaufenden Mechanismen (vgl. auch Heyes und Plotkin 1989, 145 f). Millikan (2003, 105) argumentiert, dass nur wenige Arten des sozialen Lernens Nachahmungen im engen Sinne Blackmores sind. Beispielsweise lernt niemand Fußballspielen durch bloßes Nachahmen eines Fuß-ballkünstlers; mühseliges eigenes Training und sukzessive Trial-and-ErrorVerbesserungen sind nötig, um ein guter Fußballer zu werden. Für das Nachahmen komplexer Operationen ist es insbesondere erforderlich zu verstehen, worauf es ankommt und was eine Vorbedingung für was ist. In den meisten sozialen Lernprozessen ist daher die Nachahmung anderer Personen mit weiteren Lernmechanismen wie Versuch und Irrtum, explizite Instruktion oder Einsicht zu einer unauflöslichen Kombination verquickt. Folgerichtig sollte die Memtransmission als ein Vorgang angese¬hen werden, der alle Formen des sozialen Lernens umfasst, und es ist wenig sinnvoll, hier eine Methode der Imitation im engen Sinn eines Kopiervorgangs herauszulösen. Daher schließen wir uns im Folgenden der pluralistischen Auffassung an, unter Memtransmission alle Formen des sozialen Lernens im weiten Sinn zu verstehen, also Nachahmung, Lernen durch Unterweisung, aber auch Konditionierungslernen und Lernen durch Einsicht, sofern dabei von anderen Personen gelernt wird ...“ 79 Noch zu prüfen, ob und inwieweit der hier skizzierte Vorschlag zu ontogenetischen Engführung vereinbar ist mit dem Vorschlag, den Blackmore im Hinblick auf eine engere Definition von Imitationsvorgängen gemacht hat. Dagegen wäre noch einmal auf die programmatischen Ausführungen von Cloak 1975 zu rekurrieren. Ich finde es immerhin bemerkenswert, dass gerade bei Blackmore – über deren Beiträge zur Memtheorie häufig zu lesen war, dass sie nur eine Popularisierung des Dawkinsschen Konzepts (mit wissenschaftlich unhaltbaren Übertreibungen) darstelle – für die Theorie der kulturelle Evolution interessante Einschränkungen in Bezug auf die Wirkungsweise des Replikationsmechanismus zu finden sind. Zur Frage der Kopiergenauigkeit Blackmore (2003: 66f.): „Wie wir bereits gesehen haben, ist ein Replikator als eine Entität zu definieren, die ihre Struktur in aufeinanderfolgenden Re- plikationen weitgehend unversehrt weitergibt. Also müssen wir fragen, ob das betreffende Verhalten oder die betreffende Information über mehrere Replikationsschritte weitgehend unversehrt weitergegeben werden. Finden sich zum Beispiel in freier Wildbahn Belege für Werkzeuggebrauch, Reinigungstechniken oder andere sozial erworbene Verhaltensmuster, die in einer Reihe von Individuum zu Individuum weitergegeben werden — und nicht nur von einem Individuum produziert und von anderen zwar nachgeahmt, aber nie aufs neue weitergegeben werden? In experimentellen Situationen könnte etwa ein Tier ein anderes beobachten, um dann als Modell für ein drittes zu fungieren (so wie im Spiel »Stille Post«),

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Wir müssen nicht erwarten, daß die Kopiergenauigkeit sehr hoch ist, doch wenn die betreffende Fertigkeit nicht wenigstens in wiedererkennbarer Weise über mehr als einen Replikationsschritt weitergegeben wird, haben wir keinen neuen Replikator — und darum auch keinen Bedarf für den Begriff des Mems.“ Neben Blackmores einschränkenden Ausführungen über Imitation wäre hier v.a. auch ihre Unterscheidung zwischen einfachem Kopieren und dem Kopieren von Anweisungen zu berücksichtigen. Hierin liegt eine starke Engführung in der Definition dessen, was Meme ausmacht! – Deshalb wäre der Einwand noch einmal zu prüfen, dass sie in der Frage, was Gegenstand der Nachahmung sein kann, zu weit geht. Es würde vielleicht genügen, in die einschränkenden Aussagen darüber, was Imitation von anderen Formen sozialen Lernens unterscheidet, noch den Faktor der ontogenetischen Entwicklung einzubauen. Die Auffassung von Blackmore in Bezug auf die evolutionäre Errungenschaft des höherstufigen Kopierens (von Anleitungen) wird auch unterstützt von Millikan 2003 104f : „.Mit Sicherheit sind unsere Gene für unsere Fähigkeit verantwortlich, Dinge zu kopieren. Die meisten Tiere kopieren gar nichts in direkter Manier, weder Verhaltensweisen noch Artefakte, geschweige denn daß sie Ideen weitergäben. Ist die menschliche Fähigkeit, Dinge zu kopieren, eine besondere Fähigkeit, verschieden von all den anderen Fähigkeiten, die wir haben, und wurde sie für ein besonderes Ziel selektiert? Susan Blackmore hat dafür plädiert, daß dies der Fall sei. Die grundlegende memetische Fähigkeit sei die Fähigkeit zur Imitation, deren ursprüngliches Ziel in der Nachah¬mung nützlicher Verhaltensweisen und der direkten Weitergabe technischer Fertigkeiten von einer Person zur anderen bestanden habe (Blackmore 1999). Kleine Einheiten praktischen Wissens, die von einem Individuum im Versuch-undIrrtum-Prinzip Popperscher oder Skinnerscher Prägung mühsam erlernt wurden, werden von anderen Individuen kopiert. Die Arbeitsersparnis ist offensichtlich enorm. Doch es gibt ein Problem. Wenn man annimmt, daß diese besondere Fähigkeit in erster Linie die Fähigkeit zur wirklichkeitsgetreuen Nachahmung oder Mimikry ist - und diese ist als die Fähigkeit zur unmittelbaren Nachahmung der Körperbewegungen einer anderen Person definiert —, dann gibt es nur wenige Meme, die tatsächlich dieser Fähigkeit geschuldet sind. Es ist zwar wahr, daß wir zum mimischen Nachahmen fähig sind, doch das gilt auch für die Affen und Menschenaffen sowie für den afrikanischen Graupapagei (Psittacus erithacus) - wenngleich diese Tiere ihre Fähigkeiten anscheinend nicht zum Nachahmen von Techniken einsetzen (Donald 1991). Doch selbst die niedere Ratte in der Skinnerbox lernt nicht etwa, ihre eigenen früheren Bewegungen nachzuahmen, sondern den Hebel herunterzudrücken. Sie lernt nicht, ihn mit der rechten oder der linken Pfote oder beiden Pfoten herunterzudrücken, sondern schlicht, ihn auf jede gerade zupaß kommende Weise herunterzudrücken. Ganz ähnlich ist das, was wir zur Erreichung unserer praktischen Ziele nachahmen, meist das Produkt oder das Verfahren. In den seltensten Fällen imitieren wir bestimmte Bewegungen. Ich nehme zwar an, daß ich auf letztere Weise lernte, zu stricken und Geige zu spielen, aber selbst im Sport fand ich es wesentlich leichter, mich auf das Ziel des Spiels zu konzentrieren als auf die Nachahmung der Bewegungen meines Lehrers. Wenn nun unsere Fähigkeit, Meme zu kopieren, in erster Linie darin besteht, ein Objekt zu erzeugen, das so ist wie eines, das wir nützlich fanden, oder wenn sie darin besteht, eine kausale Abfolge von Ereignissen wiederzuerschaffen, die ein für uns nützliches Resultat hatte, dann scheint diese Fähigkeit allein der Sonderfall einer viel generelleren Art von Intelligenz zu sein. Was nämlich vor allem verlangt zu sein scheint, ist die Fähigkeit, zu verstehen, welche Eigenschaften eines Artefakts diejenigen sind, die es nützlich machen, beziehungsweise was die kausal relevanten Aspekte einer Ereignisabfolge sind, die ihr Resultat nützlich machen. Diese Fähigkeit muß freilich mit der weiteren Fähigkeit gekoppelt sein, Teile dieser Ereigniskette selbst hervorzubringen bezie-


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hungsweise das betreffende Objekt zu manipulieren und zu gestalten.“ Weitere Argumente für Kopiergenauigkeit der Replikation formuliert Millikann (2003: 107f.) mit Bezug auf die Evolution der Sprache: „Ein klares Beispiel für einen Mechanismus, der genetisch dazu entworfen wurde, eine neuartige Evolution memetischer Ziele zu ermöglichen, ist das, was Pinker (1994) den »Sprachinstinkt« ge¬nannt hat. Eine Evolution, die durch stabile Selektionskräfte geleitet wird, anstatt sich auf Zufallstreffer verlassen zu müssen, verlangt, daß ihre Produkte mit einer hinreichend großen Genauigkeit (»Wiedergabetreue« [»fidelity«] bei Dawkins 1976) reproduziert werden. Die Reproduktion technischer Vorrichtungen wird dadurch relativ akkurat gehalten, daß die reproduzierten Vorrichtungen weiterhin den menschengemachten Zielen dienen, um derentwillen sie kopiert wurden. Baut man sie falsch, funktionieren sie nicht. Im Falle der Sprache gibt es scheinbar zwei neue Mechanismen, welche die Kopiergenauigkeit von sprachlichen Formen gewährleisten sollen. Der erste ist die Fähigkeit, schon während der ersten Lebenswochen die phonologische Struktur von Äußerungen zu erfassen. Die phonologische Struktur bestimmt, was als eine korrekte Repro¬duktion eines einzelnen Elements - eines Wortes oder eines Satzes - gelten wird, womit dem Lernenden die Möglichkeit gegeben ist, schon im voraus zu wissen, welche Aspekte eines von ihm selbst oder von anderen produzierten Sprachsignals für die Bedeutung des Gesprochenen relevant sind. In ähnlicher Weise postuliert zweitens die (Chomskysche) Universalgrammatik einen Filter, der kontrolliert, welche Aspekte der Sprache, die ein Kind hört, von ihm anschließend als die funktional relevanten Aspekte reproduziert werden. Eine mittels dieser beiden Mechanismen herbeigeführte vorgängige Übereinstimmung darüber, welche Art von Material in einem Kommunikationsprozeß verwendet wird und welche Aspekte dieses Materials signifikant sein werden, erzeugt eine genuin neue Art von kopiergenauem, selektionsbereitem Replikator. Darüber hinaus sind sprachliche Formen einer neuen und besonderen Art von Selektionsdruck ausgesetzt, welcher die Evolution einer genuin neuen Ebene von natürlichen Zielen und Funktionen befördert. Die Ei¬genfunktionen beziehungsweise natürlichen Ziele — die Bedeutun¬gen - verschiedener sprachlicher Meme bestehen selbstverständlich genau in ihren wie auch immer gearteten Effekten, die für ihre fortgesetzte Reproduktion verantwortlich sind. Doch im Gegensatz zu den meisten technischen Fertigkeiten, die per Imitation weitergereicht werden, wird im Falle sprachlicher Formen nicht nur über die individuellen Wünsche oder Verstärkungsmechanismen des einzel¬nen Akteurs festgelegt, welche Effekte die fortgesetzte Replikation befördern. Die Funktionen sprachlicher Formen werden durch die Kooperation zwischen Sprechern und Hörern erfüllt und sind folglich durch die Interessen beider bestimmt. Sprachliche Formen erzeugen nur dann die Effekte, die für die Sprecher hinreichend interessant sind, um eine fortgesetzte Replikation zu erlauben, wenn die Hörer häufig genug die erhofften kooperativen Reaktionen replizieren. Andersherum werden die Hörer nur dann damit fortfahren, die intendierten kooperativen Reaktionen zu replizieren, wenn deren weitere Folgen hinreichend häufig ihren Interessen entsprechen. Somit befinden sich die Funktionen sprachlicher Formen selbst weder auf der Ebene der Ziele der Sprecher noch auf der Ebene der Ziele der Hörer. Sprachliche Formen werden für Effekte selektiert, die beiden Kommunikationspartnern zugleich dienen. Sie behalten diese memetischen Ziele sogar dann bei, wenn Sprecher und Hörer sie ganz verschiedenen Bestimmungen zuführen, wie etwa im Falle von Scherzen oder Griceschen Implikaturen (Millikan 1984, 2001, 2002).“ 80 In dieser Hinsicht wären hier noch Argumente von Millikan i.S. einer bereits natürlich angelegten Präferenz für Kopiertreue – Normenkonformismus – aufzugreifen. Das greift schon vor auf Ausf. in 2. zu Einrichtungen der sozialen Kontrolle von Abweichungen (Konfliktexternalisierung).

