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Differenzierung und Integration der Theorien sozialer Differenzierung VON KLAUS GILGENMANN Entwurf 29. Mai 2012

1. Zum Programm Der Band enthält eine Einleitung der Herausgeber Greve und Kroneberg, achtzehn Einzelbeiträge und einen Schlußbeitrag des Herausgebers Schwinn.1 Wer den umfangreichen Band in die Hand nimmt, findet auf der Rückseite2 fünf programmatische Sätze über den Inhalt: (1.) „Das Konzept der sozialen Differenzierung ist unerlässlich für die Beschreibung und Analyse moderner Gesellschaften.“ – Soll damit gesagt sein, dass das Konzept nicht unerlässlich (oder gar nicht geeignet) für die Beschreibung anderer (menschlicher und nichtmenschlicher) Gesellschaften? Die in der älteren Theorietradition gegebene Verbindung zwischen soziologischer Differenzierungstheorie, biologischer Evolutionstheorie und Theorien der kulturellen Evolution wäre damit gekappt. (2.) „Während die prägenderen Zugänge zu diesem Gegenstand in der Systemtheorie entwickelt worden sind, haben seit einiger Zeit handlungstheoretisch fundierte Differenzierungstheorien an Bedeutung gewonnen.“ – Damit ist die ideengeschichtliche Konkurrenzlage umschrieben, die die Herausgeber des Bandes antreibt. Aber, als wollten sie ihre methodologische Position verbergen, fragen sie nicht selbst, sondern: (3.) „Der Sammelband fragt nach den Erkenntnisgewinnen handlungstheoretischer Zugänge zum Thema Differenzierung.“ – Dies geschehe, so der Rückseitentext weiter: (4.) „in Auseinandersetzung mit systemtheoretischen Positionen sowie mit Zugängen, die sich als Alternative zu den beiden Grundlagentheorien verstehen.“ Wenn über verschiedene theoretische Zugänge zum Thema Differenzierung diskutiert werden soll, dann geht es ersichtlich darum, durch selektive Bevorzugung eines Ansatzes oder durch synthetische Kombination diese Ausdifferenzierung, die friedliche Koexistenz der Paradigmen in ihren sozialen Nischen rückgängig zu machen. Ob dieser Versuch zur Entdifferenzierung3 der theoretischen Zugänge gelungen und ob er überhaupt ernsthaft betrieben worden ist, soll im Folgenden betrachtet werden. Auf die Seriosität dieses Vorhabens bezieht sich der letzte Satz: (5.) „Der Band enthält sowohl grundlagentheoretische als auch angewandte Beiträge zur Analyse eines zentralen Strukturierungsmerkmals moderner Gesellschaften.“ 4 Das in diesen fünf Sätzen umrissene Programm wird in der Einleitung der Herausgeber Greve und Kroneberg ausführlicher dargestellt. In allen Beiträgen, die einen handlungstheoretischen Zugang zu Phänomenen sozialer Differenzierung suchen, wird die Lagebeschreibung einer dominanten Stellung der Systemtheorie, insbesondere in ihrer Luhmannschen Ausprägung, auf dem Feld der Theorien sozialer Differenzierung und die Bewertung dieser Lage als unbefriedigend übernommen. (Das gilt natürlich nicht für die Beiträge, die hier eher als Beispiele für systemtheoretische Differenzierungs-


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theorie fungieren – wie Göbel, Schneider, Kusche - und auch nicht für Beiträge, die aus einer anderen Theorietradition stammend, sich einer handlungstheoretischen Fundierungsstrategie entziehen – wie Bongaerts, Lindemann.) In der Frage, wie diese Lage zu ändern sei5, zeigen sich im wesentlichen drei Strategien: Eine methodologisch eher lockere Strategie versucht, Mängel der systemtheoretischen Differenzierungstheorie durch Kombination mit handlungstheoretischen Elementen zu kurieren (Schimank, Junge, Renn, Kern). Die Inkompatibilität system- und handlungstheoretischer Perpektiven wird mit einem Baukastenprinzip ausgehebelt. Eine methodologisch strengere Strategie versucht den systemtheoretischen Ansatz von Grund auf durch einen handlungstheoretischen Ansatz zu ersetzen (Schwinn, Schützeichel, Kroneberg, Rössel, Bachmann). Interessanter Weise führt aber gerade diese Strategie die schon bei Luhmann zu beobachtende Verlagerung der Differenzierungsphänomene in den Bereich rein kognitiver Konstruktionen (Sinn- und Wertsphären) fort. Soziale Differenzierung soll zwar aus den beabsichtigten und unbeabsichtigten Effekten der Handlungen Einzelner erklärt werden. Da aber diese Handlungen immer schon von den Sinnkonstrukten der Metaebene motiviert sind, gerät die Frage nach objektiven Ursachen sozialer Differenzierung weitgehend aus dem Blick. Eine dritte Strategie (die allerdings in diesem Band nur in zwei oder drei Beiträgen ansatzweise vertreten) ist darin zu erkennen, dass zunächst auf ältere Theorietraditionen rekurriert wird, in denen die methodologische Verselbständigung handlungs- und systemtheoretischer Zugänge noch nicht gegeben war. Diese Strategie verfolgt Greve mit Bezug auf soziale Ungleichheit an der Handlungssystemtheorie von Parsons6, und weiter zurückgehend Stachura mit Bezug auf die (in der deutschen Soziologie weitgehend verdrängten) Verbindungen zwischen der Darwinschen Evolutionstheorie und der Theorie sozialer Differenzierung bei Spencer, Durkheim, Simmel und Max Weber. In der Mehrzahl der Beiträge wird eine solche Strategie allerdings ignoriert oder abgelehnt. Die vielfach geforderte empirische Wende der Differenzierungstheorie (in dieser Hinsicht ein Gleichziehen mit der methodischen Verfeinerung der Ungleichheitsforschung – 12, 399) lässt den Eindruck entstehen, dass der ganze Unterbau des Überbaus historisch evoluierter Differenzierungsformen, der bei den Gründern der Soziologie herausgestellt wurde, für die Erklärung gegenwärtiger Verhältnisse nicht mehr benötigt wird. Im 2. Teil der Einleitung listen die Herausgeber acht Theorieprobleme auf, die mit einer handlungstheoretisch reformulierten Differenzierungstheorie gelöst werden sollten, darunter die nach dem Gesellschaftsbegriff, nach funktionalistischen Erklärungen, nach dem Verhältnis von Differenzierung und Integration, nach dem empirischen Potenzial etc.. 7 Im dritten Teil der Einleitung (13-21) werden alle Beiträge des Bandes kurz vorgestellt und damit zusammenhängend auch die Gruppierung in 4 Abschnitte • Zur ersten Gruppe8 • Zur zweiten Gruppe9 • Zur dritten Gruppe10


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• Zur vierten Gruppe11 Im den Abschnitten I (Grundlagen) und IV (Ungleichheit) sind Beiträge versammelt, die in besonderer Weise die Differenzen zwischen handlungsund systemtheoretischen Beiträgen markieren. Obwohl Theorien sozialer Differenzierung schon wegen des umfassenderen Erklärungsanspruchs auch Aussagen über soziale Ungleichheit enthalten (während Theorien sozialer Ungleichheit eher als Theorien mittlerer Reichweite ausgelegt sind und auf Systemdifferenzierung nicht notwendig Bezug nehmen) gilt es unter Handlungstheoretikern als ausgemacht, dass das Thema soziale Ungleichheit zumindest in der Luhmannschen Theorie unterbelichtet ist. So ist hier also ein Heimspiel für die handlungstheoretische Konzeption zu erwarten. Was die Abschnitte II und III unterscheidet, ist m.E. unklar. Die Unterscheidung könnte als Zugeständnis an die fehlende Integration der theoretischen Ansätze gelesen werden: „Genese und Varianz von Differenzierungsmustern“ (II) beschränkt sich auf Phänomene der Makroebene, die Rede von „Differenzierungsdynamiken“ (III) wirft die Frage auf, welche Elemente der Mikroebene zu Dynamisierung beitragen. In II wird die Varianz der Differenzierungsmuster aus der Vogelperspektive beschrieben. In III wird sie im Rekurs auf die Beiträge der Akteure auf der Mikroebene erklärt. Warum sollte man die Frage nach den Ursachen der Dynamik nicht auch schon mit Bezug auf Genese und Varianz stellen? Auf der Suche nach einer umfassenderen Theoriesynthese macht es jedenfalls wenig Sinn, Fragen der „Varianz “ von Fragen der „Dynamik“ abzugrenzen. Tatsächlich lassen sich auch die in diesen beiden Abschnitten platzierten Beiträge kaum auf diese Grenzziehung ein.12 Um ein Ergebnis meiner Lektüre vorweg zunehmen: Die im Titel des Bandes proklamierte Diskussion über handlungstheoretische Zugänge zu sozialer Differenzierung findet in diesem Band nicht statt. Eine Ausnahme bildet der Schlußbeitrag des Herausgebers Schwinn, der noch einmal alle Beiträge Revue passieren lässt und Querverbindungen herstellt. Die meisten Beiträge stehen nebeneinander, ohne sich auf die anderen Beiträge zu beziehen. Die Diskussion (darüber, welche theoretischen Zugänge sachlich mehr überzeugen) wird in das virtuelle Lesepublikum verlagert. Auch ein Rezensent kann das Urteil der fachspezifischen Öffentlichkeit nicht vorwegnehmen, sondern nur, soweit er nicht einfach dem Programm der Herausgeber folgt, eine weitere Lesart hinzufügen - im vorliegenden Fall eine, die sich auf die evolutionstheoretische Tradition der Differenzierungstheorie bezieht. 2. Grundlagentheoretische Fragestellungen (Abschnitt I) In dem 1. Abschnitt sind Beiträge von Schwinn13, Göbel,14 Schützeichel,15 Renn16, Bongaerts17 und Lindemann18 vertreten. In der älteren Theorietradition sind zwei Zugangsweisen vorgegeben, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen: In der Durkheim-Tradition wird Differenzierung eher als Lösung eines Problems beschrieben: als Beendigung von Konkurrenzkonflikten durch gesellschaftliche Arbeitsteilung (Durkheim 1977: 306f). In der Weber-Tradition wird Differenzierung eher als Problem beschrieben: als „Kampf der Wertordnungen“ (Weber 1919: 27/28) Aus methodologischen Gründen knüpfen Handlungstheoretiker eher bei Weber, Systemtheoretiker eher bei Durkheim an. Durkheims Beschrei-


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bung scheint besser zu den großen Strukturen der Menschheitsgeschichte zu passen – Differenzierung als evolutionär stabile Strategie der Kooperation im soziokulturellen Gehäuse. Allerdings ist auch bei vielen Autoren, die methodologisch an der Durkheim-Tradition anknüpfen, der evolutionstheoretische Kontext gekappt. Daher kommt Differenzierung in ihren Beiträgen nicht mehr als explanandum sondern nur noch als explanans vor. Webers Beschreibung scheint besser zu den Selbstbeschreibungen der Moderne zu passen – sowohl in affirmativer Einstellung als Freisetzung von Konkurrenz wie auch in abwehrender Einstellung als daran aufbrechendes Unbehagen. In methodologischer Hinsicht hat dies den Vorteil, dass Differenzierung nicht nur holistisch eingeführt, sondern selbst zum Gegenstand der Erklärung gemacht wird. Allerdings ist auch bei vielen Autoren, die an Webers Handlungstheorie anknüpfen, der Zugang zu evolutionstheoretischen Erklärungsansätzen gekappt. Daher kommen in ihren Beiträgen zwar auslösende Momente von Differenzierungsprozessen auf der Mikroebene, jedoch keine zureichenden Beschreibungen für die strukturbildenden Effekte auf der Makroebene vor. Was die systemtheoretische Differenzierungstheorie für Handlungstheoretiker so anstößig macht, ist die Beschreibung sozialer Systeme als sich selbst reproduzierende und mit einem subjekt-ähnlichen Steuerungspotenzial ausgestatteter Einheiten, die sie in der Luhmannschen Version mit der sogenannten „autopoietischen Wende“ erfahren hat. Die kontraintuitive Beschreibung sozialer Systeme als gegenüber den lebendigen Individuen vollkommen verselbständigter Einheiten hat seit der Mitte des 20. Jh. eine große intellektuelle Faszination ausgeübt (s. schon Gehlens Institutionenlehre und der unabhängig von der Systemtheorie aufkommende Strukturalismus) und ist von Luhmann zu einem eleganten Theoriegebäude ausgebaut worden, das bis heute weitergepflegt wird und eine topdown-Perspektive auf viele Phänomene der modernen Gesellschaft erlaubt. In vielen handlungstheoretischen Kritiken an der Luhmannschen Differenzierungstheorie wird nicht gesehen, dass in seinem Theoriegebäude mit den drei Säulen Systemtheorie, Kommunikationstheorie und Evolutionstheorie durchaus schon eine Kombination von Mikrofundierung (Kommunikation) und Makrokonstitution (System) angelegt ist, nur dass Luhmann sich die theoretische Integration dieser Perspektiven dadurch verbaut hat, dass er die Führungsrolle nicht (den Mehrebenenkonzepten) der Evolutionstheorie sondern der Systemtheorie zugeordnet hat. Die Beschreibung sozialer Systeme als selbstreproduktive Einheiten ist nicht nur kontraintuitiv, sie ist auch mit der evolutionstheoretischen Tradition der Differenzierungstheorie nicht vereinbar, auf die Luhmann sich beruft. Die Abweichung der Systemtheorie von der Darwinschen Theorietradition ist von M.Blute schon bei Parsons (und vielen anderen Sozialtheorien des 19. und 20. Jh.s) als „Developmentalism“ wegen seiner impliziten Teleologie kritisiert und im Falle Luhmanns wiederholt worden (Blute 2002). Sozialtheorien, die sich am Modell des sich entwickelnden Organismus orientieren (Maturana/Varela 1980) und Selektionsprozesse ausschließlich im Inneren des Systems verankern, sind mit der Darwinschen Selektionstheorie unvereinbar. Schwinn hat zu Recht bemerkt, dass die autopoietische Wende der Luhmannschen Systemtheorie eigentlich eine kulturalistische Wende sei, nämlich Reduktion auf soziale Sinnkonstrukte. Eigentümlicherweise verliert die


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Luhmannsche Theorie dadurch für Handlungstheoretiker an Anstößigkeit und gewinnt über die Webersche Wertsphären-Differenzierungstheorie (die generalisierte Handlungsmotive liefert) an Anschlußfähigkeit oder zumindest Kombinierbarkeit mit handlungstheoretischen Ansätzen. Was in dieser Perspektive ausfällt, ist eine Auseinandersetzung mit dem offenen oder latenten Antinaturalismus der neueren Differenzierungstheorie und ihrem Verzicht, materiale Ressourcenkonflikte als auslösende Bedingungen sozialer Differenzierungsformen in Betracht zu ziehen. Nicht nur werden hier die lebendigen Individuen auf Handlungsmotive reduziert, sondern die von ihnen geschaffenen soziokulturellen Gehäuse werden zu Sinnkonstrukten abstrahiert. Zweifellos sind solche Abstraktionsprozesse an Phänomenen der modernen Gesellschaft zu beobachten. Die Frage ist nur, ob man sie auch verstehen kann, ohne auf ihre andauernd wirkenden Voraussetzungen in der soziokulturellen Evolution einzugehen. Dementsprechende Modelle, die auf einer in der biologischen Evolutionstheorie verankerten Theorie der Mehrebenenselektion (Replikation und Variation auf der Mikroebene und Selektion auf der Makroebene) aufbauen, sind in der angelsächsischen Soziologie entwickelt (Sober/Wilson 1998, Boyd/Richerson 2005, Blute 2010) in der deutschen Soziologie aber weitgehend ignoriert worden.19 Dies betrifft nun nicht nur den Methodenstreit über Mikrofundierung oder Makrokonstitution, sondern auch den quer dazu verlaufenden Streit über den Gesellschaftsbegriff. Wenn soziale Differenzierung als Verarbeitungsform von sozialen Konflikten verstanden wird, dann spricht dies sowohl für Mikrofundierung, denn Konflikte werden ja stets von individuellen oder kollektiven Akteuren ausgetragen, als auch für Makrokonstitution, denn der ultimate Grund für die Konfliktverarbeitung (Kooperation statt Konflikt) ist in dem Schutz zu erkennen, den die Gesellschaft als umfassendes Sozialsystem vor dem Selektionsdruck der Umwelt bietet. 3. Genese, Varianz und Dynamik von Differenzierungsmustern (Abschnitte II und III) In diesen beiden Abschnitten sind acht Beiträge vertreten. In II: Bachmann20, Schneider21, Junge22 und Stachura23; in III Schimank,24 Kern25, Kroneberg26 und Kusche27. In beiden Abschnitten finden sich Anwendungen der Differenzierungstheorie auf bestimmte Phänomene der modernen Gesellschaft (so aus handlungstheoretischer Perspektive Bachmann und Kroneberg, aus systemtheoretischer Perspektive Schneider und Kusche) neben Beiträgen, die eher auf den Ausbau der theoretischen Konzepte zielen (so Junge, Stachura, Schimank und Kern). Bei Letzteren ist die Grenze zu den im ersten Abschnitt aufgeworfenen grundlagentheoretischen Fragen fließend. Und zumindest im Falle von Stachura, dem einzigen Beitrag, der an die evolutionstheoretische Tradition der Differenzierungstheorie erinnert, hätte mir die Einordnung in dieser Abteilung mehr eingeleuchtet. Das wichtigste Einzelphänomen, das hier analysiert wird (zentral bei Kern, aber auch bei Bongaerts, Junge und Schimank), ist aus meiner Sicht die Ausdifferenzierung funktionsspezifischer Publikumsnetzwerke zu innergesellschaftlichen Einrichtungen der Selektion. Die Analyse funktionsspezifischer Öffentlichkeiten stellt das missing link zur Erklärung der Entstehung einer Metaebene symbolisch generalisierter Wertorientierungen in der Moderne dar.


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Konflikttheoretiker von Hobbes bis Elias haben gezeigt, dass die grundlegende Innovation, die eine neue Differenzierungsform in der Moderne ermöglichte, das staatliche Gewaltmonopol, seine diesseitige Legitimation als Demokratie und seine zivilisatorische Beschränkung durch Gewaltenteilung darstellt. Auch Durkheim, der (im Anschluß und in Abgrenzung zu Spencer) die wirtschaftliche Arbeitsteilung in den Vordergrund gestellt hat, wusste, dass sie nicht voraussetzungslos funktioniert. In der Moderne tritt aber zugleich das Problem der territorialen Beschränktheit des staatlich befriedeten Innenraums in den Blick. Dies ist der wichtigste Grund, warum viele Autoren des Bandes Einwände gegen die Luhmannsche Gleichsetzung des Gesellschaftsbegriffs mit der globalen Reichweite der technischen Kommunikations- und Verkehrsmittel haben. Sie verwechseln damit keineswegs die Begriffe Staat und Gesellschaft, sondern insistieren nur auf der Vorstellung, dass der soziale Binnenraum ein gewisses Maß an friedlicher Kooperation und zivilisierten Formen der Konkurrenz aufweisen muß. Der von den Akteuren der Wirtschaft (aber auch der Wissenschaft, Bildung etc.) ausgehenden „Differenzierungsdynamik“ entspricht (noch?) kein globales System der Politik und des Rechts. Stattdessen haben wir es auf globaler Ebene mit einer noch nicht zivilisierten Konkurrenz der historisch evoluierten Differenzierungsformen zu tun. Die neue funktionale Form, die nach Sachfragen differenziert und die Individuen von Gruppenzwängen freisetzt, übt weltweit eine enorme Anziehungskraft aus. Da jedoch in vielen Regionen des globalen Netzwerks der menschlichen Sozialität, Voraussetzungen für das Funktionieren dieser Form fehlen, liegt der Rückgriff auf ältere Differenzierungsformen – und die kämpferische Verteidigung der damit verbundenen Werte – stets nahe.28 4. Soziale Differenzierung und soziale Ungleichheit (Abschnitt IV) In dieser Abteilung sind drei Beiträge von Greve29, Rössel30 und Schwinn31 vertreten. Die meisten Autoren, die i.S. der Leitfragen der Einleitung an handlungstheoretischen Zugängen zur Differenzierungstheorie interessiert sind, sind sich zumindest in einem Punkte einig: dass Fragen sozialer Ungleichheit in der systemtheoretischen Differenzierungstheorie unterbelichtet sind. Das fällt auf, weil sie als umfassende Theorie soziale Ungleichheit miterklären muss, während Theorien sozialer Ungleichheit sich eher auf die mittlere Reichweite beschränken. Also müsste sich gerade an diesem Thema die größere Leistungsfähigkeit handlungstheoretischer Zugänge erweisen, wenn sie selbst mit einem umfassenden Erklärungsanspruch auftreten (und soziale Ungleichheit und Differenzierung gleichermaßen erklären) wollen. Das „Heimspiel“ der Handlungstheorie gegen die systemtheoretische Differenzierungstheorie auf dem Felde der Ungleichheitsthematik könnte erfolgreicher gespielt werden, wenn es sich auf einen evolutionstheoretischen Mehrebenenansatz stützen würde. In den Beiträgen zu dieser Abteilung wird immer wieder das ungleichheitstheoretische Defizit der Differenzierungstheorie beklagt und sogar explizit die Behandlung von Ungleichheitsfragen der handlungstheoretischen Erweiterung bzw. Mikrofundierung der Differenzierungstheorie zugerechnet. Es wird jedoch nicht in Betracht gezogen, dass die Lösung der Theorieprobleme darin bestehen könnte, soziale Differenzierung selbst als Verarbeitungsform von Ungleichheitsproblemen zu betrachten. Wenn soziale Differenzierung als eine auf der Makroebene verankerte Verarbeitungsform sozialer Konkurrenzkonflikte der Mikroebene


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aufgefasst würde, wäre soziale Ungleichheit der sichtbare Ausdruck von Ressourcenkonflikten zwischen (individuellen und kollektiven) Akteuren, die in den Differenzierungsformen der Makroebene nicht oder nicht zureichend verarbeitet werden können. Phänomene sozialer Ungleichheit verweisen also auf das (objektive) Nichtfunktionieren und die (subjektive) Nichtanerkennung gegebener Formen sozialer Differenzierung.32 In einem evolutionstheoretischen Ansatz wäre Ungleichheit auf der Ebene der Individuen als Ergebnis von Selektionsprozessen in Folge der Konkurrenz um beschränkte Ressourcen zu unterscheiden von Ungleichheit auf der Ebene von konkurrierenden Gruppen bzw. Sozialsystemen. Die Verlagerung von der einen auf die andere Ebene und die Reinternalisierung von Konkurrenz durch Binnendifferenzierung ist wesentliches Moment der Evolution sozialer Systeme. Auf dieser Grundlage können dann Formen sozialer Binnendifferenzierung als Formen der Reinternalisierung von Ungleichheit in der Form von Verschiedenartigkeit (also Gruppen, die nicht um dieselben Ressourcen konkurrieren, weil sie verschieden sind) interpretiert werden. Die Besonderheit der in der Moderne hinzukommenden Differenzierungsform wäre dann darin zu erkennen, dass diese Ungleichheit als Verschiedenartigkeit von Personengruppen abgelöst und auf abstrakte (funktionssystemische) Wertorientierungen verlagert wird. Dadurch wird die (fortdauernde) Reproduktion sozialer Ungleichheit auf der Ebene der Individuen delegitimiert und es entsteht ein neuer Legitimationsbedarf im Hinblick auf wohlfahrtsstaatliche Ausgleichsmechanismen. Die Stärke des Beitrags von Schwinn in diesem Abschnitt liegt m.E. weniger in der Integration von Ungleichheits- und Differenzierungstheorie, als vielmehr darin, deutlich zu machen, dass für das Funktionieren funktionaler Differenzierung auf globaler Ebene wesentliche institutionelle Voraussetzungen (Gewaltmonopol, Rechtsmonopol u.a.) fehlen – weshalb hier eher von einer Konkurrenz funktionaler Differenzierung mit älteren Differenzierungsformen gesprochen werden muß. Dies wird besonders deutlich in der schwachen Bedeutung meritokratischer Strukturen und der starken Bedeutung sozialer Netzwerke auf globaler Ebene. Was in Schwinns Beitrag nicht in den Blick kommt, ist der Umstand, dass auf der globalen Ebene ein zentraler Mechanismus der Konfliktverarbeitung (wegen ungleicher Ressourcenverteilung) – nämlich die Verlagerung auf die Ebene konkurrierender Sozialsysteme – nicht mehr zur Verfügung steht.33 Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass die Bedingungen für das Funktionieren des traditionellen Konfliktverarbeitungsmechanismus der Externalisierung und damit Verlagerung der Konflikte auf die Ebene konkurrierender Sozialsysteme sich grundlegend geändert haben durch die globale Ausdehnung und interne Verdichtung der menschlichen Sozialität. Für Externalisierungsstrategien stehen keine anderen Systeme in der Umwelt der menschlichen Gesellschaft zur Verfügung. Das heißt nicht, dass die Externalisierung von Konflikten nicht mehr versucht würde. Aber jeder Konflikt kehrt sofort ins Innere der globalisierten Gesellschaft zurück und breitet sich darin epidemisch aus, wenn er nicht durch neue, der Globalisierung angemessene, Formen der Binnendifferenzierung aufgefangen wird. Vielleicht benötigt man eben doch einen „schwachen“ (dh. ohne die Unterstellung eines eigenständigen Operationsmodus auskommenden) Begriff von Gesellschaft, um diese Phänomene zu beschreiben.34


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5. Die Entdifferenzierung theoretischer Zugänge zum Thema soziale Differenzierung findet nicht statt (Schluss) Wenn Vertreter verschiedener theoretischer Schulen auf einer Tagung zusammentreffen, um über differente Zugänge zu einem Thema zu diskutieren und anschließend ihre Beiträge in einem Sammelband darstellen, dann geht es normalerweise nicht darum, Differenzen beizulegen und eine einheitliche Auffassung über den Gegenstand auszuhandeln oder gar eine Theoriesynthese hervorzubringen, sondern darum, den Konflikt der Auffassungen in kulturell gepflegten Formen und vor einem virtuellen Dritten auszutragen – dem Publikum der wissenschaftlichen Leser, das am Ende darüber entscheidet, wer in diesem Wettbewerb gewonnen und verloren hat. Was immer an Theoriediskussion auf der Tagung stattgefunden haben mag, die der Konzeption dieses Sammelbandes vorherging: der Band gibt es nicht wieder. Kaum ein Beitrag nimmt auf den Anderen explizit Bezug. Die Diskussion über den Beitrag handlungstheoretischer Ansätze zur soziologischen Differenzierungstheorie findet in diesem Band nicht statt. Ungeachtet der (im einzelnen sehr beachtlichen) Qualität der Beiträge muss also gesagt werden, dass die im Titel des Bandes versprochene Diskussion über handlungstheoretische Zugänge zu sozialer Differenzierung nicht eingelöst wird. Diskutiert wird im Anschluß und in Abgrenzung zu anderen Beiträgen – ungeachtet dessen, ob sie in diesem Band vertreten sind oder nicht – und adressiert werden diese Diskussionsbeiträge nicht an die anderen Autoren in diesem Band, sondern an ein unbekanntes Lesepublikum, das sich für derartig verzwickte Theoriefragen interessieren könnte. Eine gewisse Kompensation für die fehlende Diskussion im Band stellt der Schlußbetrag von Schwinn dar. Man kann ihn als Relektüre des ganzen Bandes verstehen (mit Bezügen auf weitere Autoren, die in den Diskussionszusammenhang des Bandes gepasst hätten) – in diesem Fall aus der Perspektive eines strikten Befürworters einer handlungstheoretischen Reformulierung der Differenzierungstheorie von Grund auf. In einer Reflexion der Beiträge des Abschnitts zur „Genese und Varianz von Differenzierungsmustern“ setzt sich Schwinn auch von der Luhmannschen Evolutionstheorie ab, die (wegen des fehlenden Bezugs auf das Variationspotenzial handelnder Individuen) Varianz nicht erklären könne (425f.)35 Leider geht Schwinn nicht auf andere Beiträge zur Theorie der kulturellen Evolution ein, in denen das Darwinsche Schema der evolutionären Mechanismen nicht so akteurlos daher kommt. Im erneuten Rekurs auf den Zusammenhang zwischen sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit geht Schwinn auch über die programmatische Beschränkung auf Phänomene der modernen Gesellschaft hinaus und bezieht ältere Differenzierungsformen ein. (428f.)36 Am Schluss seines Betrags empfiehlt Schwinn – wie zur Versöhnung zwischen den konkurrierenden Ansätzen – eine weitergehende Differenzierung innerhalb der Differenzierungstheorie: „In mehreren Beiträgen des vorliegenden Bandes und in neueren Arbeiten ist zu erkennen, dass man mit der Differenzierungstheorie arbeitet und weniger über sie: Schimanks differenzierungstheoretische Entfaltung von Konfliktlinien; Kronebergs Analyse von Demokratisierungsprozessen; Schwinns Thematisierung globaler Ungleichheitsverhältnisse; Kusches Verortung des Klientilismus in modernen Ordnungsarrangements; Kerns Blick auf institutionelle Effekte von Publi-


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kumsrollen. Diese Tendenz hat mehrere Vorteile: Die Varianz von sozialen Differenzierungen wird deutlich. Es geht nicht mehr um das Aufzeigen der historischen und aktuellen großen Grundlinien, sondern um eine differenzierte Differenzierungstheorie.“(429f.) Aber was wäre das denn für eine Theorie – abgesehen von mehr empirisch kontrollierten Untersuchungen und mehr Zulassen von Varianz im Gegenstandsbereich? Diese Frage wird von Schwinn an dieser Stelle nicht beantwortet, sondern nur mit der Empfehlung versehen, die richtige Balance zwischen empirischer Spezifikation und theoretischer Verallgemeinerung zu halten. Man kann aus Schwinns Formulierung aber auch das Streben nach nach einer theoretischen Konzeptintegration herauslesen, die durch mehr Binnendiffererenzierung innerhalb einer umfassenden Theorie zu erreichen wäre. Doch passt die Vorstellung einer solchen Synthese zum kulturalistischen Programm? Sie passt wohl eher zu den Wahrheitsansprüchen der älteren Theorietradition, die sich noch nicht vom Naturalismus der Darwinschen Evolutionstheorie abschrecken ließ. Der Wettbewerb der theoretischen Zugänge geht weiter. Zusätzliche Literaturangaben Blute, Marion 2002: Review of Niklas Luhmann, Theories of Distinction: Redescribing the Descriptions of Modernity. Canadian Journal of Sociology Online. Nov.-Dec., 2002 (www.cjsonline.ca / pdf / luhmann.pdf) Blute, M. 2010: Darwinian Sociocultural Evolution. Solutions to Dilemmas in Cultural and Social Theory. Cambridge University Press, New York. Maturana, H. R. & F. J. Varela 1980: Autopoiesis and Cognition: the Realization of the Living. Dordrecht [u.a.] : Reidel Richerson, P. J. & R. Boyd, 2005: Not by Genes Alone: How Culture Transformed Human Evolution. Chicago. Sober, E. & D. S. Wilson, 1998: Unto Others. The Evolution and Psychology of Unselfish Behavior, Cambridge, Mass. / London, England: Harvard University Press.