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81 Gatherer 1998 vertritt die Auffassung, dass die Definition von Memen als Entitäten des menschlichen Bewußtseins (Gedanken), die substantiell im Gehirn verankert sind, in methodologischer Hinsicht problematisch sei, weil sie sich der quantifizierenden Beobachtung und damit dem Einbau in ein populationstheoretisches Frequenzmodell entziehen: “It is possible to measure the increase in the number of Christian churches per capita in the Roman Empire, to measure the number of scientific articles on the subject of Darwinism per total articles published, to measure the percentage of Aka hunters carrying crossbows, to measure the percentage of votes cast for political parties defining themselves as socialist etc. These are our meme frequency statistics, or as near as we shall ever get to such a thing. These memes are behaviours, or artefacts that are the products of behaviour, and not abstract informational instantiations in individual brains. And, crucially, individuals do not have any of these memes. They build them, say them, do them, make them, assent to them or deny them, but the memes are entirely outside the human beings that generate them. These meme frequency statistics are not per capita of human populations, and therefore do not constitute a body of data which is formally analogous to that of population genetics. For this reason, there can be no population memetics.“ S. dagegen Einwände von Wilkins 1999. Die Verbindung von Memen zu menschlichen Gehirnstrukturen ist nicht schon deshalb auszuschließen, weil Gedanken schlechter beobachtbar sind als Handlungen und Artefakte: “… it must be noted that the observation of "objective" behaviours suffers exactly the same problems as semantic memes: we have no easy way to identify them, classify and relate them (ie, distinguish homologies from analogies) and measure them purely on the external, observable properties and structures alone. This is because we need to have semantic information about them before we can do any of these things. … If Chomsky's Transformational Grammar or something like it has any validity as a schematic for the neurology of language (cf Pinker 1994) then there is no real objection to memes being in the head in the sense that we can store a certain number of these constructions, and yet generate as many as needed on demand. Gatherer's objection would hold if we had to store all possible memes instead of only these variables and connectives. … If memes are messages, then they are entirely relative to considerations of encoding protocols, language (and logic) forms, and evaluative attitudes that determine recognition and responses. The meme therefore consists in the relationship between the neurological states and resulting behaviours of individuals and these contextual abstractions. ” Es geht also um grundlegende Dispositionen des menschlichen Gehirns und nicht um eine Art Lexikon. Kritisch zu einer Definition von Memen, die sich ausschließlich auf ihre externe Manifestation bezieht, auch Schmid 1999: „In der Literatur werden Meme meist über die Art ihrer Replikation bestimmt. Ein Mem ist die Einheit der Imitation. Diese Antwort ist freilich zirkulär. Was ist es denn, was imitiert wird, wenn jemand eine Geschichte erzählt, die er in der Zeitung gelesen hat, oder Kleidung nach der neusten Mode ttägt, oder halbbewußt eine Melodie vor sich hersummt, die er zuvor im Fahrstuhl zum Büro aufgeschnappt hat, oder ein neues Rezept für Tomatensuppe ausprobiert, welches er von der Schwiegermutter erhalten hat? Es gibt in der memetischen Literatur zwei grundsätzliche Typen von Antworten auf diese Frage: die externalistische und die internalistische. Die externalistische Sicht definiert das Mem als beobachtbare physische Manifestation (vgl. etwa Gatherer 1998). Im Fall der Geschichte und der Melodie wäre das Mem demgemäß die Lautfolge (also Sequenzen von Schallschwingungen), im Fall der Kleidung die Form, Gestalt und Farbe der Stoffe, im Fall der Suppe die chemische Zusammensetzung der Flüssigkeit. Diese externalistische Antwort hat zwar den Vorteil, daß sie dem Mem eine handfeste Wirklichkeit zugesteht. Aber sie gerät schnell in Schwierigkeiten. Zwar mag man zugeben, daß sich alle Meme physisch manifestieren, und sei es nur im fluiden Medium von


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Körperbewegungen, von Licht- und Schallwellen. Aber eine einfache Überlegung zeigt, daß es sich bei diesen Manifestationen nicht um die ontologische Grundstruktur des Mems handeln kann. Zwar müssen sich alle Meme im Prozeß der Replikation physisch manifestieren, aber das Mem selbst muß von seiner physischen Manifestation unterschieden werden. Am Beispiel: Die berühmte Geschichte von der Spinne in der Yuccapalme verändert ihre physische Manifestation vollständig auf ihrem Weg durch die Population. Soweit sie in der Zeitung steht, manifestiert sie sich in Mustern von Druckerschwärze auf Papier. Soweit sie erzählt wird, manifestiert sie sich in Schallwellenmustern, die zudem in verschiedenen Sprachen ganz anderer Art sind. Trotz dieser Unterschiede in der Manifestation bleibt die Geschichte ein- und dasselbe Mem. Ob sie in der Zeitung steht oder auf englisch oder chinesisch erzählt wird: die Geschichte ist dieselbe. Die Frage lautet: Was ist es, das sich beim kompletten Austausch der physischen Manifestation identisch (bzw. unter gelegentlicher Mutation) durchzieht?“ Schmid wendet sich aber ebenso gegen Dawkins Definition, die Meme im Gehirn verortet: „Es ist das offensichtlichste Problem der externalistischen Sicht, daß sie diese Frage nicht recht beantworten kann. Die Gegenposition, die internalistische Sicht, umgeht das Problem, indem sie das Mem als so etwas wie eine »Informationseinheit im Gehirn« (Dawkins 1976) bezeichnet. Das Problem dabei ist, daß das Mem damit der direkten Beobachtung entzogen bleibt. Aber es gibt weitere Schwierigkeiten. Worüber informiert eine Melodie? Und inwiefern ist Information überhaupt »im Gehirn«? Ist das Mem letztlich als Ladungszustand bestimmter Nervenzellen zu beschreiben? Anzunehmen ist, daß das neuronale Bild im Gehirn einer Germanistin, die Hölderlins »Patmos« rezitiert, beträchtlich von jenem eines Schuljungen abweicht, der dieselben Verse hersagt. Trotzdem handelt es sich um ein- und dasselbe Mem. Die Identität des Mems scheint also nicht (oder nicht auf einfache Weise) an dem zu liegen, was im Gehirn der Beteiligten neurologisch vor sich geht.“ Schmid stellt deshalb die ontologisch subjektive Sinndimension in der Konstitution von Memen heraus: „Wir sind nicht einfach ein Teil des »copying environment«, in dem Meme miteinander konkurrieren, und wir sind nicht in dem Sinn »meme machines«, in dem wir der DNA-fixierten Sicht der biologischen Evolu¬tion gemäß »gene machines« sein mögen. Die Analogie versagt, weil DNA ontologisch objektiv, das Mem aber ontologisch subjektiv ist. Da das Bezogensein auf »uns« die Meme im ontologischen Kern ihrer Existenz betrifft, konstituieren wir im Grunde die Meme.“ M.E. wäre hier aber noch zu prüfen, ob diese Abgrenzung gegenüber der biologischen Evolution auch dann so scharf gezogen werden muss, wenn sie sich nicht auf die DNA-fixierte Perspektive (Dawkins u.a.) sondern auf eine erweiterte Sicht der EvoDevo- und Mehrebenenselektionstheorie bezieht, in der zwischen der Replikationsfunktion der Gene und der Interaktionsfunktion der Organismen in ihrer sozialen Nische besser unterschieden wird. 82 Einwand bei Schurz 2011 .... 83 S. dazu auch Ausführungen in der Evolutionären Pädagogik... 84 Wenn von evolutionären Mechanismen die Rede ist, dann geht es immer um die proximaten Faktoren, die in einer bestimmten historischen Konstellation zur Umsetzung der ultimaten Funktion wirken. Die in der evolutionären Psychologie (Tooby/Cosmides u.a.) herausgearbeitete Unterscheidung zwischen ultimaten und proximaten Faktoren stammt von Tinbergen 1963. Für eine Theorie der kulturellen Evolution sind zwei Konsequenzen wichtig: 1. evolutionäre Funktionen sind Konstrukte wissenschaftlicher Beobachtung und nicht Motive des Verhaltens 2. Die verhaltenswirksam verankerten proximaten Faktoren können sich in der Kultur zu eigenständigen Zwecken (und damit in gewissem Umfang auch gegenüber den evolutionären Funktionen) verselbständigen. Beispiel Sexualität und Fortpflanzung.

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85 Zur Leichtigkeit primärer Lernprozesse Cavalli-Sforza 1999, 200f.: „Wenn in einer Klein (Kern-) familie ein Vater oder eine Mutter einem oder mehreren Kindern ein bestimmtes Verhalten lehrt, das man als Neuerung betrachten kann, so ist es sehr wahrscheinlich, daß die Kinder dieses Verhalten annehmen werden, auch weil sie wegen ihres jugendlichen Alters empfänglicher für solche Belehrungen sind. Die Verhaltensneuerung kann eine bereits existierende technische Besonderheit sein, die aber nicht gängiger Usus ist (wie beispielsweise eine bestimmte Art zu jagen oder den Acker zu bebauen), oder eine religiöse Praxis. Sie kann aber auch etwas völlig Neuerfundenes sein. Das Annehmen dieser Neuheit fällt leicht, wenn sie von einem oder beiden Elternteilen übermittelt wird; soll sie sich aber über die Grenzen der Ursprungsfamilie hinaus ausbreiten, so bedarf es entweder anderer Übermittlungsmechanismen, oder aber man muß die folgenden Generationen abwarten, bei denen die auf die neue Weise erzogenen Kinder sie ihren eigenen Kindern weitergeben können. Wie bereits gesagt, ähnelt dieser Übermittlungstypus sehr der Übermittlung bei den Genen und ist unter bestimmten Umständen mit ihr identisch. Die Verbreitung auf alle Mitglieder einer Population durch vertikale Übermittlung ist möglich, doch, wie bei den genetischen Mutanten, sehr langsam. Bei der horizontalen Übermittlung kann die Verbreitung auf eine Population sehr viel schneller vor sich gehen; ist die Neuheit leicht zu erlernen und sind ihre Folgen positiv, so kann eine einzige Generation dazu ausreichen. Wie bei einer Epidemie kann die Ausbreitung auf die Gesellschaft zum Stehen kommen, ehe sie auf die ganze Population übergegriffen hat, und es gibt im Fall der Infektionskrankheiten mathematische Gleichungen, mit denen man solche Abläufe vorhersagen kann. Ähnliche Formeln gelten auch für die kulturelle Übermittlung des horizontalen Typs. Zur Leichtigkeit primärer Lernprozesse s. weitere Ausf. in 3. 86 Dazu Hinweis auf ´Tooby/Cosmides, Buss u.a. 87 S. dazu Ausführungen über die Trägheit von Lernprozessen menschlicher Individuen als Ausgangspunkt für Selektion analog zur Trägheit von Investitionen im Konkurrenzkampf wirtschaftlicher Organisationen – s. Nelson/Winter .... Aus meinem ZfS-Beitrag (2006): „Die Bedeutung dieses kulturellen Trägheitsmoments ist in den besonderen Bedingungen der menschlichen Ontogenese zu erkennen, der in evolutionstheoretischer Perspektive eine Doppelfunktion zukommt: Auf der einen Seite sorgen diese Bedingungen (in Prozessen der Sozialisation, die als gelungen interpretiert werden) für Entwicklungen menschlicher Individuen, die es ihnen erlaubt, sich in den kulturell evoluierten Umwelten zurechtfinden. Auf der anderen Seite sorgen diese Bedingungen (in Prozessen der Sozialisation, die als misslungen interpretiert werden) dafür, dass Teile des kulturell evoluierten Institutionenvorrats nicht tradiert („vergessen“) werden und der Institutionenvorrat insgesamt dadurch von Komplexität entlastet wird und sich regenerieren kann.“ 88 In einseitiger Verkürzung dieser Beobachtung hat der Gehirnforscher Allan Snyder (Sydney) in psychotechnischen Experimenten zu beweisen versucht, dass die menschliche Kreativität (das Innovationspotenzial) einfach dadurch steigerbar wäre, dass Lernprozesse (erlernte Denk- und Verhaltensroutinen) mit Eingriffen in die entsprechenden Hirnareale abgeschaltet werden. 89 Der folgende Abschnitt über erlernte Kompetenzen aus Abrutyn 2012 (noch nicht zitierbar!) als Erklärung dafür verwenden, dass auch sekundäre Sozialisationsprozesse als Replikationseinheiten wirken können – aufgrund der weitgehenden (allerdings nicht unüberwindlichen) Irreversibilität einmal getätigter Lerninvestitionen. “2.5 Mechanisms of Reproductive Isolation The key point of this model is that once an initial population of social forms has been divided into two different populations by the rise of some barrier, these different populations may acquire certain characteristics in the course of their further evolution that prevent them from reproducing together, even if the respective barrier vanishes. They have, as biologists say, acquired certain


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mechanisms of reproductive isolation. Once these mechanisms have been established, the process of speciation is completed, and the differentiation of forms has occurred. In biology, such mechanisms are understood as any morphological, behavioral, or genetic feature that prevents species from interbreeding. Individuals may not interbreed because of genomic incompatibilities because their preferred habitats for mating do not overlap, or simply because their morphological differences do not allow them to mate, etc. In more abstract terms, such mechanisms must be understood as any instance that prevents populations from blending together. In the social sciences, it is, again, the population ecology approach in organizational theory that has dealt most explicitly with the concept of reproductive isolation. McKelvey & Aldrich have been interested in the reasons why different kinds of organizations do not blend. They have argued that this is primarily for epistemic reasons. In their view, organizations are made of "Comps" or "Competencies," which are defined as those elements of knowledge and skill that constitute the dominant competence of an organization. It is because of the differences of such comps that organizational populations are kept apart (McKelvey/Aldrich 1983, 113): Comps in many populations are complicated and difficult to learn. Many managers speak of the years it takes to "learn the business." Engineers, professors, lawyers, doctors, and many other professionals spend years being educated. Others in building trades, police and fire protection, military, etc., spend many years of apprenticeship or other experience-building time gaining knowledge, on the job. "All of this makes learning the comps of a population difficult and so isolates the comps of one population from those of other populations. Finally, the tendency to resist learning of other comps, to be suspicious of new knowledge, to be suspicious of outsiders or of ideas, not invented here" also isolates the comps of different populations. In contrast to biological theory that conceives isolative mechanisms as definitive barriers of species, the population ecology approach assumes that such isolative mechanisms might vanish over time, allowing "blending processes" of organizational populations. Once more, this biological concept can clearly be extended beyond the organic world and into the world of organizations. The history of science, for example, is full of examples that it requires only small differences, concerning certain assumptions, to keep scientific schools and even disciplines apart (e.g. Suarez-Diaz 2009, Cahn,2001). Additionally, one can turn to the works of Norbert Elias (1969, 1982), and Pierre Bourdieu (1987), for such mechanisms of a less epistemic kind; these can be read as studies on those habitual symbols of distinction, acting as isolative mechanisms, that keep milieus or classes apart. Again, it is worth stressing that isolative mechanisms in the social world might be numerous and diverse, making such questions matters of empirical investigations, rather than matters of theoretical consideration; however, any model of evolutionary differentiation must focus not only on the process of differentiation, per se, but also on the mechanisms that maintain the results of that process. By doing so, it sheds some light on those questions of de-differentiation that have always accomplished the theory of differentiation. Once such mechanisms of reproduction have emerged, the fourtier sequence of evolutionary differentiation has been completed, and has given rise to a higher level of social diversity.” 90 Ich erspare mir damit auch differenziertere Ausführungen über die Relevanz verschiedener kognitiver Entwicklungsstufen der Individuen bei der selektiven Konstitution der kulturellen replikationseinheiten. 91 Zur evolutionären Bedeutung des kognitiven Potenzials zur Reflexion die Ausführungen und Beispiele bei Pinker 2011, 1024ff „Rolltreppe der Vernunft“ 92 Im Hinblick auf Formen sozialer Differenzierung in der kulturellen Evolution sind einfache Analogien mit Bezug auf die Differenzierung der Arten in der natürlichen Evolution eher irrefüh-

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rend. Hier ist zunächst als grundlegender Unterschied zu beachten, dass die Differenzierung der natürlichen Arten am Organismus der einzelnen Individuen ansetzt, die Differenzierung der menschlichen Kultur hingegen an ihren Sozialsystemen. Das vermittelnde Glied ist Gruppenselektion. Deshalb können sich Theorien der kulturellen Evolution nicht nur auf Extrapolationen der Gehirnforschung und der Kognitionspsychologie stützen, sondern sind auch auf eine soziologische Perspektive angewiesen. - Zur Kontroverse um Gruppenselektion in der Evolutionsbiologie zusammenfassend Sober/Wilson 1998, 50ff - für eine knappe Übersicht s. auch Kappelhoff 2011. Ich zitiere eine Passage von Ernst Mayr (1997) zur Mehrebenenselektion und zum Konzept der Meme: “Even though most evolutionists agree that the individual organism is the principal object of selection, there is great dissension about also accepting as the object of selection the lower or higher levels in the hierarchies of the living world. The Gene. The proposal by Williams (7) to adopt the gene as the object of selection not only conformed to the prevailing reductionist spirit of the time but also fitted into the thinking of many geneticists who in the mathematical analyses of population genetics had adopted the gene as the principal entity of evolutionary change. Williams’s proposal was strongly endorsed by Dawkins (9). This idea of the gene as the target of selection was at first widely accepted, for instance by Lewontin (10). But eventually it was severely criticized (11, 12), and even its original supporters have now moderated their claims. The critics pointed out that ‘‘naked genes,’’ ‘‘not being independent objects’’ (9), are not ‘‘visible’’ to selection and therefore can never serve as the target. Furthermore, the same gene, for instance the human sickle cell gene, may be beneficial in heterozygous condition (in Plasmodium falciparum areas) but deleterious and often lethal in the homozygous state. Many genes have different fitness values when placed into different genotypes. Genic selectionism is also invalidated by the pleiotropy of many genes and the interaction of genes controlling polygenic components of the phenotype. On one occasion Dawkins (ref. 13, point 7) himself admits that the gene is not an object of selection: ‘‘. . . genetic replicators are selected not directly, but by proxy . . . [by] their phenotypic effects.’’ Precisely! Nor are combinations of genes, as for instance chromosomes, independent objects of selection; only their carriers are. The Gamete. Since only a fraction of all eggs are fertilized and only an infinitesimal fraction of male gametes succeed in fertilizing an egg, gametes are obviously a category of entities subjected to intense selection. It is curious that this is virtually never mentioned in the literature dealing with selection, perhaps because we know so little about fitness differences among gametes. For instance, the success in terrestrial vertebrates of a spermatozoon in fertilizing an egg is presumably quite unrelated to the properties of its haploid genome that makes successful adults. Evidently, the ability to swim rapidly, to be able to sense unfertilized eggs, and to be able to penetrate the egg membrane are the properties of the spermatozoon that are most helpful in achieving success. However, these phenotypic properties of the spermatozoa are presumably produced by the paternal testis and are probably part of the extended phenotype of the male parent. They have nothing to do with the haploid genome of the gametes, which, so far as we can tell, has no influence whatsoever on the fertilizing capacity of these gametes. Chance is presumably the most overwhelmingly important factor at this level. But in other organisms gametes (e.g., plant pollen grains and free swimming gametes in aquatic organisms) seem to have gamete-specific properties influencing mating success. They may be genuine selectors. The Individual Organism. From Darwin to the present day most evolutionists (1) have considered the individual organism to be the principal object of selection. Actually, it is the phenotype which is the part of the individ-


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ual that is ‘‘visible’’ to selection (14). Every genotype, interacting with the environment, produces a range of phenotypes, called by Woltereck (15) the ‘‘norm of reaction.’’ Therefore, when an evolutionist says that the ‘‘genome is a program that directs development,’’ it would be wrong to think of it in a deterministic way. The development of the phenotype involves many stochastic processes which preclude a one-to-one relation between genotype and phenotype. This is, of course, precisely the reason why we must accept the phenotype as the object of selection rather than the genotype. Different phenotypic expressions of the same genotype may differ considerably in their fitness value. What is visible to selection is the phenotype which ‘‘screens off’’ the underlying genotype (2). The term phenotype refers not only to structural characteristics but also to behavioral ones and to the products of such behavior such as bird nests and spider webs. Dawkins (13) refers to these as the extended phenotype. However, such species-specific behaviors are programmed in the neural system of these individuals and thus do not differ in principle from the morphological aspects of the phenotype. In this account, when I refer to the term individual, I always mean what the word individual means in the daily language, that is, the individual organism. Philosophers have also applied the term to ‘‘particulars,’’ like the species. I have avoided this designation because it is apt to create confusion. Group Selection. There has been a long and bitter controversy as to whether groups as cohesive wholes can serve as targets of selection. The answer is ‘‘it depends.’’ There are different kinds of assemblages of individuals (‘‘groups’’), some of which do and others which do not qualify as targets of selection. At one time I classified groups on the basis of size and geographical relationship (16), but this did not turn out to be a productive approach. However, there is another approach which usually produces clear-cut results. It is obvious that a group, the selective value of which is simply the arithmetic mean of the fitness values of the composing individuals (when in isolation), is not a target of selection. If such a group is particularly successful, it is due to the superior fitness of the composing individuals. This idea has often been included in theories of group selection. However, this false or soft group selection is not group selection at all. In contrast, if, owing to the interaction of the composing individuals or owing to a division of labor and other social actions, the fitness of the group is higher or lower than the arithmetic mean of the fitness values of the composing individuals, then the group as a whole can serve as an object of selection. I call this hard group selection. Interestingly, this was already appreciated by Darwin in a discussion of groups of primitive humans (4). Such hard group selection, a prerequisite for the explanation of human ethics, is still controversial. It is sometimes difficult to decide whether the success of a particular group is due to soft or hard group selection. However, when a group of ground squirrels is particularly successful, because it has an efficient system of sentinels warning the group of approaching predators, it is clearly hard group selection. This is also the case when a pride of lionesses splits up to block the escape route of an intended victim. The success of surprise attacks by chimpanzees on members of neighboring troupes depends on the well organized strategy of the attackers. In all such cases the successful group acts as a unit and is as a whole the entity favored by selection. Selection at Higher Levels. There has been much argument about whether there is, or is not, such a phenomenon as species selection. In the early postDarwinian period when thinking about selection was rather confused, it was often said that such and such a character had evolved because it was ‘‘good for the species.’’ This is quite misleading. The selected character had originated because it benefited certain individuals of a species and had gradually spread to all others. The species as an entity does not answer to selection. There is, of course, no question that one species can cause the extinction of another species. The introduction of the Nile perch into

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Lake Victoria in Africa has resulted in the extinction of several hundred endemic species of cichlid fishes. The parasitic cowbird almost exterminated the Kirtland’s warbler in northern Michigan until drastic cowbird eradication procedures in the breeding range of Kirtland’s warbler were adopted. Darwin (3) described in 1859 the extermination of many native New Zealand species of animals and plants by the introduction of competing species from England. The competitors were by no means always close relatives. In spite of all these examples I hesitate to use the term species selection and prefer to call such events species turnover or species replacement because the actual selection takes place at the level of competing individuals of the two species. It is individual selection discriminating against the individuals of the losing species that causes the extinction. Some authors have also attempted to recognize even higher levels such as family selection or clade selection, but in no case are these entities as such the object of selection. Selection in these cases always takes place at the level of individuals. Terms for the Object of Selection A number of terms have been suggested for the entity favored by selection, but all of them, as I will show, are equivocal or saddled with the misleading meaning of their former everyday usage. Unit of Selection. This term was introduced by Lewontin (10) to designate the object of selection. In science as well as in daily life the term unit usually means some measurable entity. We have units of length, weight, and time, and we have electrical units like volt, watt, ohm, etc. Clearly, unit of selection does not refer to this kind of unit. Occasionally, we also use the word unit for concrete entities, for example, ‘‘The president sent several units of marines to the area of the disturbances.’’ The term unit of selection was adopted by many authors, but many others found it so unsuitable that they introduced new terms. Owing to its ambiguity, the term unit has been used less and less frequently in recent years. Replicator. Dawkins, the author of this term, states, ‘‘We may define a replicator as any entity in the universe which interacts with its world, including other replicators in such a way that copies of itself are made’’ (17). He also states that ‘‘a DNA molecule is the obvious replicator.’’ In other words, replicator selection is essentially a new word for gene selection. One of the advantages of his term, says Dawkins, is that it automatically preadapts our language to deal ‘‘with non-DNA forms of evolution such as may be encountered on other planets.’’ This strikes me as a rather curious excuse for introducing a new term into science. With the phenotype of the individual rather than the gene being the target of selection, the term replicator becomes irrelevant. The term is, of course, in complete conflict with the basic Darwinian thought. What is important in selection is the abundant production of new phenotypes to permit the species to keep up with possible changes in the environment. This is made possible by meiosis and sexual reproduction. The replication of DNA has nothing to do with this. To be sure, Mendel’s discovery of the constancy of genes, confirmed by all the subsequent work in genetics and molecular biology, is a very efficient way to achieve rapid and unambiguous evolutionary change, and it refuted the inheritance of acquired characters. But such constancy is not a necessity for selection. For Darwin inheritance of acquired characters and a direct effect of the environment were compatible with natural selection. He did not demand complete constancy of the genetic material. Since the gene is not an object of selection (there are no naked genes), any emphasis on precise replication is irrelevant. Evolution is not a change in gene frequencies, as is claimed so often, but the maintenance (or improvement) of adaptedness and the origin of diversity. Changes in gene frequency are a result of such evolution, not its cause. The claim of gene selection is a typical case of reduction beyond the level where analysis is useful. Vehicle.