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Titel und Rezensent („Deckblatt“) THOMAS SCHWINN / CLEMENS KRONEBERG / JENS GREVE (Hrsg.), Soziale Differenzierung. Handlungstheoretische Zugänge in der Diskussion. Wiesbaden: VS 2011, 432 S., br. 39,95 € Rezensent: Dr. KLAUS GILGENMANN, Hochschuldozent i.R., Fachbereich Sozialwissenschaften, Universität Osnabrück


Anhang mit Exzerpten und vorläufigen Anmerkungen zu einzelnen Beiträgen 1 „Der Band geht auf eine Kurztagung zum Thema „Soziale Differenzierung und die Möglichkeiten und Grenzen handlungstheoretischer Ansätze" zurück, die am 22. und 23.10.2009 am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) stattgefunden hat.“ (21) 2 Der Rückseiten-Text in einem Stück: „Das Konzept der sozialen Differenzierung ist unerlässlich für die Beschreibung und Analyse moderner Gesellschaften. Während die prägenderen Zugänge zu diesem Gegenstand in der Systemtheorie entwickelt worden sind, haben seit einiger Zeit handlungstheoretisch fundierte Differenzierungstheorien an Bedeutung gewonnen. Der Sammelband fragt nach den Erkenntnisgewinnen handlungstheoretischer Zugänge zum Thema Differenzierung. Dies geschieht in Auseinandersetzung mit systemtheoretischen Positionen sowie mit Zugängen, die sich als Alternative zu den beiden Grundlagentheorien verstehen. Der Band enthält sowohl grundlagentheoretische als auch angewandte Beiträge zur Analyse eines zentralen Strukturierungsmerkmals moderner Gesellschaften.“ 3 Unter Differenzierungstheoretikern hat Entdifferenzierung keinen guten Ruf. Und doch ist es das, was sie betreiben, wenn sie darüber diskutieren - und mit der schriftlichen Herausgabe ihrer Diskussionsbeiträge ein virtuelles Lesepublikum davon zu überzeugen versuchen -, welcher theoretische Zugang am besten geeignet wäre, um Phänomene sozialer Differenzierung zu erklären. Ich komme darauf am Schluß zurück. 4 Aber warum nur „eines“? gibt es immer nur eine dominante Form von Differenzierung in modernen Gesellschaften - und warum im Plural? 5 S. 9: „Aus der Sicht handlungstheoretischer Ansätze ergeben sich drei Möglichkeiten, auf diesen Befund zu reagieren. Erstens können sie das Feld der gesellschaftlichen Differenzierung der Systemtheorie überlassen. Sofern man die eingangs erwähnte Bedeutung gesellschaftlicher Differenzierung für moderne Gesellschaften (an-)erkennt, erscheint diese Möglichkeit jedoch unattraktiv. Vor allem widerspricht sie dem Anspruch der handlungstheoretisch fundierten Soziologie, eine umfassende Grundlage für die soziologische Theoriebildung und Forschung zu bieten (Esser 2000; Weber 1980). Zweitens kann nach Perspektiven gesucht werden, die handlungs- und systemtheoretische Zugänge zu gesellschaftlicher Differenzierung als komplementäre Perspektiven betrachten. Diese Strategie verfolgt etwa Jürgen Habermas in seiner Gegenüberstellung von System und Lebenswelt (Habermas 1981a, b). Sie ist jedoch mit dem Risiko verbunden, bei der Integration grundbegriffliche Brüche in Kauf zu nehmen, so z.B. beim Gesellschaftsbegriff: Dieser bezieht sich gleichzeitig auf lebensweltlich eingebundene Akteure und auf entpersonalisierte Kommunikationen (Habermas 1981b: 188ff). Auch ist fraglich, anlässlich welcher sozialer Phänomene genau und mit welcher Begründung von einer handlungstheoretisch fundierten zu einer systemtheoretischen Betrachtungsweise überzugehen sein sollte (Joas 2002: 162ff.; Schwinn 2001: 136ff). Drittens lässt sich fragen, ob handlungstheoretische Ansätze in der Lage sind, das Konzept gesellschaftlicher Differenzierung einzuholen, ohne Anleihen bei der Systemtheorie zu nehmen. Der vorliegende Sammelband setzt insbesondere an der Frage an, in welchem Maße diese dritte Option durchführbar ist. [Eine vierte Option könnte darin bestehen, handlungs- und systemtheoretische Zugängen in einem evolutionstheoretischen Rahmen zu kombinieren – also nicht nur als komplementäre Zugänge sondern als verschiedene Aspekte desselben Zugangs zu betrachten.

6 In seinem Beitrag zur Rekonstruktion des Spannungsverhältnisses zwischen Differenzierungs- und Ungleichheitstheorie bei Parsons macht Greve darauf aufmerksam, dass Luhmann demgegenüber eine vergleichsweise einfache Lösung bereithalte: Er begreife Integration als „negative Integration“ (2011, 364f - in: Schwinn et al. 2011: Soziale

Differenzierung) und zitiert als Beleg aus Luhmanns früher Religionssoziologie (1982)

„Den Integrationsbegriff wollen wir negativ definieren als Vermeidung des Umstandes, daß die Operationen eines Teilsystems in einem anderen Teilsystem zu unlösbaren Problemen führen." (Luhmann 1982: 242) Zwar hat Luhmann die Bezeichnung „negative Integration“ später (1997, Abschnitt III Inklusion / Exklusion) in einem ganz anderen Sinne, nämlich als funktionssystemübergreifende Exklusion an den Rändern der Gesellschaft verwendet. Der Sache nach aber hat Luhmann auch in seiner späteren Gesellschaftstheorie an dem in der Religionssoziologie eingeschlagenen Weg einer negativen Definition von Integration festgehalten: „Die Umstellung vom Schema Ganzes/Teil auf das Schema System/Umwelt verändert schließlich die Stellung des Begriffs der "Integration". In der alteuropäischen Denkweise gab es dafür keinen besonderen Begriff, denn die Integration der Teile war in der Ganzheitlichkeit des Ganzen als ordinata concordia mitvorgesehen und wurde an den Einzelphänomenen dann als ihre Natur oder ihr Wesen zum Ausdruck gebracht. Die klassische Soziologie reformuliert das Problem als eine quasi gesetzmäßig Beziehung zwischen Differenzierung und Integration. Die Differenzierung könne nicht ins Extrem völliger Indifferenz getrieben werden. "Quelques rapports de parenté", meint Durkheim , folgten allein aus dem Umstand, daß es sich um die Differenzierung eines Systems handele. Und Parsons macht daraus: "Since these differences are conceived to have emerged by a process of change in a system.... the presumption is that the differentiated parts are comparable in the sense of being systematically related to each other, both because they still belong within the same system and, through their interrelations, to their antecedents." Dabei bleibt der Begriff der Integration zumeist jedoch undefiniert und wird, wie man kritisch angemerkt hat, mehrdeutig verwendet. Häufig fließen in ihren empirischen Bedingungen nicht weiter reflektierte Konsensprämissen ein. Das hatte zur Konsequenz, daß der Begriff der Integration nach wie vor benutzt wird, um Einheitsperspektiven oder sogar Solidaritätserwartungen zu formulieren und entsprechende Einstellungen anzumahnen, — im alteuropäischen Stil! Der Geschichtsprozeß wird wie ein Vorgang der Emanation beschrieben: Aus Homogenität wird Heterogenität, wobei die Heterogenität die Homogenität dadurch ersetzt, daß sie Differenzierung und Integration zugleich erfordert. Unter solchen Umständen, wird oft gesagt, kommt der Mobilität die Funktion der Integration zu, und "Mobilisierung" galt deshalb als eines der entscheidenden Rezepte einer Modernisierungspolitik für Entwicklungsländer (solange die chaotischen Folgen der Wanderungsbewegungen und Verstädterungen nicht eines besseren belehrten). Ein normativer, Integration fordernder oder doch gutheißender Begriff muß jedoch in Gesellschaften, die komplexer werden, auf zunehmenden Widerstand stoßen. Wenn man ihn beibehält, sieht man sich zu paradoxen oder tautologischen, selbstimplikativen Formulierungen gezwungen. Die Kommunikation des Gebots (und wie anders sollte es Realität werden?) wird mehr "Neins" als "Jas" auslösen, so daß die Hoffnung auf Integration schließlich zu einer Ablehnung der Gesellschaft führt, in der man lebt. Und dann? Um solche Überdeutungen zu vermeiden, wollen wir unter Integration nichts anderes verstehen als die Reduktion der Freiheitsgrade von Teilsystemen, die diese den Außengrenzen des Gesellschaftssystems und der damit abgegrenzten internen Umwelt dieses Systems verdanken. Jede Ausdifferenzierung autopoietischer Systeme erzeugt ja interne Unbestimmtheiten, die durch Strukturentwicklungen noch ausgeweitet, aber auch eingeschränkt werden können. Integration ist nach diesem Begriffsvorschlag also ein Aspekt des Umgangs mit, oder der Nutzung von, internen Unbestimmtheiten auf der Ebene des Gesamtsystems wie auf der Ebene seiner Teilsysteme. ...


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Im Unterschied zum Gesellschaftssystem gibt es für dessen Teilsysteme ja zwei Umwelten: die gesellschaftsexterne und die gesellschaftsinterne. Integration ist, so verstanden, kein wertgeladener Begriff und ist auch nicht "besser" als Desintegration. Sie bezieht sich auch nicht auf die "Einheit" des differenzierten Systems (was rein begriffslogisch schon darauf folgt, daß es zwar mehr oder weniger Integration, aber nicht mehr oder weniger Einheit geben kann). Integration ist also nicht Bindung an eine Einheitsperspektive und schon gar nicht eine Sache des "Gehorsams" der Teilsysteme im Verhältnis zu Zentralinstanzen. Sie liegt nicht in der Beziehung der "Teile" zum "Ganzen", sondern in der beweglichen, auch historisch beweglichen Justierung der Teilsysteme im Verhältnis zueinander. Die Einschränkung der Freiheitsgrade kann in Bedingungen der Kooperation liegen, sie findet sich aber noch viel stärker im Konflikt. Der Begriff meint also gerade nicht die Differenz von Kooperation und Konflikt, sondern ist dieser Unterscheidung übergeordnet. Das Problem des Konflikts ist die zu starke Integration der Teilsysteme, die immer mehr Ressourcen für den Streit mobilisieren und sonstiger Verfügung entziehen müssen, und das Problem einer komplexen Gesellschaft ist es dann, für hinreichende Desintegration zu sorgen.“ (Kap. 4 Differenzierung Abschnitt I Systemdifferenzierung)

Auf den ersten Blick erscheint es so, als ob es sich hier um eine kühle Umkehrung („Abklärung“) der normativen Integrationspostulate der Theorietradition handelt. Tatsächlich handelt es sich aber eher um eine Absage an die starke Betonung der Integration über geteilte Werte bei Parsons (die Luhmann auch Durkheim unterstellt, ohne dessen evolutionstheoretische Begründung zu sehen). Wenn Luhmann es als Problem der Gesellschaft betrachtet, für „hinreichende Desintegration“ zu sorgen, dann wird deutlich, dass er eigentlich soziale Differenzierung (i.S. des Auseinanderziehens der Konfliktanlässe in verschiedene Teilsysteme, die nicht mehr miteinander konkurrieren) meint. Er übernimmt also die im mainstream der Soziologie üblich gewordene Gegenüberstellung von Differenzierung und Integration, statt auf eine evolutionstheoretische Erklärung von Integration durch Differenzierung zu bauen. Nimmt man die noch deutlich an die Darwinsche Theorie angelehnten Formulierungen Durkheims ernst, dann bilden Differenzierung und Integration überhaupt keinen Gegensatz (Gegenpole) sondern sind Bestandteile eines kausalen Erklärungsansatzes: Integration durch Differenzierung. Allerdings ist dieser evolutionstheoretische Erklärungsansatz bei Luhmann nicht mehr zu erkennen, weil es in seiner Version von Evolutionstheorie Selektion nur noch im System gibt. 7 In der deutschen Theoriediskussion wurden in den letzten zwei Jahrzehnten mehrere Entwürfe zu einer handlungstheoretisch fundierten Differenzierungstheorie ausgearbeitet (Esser 2000; Schimank 1988, 2005, 2006; Schwinn 2001). Vor ihrem Hintergrund lassen sich eine Reihe von Herausforderungen und offenen Fragen an handlungstheoretische Zugänge zu sozialer Differenzierung identifizieren. (1.) Auch handlungstheoretisch fundierte Differenzierungstheorien richten den Blick nicht auf den einzelnen Akteur, sondern auf soziale Zusammenhänge wie Politik, Wissen¬schaft und Wirtschaft. Während Thomas Schwinn im Anschluss an Weber von (Lebens-) Ordnungen und Wertsphären spricht, übernehmen etwa Hartmut Esser, Renate Mayntz oder Uwe Schimank die systemtheoretische Redeweise von sozialen Systemen, gesellschaft¬lichen Teilsystemen oder Funktionssystemen. Eine Übernahme des Systembegriffs verlangt allerdings eine konsequente handlungstheoretische Re-Definition. Abgesehen von termino¬logischen Differenzen wird inhaltlich durchgängig auf institutionalisierte Handlungszusammenhänge verwiesen, die durch einen spezifischen Sinn ge-