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In due time Dawkins (17) realized that the individual reproducing organism did have a role in the selection process. But being a gene selectionist, he saw this role only as the function to serve as a transport mechanism for the genes. He therefore introduced for individuals the terms ‘‘vehicle.’’ Doing so, he missed the decisive point that the phenotype is far more than a vehicle for the genotype. The term vehicle altogether fails to bring out the important role of the phenotype in the process of selection. Interactor. Hull (18) realized the unsuitability of the term vehicle because he appreciated that the object of selection acts ‘‘as a cohesive whole with its environment.’’ To stress this interaction he proposed the term interactor ‘‘as an entity that directly interacts as a cohesive whole with its environment in such a way that replication is differential.’’ The term interactor has a number of weaknesses. One is the stress on replication while omitting any reference to the production of variation during meiosis and reproduction. More serious is the fact that interactor is not a specific term for the object of selection. Every cell is an interactor; every organ of an organism interacts with the other organs, species interact, and so do classes of individuals such as the two sexes. Also, interacting is not conspicuous during the process of elimination that results in natural selection. In biology interaction is far more pertinent to functional than to evolutionary biology. When one hears the word interactor, one’s first thought would never be natural selection. What is needed is a more specific term. Target of Selection. For many years I used the term target of selection for the object of selection. The more I realized, however, that natural selection is an elimination process, the more I realized that the eliminated individuals were the real target of the selection process and that it was rather misleading to call the ‘‘leftovers’’ the target of selection. Meme. Dawkins (19) has introduced the term ‘‘meme’’ for the entities subject to selection in cultural evolution. It seems to me that this word is nothing but an unnecessary synonym of the term ‘‘concept.’’ Dawkins apparently liked the word meme owing to its similarity to the word gene. In neither his definition nor the examples illustrating what memes are does Dawkins mention anything that would distinguish memes from concepts. Concepts are not restricted to an individual or to a generation, and they may persist for long periods of time. They are able to evolve. Selecton. Since all the previously used technical names for the object of selection are unsuitable for one reason or another, I am herewith proposing a new term, ‘‘selecton.’’ A selecton is a discrete entity and a cohesive whole, an individual or a social group, the survival and successful reproduction of which is favored by selection owing to its possession of certain properties. The selecton is the answer to Sober’s question ‘‘selection of?’’ (see above). This still leaves us with Sober’s other question.” 93 In diesem Abschnitt ist vor allem das schon in den basalen Replikationseinheiten angelegte Konfliktpotential zu entfalten - mit Querbezügen von der Memetik zur Mimetik, also Nachahmung (s. Tarde, Girard u.a.) s. dazu schon Ausf. zu Nachahmung oben Anschließend wäre auf Konfliktvermeidung durch Ebenenunterscheidungen und deren Evolution eingehen - Mikro-/Makro-/Meta-Ebene. Meme auf der Meta-Ebene (s. Religion) - und wieder aufzunehmen unter dem Aspekt des Konflikts der Differenzierungsformen in der Moderne. Einige Passagen in diesem Abschnitt sind meinem Beitrag über evolutionstheoretische Aspekte der Ebenenunterscheidung in Luhmanns Theorie sozialer Systeme (für ZfS-Sonderband) entnommen. 94 S. dazu Miller, Zahavi und speziell im Hinblick auf Replikation Blackmore 2003: 78f: „Für Frauen wird es im allgemeinen von Nutzen sein, sich mit erfolgreichen Männern zu paaren, und erfolgreich sind - in jener imaginierten menschlichen Vergangenheit - diejenigen, die am

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besten darin sind, die gegenwärtig jeweils wichtigen Meme zu kopieren. Sexuelle Selektion kann darum die Auswirkungen des memetischen Antriebs verstärken. Ein selbstverstärkender Prozeß der sexuellen Selektion könnte damit ins Rollen geraten. Nehmen wir zum Beispiel an, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt die erfolgreichsten Männer Memquellen waren. Ihr biologischer Erfolg hing von ihrer Fähigkeit ab, die besten Werkzeuge oder Fertigkeiten im Feuermachen zu kopieren, doch ihre generelle Fähigkeit zur Imitation bedeutete auch, daß sie die auffälligsten Kleider trugen, die detailreichsten Bilder malten oder die populärsten Melodien summten. In dieser Situation wäre es von Vorteil, sich mit einem guten Maler zu paaren. Der Bevölkerungsanteil von Frauen, die gute Maler als Partner wählten, würde steigen, und dies würde wiederum den guten Malern einen weiteren Vorteil verschaffen, der von dem ursprünglichen biologischen Vorteil durchaus verschieden ist. Er bestünde darin, daß die Nachkommenschaft guter Maler, wenn die Wahl der Frauen vorzugsweise auf gute Maler fällt, mit größerer Wahrscheinlichkeit von Frauen bevorzugt würde und somit selbst wiederum eine größere Zahl von Nachkommen hätte. Dies ist die Crux selbstverstärkender sexueller Selektion, und wir können erkennen, wie diese auf vorhergehender memetischer Evolution aufbauen mag. Miller (1998, 1999) hat geltend gemacht, daß künstlerische Fähigkeiten und Kreativität als Werbungsverhalten um Frauen sexuell selektiert wurden. Dafür hat er zahlreiche Beispiele angeführt, etwa Belege dafür, daß Musiker und Künstler vorzugsweise männlich sind und ihre produktivsten Phasen während des frühen Erwachsenenalters erleben. Dennoch gibt es Unterschiede zwischen seiner Theorie und der hier vorgeschlagenen. So erklärt er nicht, wie oder warum dieser Prozeß begonnen haben mag, während der vorliegenden Theorie zufolge die Voraussetzungen dafür durch das Aufkommen der Imitation und damit der memetischen Evolution geschaffen wurden. Millers Theorie zufolge fungieren die Lieder, Tänze und Bücher als ein Schauverhalten im Prozeß sexueller Selektion, doch sei die Konkurrenz zwischen ihnen kein wichtiger Teil des Prozesses selbst. Der hier vorgeschlagenen Theorie zufolge konkurrieren Meme untereinander darum, sowohl von Frauen als auch von Männern kopiert zu werden, und das Ergebnis dieses Wettbewerbs gibt die Richtung sowohl der Evolution der Meme als auch der sie kopierenden Gehirne vor. Ob dieser Prozeß tatsächlich aufgetreten ist oder nicht, ist eine empirische Frage. Es ist zu beachten, daß ich manchmal fälschlich so verstanden worden bin, als baute ich mein ganzes Argument auf die sexuelle Selektion guter Imitatoren auf (Aunger 2000). Der grundlegendere Prozeß des memetischen Antriebs kann jedoch mit oder ohne die zusätzlichen Auswirkungen der sexuellen Selektion funktionieren.“ 95 Dazu hier ausführlicher Tarde (2009) zitieren und mit dramatischer Zuspitzung Girard (2005) ... S. außerdem die vielen historischen Belege über Konkurrenzkonflikte mit tödlichem Ausgang für Kinder (häufig als literarische Motive in Märchen oder Königsdramen verborgen) in dem Abschnitt „Kinderrechte und der Rückgang von Kindesmord, Prügelstrafe, Kindesmisshandlung und Schikanen“ in Pinker 2011, Kap. 7 ... „Früher praktizierten alle Familien den Kindesmord. Alle Staaten führen ihren Ursprung auf Kindesmord zurück. Alle Religionen nahmen ihren Anfang mit der Verstümmelung und Ermordung von Kindern.“ DeMause, Alle Familien,1994 zit. in Pinker, ohne Seitenangabe... Zur Erklärung für Konflikte zwischen Eltern und Nachkommen führt Pinker (im Rekurs auf Dawkins, 1978/1996; Hrdy, 2000; Trivers, 1974, 1985) aus: „Ein gewisses Maß an Konflikten zwischen Eltern und Nachkommen hat seine Wurzeln in der evolutionären Genetik der Familie. Eltern müssen ihre Investitionen (an Ressourcen, Zeit und Risiken) auf alle Kinder aufteilen, die geborenen ebenso wie die ungeborenen. Unter sonst gleichen Umständen ist jedes Kind gleichermaßen wertvoll, aber jedes profitiert zu der Zeit, wenn es klein und hilflos ist, von den elterlichen Investitionen mehr, als


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wenn es für sich selbst sorgen kann. Das Kind sieht die Dinge anders. Es hat zwar ein Interesse am Wohlergehen seiner Geschwister, denn mit diesen hat es jeweils die Hälfte seiner Gene gemeinsam; mit sich selbst teilt es jedoch sämtliche Gene, und deshalb ist das Interesse an seinem eigenen Wohlergehen unverhältnismäßig viel größer. Das Spannungsverhältnis zwischen dem, was die Eltern wollen (eine gleichmäßige Aufteilung ihrer irdischen Bemühungen auf alle ihre Kinder), und dem, was die Kinder wollen (einen einseitigen Nutzen für sich selbst im Vergleich zu den Geschwistern), bezeichnet man als Konflikt zwischen Eltern und Nachkommen. In dem Konflikt geht es auch dann um die Investitionen der Eltern in ein Kind und seine Geschwister, wenn diese Geschwister noch gar nicht existieren: Eltern müssen auch Kraft für zukünftige Kinder und Enkelkinder aufsparen. Eigentlich ist das erste Dilemma des Elterndaseins - die Frage, ob man ein Neugeborenes behält - nur ein Sonderfall des Konflikts zwischen Eltern und Nachkommen. Die Theorie des Konflikts zwischen Eltern und Nachkommen sagt nichts darüber aus, wie viel Investitionen ein Nachkomme verlangen sollte oder wie viel Investitionsbereitschaft die Eltern haben sollten. Ihre Aussage lautet nur: Ganz gleich, wie viel die Eltern geben wollen, die Nachkommen wollen immer ein wenig mehr. Kinder weinen, wenn sie Hilfe brauchen, und die Eltern können das Schreien nicht ignorieren. Man kann aber damit rechnen, dass Kinder ein wenig lauter und länger schreien, als es ihrem objektiven Bedarf entspricht. Eltern disziplinieren ihre Kinder, um sie von Gefahren fernzuhalten, und sozialisieren sie so, dass sie leistungsfähige Mitglieder ihrer Gemeinschaft werden. Man kann aber damit rechnen, dass Eltern ihre Kinder zugunsten der eigenen Bequemlichkeit ein wenig mehr disziplinieren und sie ein wenig mehr auf Anpassung gegenüber Geschwistern und Verwandten hin sozialisieren, als es im Interesse der Kinder selbst wäre. Wie immer bezeichnen die teleologischen Begriffe in dieser Erklärung - »wollen«, »Interessen«, »für« - keine Bestrebungen im Geist der Menschen, sondern sie sind abgekürzte Beschreibungen für den Evolutionsdruck, der diesen Geist geprägt hat.“ (Pinker 2011, 638f.) „Das Verbot der Prügelstrafe stellt eine verblüffende Veränderung gegenüber den Jahrtausenden dar, in denen Kinder als Besitz ihrer Eltern galten und es angeblich niemand anderen etwas anging, wie sie behandelt wurden. Es steht aber im Einklang mit anderen staatlichen Eingriffen in das Familienleben wie Schulpflicht, vorgeschriebene Impfungen, die Entfernung von Kindern aus einem gewalttätigen Umfeld, die Anwendung lebensrettender medizinischer Maßnahmen trotz der Weigerung religiöser Eltern und das Verbot der Genitalverstümmelung in Gemeinschaften muslimischer Immigranten in Europa. Nach einer bestimmten Geisteshaltung ist diese Einmischung totalitärer Zwang, den die Staatsmacht in der Intimsphäre der Familie ausübt. Nach einer anderen jedoch ist sie ein Teil der historischen Strömung zur Anerkennung der Selbstbestimmung des Einzelnen. Kinder sind Menschen, und wie Erwachsene haben sie ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (einschließlich der Genitalien), das durch den Gesellschaftsvertrag, der dem Staat seine Macht verleiht, gesichert wird. Dass andere Menschen - ihre Eltern - einen Eigentumsanspruch auf sie erheben, kann dieses Recht nicht außer Kraft setzen.“ (Pinker 2011, 647f.) Pinkers Darstellung der zunehmenden Durchsetzung des Tötungsverbots an Neugeborenen in der frühen Neuzeit vernachlässigt allerdings den Umstand, dass sie sich nicht nur einer Zunahme der Binnenmoral, sondern zunächst auch der demographischen Aufrüstung im Außenverhältnis verdankt. Vermutlich haben erst die sinkenden Geburtenraten (im Zusammenhang mit zunehmender wirtschaftlicher Unabhängigkeit der Frauen unter Bedingungen der Lohnarbeit) den Kindesrechten unabhängig von demographischen Konkurrenzmotiven zum Durchbruch verholfen. 96 Zur Entfaltung der Konfliktthematik in der Memetik Hinweise bei Gatherer 2005: “There has been a lot of interest within the memetics community in the issue of terrorism (eg.Marsden

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2001; Lynch 2002). It was even briefly alluded to by Dawkins (1976). Memeticists often seem convinced that this is an area where the approach can make some kind of contribution. There is also a wealth of literature on the subject from other academic disciplines, including social simulation (Raczynski 2004; Eidelson & Lustick 2004), and terrorist behaviour has been variously assessed as a form of reactive warfare, organised crime, or psychopathology. There is, in at least one case, an impressive body of quantitative data: the CAIN database on the conflict in Northern Ireland from 1969-2001, available from the University of Ulster (http://cain.ulst.ac.uk). This database contains details on every politically motivated killing (over 3600 of them) during the 32 year period of its coverage, as well as data on the political and economic background.” ... 97 Dazu schon Tarde (1898): „An historischer Bedeutung ist keine andere geistige Interferenz mit der von Begehren und Glauben vergleichbar. Dazu gehören jedoch nicht jene zahlreichen Fälle, in denen Überzeugungen oder Meinungen eine Neigung dadurch veredeln, daß sie ein anderes Begehren hervorrufen. Vielmehr gibt es eine beträchtliche Anzahl von Fällen, in denen sich die Idee dem Begehren, auf das sie trifft und das sie verstärkt, anbietet. Zum Beispiel will ich ein Redner in der Abgeordnetenkammer werden, und das Kompliment eines Freundes überzeugt mich davon, daß ich soeben ein großes Redetalent gezeigt habe. Dann steigert diese Überzeugung meinen Ehrgeiz. Übrigens trägt der Ehrgeiz auch dazu bei, daß ich mich überzeugen lasse. Deshalb gibt es keinen historischen Irrtum, keine noch so grausame oder verrückte Verleumdung und keine Unsinnigkeit, die sich, um glaubwürdig zu werden, nicht leicht der Gunst insbesondere jener politischen Leidenschaft bedienen könnte, die sie schürt. Eine Überzeugung schürt ein Begehren zum einen, weil durch sie das Objekt des Begehrens für erreichbarer gehalten wird, zum anderen, weil sie die Anerkennung davon darstellt. Nun, um unsere Parallelen zu Ende zu führen, ein letztes Beispiel. Es kommt auch vor, daß ein Mensch bemerkt, er könne im Interesse seiner eigenen Absichten von der Überzeugung anderer, die er im übrigen nicht teilt, profitieren, wiewohl die anderen seine Absichten nicht teilen. Diese Entdeckung ist ein Einfall, der von Betrügern genutzt wurde und wird.“ 98 In einer Nachbemerkung zum Mem-Kapitel in „Das egoistische Gen“ bemerkt bemerkt Dawkins, dass der religiöse Charakter von Memen zu altruistischen Gewalttaten motivieren kann: „Glaube kann keine Berge versetzen (auch wenn Generationen von Kindern feierlich das Gegenteil erzählt wird und sie es glauben). Aber er ist in der Lage, Menschen zu derart gefährlichem Wahnsinn zu treiben, daß er sich in meinen Augen als eine Art Geisteskrankheit qualifiziert. Es gibt Leute, die so stark an etwas - was auch immer es sein mag - glauben, daß sie in extremen Fällen bereit sind, dafür zu töten oder zu sterben, ohne die Notwendigkeit einer weiteren Rechtfertigung. ... Glaube ist mächtig genug, um Menschen gegen alle Bitten um Gnade oder Vergebung, gegen alle Appelle an ihre Menschlichkeit immun zu machen. Er macht sie sogar immun gegen Angst, wenn sie ehrlich daran glauben, daß ein Märtyrertod sie direkt in den Himmel schickt. Was für eine Waffe! Religiöser Glaube verdient ein eigenes Kapitel in den Annalen der Kriegstechnologie, auf gleicher Stufe mit dem Langbogen, dem Schlachtroß, dem Panzer und der Wasserstoffbombe.“ (528) Dawkins wertetet dies aber (aus zeitgenössisch verengter Sicht) vorschnell als Verrücktheit und verkennt damit den religiösen Zusammenhang mit der traditionellen Dichotomie zwischen Innenund Außenmoral. Aus demselben Grund auch seine überscharfe - und dadurch apologetische - Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Religion (Dawkins 1991). S. dazu nochmal Passagen in m. Reli-Skizzen... 99 Literaturhinweise Wade, Bellah, Sober/Wilson ... 100 Dazu eine Passage aus Tarde 2009, 175f.: „Die Geschichte der Gesellschaften sowie die psychologische Entwicklung besteht also, wenn sie detailliert untersucht wird, aus einer Abfolge oder einem Nebeneinander von logischen Zweikämpfen (wenn es sich


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nicht um logische Verbindungen handelt). Das, was mit der Schrift geschah, fand zuvor schon bei der Sprache statt. Die sprachliche Entwicklung vollzieht sich zunächst durch Nachahmung, dann durch den Verdrängungskampf zwischen zwei Sprachen oder Dialekten, um das gleiche Gebiet, oder zwischen zwei Redensarten oder Redewendungen, die auf die gleiche Idee antworten. Dieser Kampf ist ein Konflikt zwischen gegensätzlichen Thesen, die jedem Wort oder jeder Wendung innewohnen, welche ein anderes Wort oder eine andere grammatikalische Form zu ersetzen sucht. Wenn mir in dem Moment, in dem ich an Pferd denke, zwei Begriffe in den Sinn kommen, equus und caballus, die aus zwei verschiedenen lateinischen Dialekten stammen, dann ist das, als ob dem Urteil: »Es ist besser, dieses Tier mit equus als mit caballus zu bezeichnen«, in mir von dem anderen Urteil: » Es ist besser, caballus als equus zu sagen« widersprochen wird. Wenn ich, um den Plural auszudrücken, zwischen zwei Endungen zum Beispiel i und e wählen kann, wird diese Option auch von widersprüchlichen Urteilen begleitet. Als sich die romanischen Sprachen ausbildeten, gab es in den galloromanischen, spanischen und italienischen Köpfen Tausende von Widersprüchen dieser Art. Das Bedürfnis, diese aufzulösen, ließ die modernen Sprachen entstehen. Was die Philologen die allmähliche Vereinfachung der Grammatiken nennen, ist nur das Ergebnis einer Eliminierungsarbeit, die von dem vagen Gefühl dieser impliziten Widersprüche hervorgerufen wurde. Deshalb endet zum Beispiel das Italienische im Plural immer auf i und das Spanische immer auf s, während das Lateinische mal auf i und mal auf s endete. ... In den elementaren Sprachzweikämpfen, von denen oben die Rede war, ist der althergebrachte Begriff oder die gegebene Redeweise bestätigend und der neue Begriff oder die neue Redeweise verneinend. Im religiösen Zweikampf behauptet das offizielle Dogma etwas und das häretische bestreitet es, so wie später, als die Wissenschaft tendenziell die Religion ersetzt, die anerkannte Theorie jene Behauptung ist, die von der neuen Theorie bestritten wird. Die juridischen Kämpfe sind von zweierlei Art: eine im Innern jedes Parlaments oder Kabinetts, das über ein Gesetz oder Dekret berät und eine im Innern jedes Gerichts, in dem eine Sache vertreten wird. Der Gesetzgeber muß immer zwischen der Annahme eines Gesetzesentwurfs, d. h. dessen Bejahung oder dessen Zurückweisung, d. h. dessen Verneinung wählen. Und vom Richter weiß man, daß jedweder Prozeß, der ihm zugeteilt ist, zwischen einem Kläger stattfindet, der den Sachverhalt bejaht, und einem Verteidiger, der ihn verneint - was eine unbemerkte, aber dennoch bedeutende Einzelheit darstellt. Wenn der Verteidiger seinerseits eine sogenannte Gegenklage einreicht, handelt es sich um einen zusätzlichen Prozeß, der dem Hauptprozeß angehängt wird. Wenn dritte sich einmischen, bekleiden sie abwechselnd die Eigenschaft des Klägers oder die des Verteidigers. Sie vervielfachen durch ihre Anwesenheit die Anzahl der kleinen verschiedenen Prozesse, die in jenen großen komplexen Prozeß eingeschlossen sind. Bei den Regierungskämpfen muß man externe und interne Konflikte unterscheiden. Letztere, die Bürgerkriege genannt werden, wenn sie auf dem Höhepunkt ihrer Intensität bewaffnet stattfinden, stellen zu normalen Zeiten die parlamentarischen Debatten oder den Wahlkampf der Parteien dar. Bei einem äußeren Kampf gibt es da nicht immer eine angreifende und eine sich verteidigende Armee ? Eine Armee, die eine Kampfhandlung vornehmen will, und eine, die das nicht will ? Und ist vor allem die Ursache des Krieges nicht immer eine Anspruchsäußerung einer Macht, die eine andere ablehnt oder, wenn es sich um den Kampf von Lehren handelt, ein von einer der kriegführenden Mächte bestimmtes und aufgezwungenes Dogma, das von der anderen zurückgewiesen wird ? Bei den Wahlkämpfen oder den parlamentarischen Debatten gibt es genauso viele verschiedene Auseinandersetzungen, wie es vorgeschlagene Maßnahmen oder aufgestellte Prinzipien gibt, die angefochten werden oder denen widersprochen wird. Dieser Prozeß zwischen einem offiziellen Kläger und einem oder vielen widersprechenden Verteidigern wird seit der ersten Bildung einer Re-

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gierung oder eines Ministeriums unter vielen Vorwänden immer wieder aufgefrischt und endet entweder mit der Vernichtung der Opposition, zum Beispiel 1594 durch die Niederlage der Katholischen Liga, oder mit dem Sturz der Regierung oder des Ministeriums. 101 Mit der unten erwähnten Ausnahme 1991 ... 102 In dieser Hinsicht hier nochmal Querbezüge zum Thema Religion und Verankerung im kindlichen Denken – dazu affirmativ Luckmann, kritisch Freud. 103 Zu Nachahmung und Innovation (im Anschluß an Tarde 2009) Girard 2005, 219: „Meiner Ansicht nach beweist die Neigung, den Begriff der Innovation immer »radikaler« und in immer stärkerem Maße antimimetisch zu definieren, mit der Folge der eben beschriebenen wahnwitzigen Eskalation nichts anderes als eine Kapitulation des modernen Intellekts vor jenem mimetischen Druck - eine kollektive Bereitschaft zum Selbstbetrug, für den Marx selbst trotz all seiner Einsichten das beste Beispiel abgibt. Wie zahlreiche Intellektuelle des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts sieht Marx in der Konkurrenz das Übel par excellence, ein Übel, das man folglich abschaffen muß, so wie den freien Markt — das einzige Wirtschaftssystem, das den Wettbewerbsgeist in konstruktive Anstrengungen zu kanalisieren erlaubt, statt ihn bis hin zur physischen Gewalt zu steigern oder ihn völlig erlahmen zu lassen. Dem rein historischen Denken von Marx entgehen die komplexen anthropologischen Konsequenzen der demokratischen Gleichheit, die Tocqueville wahrgenommen hatte. Marx hat nicht den Wandel in der Art und Weise der Nachahmung gesehen; er vermochte die entfesselte mimetische Rivalität nicht aus der Preisgabe der transzendenten Vorbilder und des Zusammenbruchs des hierarchischen Denkens zu erklären. Anstelle einer luziden Analyse dieser Phänomene war deren Unterdrückung für das intellektuelle Klima der letzten Jahrzehnte bestimmend - und aus solcher Unterdrückung entspringt bekanntlich, was bei Nietzsche Ressentiment heißt. Gewiß gab es eine ganze Reihe ruhmreicher Ausnahmen. Doch die meisten Intellektuellen haben den Weg des geringsten Widerstands gegenüber der »internen Vermittlung« gewählt, und ihre zwanghafte Beschäftigung mit ihren eigenen Rivalen ging regelmäßig mit der erbitterten Ablehnung der mimetischen Rivalität und mit einer nicht geringeren Entschlossenheit einher, dieses abscheuliche Verhalten mittels politischer Revolutionen und Kulturrevolutionen zu beseitigen. Ergebnis: Die meisten Theorien, die in Europa im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert im Schwange waren, bildeten die ästhetische oder philosophische Entsprechung zu der wirtschaftlichen Autarkie in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und hatten die gleichen verheerenden Wirkungen. Statt einen neuen Blick auf die Imitation zu werfen und ihre konflikthafte Seite zu entdecken, hat die ewige Avantgarde einen rein defensiven und letztlich selbstzerstörerischen Krieg gegen sie geführt. Wenn die Demut, die der Meister-Schüler-Beziehung innewohnt, als demütigend erlebt wird, so wird die Weitergabe des Vergangenen schwierig, wenn nicht unmöglich. Die angebliche Gegenkultur der sechziger Jahre stellte einen krisenhaften Moment in dieser merkwürdigen Rebellion dar, einen Aufstand nicht nur gegen alle Formen des Konkurrenzwahns im modernen Leben, sondern gegen das Prinzip der Erziehung als solches. Die Avantgardekultur hat den Innovationsbegriff so barbarisch entstellt, daß wir uns erneut dem Wirtschaftsleben zuwenden müssen, um zu verstehen, inwiefern unsere Welt der internen Vermittlung so innovativ ist.“ 104 Zu neuronalen Voraussetzungen der kognitiven Kompetenz zur Nachahmung s. auch die Diskussion über Spiegelneuronen, Rizzolatti/Gallese 2008. Dazu eher skeptisch Pinker 2011, 854f. : „Um 1992 entdeckten der Neurowissenschaftler Giacomo Rizzolatti und seine Kollegen im Gehirn eines Affen besondere Neuronen, die nicht nur dann Impulse abgaben, wenn der Affe eine Rosine aufhob, sondern auch wenn er zusah, wie ein Mensch eine Rosine aufhob. Andere Neu-