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kennzeichnet sind, an dem sich die Akteure orientieren und durch den sie sich aneinander orientieren (Mayntz 1988: 17f.; Schwinn 2001: 47). So ist das Handeln in der Wirtschaft am Gewinn orientiert, in der Politik an politischer Macht und in der Wissenschaft an methodisch gewonnener Wahrheit. Von manchen Autoren wird zudem betont, dass für die Zuordnung zu einem gesellschaftlichen Teilsystem nicht (nur) der subjektive Sinn des Handelnden ausschlag¬gebend ist, sondern die Sinnzuschreibung der anderen Akteure und deren entsprechendes Anschlusshandeln (Nassehi 2003: 28ff; Schimank 2003: 269). Im Anschluss an diese ursprünglich systemtheoretische Einsicht hat jüngst Uwe Schimank einen detaillierten Vorschlag formuliert, wie sich die interaktive Reproduktion teil-systemtischer Handlungs¬zusammenhänge handlungstheoretisch erklären lässt (Schimank 2009b). (2.) Eine weitere grundbegriffliche Frage betrifft den Gesellschaftsbegriff (Greve 2008). Im Dekompositionsparadigma nahm dieser eine zentrale Stellung ein, der das „Woraus" der Ausdifferenzierung und den funktionalen Bezugspunkt der Teilsysteme bezeichnete. Ein starker Begriff von Gesellschaft als eigenständige, zu spezifischen Operationen fähige Struk-tur ist aus handlungstheoretischer Perspektive jedoch unhaltbar. Zur Diskussion steht sogar der Vorschlag, die Differenzierungstheorie vollkommen ohne den Gesellschaftsbegriff zu entwickeln, also ohne die Annahme von etwas, das sich differenziert (Schwinn 2001). Verzichtet man dagegen nicht auf den Gesellschaftsbegriff, so fragt sich, wie er handlungs-theoretisch sinnvoll bestimmt werden kann. (3.) In der handlungstheoretischen Tradition des Utilitarismus lag es nahe, gesell¬schaftliche Differenzierung als Arbeitsteilung zu denken. Für die differenzierungs¬theoretische Analyse sozialer Rollen (Dahrendorf 1974b) und teilweise auch für die von Organisationen (Coleman 2001) mag dieses Verständnis ausreichen. Die Konfiguration gesellschaftlicher Teilsysteme oder Lebensordnungen lässt sich jedoch nicht durchgängig arbeitsteilig denken. Vielmehr stellen etwa Wirtschaft, Wissenschaft oder Religion auf einer ideellen oder kulturellen Ebene globale Zugriffsweisen auf die Welt dar, die jedes Ereignis aus einer eigenen, gegenüber „fremden" Gesichtspunkten zunächst ignoranten Perspektive betrachten (Türk 1995: 173). Dieses von Luhmann als Polykontexturalität bezeichnete Phänomen gilt es in handlungstheoretisch fundierten Differenzierungstheorien zu berücksichtigen. Daraus ergeben sich unter anderem Anforderungen an die zu verwendende Handlungstheorie, die es, wie bereits in Webers Programm einer verstehen¬den Soziologie formuliert, ermöglichen muss, kulturelle Deutungsschemata oder Orientierungsstandards als eigenständige Erklärungsgrößen zu berücksichtigen (Kroneberg 2011; Schimank 2009b; Schwinn 2006a). (4.) Wiewohl ein holistischer Funktionalismus zu verwerfen ist, stellt sich die Frage, ob sich nicht auch die Handlungstheorie auf einen Bezugspunkt der Differenzierungstheorie einlassen muss. Liegt dieser in Akteuren und wenn ja, mit welchen Präferenzen? Welche Rolle spielen Werte? Wie können dabei die Teilordnungen voneinander abgegrenzt werden? Mit Weber lassen sie sich zugleich als Wertsphären verstehen, aber was genau definiert eine Wertsphäre? Auf den ersten Blick besitzt eine kommunikationstheoretisch verfah-rende Differenzierungstheorie, die auf Codierung abhebt, hier Vorteile. Sie kann die Grenzen der Teilsysteme klar bestimmen. Sieht man genauer hin, so stellt sich dieses Problem aber auch in der systemtheoretischen Differenzierungstheorie (nicht jede wahr¬heitsfähige Aussage gehört zur Wissenschaft) (vgl. Nassehi 2004: 107ff.). Wie stellt sich dieses Abgrenzungsproblem aus der Sicht der Handlungstheorie dar? Auch hier suggeriert die Rede von Wertsphären vielleicht eine höhere als die faktisch eingelöste Präzision. Wenn Weber beispielsweise den Eigensinn der religiösen Sphäre gegenüber anderen Teilordnungen auch über den Gedanken der Brüderlichkeitsethik bestimmt, so bündelt er Religion mit einer ethischen Vorstellung, die in konkreten Religionen durchaus schwach ausgeprägt sein kann (so bei den Calvinisten). Darüber hinaus stellt sich handlungs-theoretisch auch die Frage nach der Durchdringung der unterschiedlichen


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Ordnungen. Wie lassen sich Autonomie der Teilordnungen und die Durchdringung von teilsystemischen Logiken im konkreten Handeln zusammendenken? Hier ist offensichtlich eine zweistufige Erklärung unerlässlich, die mit dem Abgrenzungsproblem aufs Engste verknüpft ist: Zunächst müssen klare Indikatoren zur Abgrenzung von (Sinn-)Kriterien (und damit für gegebenenfalls anzutreffende Eigenrationalität) vorliegen, um anschließend zu klären, ob und in welchem Maße sie im konkreten Handeln zusammenfließen (Nassehi 2004; Berger, 2003). (5.) Hinzu kommt die Frage nach der Gleichrangigkeit der Teilordnungen. Dies ist eine Luhmannsche Annahme, die handlungstheoretisch beibehalten oder verworfen werden kann. Lassen sich dominante Teilordnungen ausmachen und woran wäre dies zu messen (Tyrell 1978: 190f.; Schimank 2009a)? Ähnliches gilt für die Integrationsfrage. Autonomie der Teilordnungen und Integration müssen, folgt man Parsons und Münch (1995) (nicht aber Luhmann), keine Widersprüche darstellen. Wenn man aus handlungstheoretischer Sicht die Annahme einer Autopoiesis verwirft, wird dann nicht der Weg frei, die Integrationsfrage gleichberechtigt mit der Differenzierungsfrage zu stellen? [Es geht aber gar nicht um die Gleichberechtigung der Fragestellungen, sondern um, ihren kausalen Zusammenhang: Differenzierung als Lösung eines Integrationsproblems !] (6.) Eine weitere Herausforderung betrifft die theoretische Fassung der Beziehungen zwischen sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit (Schwinn 2004). Gegenüber systemtheoretischen Ansätzen, die Akteure analytisch ausblenden, erscheinen handlungs-theoretische Zugänge zu sozialer Differenzierung hier klar im Vorteil. Vor dem Hinter¬grund der systemtheoretischen Bemühungen, Phänomene sozialer Ungleichheit wieder umfassender theoretisierbar zu machen, erscheint der Luhmannsche Versuch, sozialer Ungleichheit den Status eines bedeutsamen Strukturmerkmals moderner Gesellschaften abzusprechen, als gescheitert. Die Kritik an Luhmanns Perspektive bringt vielmehr zu Bewusstsein, dass eine Theorie der Differenzierung ohne Berücksichtigung der Gleichheits-/Ungleichheitsrelationen unvollständig bleiben muss. Die Analyse der Wechselwirkungen zwischen sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit und die Identifikation der zu Grunde liegenden Mechanismen stellt zweifelsohne eine noch nicht abgeschlossene zentrale Aufgabe der Differenzierungstheorie und eine Bewährungsprobe für handlungs- und systemtheoretische Zugänge dar. [In evolutionstheoretischer Perspektive ließe sich hier aber durchaus an die Luhmannsche Aufassung anschließen, der ja nicht bestreitet, dass soziale Ungleichheit sich in der Moderne reproduziert. Der springende Punkt ist vielmehr, dass soziale Ungleichheit / Schicht ein älteres Prinzip (der Konfliktvermeidung durch soziale Differenzierung darstellt, das in der Moderne durch ein neues Prinzip der Konfliktvermeidung (funktionale Differenzierung) abgelöst wird. Gerade dadurch wird soziale Ungleichheit in der Moderne sichtbar, weil ihr die transzendentale Legitimation entzogen ist.] (7.) Generell stellt sich die Frage nach den Erklärungsgewinnen, die mit handlungs¬theoretischen Ansätzen verbunden sind. In welchem Maße sind diese in der Lage, die grundlegenden Mechanismen zu identifizieren, auf denen Aus- und Entdifferenzierung als Prozesse beruhen und über die sich soziale Differenzierung reproduziert (Schimank 2005: 165ff; 2009b)? Ergeben sich daraus lediglich Reformulierungen systemtheoretischer Einsichten oder aber diese korrigierende oder über sie hinaus gehende Erklärungsgewinne? Die Diversität der handlungstheoretischen Soziologie widerspiegelnd, bestehen wohl¬gemerkt durchaus unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche Arten von Erklärungsgewinnen anzustreben sind. So kann es beispielsweise primär darum gehen, eine historisch (Schwinn 2001) oder aktuell vergleichende Differenzierungsforschung (Schwinn 2006b) zu entwickeln oder stärker auf abstrakte und formalisierte Modelle kausaler Mechanismen hinzuarbeiten (Schimank 2005: 165ff.). (8.) Daran schließt die Frage nach dem empirischen Potential der Differenzierungs¬theorie an. Nicht zuletzt im Vergleich zur stark

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institutionalisierten empirischen Ungleich¬heitsforschung scheint die soziologische Beschäftigung mit sozialer Differenzierung ein primär theoretisches Unterfangen zu sein. Empirisches Material wird allenfalls in Form von Fallstudien und narrativer Verarbeitung historischer Evidenz einbezogen, nicht jedoch im Sinne einer Hypothesen testenden empirischen Sozialforschung oder einer indikator¬basierten gesellschaftlichen Dauerbeobachtung. Dies ist teilweise darauf zurückzuführen, dass gesellschaftsweite Differenzierungsprozesse erst über einen historisch längeren Zeitraum sichtbar und analysierbar werden. Noch grundlegender ist wohl das Problem der Beobachtungseinheiten: Die Ungleichheitsforschung kann individuelle Akteure direkt befragen und somit ungleichheitskonstituierende Merkmale ohne Weiteres erheben. Eine differenzierungstheoretisch angeleitete empirische Forschung sieht sich weitaus größeren Heraus-forderungen gegenüber, da sie die Ausdifferenzierung von Geltungskontexten betrachten müsste, welche nicht direkt anhand von Akteuren, sondern anhand von Situationen und Handlungszusammenhängen zu erfassen wären. Trotz dieser Heraus¬forderungen sind von der Entwicklung handlungstheoretisch fundierter Differenzierungs¬theorien auch neue Anläufe zu empirisch verankerter Differenzierungsforschung zu erwarten (siehe etwa Burzan et al. 2008). Wie bereits diese Auswahl konzeptioneller, explanativer und forschungsstrategischer Herausforderungen zeigt, ist die Entwicklung und Etablierung handlungstheoretisch fundierter Differenzierungstheorien noch lange nicht abgeschlossen. Der vorliegende Sammelband führt die Diskussion einiger offener Fragen weiter und versucht sie einer Lösung näher zu bringen. Zugleich bietet er die Möglichkeit der Zwischenreflexion auf dem Weg zu einem handlungstheoretischen Ansatz sozialer Differenzierung. Der Band enthält daher auch Beiträge, die einer handlungstheoretischen Umstellung dieses soziologischen Konzepts eher kritisch gegenüber stehen, sei es aus systemtheoretischer Perspektive oder weil sie versuchen, eine Position jenseits des Gegensatzes von Handlungs¬und Systemtheorie einzunehmen. Wie stark die Weiterentwicklung der Differenzierungs¬theorie von Kontroversen geprägt ist und profitiert, zeigen auch aktuelle Diskussionen innerhalb des handlungstheoretischen Ansatzes. Dabei geht es vor allem um den Umgang mit dem systemtheoretischen Bearbeitungsstand des Konzepts gesellschaftlicher Differenz¬ierung. Lassen sich systemtheoretische Begriffe, Konzepte oder Denkfiguren in handlungs¬theoretisch fundierte Differenzierungstheorien einarbeiten und wichtige Einsichten dadurch bewahren und präzisieren? Oder führen der Versuch dieser Einarbeitung und die mit ihm einher gehende Übernahme von Problemstellungen eines anderen Paradigmas zu Inkonsistenzen und falschen Zuspitzungen? Konkret geht es etwa um das Begriffspaar Inklusion/Exklusion (Esser 2009; Schwinn 2009) oder um den Systemcharakter der differenzierten Ordnungen (Schimank 2010; Schwinn 2010a, b). An der Bedeutung, die derartigen Fragen beigemessen wird, zeigt sich, dass es bei der handlungstheoretischen Umstellung der Differenzierungstheorie um nicht weniger geht als „die Möglichkeit einer handlungstheoretisch begründeten, nichtfunktionalistischen Makrosoziologie" (Joas 1992: 336). 8 Im Folgenden geben wir einen Überblick über die Beiträge dieses Bandes. Eine erste Gruppe setzt sich mit den Grundlagen der Differenzierungstheorie auseinander. Die grundlagentheoretischen Fragestellungen betreffen den Status des Gesellschaftsbegriffs (Schwinn, Göbel), den Charakter der zu Grunde zu legenden Handlungstheorie (Schützeichel, Renn) und die Möglichkeit eines dritten Weges jenseits des Gegensatzes von Handlungs- und Systemtheorie (Bongaerts, Lindemann). Thomas Schwinn setzt sich mit der Frage auseinander, ob Differenzierung einen Bezugspunkt „Gesellschaft" benötigt. Er zeigt, wie der Gesellschaftsbegriff, der bei Durkheim und Parsons durch Holismus und normative Integration gekennzeichnet ist, in der Folge einem Verfallsprozess ausgesetzt ist. Luhmann gibt die Idee von Gesellschaft als Bezugspunkt funktionaler Analyse zunächst auf dem Wege der Funktionalismuskritik preis. Das Beibehalten einer


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holistischen Gesellschaftsbegriffs erfolge dann aber bei Luhmann halbherzig. Einerseits zerfällt für Luhmann Gesellschaft in autonome Funktionssysteme, andererseits möchte er doch an einem Gesellschaftsbegriff festhalten, auf den hin Differenzierung orientiert ist. Bei Nassehi findet Schwinn eine weitere Schwundstufe. Gesellschaft bezeichnet lediglich noch einen Beobachtungsbegriff, keinen operativen Begriff mehr. Die Beobachtungskomponente bleibe mit den anderen Aspekten des Gesellschaftsbegriffs, Gesellschaft als Kommunikation, Gesellschaft als Ensemble der Teilsysteme und Gesellschaft als operative Einheit unvermittelt. Die Kritik an der vorläufig letzten Schwundstufe des Gesellschaftsbegriffs, nämlich einem „schwachen", welcher unter Gesellschaft nur noch die Gesamtheit des Sozialen versteht, führt Schwinn zu einer Kritik an Greves Vorschlag, einen solchen schwachen Gesellschaftsbegriff unter handlungstheoretischen Vorzeichen beizubehalten. Schwinn vertritt die Ansicht, dass ein solcher heuristischer Gesellschaftsbegriff nicht in der Lage sei, die Leistungen zu erbringen, die ihn Greve zufolge unverzichtbar machen, nämlich einen Bezugspunkt für Fragen nach gesellschaftlicher Integration, gesellschaftlicher Dominanz und Evolution beizubehalten. Ein reiner Summenbegriff von Gesellschaft biete hierfür keine spezifizierbaren Kriterien mehr. Andreas Göbel betrachtet ebenfalls die Frage nach dem Gesellschaftsbegriff. Im Gegensatz zu Schwinn argumentiert er dabei nicht aus einer handlungstheoretischen Sicht, sondern setzt theorieimmanent bei Luhmanns Gesellschaftsbegriff an. Auch aus systemtheoretischer Sicht seien die Probleme nicht zu übersehen, welche sich mit diesem verbinden. Der Gesellschaftsbegriff ist mehrdeutig: In der Trias von Interaktion, Organisation und Gesellschaft bezeichnet Gesellschaft das umfassende System, gleichzeitig aber auch einen speziellen Fall der Systembildung. Funktionale Differenzierung führt zu einer multiperspektivischen Sicht auf die Gesellschaft, welche doch eine sei. Zudem bleibe unklar, ob es sich um einen Beobachtungsbegriff oder einen auch beobachterunabhängigen Begriff handle. Göbel setzt sich entsprechend mit einer Reihe von Ansätzen auseinander, welche aus diesen Beobachtungen den Schluss ziehen, auf den Gesellschaftsbegriff zu verzichten, ihn zu historisieren oder allein als Thema der Kommunikation zu betrachten. Ausgehend hiervon entwickelt Göbel eine alternative Lesart, die darin besteht, den Gesellschaftsbegriff mit der Form der Differenzierung zu identifizieren. Vor dem Hintergrund einer untergründig auch bei Luhmann präsenten institutionalistischen Argumentation stellt sich Gesellschaft für Göbel als Relation von Sinnuniversen dar. Damit sei nun kein holistisches Gesellschaftsverständnis mehr impliziert, Gesellschaft gewinne vielmehr einen konstitutionslogischen Status, womit sich auch das Verhältnis von allgemeiner Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie anders darstelle als gemeinhin angenommen. Auch Rainer Schützeichel vertritt die These, dass ein starker Gesellschaftsbegriff und ein entsprechender Funktionalismus zu verwerfen seien. Er plädiert zudem wie Schwinn und andere für eine handlungstheoretische Fassung der Differenzierungstheorie, setzt seinen Vorschlag aber gleichwohl von der gängigen Handlungstheorie dadurch ab, dass er nicht von Subjekten oder Akteuren ausgeht, sondern von Handlungstypen und -formen. Unter den Handlungsformen sind für die Differenzierung insbesondere die Fälle relevant, in denen komplementäre Handlungstypen gegeben sein müssen. Hierbei kann es sich um Handlungstypen handeln, die auf gemeinsamen Handlungen basieren oder solche, die in Teilhandlungen zerfallen können. Während die Systemtheorie die mit Codierung und Programmierung verbundenen Zielsetzungen nicht bestimmen könne, legen die Handlungstypen die Inhalte des Handelns fest. Differenzierung umfasst nach Schützeichel die Ausbildung von Handlungsbereichen und Funktionsbereichen. Funktionsbereiche stellen Handlungsbereiche dar, welche instrumentell sind im Hinblick auf die Realisierung bestimmter Handlungstypen. Da sowohl Handlungs- als auch Funktionsbereiche auf Handlungstypen beruhen, sind Handlungsbereiche nicht strikt