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ronen reagierten auf andere selbst ausgeführte oder beobachtete Tätigkeiten wie Berührungen und Zerren. Das Gehirn menschlicher Versuchspersonen kann man als Neurowissenschaftler zwar in der Regel nicht mit Elektroden anstechen, wir haben aber Grund zu der Annahme, dass es solche Spiegelneuronen auch bei Menschen gibt: In Experimenten mit bildgebenden Verfahren hat man im Scheitellappen und im unteren Teil des Stirnlappen insbesondere Areale gefunden, die sowohl dann aufleuchten, wenn der Mensch sich bewegt, als auch dann, wenn er die Bewegungen eines anderen sieht. Die Entdeckung der Spiegelneuronen war wichtig, sie kam aber nicht völlig unerwartet: Wir könnten kaum ein Verb sowohl in der ersten als auch in der dritten Person verwenden, wenn unser Gehirn nicht in der Lage wäre, eine Tätigkeit unabhängig davon, wer sie ausführt, in der gleichen Weise zu repräsentieren. Wenig später wurde um die Entdeckung aber ein ungeheurer Wirbel gemacht. Ein Neurobiologe behauptete, die Spiegelneuronen würden für die Neuro-wissenschaft das Gleiche bedeuten wie die DNA für die Biologie. Andere priesen, unterstützt und angestiftet von Wissenschaftsjournalisten, die Spiegelneuronen als biologische Grundlage für Sprache, Intentionalität, Nachahmung, kulturelles Lernen, Launen und Moden, die Gefühle von Sportfans, Fürsprachegebete und natürlich Empathie. Leider wirft die Theorie der Spiegelneuronen aber ein winzig kleines Problem auf: Die Tiere, bei denen diese Nervenzellen entdeckt wurden - Rhesusaffen - sind eine boshafte Spezies, an der keine Spur von Mitgefühl (oder von Nachahmung, ganz zu schweigen von Sprache) zu erkennen ist. Ein anderes Problem besteht, wie wir noch genauer erfahren werden, darin, dass die Spiegelneuronen sich vorwiegend in Gehirnregionen befinden, die nach den Befunden der neuronalen Bildgebung kaum etwas mit Empathie im Sinn mitfühlender Besorgnis zu tun haben. Viele kognitive Neurowissenschaftler haben den Verdacht, dass die Spiegelneuronen eine Rolle spielen, wenn das Konzept einer Tätigkeit im Geist repräsentiert wird, aber selbst das ist umstritten. Die Behauptung, man könne mit ihnen einzigartige menschliche Eigenschaften erklären, wird von den meisten Fachleuten abgelehnt, und praktisch niemand setzt heute die Tätigkeit der Spiegelneuronen mit dem Mitgefühl gleich.“ 105 Dazu Dawkins 1994, 320f: „Wir brauchen nicht nach herkömmlichen biologischen Überlebenswerten von Merkmalen wie Religion, Musik und rituellem Tanz zu forschen, obwohl diese ebenfalls vorhanden sein mögen. Nachdem die Gene einmal ihre Überlebensmaschinen mit einem Gehirn ausgestattet haben, das zu rascher Imitation fähig ist, werden die Meme automatisch das Ruder übernehmen. Wir brauchen der Imitation nicht einmal einen genetischen Vorteil zuzuschreiben, obwohl dies mit Sicherheit eine Hilfe wäre. Es ist nichts weiter nötig, als daß das Gehirn zur Imitation fähig ist: Dann werden sich Meme herausbilden, die diese Fähigkeit bis zum äußersten ausnutzen.“ 106 Hier evtl. auch auf den umgekehrten Vorgang hinweisen, in dem die ältere Generation durch Interaktion mit der Jüngeren gewissermaßen nachsozialisiert wird, indem sie verdrängten Erlebnisse der eigenen Kindheit wieder begegnet und sie aufarbeitet. S. Doehlemann, Montagu ... 107 Zur Frage der Konkurrenz zwischen verschiedenen Elementareinheiten der Kommunikation Schurz (2011: 232f): „Die Meme aufgeklärt-rationaler Überzeugungssysteme unterscheiden sich von Memen fundamentalistisch-dogmatischer Überzeugungssysteme in einer grundlegenden Hinsicht. Eine subtile Strategie von fundamentalistischen Memen, ihre Ausbreitung zu erhöhen, besteht nämlich in Immunisierungsmechanismen gegenüber Kritik, was in der „Memsprache" bedeutet, dass das Eindringen rivalisierender Meme in den Rezipienten verhindert wird. Als Beispiel führt Dennett (1997, 485) die Meme fundamentalistischreligiösen Glaubens an, die unter anderem deshalb so erfolgreich sind, weil diese Religionen lehren, dass man Gott nicht prüfen soll; vielmehr kann nur der voller Überzeugung Glaubende Gott erfahren. Die für Aufklärung und Wissenschaft grundlegende Methode der kritischen Uberprüfung wird damit ausgeschlossen ...

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Da der Glaubende durch seinen fundamentalistischen Glauben veranlasst wird, sein Denken von allen Gedanken frei zu halten, die seinen Glauben in Zweifel ziehen könnten, büßt er seine Lernfähigkeit ein und bleibt an den fundamentalistischen Memen hängen wie die sprichwörtlichen Fliegen am Honig. Im Gegensatz dazu vertritt das aufgeklärt-rationale Weltbild die Selektionskriterien der sachlichen Begründbarkeit. Meme sollen durch Überzeugung, nicht durch Werbung oder Indoktrination, übermittelt werden, denn nur diese Methode ist mit dem Anspruch der Aufklärung auf Selbstbestimmung und Kritikfähigkeit vereinbar. Da die Methode der Ausfilterung konkurrierender Meme für die Meme aufgeklärter Rationalität inakzeptabel ist, haben es diese Meme in der KE vergleichsweise schwerer. Andererseits dient diese Methode der Zulassung von Kritik langfristig einer ungleich effektiveren und umfassenderen Annäherung an die Wahrheit, und sie hilft auch in praktischer Hinsicht, kriegerische Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Glaubenssystemen zu vermeiden .... Die Zulassung von konkurrierenden Memen kann man in dieser Sichtweise als ein kooperatives Fairplay-Prinzip zwischen Memen auffassen, wogegen fundamentalistische Meme rein egoistisch orientiert sind. Noch allgemeiner kann gesagt werden, dass die Funktion einer Weltanschauung oder eines Paradigmas (im Sinne von Kuhn 1967) darin liegt, gewisse Selektionskriterien fur Meme vorzugeben und andere auszuschalten. Eine Weltanschauung ist also nicht nur auf der „Objektebene" ein Memkomplex, sondern besitzt auch auf der „Metaebene" die Funktion, die Aufnahme von neuen Memen durch das Individuum zu steuern (vgl. Schurz 2009b).“ Aber gibt es in diesem Sinne wirklich „Meme aufgeklärter Rationalität“? In dieser Beschreibung zeigen sich m.E. erneut Probleme der weit gefassten Definition. 108 Zur Koevolution von Memen und Replikationsapparat s. schon die oben (Endnote in 1.1) zitierte Passage von Blackmore. In etwas anderer Terminologie wird diese Koevolution auch beschrieben bei Cloak 1975: „The outcomes of the i-culture-mculture interactions can be summarized thus: An i-culture builds and operates m-culture features whose ultimate func¬tion is to provide for the maintenance and propagation of the i-culture in a certain environment. And the m-culture features, in turn, environmentally affect the composition of the i-culture so as to maintain or increase their own capabili¬ties for performing that function. As a result, each m-culture feature is shaped for its particular functions in that environment. After certain specific kinds of mculture features become common through repeated performance of their functions, we can begin correctly to say that in¬culture features of that kind have their specific shape in order to perform their particular functions, and that they perform them in order to accomplish their universal ultimate function. They are teleonomic structures (Monod, 1971). We can assign the term "ultimate" function to the maintenance and pro¬pagation of the i-culture because cultural instructions, through their behaviors, determine the specific shape or fine structure both of m-culture features and of their own replicas. In other words, even if all the m-culture features of a certain kind were wiped out, a single set of the appropriate cultural instructions could reconstruct and repropagate them. But, if all those sets of cultural instructions were wiped out, the m-culture features could not ordinarily reconstruct them or replace themselves, and would also become extinct. So the ultimate function of both an iculture and an m-culture is the maintenance and propagation of the i-culture. The particular function of a set of cultural instructions is thus to build a specific m-culture feature. A commonly occurring set is then correctly called teleonomic; it has its particular inventory in order to build a certain m-culture feature which will then provide for its maintenance or propagation.“ 109 Die auch von Luhmann gelegentlich (aber eher zwecks Nichtbefassung mit der psychischen Seite) verwendete Formel von der Koevolution psychischer und sozialer Systeme könnte i.S. des hier skizzierten Vorschlags entfaltet werden.


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110 Für die folgenden Ausführungen wären noch die Spezifikationen der Mem-Theorie von Blackmore im Vergleich mit anderen Ansätzen zur berücksichtigen. Blackmore macht v.a drei Unterschiede gegenüber vorliegenden und früheren Theorien geltend (2003 70f): „Erstens impliziert diese Theorie einen klar umrissenen Wendepunkt - nämlich das Aufkommen der echten Imitation, die einen neuen Replikator erzeugte. Dies unterscheidet sie einerseits von Theorien des kontinuierlichen Wandels, wie etwa jenen, die sich auf die Verbesserung der Fertigkeiten des Jagens und Sammelns stützen oder auf das Gewicht sozialer Fähigkeiten beziehungsweise machiavellistischer Intelligenz. Andererseits grenzt sie sich auch von denjenigen Theorien ab, die einen anderen Wendepunkt postulieren, wie etwa Donalds dreistufiges koevolutionäres Modell (1991) oder Deacons Annahme, daß der Wendepunkt im Überschreiten der »symbolischen Schwelle« durch unsere Vorfahren bestand (1997). Zweitens betonen sowohl Donald als auch Deacon die Wichtigkeit des Symbolismus beziehungsweise der mentalen Repräsentation für die menschliche Evolution. Auch andere Theorien folgen der Annahme, daß das Besondere an der menschlichen Kultur ihre symbolische Beschaffenheit sei. Diese Ansicht ist für die hier vorgeschlagene Theorie unnötig. Es ist für die Rolle der Replikatoren ohne Belang, ob die durch Imitation erworbenen Verhaltensweisen (das heißt Meme) tatsächlich irgend etwas symbolisieren oder repräsentieren. Es zählt allein die Frage, ob sie repliziert werden oder nicht. Drittens findet sich in der vorliegenden Theorie kein Raum für die Kultur-an-der-Leine-Metapher der Soziobiologie oder für die in fast allen Varianten der Gen-Kultur-Koevolutionstheorien gängige Annahme, daß das höchste Selektionskriterium die Gesamtfitneß sei, also der Nutzen der Gene. In meiner Theorie kommen zwei Replikatoren vor, deren Beziehung zueinander kooperativ, konkurrierend oder alles, was dazwischen liegt, sein kann. Der wichtigste Punkt ist, daß Meme mit anderen Memen konkurrieren und eine memetische Evolution auf den Weg bringen, deren Resultate anschließend die genetische Evolution beeinflussen. Nach dieser Theorie können wir die Faktoren, welche die genetische Selektion beeinflussen, nur verstehen, wenn wir auch ihre Wechselwirkungen mit der memetischen Selektion verstehen.“ 111 Mit Bezug auf Ebenendifferenzierung habe ich mich in dem ZfSBeitrag (2012) etwas vorschnell Formulierungen von Luhmann angeschlossen, wonach Ebenendifferenzierungen als Freiheitsgewinn zu interpretieren sind. Dies kann so wohl nur für die moderne Gesellschaft behauptet werden – wäre also primär auf die Form der Binnendifferenzierung in der Moderne zurückzuführen. In evolutionärer Perspektive muß Ebenendifferenzierung primär als Form der Konfliktverarbeitung (eben durch Verlagerung auf höhere Ebenen) interpretiert werden. Die zivilisatorischen Errungenschaften wären hingegen eher in den Formen der Binnendifferenzierung zu sehen. 112 Zur operativen Geschlossenheit nochmal eine Passage aus meinem ZfS-Beitrag 2006: „Gene und Institutionen sind gleichermaßen Programme, die ihre Steuerungsfunktion über das menschliche Gehirn ausüben. Diese Steuerung könnte ihre adaptive Funktion nicht erfüllen, wenn die basalen Informationseinheiten nicht gegen aktuelle Umwelteinflüsse geschützt wären. In der Gehirnforschung wird die Relevanz informationell geschlossener Elementareinheiten für das Zustandekommen von Kommunikation wird in der Gehirnforschung so beschrieben (Roth 1996): „Wäre das Gehirn durch individuelle Erfahrung beliebig veränderbar, dann gäbe es keine Kommunikation zwischen den Individuen. Kommunikation beruht ja nicht auf dem Austausch objektiver Information, sondern auf der gehirninternen Zuweisung von Bedeutungen zu den durch die Sinnesorgane empfangenen physikalischen und chemischen Signalen, die als solche bedeutungsfrei sind. Diese Signale erhalten im Gehirn ihre Bedeutung nur im Rahmen eines bereits vorhandenen Vorrats an Bedeutungen, die im Gedächtnis niedergelegt sind. Dieser Vorrat setzt sich zusammen aus stammesgeschichtlichen Vorgaben, aus frühkindlich er-

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worbenen und stark verfestigten Bedeutungen und schließlich all dem, was wir als Jugendliche und Erwachsene in jeder Minute an Erfahrungen erwerben.“ Zu operativer Schließung symbolischer Sinneinheiten s. auch Abrutyn 2009 [hier fehlt aber eine Reflexion darüber, dass operative Schließung nachhaltig in der primären Sozialisation erzeugt wird!]: “Symbolic closure, or the degree to which an institution has sets of discrete symbols or is organized into a distinctive cultural system, is a key dimension of institutional autonomy. The ancient Hebrews, for instance, had a religious system that doubled as a legal and educational system, as well as interacted in important ways with the political system – at least when they composed a political territory (Falk 1964); the Hebrew Bible, or the Torah, was the text that structured and symbolized all of these institutions. The core of the religious institution was bounded more so than the other institutions and, as such, law, education, and in many ways politics, were beholden to religious values, beliefs, and norms. Essentially, the religious core was symbolically bound, while other institutions that were embedded within the religious en-vironment were less bound. Law was given in Leviticus; education was the primary function of the shul (which has become the synagogue in modern Jewish communities), where adult male Jews would learn to read and study the Torah; and the kings all depended upon theocratic legitimacy (Liverani 2005). Autonomy is, of course, never "total"; there will always be actors, organizations, buildings, and symbols that are "borrowed" from or imposed by other institutional domains. For instance, in most capitalist societies the business suit is both a material and symbolic resource denoting the economic institution, but has become a pervasive form of "professional" attire in other institutional domains. Moreover, the symbols and structure of polity often penetrate other institutional do-mains, thereby limiting potential autonomy attainable. Indeed, economy and polity are often important arenas of struggle, and in their struggles they also have important effects on the autonomy of other institutions. Yet, this situation is neither constant nor guaranteed. Rather, the polity's influence over the legal system, for example, can fluctuate based on a number of factors. It would be difficult to argue that the Warren Court was being controlled or was subordinate to the polity or the economic system. Rather, the justices on that court were determined to change the social structure around them, often at the behest of other institutional domains and their constituent actors. Thus a fourth proposition can be derived: the greater the degree to which an institution is symbolically bounded, the greater the level of institutional autonomy.” 113 Blackmore (2011: 80-83): „Ein weiteres generelles Prinzip ist die Verschiebung vom, wie ich es genannt habe, »Kopieren des Produkts« zum »Kopieren der Anweisung« (Blackmore 1999). In Hinblick auf die Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Wiedergabetreue ist das Kopieren der Anweisung für die Herstellung eines Dings dem Kopieren des Produkts selbst vorzuziehen. Das Kopieren eines Produkts (etwa eines Rades, eines Tanzes oder einer erzählten Geschichte) läßt unweigerlich das Auftreten von Fehlern zu (wie im Falle der oben verhandelten Suppe), und diese Fehler kumulieren sich über eine Sequenz von Kopien. Wiedergabegetreueres Kopieren läßt sich darum durch das Kopieren der Anweisung erzielen, insbesondere wenn diese sich leicht kopieren und sicher speichern läßt. In diesem Fall betreffen alle Fehler, die in der Herstellung des Produkts auftreten, nur dieses eine Produkt und nicht eine ganze Abstammungslinie. Eine weitere Reduzierung der Fehlerquote läßt sich durch eine Digitalisierung der Anweisung erreichen. Wie Dawkins (1995) hervorhebt, ist dies der Grund dafür, daß sich digitale Codes sowohl in der Biologie (in Form des digitalen genetischen Codes) als auch in der menschlichen Technologie entwickelt haben, etwa bei Telefonen, HifiSystemen und Computern. [Meme sind demnach nicht als Kopiervorlagen mit beliebigem Informationsgehalt zu verstehen, sondern als „Anweisungen“, die ein ganzes Feld


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möglicher Informationen selektiv vorstrukturieren! Hierin liegt auch eine starke Engführung in der Definition dessen, was Meme ausmacht!] Das Kopieren der Anweisung führt außerdem zu höherer Fruchtbarkeit, da eine Anweisung immer und immer wieder benutzt werden kann. Darüber hinaus sind viele Produkte notwendigerweise vergänglich, während die Anweisung der Möglichkeit nach für immer gespeichert werden kann - egal ob in der menschlichen Erinnerung oder in kulturellen Artefakten. Dies legt nahe, daß das Kopieren der Anweisung die bessere evolutionäre Strategie ist. In der Tat ist dies eine empirische Frage, die sich, zumindest in abgegrenzten Bereichen, überprüfen ließe. Angenommen, diese Überlegung sei korrekt, sollten wir im Verlauf der Evolution eine Verschiebung von einem Modus des Kopierens zu einem anderen finden, da die Produkte des besseren Systems die des schlechteren übertreffen. Das könnte der Grund dafür sein, warum wir heute in der Biologie die Unterscheidung zwischen Genotyp und Phänotyp finden und warum >Lamarckische< Vererbung bei sich sexuell reproduzierenden Spezies nicht vorkommt. Viele menschliche Erfindungen lassen sich als Verschiebungen vom Kopieren des Produkts zum Kopieren der Anweisung betrachten. Zum Beispiel ermöglichte das Schreiben die ständige Wiedererschaffung derselben Geschichten, Mythen und sozialen Übereinkünfte aus den immer gleichen gespeicherten Anweisungen. Die Drucktechnik ermöglichte die Speicherung von Schrifttypen, die zur Herstellung vielfacher Kopien desselben Buchs verwendet werden können. In neuerer Zeit werden nach Anweisungen in Form von Konstruktionsanleitungen mit enormer Genauigkeit hochtechnologische Produkte hergestellt, und wir beobachten das Auftreten von Systemen, die Genotypen und Phänotypen in vieler Hinsicht ähneln. Zum Beispiel werden die Anweisungen für das Speichern und Anzeigen von Text in einem Textverarbeitungsprogramm jedesmal zuverlässig kopiert, wenn dieses auf einem Computer neu installiert wird (auch wenn die einzelnen Installationen der Programme nicht immer die gleiche Leistung erbringen); doch es sind die Produkte, die von den Nutzern hergestellt werden (Briefe, Bücher und dergleichen), die als Phänotypen oder Interaktoren wirken, insofern ihr Erfolg darüber bestimmt, wie viele weitere Kopien des Programms hergestellt werden. All dies sind Beispiele für ein machtvolles und umfassendes evolutionäres Prinzip. Qualitativ höherwertige Replikatoren verbreiten sich auf Kosten ihrer qualitativ schwächeren Konkurrenten, und indem sie das tun, verbreiten sie die Replikationsmaschinerie, von der sie kopiert wurden. Um es ganz einfach zu sagen: Es gibt eine Koevolution zwischen Replikatoren und ihrem Kopierapparat. Dies ist nicht nur die Art und Weise, in der sich Technik entwickelt, sondern auch die Erklärung dafür, wie wir Menschen zu unseren Gehirnen kamen.“ 114 An dieser Stelle evtl. nochmal den Kreislauf zwischen Latenz und Reflexion, Technisierung und Latenz im Anschluß an Blumenbergs Husserl-Kritik erwähnen. 115 Hinweis auf die Bedeutung der symbolischen Markierungen für die Ausdehnung einfacher Gesellschaften über die Grenzen der Blutsverwandtschaft bei Richerson & Boyd 2005 – sowie in der Ethnologie – dazu evtl. zusammenfassend Antweiler 2007. 116 Dieser Abschnitt ist (leicht modifiziert) meinem Beitrag über evolutionstheoretische Aspekte der Ebenenunterscheidung in Luhmanns Theorie sozialer Systeme (für ZfS-Sonderband) entnommen ... 117 Und nicht, wie es die Luhmannsche Systemtheorie suggeriert, nur eine Möglichkeit: die der Systembildung im System. 118 An dieser Stelle wäre aufzunehmen (oder auf entsprechende Ausf. in der Luhmann-Literatur zu verweisen), dass es aus heutiger Sicht zumindest mißverständlich und deshalb revisionsbedürftig erscheint, dass der Begriff der Interaktion bei Luhmann für Systeme der Interaktion unter Anwesenden reserviert wird. Für eine Analyse der modernen Gesellschaft ist von hoher Relevanz,