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geschlossen. Hier liegen zudem wechselseitige Verschränkungen von Ermöglichungen durch Inanspruchnahme verschiedener (wenn auch nicht beliebiger) Handlungstypen vor. Handlungstypen verdichten sich einerseits zu Funktionsbereichen (wie der Ökonomie), gleichzeitig schaffen sie Handlungsverläufe, welche mit Formen sozialer Ungleichheit einhergehen. Wie bei Schwinn, Schimank, Rössel und Greve werden für Schützeichel damit Differenzierung und Ungleichheit handlungstheoretisch verknüpft. Joachim Renn sucht ebenfalls nach einer handlungstheoretisch fundierten Alternative für die Analyse von differenzierten Gesellschaften. Wie Schützeichel will aber auch er dabei nicht der gängigen Fassung der Handlungstheorie folgen. Dieser wirft Renn vor, aufgrund ihrer Verklammerung von Einheit der Handlung und dem subjektiv gemeinten Sinn ein makrosoziologisches Niveau gar nicht erreichen zu können. Um diese Blockade zu überwinden, sei der Systemtheorie in gewisser Weise entgegenzukommen, ohne ihre Konzeption des Handelns zu übernehmen. Aus ihrer Sicht werde ebenso einseitig argumentiert, indem Handlungen als Zuschreibungsformen durch objektive Makroinstanzen verstanden werden. An die Stelle eines beidseitig vereinseitigten Handlungsbegriffs müsse daher ein Handlungsbegriff treten, der das Handeln als Resultat von transsubjektiven Sinnformaten versteht, welche den Handlungssinn auch in einer Weise festlegen können, der subjektiv nicht stets repräsentiert werden kann (bspw. durch das Recht). Gleichwohl bleibe der Akteur eine Instanz der Sinnsetzung, die durch solche transsubjektiven Formate nicht vollständig aufgehoben werden könne. Erklärt werden könne Handlung daher stets nur durch eine wechselseitige Durchdringung kausaler, teleologischer und funktionaler Zugänge. Gregor Bongaerts greift in seiner Analyse Bourdieus Arbeiten zu sozialen Feldern auf. Dabei arbeitet er zum einen die Besonderheiten des Differenzierungskonzeptes bei Bourdieu heraus. Im Gegensatz zur systemtheoretischen Differenzierungskonzeption erfolgt die Grenzziehung der Felder bei Bourdieu primär über die professionellen Rollen in diesen Feldern. Diese Grenzziehung vollzieht sich immer auch als ein Kampf um die Frage nach den legitimen Kriterien und Repräsentanten der Felder. Mit Weber gesprochen, treten die Trägergruppen der Differenzierung an die prominente Stelle der Analyse. Anders als bei Luhmann, aber auch bei Weber kennt Bourdieu zudem ein Feld der Macht, das sich in einer zentralen Hinsicht von anderen Feldern unterscheidet, denn es bezeichnet das Feld, in dem die Konkurrenz zwischen den verschiedenen anderen Feldern ausgetragen wird. Bongaerts arbeitet heraus, wie sich die Grenzziehungen zwischen den Feldern strukturell unterscheiden. Zwei Dimensionen stehen dabei im Mittelpunkt. Zum einen gibt es Felder, in denen die Legitimität der Praxis im Wesentlichen intern, also durch die professionell mit dem Feld Betrauten geregelt wird (wie im Fall der Kunst), zum anderen liegen Felder vor, in denen dies extern geschieht, also durch das Publikum (wie im Falle der Wirtschaft). [ist das nicht doch bei allen Feldern so?] Zwischen diesen Polen liegen andere Felder (wie die Religion oder die Politik). Die zweite Dimension betrifft die Frage danach, ob sich im Feld autonome und heteronome Pole identifizieren lassen. Auch hier gelte, dass die Kunst den einen idealtypischen Fall bilde, mit einer autonomen legitimen Kunst, die am heteronomen Pol, dem Massenpublikum, abgewertet werde, während die Wirtschaft den anderen Fall exemplifiziere. Die Wirtschaftspraxis und die Schätzung der Güter gelten sowohl für die Experten wie auch die Laien im Feld. Bongaerts skizziert zudem wie sich unter den Bedingungen von Transnationalisierung Verschiebungen hinsichtlich der relevanten Grenzprozesse ergeben können. Für die Politik wandeln sich unter diesen Bedingungen die relevanten Mitspieler: Die Grenzen des Feldes werden zusehends weniger durch das Publikum der Staatsbürger bestimmt als durch andere relativ autonome Felder. Auch Gesa Lindemann verwirft einen starken Gesellschaftsbegriff. Die moderne Gesellschaft sei vielmehr als Ensemble der Teilsysteme zu verstehen, zugleich aber auch als besonderes Grenzregime, das bestimmt, wer als legitimer Akteur gelten könne. Die


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Festlegung auf lebendige Menschen (unter Ausschluss beispielsweise von Tieren, Geistern etc.) und die Struktur funktionaler Differenzierung stehen für Lindemann in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Auch Lindemann ist der Ansicht, dass eine handlungstheoretische Position den Gesellschaftsbegriff überflüssig werden ließe. Anders hingegen stelle sich dies dar, wenn sich eine Position jenseits von Handlungs- und Systemtheorie formulieren ließe. Lindemann vertritt die These, dass diese dritte Position in einer methodologisch relationistischen Perspektive zu sehen sei. Während die Handlungstheorie von Ego und die Systemtheorie von einem autonomen Operieren der Kommunikation ausgehen, besteht eine relationistische Perspektive darauf, dass sich die Ego-Alter-Beziehung nicht auf isolierte Ego-Perspektiven reduzieren lässt. Dies ergebe sich einerseits aus der zeitlichen Struktur der Beziehung, insbesondere aber daraus, dass Ego-AlterBeziehungen nur dann objektiviert werden können, wenn ein Dritter hinzukomme. Diese Objektivierung sei gesellschaftstheoretisch relevant, da Gesellschaft immer auch durch die Weisen der Festlegung, wer als Alter und Ego in Frage kommt, bestimmt sei. Ähnlich wie Göbel sieht Lindemann damit einen Zusammenhang von Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie, da Grundannahmen der Sozialtheorie immer auch gesellschaftstheoretisch reflektiert werden müssen. [Dieser Dritte sollte als Publikum gedacht werden – wie bei Bongaerts, Junge und Kern!] 9 Eine zweite Gruppe von Beiträgen widmet sich der Erklärung der Genese und Varianz von Mustern sozialer Differenzierung. Die Vernachlässigung genetischer Erklärungen wurde ja bereits als zentraler Kritikpunkt an der strukturfunktionalistischen Differenzierungstheorie von Parsons herausgestellt. Die Beiträge in diesem Band stellen sich dieser Herausforderung basierend auf einer handlungstheoretischen Perspektive (Bachmann, Stachura), eines systemtheoretischen Ansatzes (Schneider) oder unter expliziter Ablehnung einer diesbezüglichen grundlagentheoretischen Festlegung (Junge). Ulrich Bachmann setzt sich mit der von Weber gestellten Frage nach der Besonderheit des modernen Kapitalismus auseinander. Die Betrachtung der Genese des modernen kapitalistischen Geistes müsse um die Frage nach der Reproduktion dieser Ordnung ergänzt werden und dies folge bereits aus Webers Überlegungen, dass der moderne Kapitalismus sich nicht dauerhaft auf religiöse Motive verlässt. Wie aber gelingt diese Ablösung? Ausgehend von der Unterscheidung von Motivations- und Regelaspekt rekonstruiert Bachmann die beiden rationalen Handlungstypen bei Weber. Werte können über den Motivationsaspekt (als Selbstzwecke) oder über den Regelaspekt (als Grundlage von Normen) in das Handeln eingehen. Vor diesem Hintergrund lasse sich Webers Unterscheidung zwischen bedarfsorientiertem und erwerbsorientiertem Wirtschaften rekonstruieren. Idealtypisch ist erwerbsorientiertes Handeln an Gewinn als Selbstweck orientiert, in seinem Regelaspekt aber instrumentell. Die historische Frage, die sich anschließt und die für Weber im Vordergrund steht, lautet: Wie kommt es zu einer Transformation des Wirtschaftens, in der die Orientierung am Gewinn als Selbstzweck auf Dauer gestellt werden kann, wenn doch die Bedarforientierung eine bleibende alternative Motivation bezeichnet? Bachmann testet zwei Mechanismen über die eine solche Stabilisierung gewährleistet werden kann, den Markt und die Organisation. Bachmann zeigt, dass der Markt zwar den Regelaspekt des Handelns bestimmt, nicht aber die Motivation der Marktteilnehmer festzulegen in der Lage ist. Gegenüber den Motivationen bleibt der Markt neutral, die Motivation eines selbstzweckhaften Erwerbens vermag er daher nicht zu erzeugen. Dazu, so Bachmann, ist erst Organisation fähig, da sie über die Neutralisierung der Fügsamkeitsmotive der Mitglieder in der Lage ist, Wertorientierungen unabhängig von den Motivationen der Mitglieder auf Dauer zu stellen. Bachmann diskutiert abschließend die Frage, ob damit der Prägung des Geistes durch die Form ein Vorrang zugesprochen wird. Weber kenne hier aber im Gegensatz zu einer Behauptung einseitiger Bedin-

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gungsverhältnisse, wie sie bei Luhmann unterstellt werden, keine allgemeingültige Antwort. Das Verhältnis von „Geist" und „Form" unterliege immer spezifischen historischen Formungen. Ausgehend von Luhmanns Hypothese, in der Religion habe das erste ausdifferenzierte Funktionssystem vorgelegen, untersucht Wolfgang Ludwig Schneider, wie die Religion sich gegenüber Wissenschaft und Ökonomie in dem Moment verändert, in dem diese sich ihrerseits ausdifferenzieren. Ausdifferenzierung erfordere von Seiten der jeweiligen Funktionssysteme gesteigerte Indifferenz gegenüber den Logiken der jeweils anderen. Schneider zeichnet die entsprechenden Wandlungen innerhalb der Religion nach. [Und fragt gar nicht erst nach Ursachen der Differenzierung, Problemen der Gesellschaft, für die sie eine Lösung darstellt.] Der Glaube differenziert sich gegen andere Medien zunächst dadurch, dass Sünde, wiewohl an das allgemeine Moralschema gekoppelt, religiös interpretiert wird. Das Sündenschema erfasst so Weltzustände unter einer je spezifischen religiösen Sichtweise. Die entsprechende Abkopplung verdankt sich, so Schneiders Hypothese, organisatorischen Bedingungen (die Kirche als Gnadenanstalt), sozialen Bewegungen (wie den Armutsbewegungen im 12. und 13. Jahrhundert), aber auch Konflikten mit anderen Funktionssystemlogiken. Schneider zeigt, wie dies für die Wissenschaft dadurch geschieht, dass innerreligiös eine Differenz zwischen Glauben und vernunftbasierter Erkenntnis zugelassen wird. Für die Ökonomie sind insbesondere das Zinsverbot und der Ablass entscheidende Weichensteller. Der Ablasshandel erweist sich einerseits als Adaption an eine sich verändernde gesellschaftliche Umwelt die Sündhaftigkeit der Welt wird normalisiert - andererseits führt er selbst zu einer Ökonomisierung des Heilsgeschehens. Darauf reagiert die Reformation mit einer Individualisierung und Spiritualisierung, aber auch innerkatholisch treten die außerökonomischen Weisen der Sündentilgung, Beichte, Reue und Buße, in den Vordergrund. Religion setze so immer mehr eine Eigenlogik frei, welche mit derjenigen „weltlicher" Funktionssysteme kompatibel sei. Kay Junge fragt nach den Bedingungen der Ausbildung der Kommunikationsmedien Macht und Geld. Ähnlich wie für Lindemann spielt hierbei der Dritte eine entscheidende Rolle. Über Dyaden allein könne sich Gesellschaft nicht darstellen. Der Dritte kommt für Junge unter dem Gesichtspunkt der Rechtsfigur der Verträge zugunsten Dritter ins Spiel. Dass diese Figur der Ausdifferenzierung von Macht und Geld als Medien zugrunde liegt, zeigt Junge anhand der Repräsentation von Macht durch Zepter und Effigie und der wechselseitigen Verpflichtungen, die durch Kerbhölzer sichtbar gemacht wurden. Wenn diese politischen und ökonomischen Insignien verwendet werden, um einen Dritten einzubeziehen, erlauben sie die Ausdifferenzierung der entsprechenden Medien. Geht man von einer Vertragstheorie aus, welche Verträge zugunsten Dritter in den Mittelpunkt rückt, lassen sich nach Junge die notorischen Probleme der Vertragstheorie lösen. Die Vertragstheorie, die von rationalen Egoisten ausgehe, laufe nicht auf den ihr häufig unterstellten Regress hinaus, sondern lasse sich auf dieser Basis widerspruchsfrei entfalten. Im Falle des Geldes stelle sich das Vertrauensproblem, aber auch dieses könne durch die Einbeziehung Dritter erkennbar aufgelöst werden. Im Falle des Geldes erlauben Verträge zugunsten Dritter die Handelbarkeit mit Verpflichtungen und damit die verlässliche Streckung von Tauschvorgängen über längere Zeiträume hinweg. Mateusz Stachura wendet sich einer evolutionstheoretischen Sicht auf Differenzierung zu. Während Spencer Differenzierung als instrumentelle Anpassung an eine Umwelt verstehe, gehe Durkheim davon aus, dass Differenzierung keine notwendige Reaktion auf einen erhöhten Druck aus der Umwelt sei. Verschärfung der gegebenen Konflikte oder Migration seien im gleichen Maße vorstellbar, ja sogar wahrscheinlicher. Normative Ordnungen, so das durch Durkheim aufgeworfene Rätsel, können Innovation und damit Differenzierung auch behindern, obgleich sie zur selben Zeit Voraussetzungen für beides bilden. Stachura sieht die Lösung dieses Problems in der Abkehr von zwei zentralen Annahmen der