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dass sich unsere natürliche Einstellung zur Interaktivität mit technischen Mitteln über den Kreis der Anwesenden erweitern lässt. (Vgl. evtl. dazu die Verwendung des Goffmanschen Konzepts der „interaction chains“ bei Collins.) In evolutionstheoretischer Perspektive muss natürlich daran festgehalten werden, dass Interaktion unter Anwesenden zu den prägenden Merkmalen menschlicher Wahrnehmung gehört. Andererseits ist auch in dieser Hinsicht zu fragen, ob es ausreicht, als grenzziehendes Merkmal die wechselseitige Wahrnehmung als anwesend zu bezeichnen. Hinter der Zurechnung auf Blickkontakte als konstitutivem Merkmal einfacher Sozialsysteme verbirgt sich die Fortpflanzungskonkurrenz. Sehr zu Recht betont Luhmann: „Es gibt schon auf der ursprünglichsten Ebene elementarer Interaktion von Angesicht zu Angesicht keine Sozialsysteme mit gleichverteilten Chancen.“ Aber bei der inneren Ordnung dieser Systeme geht es nicht nur darum, ob die Beteiligten ihre „Beiträge auf das jeweils aktuelle Thema beschränken, oder ... versuchen, eine Themenänderung durchzusetzen.“ (1975a, 11) Die Unterdrückung von langanhaltenden Blicken („was guckst Du?“) hat mit Inzestverboten und Rangordnungen zu tun. (Vgl. den Beitrag von Meyer über die Wolof in diesem Band) 119 Bei Luhmann findet sich hierfür bekanntlich die von Spencer Brown bezogene reentry-Formel. So heisst es n der Gesellschaftstheorie (1997, 597f): „Systemdifferenzierung ist somit nichts anderes als eine rekursive Systembildung, die Anwendung von Systembildung auf ihr eigenes Resultat. Dabei wird das System, in dem weitere Systeme entstehen, rekonstruiert durch eine weitere Unterscheidung von Teilsystem und Umwelt. Vom Teilsystem aus gesehen, ist der Rest des umfassenden Systems jetzt Umwelt. Das Gesamtsystem erscheint für das Teilsystem dann als Einheit der Differenz von Teilsystem und Teilsystemumwelt. Die Systemdifferenzierung generiert, mit anderen Worten, systeminterne Umwelten. Es handelt sich also, um einen schon oft benutzten Begriff wiederzuverwenden, um ein "re-entry" der Unterscheidung von System und Umwelt in das durch sie Unterschiedene, in das System.“ Wenn beide Seiten der System-Umwelt-Unterscheidung wieder in das System eintreten können, dann folgt daraus logisch, dass mit jedem Teilsystem der Gesellschaft auch eine teilsystemspezifische Umwelt erzeugt wird. Und diese Umwelt besteht nicht nur aus anderen Sozialsystemen, sondern eben auch aus den Publikumsbeziehungen von Organisationen. In empirischer Hinsicht hat Luhmann dies allerdings nur für Märkte als innere Umwelten der Wirtschaft ausgeführt. . S. dazu auch schon Luhmann 1981 (in dem in Anm zum nächsten Abschnitt verwendeten Zitat) zu historischen Differenzierungsformen, die sich unterscheiden „durch das für die Primärstrukturierung benutzte Differenzierungsprinzip und sodann durch die Komplexität gesellschaftsinterner und –externer Umwelten, die ermöglicht und mit Systembildung kompatibel gemacht wird.“ (1981, 187) 120 Diese Verbindung zwischen Differenzierungstheorie und Systemtheorie ist bei Luhmann zuerst 1977 formuliert und i.S. von System-Differenzierung ausgebaut worden. Der Wiedereintritt der Umweltseite im System ist jedoch in der Folgezeit theoretisch unterbelichtet geblieben. Zunächst hat Luhmann selbst darauf hingewiesen, dass es einer evolutionären Systemtheorie nicht nur um System-im-System- oder System-zu-System-, sondern auch um systeminterne System-Umwelt-Beziehungen gehen muß: “We must apply a system/environment theory and analyze the internal environments of functionally differentiated societies carefully to see the crucial point: the relation of each single functional subsystem to the society is not identical with the relation of each subsystem to its social environment; nor is this relation to the internal environment simply a set of inter-system relations.” (1977, 36) In diesem Sinne wären auf der Umweltseite nicht nur die jeweils anderen Funktionssysteme oder die Gesellschaft als Ganze zu betrachten, sondern auch die funktionsspezifischen Öffentlichkeiten, Märkte und Wettbewerbsformen ihrer Organisationen. Der Wiedereintritt der Umweltseite im System ist von Luhmann in der


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Folgezeit aber mit eher formalen Argumenten aus der systemtheoretischen Untersuchung ausgeschlossen worden: „Der Formenkatalog [der Differenzierungsformen segmentär, zentral/peripher, stratifikatorisch und funktional] ist mit Hilfe der Unterscheidung von gleich und ungleich gewonnen. Diese Unterscheidung paßt nur auf Vergleichbares, also nur auf Systeme, nicht aber auf System/Umwelt-Beziehungen (denn es hat keinen Sinn, die Umwelt im Verhältnis zum System als "ungleich" zu bezeichnen). Eben deshalb mußten wir die Theorie der Differenzierungsformen auf System-zu-System-Beziehungen beschränken.“ (1997, 613f.) 121 So Luhmann im Anschluss an eine von Parsons eingeführte Terminologie. 122 Hinweis auf Theorien des Dritten s. Lindemann, Fischer im Anschluss an Simmel ... 123 Wenn ich hier mit Bezug auf den Begriff der Gesellschaft (im Unterschied zu der Makroebene der Organisationen) von einer Metaebene symbolischer Generalisierungen spreche, plädiere ich in methodologischer Hinsicht für einen „schwachen“ Gesellschaftsbegriff i.S. von Greve 2008. 124 Zum Populationskonzept in der Darwinschen Theorietradition vgl. Mayr 2003. Zur Verwendung des Populationsbegriffs mit Bezug auf moderne Organisationen vgl. Hannan/Freeman .... 125 Luhmann hat in dieser Hinsicht anders optiert: „Nur Gesellschaftssysteme sind mögliche Träger evolutionärer Prozesse“ heißt es in dem IOG-Aufsatz von 1975 S.12. Dementsprechend heisst es dann im Grundriß der allgemeinen Theorie (1984, 575): „Nur auf der Ebene des Gesellschaftssystems und seiner Subsysteme ist Evolution möglich, das heißt eine Änderung von Strukturen durch Variation, Selektion und Restabilisierung.“ Hier räumt Luhmann aber ein, dass Interaktionssysteme zur gesellschaftlichen Evolution beitragen „wenn sie Strukturbildungen anbahnen, die sich im Gesellschaftssystem bewähren.“ Ist das nicht aber schon die Wirkung von Variation? Und muss es dann nicht auch für Organisationsysteme gelten? Luhmann hat seinen Begriff der Gesellschaft als „das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen“ bekanntlich vor allem gegenüber normativen Konzepten abgegrenzt: „Im Vergleich zu diesem weiten Gesellschaftsbegriff hatte die alteuropäische Tradition den Begriff der Gesellschaft enger gefaßt als politisch-rechtlich konstituiertes System, als societas civilis. Auch heute halten viele Soziologen, vor allem Talcott Parsons, an einem normativen Gesellschaftsbegriff fest. Danach wird die Einheit der Gesellschaft auf die gemeinsame Anerkennung eines Mindestbestandes an Normen bzw. Werten konstituiert. Dabei wird jedoch der strukturell erforderliche ebenso wie der faktisch bestehende Konsens überschätzt. “ Luhmann 1975a, 11. In evolutionstheoretischer Perspektive geht es aber gar nicht um normative (kontrafaktische Konsensunterstellungen) oder deskriptive Begrifflichkeit, sondern um den Unterschied zwischen sich selbststeuernden, handlungsfähigen Einheiten, die als solche der Selektion ausgesetzt sind, und latent vorausgesetzten und emergenten Einheiten, die sich direkten Umwelteinflüssen entziehen. 126 Mit dem Begriff der Population sind soziale Makroeinheiten mit klar umrissenen Umweltgrenzen und organisierter Binnendifferenzierung bezeichnet. In dieser Hinsicht kommen zunächst Staaten, in der Moderne aber eben auch andere organisierte Supersysteme in Betracht. (Deshalb hat sich Luhmann immer wieder sowohl gegen die theorietraditionelle Gegenüberstellung oder Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft gewandt.) Dagegen bezeichnet der Gesellschaftsbegriff ähnlich wie der der Arten in der Biologie operativ geschlossene Einheiten, die nicht direkt der Umweltselektion ausgesetzt, aber durch einen geteilten Genpool (bzw. Wissensvorrat) definiert sind. In diesem Sinne ähnelt der Gesellschaftsbegriff dem Begriff der Kultur – mit der Spezifikation, dass sich in der Moderne eine Weltkultur ausbildet und deshalb die Verwendung des Begriffs im Plural immer schon auf Konflikte verweist.

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127 Seit der Synthese der Darwinschen Evolutionstheorie mit der Mendelschen Genetik werden auch natürliche Organismen als Informationen prozessierende Einheiten beschrieben. Die zugespitzte Formulierung vom Genom als „bookkeeper“, also eher passivem Medium der Buchhaltung, ist von S.J.Gould gegen die irreführenden Selbststeuerungsannahmen in Dawkins Theorie der „egoistischen“ Gene gerichtet worden. 128 Im Sinne der neodarwinistischen Terminologie kann man von einer „evolutionär stabilen Strategie“ (ESS) sprechen s. MaynardSmith, Axelrod u.a. – Luhmann selbst hat dafür im Anschluss an Campbell den Begriff der reproduktiven Stabilisierung bzw. als Terminus für einen – erst in der kulturellen Evolution ausdifferenzierten – Mechanismus den Begriff der Restabilisierung eingeführt (s. u.a. Luhmann 1997, 485ff). 129 Als gute Beispiele (i.S. der primärsozialisatorischaffektgeladenen Motive) wären hier anzuführen menschliche Verhaltensmuster, die einer „Kultur der Ehre“ entstammen. Ausführungen mit Bezug auf deren regionale Verbreitung und Verschwinden in USA und global bei Pinker 2011. 130 Für Dennett (1990) und Dawkins (1991) bilden Computerviren in der technischen Weiterentwicklung der Kommunikation generierte (gewissermaßen retrospektiv generalisierbare) Modelle für die Beschreibung der Ausbreitung von Memen: „Memes now spread around the world at the speed of light, and replicate at rates that make even fruit flies and yeast cells look glacial in comparison. They leap promiscuously from vehicle to vehicle, and from medium to medium, and are proving to be virtually unquarantinable'' (Dennett 1990, p.131). “Think about the two qualities that a virus, or any sort of parasitic replicator, demands of a friendly medium,. the two qualities that make cellular machinery so friendly towards parasitic DNA, and that make computers so friendly towards computer viruses. These qualities are, firstly, a readiness to replicate information accurately, perhaps with some mistakes that are subsequently reproduced accurately; and, secondly, a readiness to obey instructions encoded in the information so replicated.” “Progressive evolution of more effective mind-parasites will have two aspects. New „mutants'' (either random or designed by humans) that are better at spreading will become more numerous. And there will be a ganging up of ideas that flourish in one another's presence, ideas that mutually support one another just as genes do and as I have speculated computer viruses may one day do. We expect that replicators will go around together from brain to brain in mutually compatible gangs. These gangs will come to constitute a package, which may be sufficiently stable to deserve a collective name such as Roman Catholicism or Voodoo. It doesn't too much matter whether we analogize the whole package to a single virus, to each one of the component parts to a single virus. The analogy is not that precise anyway, just as the distinction between a computer virus and a computer worm is nothing to get worked up about. What matters is that minds are friendly environments to parasitic, self-replicating ideas or information, and that minds are typically massively infected.” (Dawkins 1991) 131 Zirkulation der Meme zwischen Latenz – Explikation – Technisierung – erneuter Latenz. Für diesen Teil der Argumentation nochmal auf Blumenbergs Technik-Aufsatz und Husserl-Kritik beziehen: Transformation von latenten Hintergrundannahmen in explizite und damit technisierbare Annahmen und erneute Latenzbildung durch Routinisierung und Einübung im Generationswechsel. 132 s. dazu schon die Passage zur Bifurkation zwischen Handlungsund Erlebenskomponenten der Kommunikation durch Technisierung in meinem ZfS-Beitrag 2006. 133 Hier noch einmal Rekurs auf technisch erweiterte Kommunikationsmittel als Voraussetzungen für die Verselbständigung von Handlungskomponenten der Kommunikation in Organisationen und Erlebensformen in Öffentlichkeiten. Dabei ist herauszustellen, dass es sich bei den mediengestützten Formen der Öffentlichkeit um innergesellschaftliche Formen der Selektion (also nicht ihrer Verbreitung!) handelt.


kg: Entwurf und Materialien für einen Vortrag über kulturelle Replikation für MVE-Tagung Dresden März 2012

134 Die von Patzelt u.a. in seinem Konzept des „Evolutorischen Institutionalismus“ verwendete Unterscheidung zwischen personenzentrierten und sachorientierten Institutionen ist m.E. in Gefahr, den Unterschied zwischen Institutionen und Organisationen zu verwischen, dessen evolutionstheoretische Bedeutung in der operativen Geschlossenheit und Latzengeschütztheit der Instiutionen und der operativen Offenheit und Zugänglichkeit für den Selektionsdruck der innergesellschaftlichen Umwelt bei Organisationen liegt. 135 S. dazu auch die Erklärung zum „Ende der Memetik“ bei Schmid 2009: „Im Gegensatz zur DNA-fixierten Deutung der Gene sind Meme ontologisch subjektiv. ... Dies wird in der vorherrschenden Selbstdeutung der Memetik als »Paradigmenwechsel« der Kulturtheorie ignoriert. Der in einer falschen Analogie begründete Perspektivenwechsel vom intentionalen Selbst auf die m e m e ' s e y e p e r s p e c t i v e dürfte wesentlich für den Niedergang dieses an sich interessanten Theorieprogramms mitverantwortlich sein.“ Eine in methodologischer Hinsicht noch schärfere Kritik formuliert Edmonds 2005. 136 Hinweis auf meine Ausführungen im Delmenhorst-Vortrag (2012) über „Konkurrenzkonflikte – der vergessene Grund soziologischer Differenzierungstheorie“. 137 Diese vorläufige Literaturliste wird nach Lektüre-Auswertung reduziert.

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