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Evolutionstheorie: erstens der Begrenzung auf eine natürliche Umwelt und zweitens der Annahme einer schon gegebenen Umwelt. Während die Evolutionstheorie, dort wo sie im Anschluss an Dawkins mit den Memen einen kulturellen Mechanismus kennt, dem ersten Umstand Rechnung tragen könne, übersehe sie immer noch den zweiten. Die Herstellung neuer Umwelten sei aber stets auf tendenziell passende normative Umgebungen angewiesen. Nicht nur instrumentelle Anpassung, sondern auch kulturelle Innovationsfähigkeiten bestimmen so den evolutionären Prozess. 10 Die dritte Gruppe von Beiträgen veranschaulicht ebenfalls, welche Erkenntnisgewinne das Arbeiten mit der Differenzierungstheorie ermöglicht. Ausgehend von einem allgemeineren Beitrag zur Analyse gesellschaftlicher Differenzierungsdynamiken (Schimank) werden spezifischere Dynamiken in den Blick genommen, in denen unter anderem die Bedeutung sozialer Netzwerke und politischer Konstellationen betont wird (Kern, Kroneberg, Kusche). Uwe Schimank untersucht die Dynamiken der Gegenwartsgesellschaft unter dem Gesichtspunkt von Kämpfen um Differenzierungsstrukturen. [Hier liegt aber ein Missverständnis vor: Wo es hier Kämpfe gibt, finden sie nicht zwischen den ausdifferenzierten Systemen, sondern zwischen Akteueren statt, die sich an konkurrierenden Differenzierungsordnungen orientieren!] An den teilsystemischen Grenzen verlaufen vier Frontlinien, erstens zwischen Leistungsproduzenten und Publikum, zweitens zwischen den Leistungsproduzenten des Teilsystems und den Leistungsproduzenten anderer Teilsysteme, drittens gegenüber den Leistungsproduzenten der Wirtschaft und viertens gegenüber den Sachwaltern der ökologischen Belange. Fünftens kämpfen innerhalb eines Teilsystems verschiedene Fraktionen von Leistungsproduzenten um die Grenzziehung des Systems. Teilsysteme verhalten sich anderen Teilsystemen gegenüber grundsätzlich expansiv, nehmen also von sich aus keine Rücksicht auf die Anforderungen der anderen Teilsysteme. Diese antagonistische Situation könne gleichwohl zu einer Integration der Teilsysteme führen, und zwar dann, wenn die Teilsysteme durch Betroffenheit und Einflussnahmen der jeweils anderen Systemlogiken begrenzt würden. Diese Integration erweist sich aber keineswegs als friedlich, sondern als Gleichgewicht durchaus antagonistischer Interessen unterschiedlicher Akteure. Um die Dynamik dieser Konfliktlinien zu beschreiben, unterscheidet Schimank verschiedene Spieltypen. Zwischen den Leistungsproduzenten und dem Publikum herrscht ein Inklusionsspiel, in dem unterschiedliche Gruppen an weitergehenden Inklusion oder Exklusion interessiert sind und dies in Abhängigkeit ihrer Position im Gefüge sozialer Ungleichheit. Das Domänenspiel betrifft die Beziehung zwischen den Leistungsproduzenten unterschiedlicher Teilsysteme. Autonomieerhaltung und Ausdehnung des eigenen Bereichs bilden hier die widerstreitenden Pole, welche die Dynamik der Grenzziehung bestimmen. Im Ökonomisierungsspiel spitzt sich dies auf die Durchsetzung dominanter ökonomischer Rationalität zu. Das Ökologie-Spiel wird hingegen um die Vertretung ökologischer Belange gespielt. Diese erweisen sich aber verglichen mit den Logiken der anderen Teilsysteme als schwach repräsentiert. Im Hegemoniespiel schließlich kämpfen unterschiedliche Fraktionen der Leistungsproduzenten eines Teilsystems um eine hegemoniale Stellung im jeweiligen Teilsystem. Thomas Kern (unter Mitarbeit von Bettina Heiss) fragt ebenfalls nach dynamischen Elementen gesellschaftlicher Differenzierung. Er fokussiert dabei die aktive Rolle, welche Netzwerke innerhalb des Publikums spielen. Die funktionalistische Perspektive auf die Publikumsrolle, für die durch das Publikum die Funktionen der strukturellen Verbindung von Teilsystemen, der Pufferbildung zwischen Teilsystemen und der Selbstbeobachtung der Teilsysteme erfüllt werden, müsse ergänzt werden um eine netzwerkanalytische Betrachtung. Diese erlaube es erst, den rollengestaltenden Charakter des Publikums zu verstehen. Öffentlichkeiten, verstanden als Netzwerke von schwachen Bindungen, bringen im Rahmen „sekundärer Leistungsrollen" Innovationen hervor, die Kern

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zufolge auf Ambiguität, dem Offenhalten verschiedener Bedeutungskomponenten und Anschlussmöglichkeiten beruhen, sowie auf Ambage, den unterschiedlichen Wahlen konkreter Bindungspartner. Am Beispiel des Bürgerjournalismus in Südkorea zeigt Kern, wie sich bürgerjournalistisches Engagement als neue Rolle jenseits kommerzialisierter Medienstrukturen und sozialer Bewegungsstrukturen ausbildet. Die hohe Fähigkeit, Pfade offen zu halten und die im Vergleich zu den Leistungsrollenträgern geringeren Kosten kreativen Verhaltens erklären, wieso in den entsprechenden Netzwerkstrukturen innerhalb des Publikums eine zentrale Quelle gesellschaftlicher Innovationen gesehen werden kann. Clemens Kroneberg widmet sich in seinem Beitrag dem von der Modernisierungstheorie behaupteten Zusammenhang zwischen sozialer Differenzierung und politischer Demokratisierung. Die von ihm analysierten Dynamiken beziehen sich also auf die Folgen gesellschaftlicher Differenzierung für den Strukturwandel von autokratischen zu demokratischen politischen Regimen. Um die modernisierungstheoretische Zusammenhangshypothese handlungstheoretisch zu fundieren, wird in einem ersten Schritt die Interaktion zwischen den relevanten politischen Akteuren in den Blick genommen. Dabei werden auf Basis spieltheoretischer Modelle aus der Transitionsforschung Faktoren identifiziert, die einen Übergang zu einem demokratischen Regime tendenziell begünstigen. Ausgehend von diesen Faktoren werden in einem zweiten Schritt verschiedene Wirkungsweisen herausgearbeitet, über die eine zunehmende gesellschaftliche Differenzierung die Chancen auf Demokratisierung erhöhen kann. Der Beitrag versucht somit anhand einer zentralen makrosoziologischen Fragestellung deutlich zu machen, wie ein handlungstheoretisch fundierter Erklärungsansatz zu einer präziseren Fassung und einem tieferen Verständnis sozialer Mechanismen beitragen kann. Isabel Kusche geht der Frage nach, ob sich politischer Klientelismus und die Ausdifferenzierung eines autonomen Teilsystems der Politik vereinbaren lassen. [Hier wird also gefragt, ob das Phänomen in den Theorierahmen passt und nicht, was man in diesem Rahmen besser sieht.] Ein Anlass für eine solche Betrachtung ist nicht zuletzt die Beobachtung, dass Klientelismus entgegen modernisierungstheoretischen Annahmen nicht als ein Relikt traditionaler Gesellschaftsformationen betrachtet werden kann. Kusche zeigt, wie Klientelismus über personale Dyaden, über Massenklientelismus hin zum Parteienwettbewerb verallgemeinert wird. Parteienkonkurrenz kann sich unter klientelistischen Bedingungen ausprägen, auch wenn sie sich anders darstellen wird als unter Bedingungen von programmbezogenem Parteienwettbewerb. Hier ergeben sich Pfadabhängigkeiten bei der Ausdifferenzierung des Politischen. So zeige sich, dass der Übergang von der Patrimonial- zur Staatsverwaltung dort zur Beibehaltung klientelistischer Strukturen führe, wo zuvor bereits die Ressourcenbeschaffung über den Ämterhandel strukturiert war. Gleichwohl widerspricht auch die klientelistische Variante nicht der Ausdifferenzierung von Politik, denn diese basiert auf der Beobachtung entlang des Funktionsbezugs des Politischen und der Abgrenzung aufgrund einer eigenen Codierung (Regierung/Opposition). Beides gelinge auch unter den Bedingungen von Klientelismus. 11 Die vierte Gruppe von Beiträgen widmet sich dem Verhältnis von gesellschaftlicher Differenzierung und sozialer Ungleichheit. Jens Greve untersucht dieses Verhältnis anhand eines Rückgriffs auf die Arbeiten von Talcott Parsons. Greve geht von einer Identifikation von Defiziten aus, welche sich in Luhmanns Überlegungen finden lassen. Bei Luhmann bleibe erstens ungeklärt, in welchem Verhältnis die Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft als inklusiv und auf Interdependenzherstellungen beruhend mit der faktischen Exklusion und den Verletzungen von Interdependenzunterbrechungen stehe. Zweitens übersehe Luhmann, dass die moderne Gesellschaft neben illegitimen Interdepenzherstellungen auch legitime Interdependenzen zwischen Teilsystemen kenne. Dies lasse sich nicht zuletzt anhand der Rolle des Wohlfahrtsstaates zeigen. Die These einer autonomen Operati-


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onsweise und die Behauptung einer Nichtdominanz einzelner Teilsysteme werden dadurch in Frage gestellt. Bei Parsons hingegen ist Ungleichheit entsprechend seiner allgemeinen Sozialtheorie auf Legitimität bezogen und letztlich auch auf die Bedürfnisse von handelnden Personen. Parsons überschätze zwar die Fähigkeit der Gesamtgesellschaft, einen einheitlichen Schichtungsmaßstab hervorzubringen, aber auch unter pluralistischen Vorzeichen könne der notwendige Bezug auf Legitimität und die Probleme des Handelns behauptet werden. Da der Bezugspunkt von gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen und sozialer Ungleichheit in der handlungstheoretischen Interpretation in von Akteuren getragenen Handlungsprozessen gesehen werden müsse, ließen sich Differenzierung und Ungleichheit allein als analytisch, nicht als operativ eigenständige Prinzipien sozialer Differenzierung verstehen. Jörg Rössel erforscht ebenfalls das Verhältnis von Differenzierung und Ungleichheit. [s. dazu schon m. Bem. in 1. im Anschluss an Luhmann] Differenzierung versteht Rössel als Ausbildung ausdifferenzierter gesellschaftlicher Bereiche. Diese werden von Rössel als spezifische Orientierungsweisen verstanden. In welchem Maße sich Akteure an diesen orientierten, sei eine empirisch zu bestimmende Frage. Ausdifferenzierte gesellschaftlicher Bereiche wiesen darüber hinaus unscharfe Grenzen auf, die Rössel in gleicher Weise wie Schimank immer auch als umkämpfte Grenzen betrachtet. Schließlich sei die faktisch gegebene Struktur der Ausdifferenzierung, so Rössel gegen Luhmann, nicht unabhängig von der Struktur sozialer Ungleichheit. Dies entwickelt Rössel im Rückgriff auf die Machtressourcentheorie, die davon ausgeht, dass Handelnde an Ressourcen Interesse haben und Ressourcen kontrollieren können. Im Zentrum stehen dabei für Rössel in der modernen Gesellschaft vor allem Geld und Wissen. Entlang der Unterscheidung von ausdifferenzierten gesellschaftlichen Bereichen und der Verteilung von Machtressourcen formuliert Rössel eine Reihe von Hypothesen über den Zusammenhang von Differenzierung und Ungleichheit. So gelte unter anderem, dass privilegierte Akteure, also solche, die über mehr oder wichtigere Ressourcen verfügen, eher in der Lage sind, die Kriterien, die in den ausdifferenzierten gesellschaftlichen Bereichen gelten, durchzusetzen oder zu definieren. Konkrete Ordnungskonfigurationen erweisen sich damit - wie Rössel an exemplarischen Studien zeigt auch als Folge von differenten Klassenmobilisierungen. Das Verhältnis von Differenzierung und Ungleichheit untersucht Thomas Schwinn unter dem Gesichtspunkt der globalen Ungleichheit. [s. dazu schon m. Bem. in 1. im Anschluss an Luhmann] Globale Ungleichheit werfe keine grundlegende methodologische Frage auf. Der Gegensatz zwischen Individualismus und Holismus entscheide sich nicht am Gegenstand. Jenseits des Postulats eines „methodologischen Globalismus" müsse vielmehr gefragt werden, was geschehe, wenn klassische Konzepte der Ungleichheitsforschung auf die globale Ebene angewendet werden. [s. dazu auch Stichweh!] Als Vergleichshorizont könne Ungleichheit dienen, wie sie sich im nationalen Rahmen darstelle. Der Nationalstaat diene bislang als Regulations-, als Konflikt- sowie als Wahrnehmungsrahmen sozialer Ungleichheit. [Hier fehlt die m.E. entscheidende Konsequenz: damit entfällt die trraditionelle Form der Konfliktverarbeitung durch Externalisierung!] In allen drei Hinsichten erweise sich der Nationalstaat unter den Bedingungen der Globalisierung zusehends als unvollständig. Insbesondere die wirtschaftliche Globalisierung verändere die Regulationschancen der Nationalstaaten und verschiebe die Gleichgewichte hin zu den Kapitalinteressen. Äquivalente für nationalstaatliche Regulationen sind auf globaler Ebene allenfalls schwach ausgeprägt, dasselbe gelte für Konfliktformierung und -austragung, für die institutionell und organisatorisch geformte Arenen jenseits der nationalstaatlichen Strukturen kaum vorliegen. Die Wahrnehmung von Ungleichheit bleibe zudem stark an die nationalen Vergleichshorizonte gebunden. Geht man von den Verschiebungen weg vom Nationalstaat aus, so werden Ungleichheiten immer stärker durch Karrieren in Organisationen oder durch Netzwerksstrukturen geformt. Im

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Rahmen einer globalen Betrachtung müsse daher nicht zuletzt genauer untersucht werden, in welchem Maße es privilegierten Schichten (besser als anderen) gelingt, sich transnational als Klasse zu formieren. In einem abschließenden Beitrag von Thomas Schwinn werden gemeinsame Themen und Tendenzen der Beiträge resümierend herausgearbeitet und eine Zwischenbilanz der Diskussion um die Möglichkeiten und Herausforderungen einer handlungstheoretisch fundierten Differenzierungstheorie gezogen. Sein Beitrag verweist damit auf zukünftige Arbeiten an und mit der Differenzierungstheorie, für die der vorliegende Band - wie wir hoffen - bereits wichtige Impulse gibt. 12 Bemerkenswert scheint mir, dass Sch. in seinem Rückblick auf die fragwürdige Aufteilung der Beiträge in die Abteilungen „Genese und Varianz“ einerseits und „Dynamiken“ andererseits gar nicht eingeht, und mit Bezug auf die von ihm präferierte Fragestellung, was einen differenzierten Bereich ausmacht, auf Beiträge quer zu dieser Einteilung Bezug nimmt. 427f: „In allen Beiträgen des vorliegenden Buches werden diese drei Differenzierungstheorien (Weber, Luhmann, Bourdieu) nicht über das Arbeitsteilungsparadigma, sondern über eine Kulturtheorie entwickelt. [Aber warum ist das ein Gegensatz? Ist Arbeit nicht immer schon Arbeit am Ausbau des soziokulturellen Gehäuses?] Wertsphären, Codes, „nomos" und „illusio" formulieren die entscheidenden Kriterien, entlang derer sich die Differenzierungslinien entfalten. Diese grundlegende Ebene der Differenzierungstheorie ist aber zugleich die am schwächsten entwickelte. Schneiders und Bachmanns Analyse geben einige Hinweise hierzu. Hier besteht dringender Forschungsbedarf, ohne den viele Fragen nicht zufriedenstellend beantwortet werden können: Wie definiert man einen Bereich, sei es als Teilsystem, Sphäre/Ordnung oder Feld? Wie viele Bereiche gibt es? Lassen sich primäre von sekundären unterscheiden (Schützeichel)? Der neueren Systemtheorie, die von Funktion auf Code umstellt, fehlt ohne dieses kultursoziologische Moment der gemeinsame Bezugspunkt für das, was sich differenziert und wie man ein Teilsystem bestimmt. Man kann nicht das Gesellschaftssystem verabschieden und weiterhin von Teil- oder Funktionssystemen sprechen. Auch die Argumente für einen schwachen Gesellschaftsbegriff werden mit kultursoziologischer Begrifflichkeit, „Polyperspektivität", vorgetragen. Was ermöglicht dann noch das Querlesen und die Vergleichbarkeit der „Teilsysteme"? Uwe Schimank (vgl. auch Schimank 2009a: 209, 211) macht die erstaunliche zeitliche Stabilität und Invarianz der Teilsysteme an ihren Codes fest und zählt „etwa ein Dutzend". In Webers „Zwischenbetrachtung" sind sechs aufgeführt, und in neueren Arbeiten stellt man eine Proliferation immer neuer Teilsysteme fest. Bourdieu gesteht, im Gegensatz zu Weber und Luhmann, der privaten Sinnsphäre von Erotik und Familie keinen Feldstatus zu. Für all diese Fragen ist eine kultursoziologische Erweiterung und Ausbreitung der Differenzierungstheorie erforderlich.“ 13 Schwinn: Verzicht auf den „begrifflichen Atavismus“ Gesellschaft Schwinn weist darauf hin, dass der Verzicht auf den Begriff der Gesellschaft, der zu den Traditionsbestandteilen des methodologischen Individualismus gehört, der Sache nach auch von systemtheoretischer Seite betrieben wird. L. selbst hat dies bereits durch seine weitgehende Entleerung eingeleitet. Die Frage nach dem Gesellschaftsbegriff steht also quer zu den methodologischen Alternativen. Seine Auflösung wird von beiden Seiten betrieben – und ist vielleicht der stärkste Indikator für die Verdrängung der evolutionstheoretischen Tradition der Differenzierungstheorie. Dass die Biologie auf den G.begriff (als „Superorganismus“ im Unterschied zum bloß aggregativen Populationsbegriff) nicht verzichtet, wird anscheinend als eine eher metaphorische, für die Be-


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schreibung menschlicher Sozialität nicht substantiell vergleichbare Vorgehensweise betrachtet. Schwinn hält es für einen „begrifflichen Atavismus“, dass Greve an einem (schwachen, dh. nicht mit eigenen Operationen ausgestatteten) Gesellschaftsbegriff festhält und ihn handlungstheoretisch begründet. Schwinn geht aber mit keinem Wort darauf ein, dass Greve sich dabei auf Evolutionstheorie bezieht.13 (Oder ist das für ihn auch ein begrifflicher Atavismus?) Fuer Schwinn ist sogar die schwache Version des Gesellschaftsbegriffs ein Atavismus, weil nicht sein kann, was methodologisch nicht sein darf. Noch prüfen, ob/wie ich den Verzicht auf den Gesellschaftsbegriff mit evolutionstheoret. Argumenten zurückweisen kann. Der ultimate Grund ist die Schutzfunktion des Sozialsystems vor dem Selektionsdruck der Umwelt, aus der sich die proximaten (historisch-genetischen) Gründe für Konfliktverarbeitung durch Differenzierung ableiten. (s. dazu auch meine Pointe unten) Woran keiner der Beiträge über (den starken oder schwachen) Gesellschaftsbegriff denkt, ist eine historische Relativierung derart, dass sich die höhere Ebene, auf die soziale Konflikte stets verlagert werden, erst in der Moderne (als Folge der globalen Ausdehnung des sozialen Netzwerks) komplett auf die Metaebene symbolisch generalisierter Unterscheidungen verlagert hat. 14 Göbel - der (hilflose) Verteidiger Zusammenfassend S.70: „Eine schwache Erinnerung an einen Einheitsbegriff gilt es zu wahren.“ Der einzige lupenreine Verteidiger des Luhmannschen Ansatzes (Renn und Junge vertreten eher einen Theoriemix, Schneider und Kusche stellen systemtheoretische Erkläungsangebote dar, ohne sich in die Debatte über handlungstheoretische Zugänge einzumischen). Doch wer solche Verteidiger hat, braucht keine Angreifer mehr. Diese Verteidigung erscheint eher als Rückzugsposition, denn sie stützt in gewissem Umfang alle handlungstheoretischen Einwände gegen einen substantiellen Gesellschaftsbegriff (Gesellschaft als evoluierte Errungenschaft der menschlichen Sozialität), indem sie der Mikrofundierung über Operationen der Kommunikation den Boden entzieht und die Makrokonstitution ausschließlich im Ideenhimmel kognitiver Differenzkonstrukte verankert. Mit dem Verzicht auf den kommunikationstheoretischen Strang im Luhmannschen Theorieangebot werden nicht nur die Ansätze einer Mikrofundierung über die Elementareinheit der Kommunikation gestrichen, die bei Luhmann (wenn auch aufgrund der systemtheoretischen Prämissen unter Ausschluß lebendiger Individuen) wiederholt vertreten werden. Damit zugleich wird unausgesprochen auch der bei Luhmann noch vertretene evolutionstheoretische Ansatz aufgegeben, der über die Mechanismen der Replikation und Variation Erklärungen auf der Ebene der Kommunikation und ihrer technischen Erweiterungen enthält. S. 62f: „‚Gesellschaft' ist in diesem Verständnis ein Strukturzusammenhang, der als Strukturierung von Strukturen, als eine Form der Relationierung dieser Strukturen und in diesem Verständnis eben: als eine Form der Differenzierung (mit unterschiedlichen, aber nur wenigen und allemal nur empirisch-historisch beobachtbaren Formmöglichkeiten) qualifiziert wird. Genau deshalb und nicht zufällig ist die Differenzierungstheorie das Herzstück der Luhmann'schen Gesellschaftstheorie. Nur mit ihr kann man nähere Angaben zu den differenzierten Formen der Relationierung von Erlebens- und Handlungsmöglichkeiten eingrenzen. Der radikale und exklusive Rekurs auf den Kommunikationsbegriff gibt das, was systemtheoretisch am Gesellschaftsbegriff bewahrenswert ist, nicht her. Vom Kommunikationsbegriff her lässt sich die historisch-apriorische Qualität einer Differenzierungsform mit entsprechend differenzierten Erwartungskonstellationen und konfigurationen nicht ableiten. Es geht vielmehr um die Form der Relation der differenzierten Systeme zueinander, den daraus resultierenden Möglichkeiten und Restriktionen und den ihnen entsprechenden Erwartungskonfigurationen. Wenn man diese Relati-

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onen der Funktionssysteme zueinander mit dem neueren Begriff der strukturellen Kopplung belegt, dann zeigt sich: „Was im Verhältnis der Teilsysteme zueinander als strukturelle Kopplung fungiert, ist zugleich aber eine Struktur des umfassenden Systems der Gesellschaft. Das rechtfertigt es, Gesellschaftssysteme vor allem durch die Form ihrer Differenzierung zu charakterisieren, denn das ist die Form der Strukturbildung, die jeweils bestimmt und einschränkt, welche strukturellen Kopplungen im Verhältnis der Teilsysteme zueinander möglich sind." (Luhmann 1997: 601; Hervorhebung A.G.) Und diese singuläre und dominante Differenzierungsform wird dann deshalb mit dem Gesellschaftsbegriff belegt, weil sie zugleich integrative Effekte hat. „Formen der Differenzierung sind nach all dem Formen der Integration der Gesellschaft" (Luhmann 1997: 618).“ Diese Vorgängigkeit der Differenzierungstheorie bedeutet aber auch, dass Differenzierung nur noch explanans und nicht mehr explanandum sein kann. S. 68: „Diese Überlegungen zusammenzufassend gibt es im Verbund systemtheoretisch inspirierter Reflexionen auf den Gesellschaftsbegriff zwei unterschiedliche (und, wie mir scheint, nicht unmittelbar miteinander kompatible) Akzentsetzungen: Die eine identifiziert, gemäß einem Luhmann'schen Diktum, Gesellschaft mit der „Einheit der Gesamtheit des Sozialen" (Luhmann 1984: 555) und gibt ihr den Formbegriff ,Kommunikation'. Man kann daher sagen: Alle Kommunikation ist (Vollzug von) Gesellschaft, so wie umgekehrt gilt: Immer da, wo sich Kommunikation - definiert als die ,basic unit' sozialer Systeme - ereignet, ereignet sich Gesellschaft. Für differenzierungstheoretische Anschlussüberlegungen (und speziell für Reflexionen auf das Strukturprofil der Moderne) ist diese Fassung des Gesellschaftsbegriffs freilich nicht geeignet. Anders und mit grundbegrifflichem Akzent: Die Kommunikationstheorie bildet keine geeignete Basis für eine differenzierungstheoretische Feinjustierung. “ [Das klingt nur so lange plausibel, wie man den immanten Konfliktcharakter von Kommunikation – Nachahmung mit Abweichung – nicht zur Kenntnis nimmt und damit Differenzierung nicht als Verarbeitungsform von Kommunikationsproblemen !] 15 Schützeichel - wie macht man Differenzierung? Schützeichel gibt einen guten Überblick über die Diskussionslage: insbesondere auf die 2 konkurrierenden Strategien von handlungstheoretischer Seite: „In der gegenwärtigen Diskussion spielen dabei grosso modo drei größere Theoriefamilien eine Rolle: Theorien funktionaler Differenzierung der Gesellschaft15: Diese haben sich nach der ersten reifen Ausarbeitung im Werk von Parsons und unter Herausstellung spezifischer Aspekte der parsonianischen Theorie in unterschiedliche Richtungen entwickelt: (a) Systemtheoretische Argumentationen wurden insbesondere von Luhmann weitergeführt, (b) handlungs- und kulturtheoretische Überlegungen werden in den „neofunktionalistischen" Arbeiten von Münch (1982) und Alexander (vgl. Alexander/Colomy 1990) verfolgt und (c) die weberianische Traditionslinie im Werk von Parsons wurde insbesondere von Habermas (1981) fortgesetzt. Handlungstheoretische Ansätze: Hier haben sich in der gegenwärtigen Diskussion drei größere Kristallisationszentren gebildet: (a) die neukantianische Handlungstheorie von Weber und die Versuche, dessen Theorie der Wertsphären zu einer Alternative zu funktionalen Differenzierungstheorien auszubauen (Schluchter 1980, Schwinn 1995, 2001), (b) akteurtheoretische Ansätze, die das Ziel einer konzeptionellen Reformulierung von systemtheoretischen Vorgaben und deren Einbettung in eine institutionalistische Theorie verfolgen (Mayntz 1995, Schimank 1985, 1988), (c) das Konzept sozialer Felder in der Praxissoziologie von Bourdieu. Phänomenologische, symbolisch-interaktionistische und wissenssoziologische Ansätze: Diese bewegen sich im Gegensatz zu den beiden erstgenannten „makrosoziologischen" Forschungsrichtun-


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gen eher auf der mikro- und mesosoziologischen Ebene von „sozialen Welten" (vgl. Strauss 1978, 1984; vgl. auch die Kritik von Knorr-Cetina 1992 an der Differenzierungstheorie), weshalb sie in den eher makrosoziologischen Diskussionen über „Differenzierung" bedauerlicherweise keinen großen Einfluss haben. In den letzten Dekaden wurde die Diskussion von dem Werk von Luhmann dominiert. Dieses stellt für die einen die Arbeitsgrundlage dar, welche erweitert, ergänzt und verteidigt werden muss, für die anderen eine Theorie, welche unter Wahrung zentraler Einsichten einer Reformulierung und Übersetzung in andere theoretische Kontexte bedarf, und für Dritte schließlich ein Ansatz, welcher ob seiner Defizienzen durch andere theoretische Optionen substituiert werden muss. Im Bereich der Handlungstheorien lassen sich eine Substitutionsund eine Reformulierungsstrategie unterscheiden. Der Substitutionsstrategie zufolge ist die systemtheoretische Argumentation unkorrigierbar funktionalistisch und muss deshalb durch eine handlungstheoretische Begrifflichkeit ersetzt werden, die prohibitiv den Rekurs auf „soziale Ganzheiten" verbietet. Ihr zufolge muss „Differenzierung ohne Gesellschaft" (Schwinn 2001), also ohne Systemtheorie erklärt werden. Die Reformulierungsstrategie verfolgt das Ziel der akteurtheoretischen Rekonstruktion systemtheoretischer Vorgaben (vgl. Schimank 1988, 2009b). Auch sie verabschiedet funktionalistische Erklärungsstrategien wie auch den starken Gesellschaftsbegriff, aber sie hält es nicht für notwendig, damit auch die gesamte Systemtheorie über Bord zu werfen, sondern sie versucht eine Reformulierung systemtheoretischer Positionen mit Konzepten, die auf Orientierungsformen von Akteuren und deren Konstellationen beruhen. Er wirft die entscheidende Frage auf: „Wie integrieren sich die differenzierten Funktionssysteme (1.3) und welche Beziehungen bestehen zwischen diesen sachlichen Differenzierungen und den verschiedenen Konstellationen sozialer Ungleichheit (1.4)?“ ohne sie angemessen (d.h. m.E. evolutionstheoretisch) zu beantworten. Er entwirft ein „Konzept der Ressource“ (78) ohne auf Ressourcenkonflikte einzugehen! Das mit der Formel „doing systems“ entworfene Programm einer handlungstheoretischen Erklärung von Differenzierungsphänomenen bleibt hier m.E. uneingelöst. Interessant vielleicht der (etwas hilflose) Hinweis: „Man wird dennoch konstatieren müssen, dass das analytische Potential der systemtheoretischen Variante der Evolutionstheorie noch nicht ausgeschöpft ist, ja, durch ihre Orientierung auf „Gesellschaft" (im starken Sinne) blockiert wird. Auch hier könnte eine Umstellung auf die „Evolution" von Handlungsbereichen angezeigt sein.“ 16 Renn: Pragmatismus – will der Handlungstheorie (von oben herab) ein makrosoziologisches Mandat zugestehen, das aber nur dadurch realisiert werden kann, indem zwischen Handlungsakt und subjektivem Sinn unterschieden wird ... Interessant an Renns Arg. ist der Hinweis, dass der Handlungsbegriff selbst (schon bei Weber, dann auch bei Parsons und Habermas) eine Reaktion auf eine gesellschaftliche Krise, den Widerspruch zwischen den Rationalitätsanforderungen der moderner Sozialordnung (Makroebene) und den Autonomiepostulaten darstelle, also die Auflösung selbstverständlicher Handlungserwartungen: “Insofern ist die handlungstheoretische Explikation des Begriffs der „Handlung" eine disziplinär geformte „Handlung" der kriseninduzierten Rückwendung auf das Handeln und auf die Erwartungen, die mit ihm verbunden sind. Eine Handlungstheorie ist auch das Ergebnis der reflexiven Explikation vormals implizit gewisser Erwartungen im Moment ihrer Enttäuschung.“ Statt nun aber mit Luhmann den individualistischen Handlungsbegriff nur als eine simplifizierende Konvention zu behandeln, müsste man ihn auch als adäquaten Ausdruck der tatsächlichen Verselbständigung des individuellens Handelns und der organi-

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sierten Handlungsketten gegenüber dem Netzwerk der Kommunikation betrachten. Renn 104: Der Begriff des subjektiven Sinns „... verdeckt aber bei methodisch exklusiver Ausrichtung am individuellen Akteur das Problem, dass jede soziale Ordnung von Beginn an die Hoheit des Handlungssubjektes über den Sinn „seiner" Handlung auflösen muss: das Bewusstsein ist immer nur eine Instanz der Sinnbestimmung neben andern, und zwischen diesen Instanzen ist die elementare Übersetzung am Werk, bei der zwischen den intentionalen Sinnzuschreibungen, den semantischen Typiken (inklusive Klassifikationen und Normen) und den materiellen Bezügen (Indexikalität) auf die Handlungssituation aktiv Beziehungen hergestellt werden müssen (Renn 2006: 283ff.).“ Die Rede von elementarer Übersetzungsarbeit (welches Element ist dafür zuständig? wer oder was arbeitet da?) zwischen intentionalem Sinn, sozialen Semantiken und materialen Situationsbezügen vernachlässigt aber ihrerseits den Umstand, dass das individuelle Bewußtsein einen Engpass bildet, durch den alle Sinnbezüge hindurch kommen müssen! Dieser Engpass kann zwar auch als „sozial konstituiert“ beschrieben werden – aber nicht erst als ein Konstrukt des modernen Individualismus, vielmehr tief in der natürlichen Evolution des Lebewesen verankert. Die „soziale Subjektivierung“ der Moderne muß vielmehr als ein Prozess der Freisetzung eines in den natürlichen Dispositionen angelegten (und in älteren sozialen Differenzierungsformen unterdrückten) Individualismus angesehen werden. Die m.E. falsche Konfrontation zwischen Handlung und Kommunikation (bei Renn? oder wo hab ich das gelesen?): einerseits richtig zu sehen, dass im Kommunikationsbegriff der Elementarvorgang vom Ende her, im Handlungsbegriff dagegen vom Anfang her konzipiert ist – andererseits aber verkennend, dass das Ende ein Konstrukt ist, das man nur von der höheren Warte einer bereits stattgefundenen Selektion beobachten kann, während der Anfang (sofern man ihm nicht schon eine Teleologie unterlegt) die Alternative zwischen kopiergetreuer Nachahmung und Abweichung offenlässt. – In evolutionstheoretischer Perspektive sind soziale Phänomene nur zu erklären, wenn das Zusammenwirken der Mechanismen auf beiden Ebenen einbezogen wird 17 Bongaerts - querstehend - gibt zunächst einen Überblick: „Der Diskurs der Differenzierungstheorien wurde in den vergangenen Jahrzehnten vor allem systemtheoretisch in der Tradition von Parsons und Luhmann (vgl. Alexander 1993, Tyrell 1978 u. 1998) sowie handlungstheoretisch in der Tradition Max Webers (vgl. Alexander 1993, Schluchter 1998, Schwinn 2001) vorangetrieben. Dabei hat sich das Thema ‚gesellschaftliche Differenzierung' für die Konturierung der Differenzen der beiden theoretischen Paradigmen bewährt. Parallel zu den sich wechselseitig ausschließenden Konkurrenzprojekten sind eklektische Differenzierungstheorien entstanden, die the best of both worlds von System- und Handlungstheorien miteinander vereinbaren wollen, ohne die verschiedenen Theorien unbedingt grundbegrifflich stringent miteinander verknüpfen zu wollen - vielleicht auch nicht zu müssen (vgl. Habermas 1981, Renn 2006, Schimank 1996 u. 2010). Quer zu diesem Diskurs der Differenzierungstheorien liegen die Arbeiten zu unterschiedlichen relativ autonomen sozialen Feldern, die Pierre Bourdieu durchgeführt hat oder die von seiner Theorie der Praxis inspiriert sind (Jurt l995, Zahner 2006). Die feldtheoretischen Studien sind zwar bekanntermaßen Beiträge zur differenzierungstheoretischen Forschung (vgl. Bohn/Hahn 1999, Schimank/Volkmann 1999), aber sie werden selten systematisch den Differenzierungstheorien zugerechnet oder ernsthaft als alternative Theoriebeiträge berücksichtigt.“


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„Eine hervorstechende Besonderheit der feldtheoretischen Konstruktion der Differenzierung der modernen sozialen Welt ist, dass sie Felder zwar als sinnhaft aufeinander bezogene Handlungszusammenhänge begreift, aber nicht alle Handlungen und Tätigkeit einem Feld zurechnet, die auf diesen Sinn bezogen sind. Felder sind als rein professionelle Produktionszusammenhänge konstruiert. Dies ist theoretisch in Bourdieus Definition der Felder durch ihre Akteure begründet. Es geht zwar sachlich um eine sinnhaft autonome Praxis wie Kunst, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft usw., aber definiert wird der Begriff sozial durch eine Konstellation von Akteuren17, die diese Praxis hervorbringen und in praxi inhaltlich bestimmen. Die Positionierung der Akteure, die in ihren Produkten zum Ausdruck kommt, wird dabei auf ihre Position innerhalb des Feldes zurückgeführt. An dieser Stelle soll nicht diese wissenssoziologische Erkenntnis der Feldtheorie ins Zentrum des Interesses gerückt werden, die inhaltlich bestimmbare Produkte mit bestimmbaren Positionen im Feld signifikant korreliert, sondern das Verhältnis des Produktionsfeldes zu seinem Publikum. Mit dieser Verhältnisbestimmung sind grundlegend die Fragen nach den Modi verbunden, mit denen Felder Grenzen zu ihrem Umfeld erzeugen und sichern. Dabei handelt es sich um Grenzen zwischen den unterschiedlichen autonomisierten Feldern und zwischen den Feldern und ihrem jeweiligen Publikum.“ Hier ist unklar, ob es nach Bourdieu die professionellen Akteuere selbst oder die jeweiligen Öffentlichkeiten (Publika) sind, die die verschiedenen Sinnprovinzen konstituieren. Das macht einen Unterschied! In B.s Formulierung geht die Initiative von den Professionellen aus, zumal zwischen den Feldern und dem Publikum noch einmal unterschieden wird.. B. 117f.: Bourdieus Feldtheorie hat einen Vorzug: sie erinnert nämlich daran, dass hinter allen Differenzierungen Konkurrenzkämpfe stehen – ihr Nachteil ist jedoch zugleich, dass sie diese ursächliche Konstellation zum Dauerzustand erklärt (und mangels Unterscheidung der evolutionären Mechanismen nicht sieht, dass Differenzierung nicht das Problem sondern die Lösung ist). In evolutionstheoretischer Hinsicht ist besser an Durkheim als an Weber anzuschließen : „Dem Prinzip der Arbeitsteilung sind die relativ autonomen Felder moderner Gesellschaften auch deshalb nicht unterzuordnen, weil der Zusammenhang der Felder nicht als Zusammenhang von Abhängigkeitsbeziehungen begriffen wird, die nur zusammengenommen all jene Funktionen erfüllen, die für das Funktionieren der Gesellschaft insgesamt notwendig sind. Die Verhältnisse der Felder zueinander werden hingegen wiederum als Kampfbeziehung um die Durchsetzung je feldspezifischer Interessen gegenüber den anderen Feldern konzipiert. Im Extrem meint dies den dauerhaften Kampf zwischen kulturellen Feldern und dem ökonomischen Feld um das relationale Gewicht ihrer Kapitalien im übergeordneten Feld der Macht. Vermittelt werden diese Kämpfe im Feld der Macht vor allem durch die politischen und rechtlichen Felder (vgl. Bourdieu 1998d: 189). Der Bezug auf das Ganze einer sozialen Welt wird mithin nicht in der Tradition der Arbeitsteilung oder des organismusanalogen Denkens des Funktionalismus positiv durch Funktionen und Leistungen in den Blick gebracht, sondern negativ durch die Kämpfe um die Gewichtung der feldspezifischen Kapitalien.“ B. führt eine m.E. nicht überzeugende Unterscheidung zwischen Feldern mit und ohne Dominanz des Publikumsbezugs ein (125): „Wenn man den Unterschied zwischen dem Laienbezug in Religion, Politik und Recht plakativ darstellen möchte, lässt sich formulieren, dass Religion und Politik durch ihr Publikum gerichtet werden können, während das Feld des Rechts sein Publikum richtet und im Zweifelsfall auch sich selbst.“ Aber auch hier richtet das Publikum über das Recht: nämlich dann, wenn es dem Recht nicht gelingt, Rechtsfrieden herzustellen. 18 Lindemann – anthropologisch

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153: „Das entscheidende Charakteristikum der modernen Grenzeinrichtung besteht darin, dass anhand eines universalen Kriteriums die Zugehörigkeit zum Kreis sozialer Personen festgelegt wird. Alle lebenden Menschen sind als soziale Personen anzuerkennen. Dadurch werden ausschließlich alle lebenden Menschen in gleicher Weise zu Elementen des Sozialen. Da sich diese Elemente als solche ohne ständische, transzendente oder sonstige Bin¬dungen aufeinander beziehen können, können sie in gleicher Weise für beliebige Interakti¬onen mobilisiert werden. Die Gleichheit der Elemente „diesseitig lebendige Menschen", die sich potentiell beliebigen Sachlogiken folgend aufeinander beziehen können, kann in Anbe¬tracht der historischen Entwicklung nicht als natürlich vorauszusetzende Grundlage von Vergesellschaftung begriffen werden. Vielmehr muss diese Grundlage selbst erst historisch hergestellt werden. Das heißt, Menschen müssen als diesseitige lebendige Wesen institutio¬nell geschaffen werden, als solche können sie ihre Interaktionen an beliebigen Sachlogiken orientieren. [Das ist heroischer Antinaturalismus!] Funktionale Differenzierung basiert also einerseits auf der Institutionalisierung des diesseitig lebendigen Menschen als Element der Gesellschaft und andererseits darauf, dass die institutionalisierten Elemente sich gemäß beliebiger Sachlogiken aufeinander be¬ziehen können. Der Mensch wird gebraucht als mobilisierbares Potential für beliebige Kommunikationen und als Adressat für funktionsspezifische Kommunikationen mit ihren spezifizierten Relevanzen und Sachlogiken.“ Das ist vielleicht eine Pointe gegen den Ausschluß der lebendigen Individuen aus der Systemtheorie – zugleich aber ein Rückfall in den Antidarwinismus der Philosophischen Anthropologie. Ansonsten erscheint mir aber der Nutzen der Grenzregimetheorie für die Erklärung sozialer Differenzierung eher gering. Überhaupt nicht nachvollziehbar erscheint mir folgendes Argument (154): „Da Gesellschaft als institutionalisierte Form der Selbstbegrenzung [???] der Vergesellschaftung begriffen wird und Differenzierung eine von dieser Selbstbegrenzung zu unterscheidende Struktur der Vergesellschaftung ist, führt diese Perspektive zur Wiedereinsetzung eines starken Gesellschaftsbegriffs.“ Ich verstehe nicht, wie eine sozialtheoretische Erweiterung mit der Frage nach den Grenzen der Gesellschaft dazu führen kann, die Gesellschaft am Ende doch als eigenständig operative Ebene zu betrachten. 19 Jenseits aller in diesem Band dargestellten theoretischen Differenzen kann als eine latente Gemeinsamkeit (fast) aller Beiträge vermerkt werden (Ausnahem Stachura), dass nicht an die in der Gründungszeit der Soziologie (bei Spencer, Durkheim, Simmel u.a.) noch offenkundige Verbindung zwischen soziologischer Differenzierungstheorie und Darwinscher Evolutionstheorie angeknüpft werden soll. Das mag an der – zumindest in der deutschen Tradition noch immer wirksamen - Angst vor dem politischen Mißbrauch der Darwinschen Theorie liegen, oder auch an der dogmatischen Verengung, die die Darwinsche Theorie durch ihre Synthese mit der Molekulargenetik erfahren hat. Jedenfalls sind neuere Entwicklungen dieser Theorie, die rassistische Erklärungen faktisch ausschließen und genetischen Reduktionismus weitgehend zurückdrängen, noch kaum zur Kenntnis genommen (und nicht für analoge Anwendung auf kulturelle Phänomene genutzt). Das ist für die Diskussion über soziologische Differenzierungstheorie besonders bedauerlich, weil sich gerade in evolutionstheoretischer Perspektive (im Rahmen der neueren Theorien der Mehrebenenselektion) mikro- und makrotheoretische Zugänge nicht ausschließen, sondern zwingend zur Kombination anbieten. Replikation und Variation finden immer auf der unteren Ebene statt, Selektion (und Stabilisierung) auf der jeweils höheren Ebene . Die Mikroebene wird also immer benötigt, um – in genetischer Perspektive - zu erklären, wie etwas möglich ist und wodurch Wandel ausgelöst wurde. Die Makroebene wird - zumindest in komplexen Sozialsystemen - immer benötigt, um zu erklären, wie sich


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eine bestimmte Richtung des Wandels verfestigt hat. Konfliktbezug verweist ja immer auf individuelle und kollektive (organisierte) Akteure und nicht auf symbolisch konstituierte (in Medien der Öffentlichkeit generalisierte) Systeme. 20 Bachmann – die Wertsphäre der kapitalistische Erwerbswirtschaft 1 von 4 Teilnehmern aus dem Max Weber Institut Erfurt (Schwinn) - Paradefall für den Versuch einer handlungstheoretischen Untersuchung von Differenzierung nach dem Muster der Weberschen Wertsphären Das Problematische daran, Webers Deutung der Entstehung des kapitalistischen Geistes als Beispiel für die Ausdifferenzierung von Wertsphären heranzuziehen, ist der historischen Übergangscharakter dieser Phänomene. So ähnlich wie der emphatische Bezug auf die Verbreitung von Gottes Wort wichtig war für die Durchsetzung des Buchdrucks und von Lesemärkten, aber nicht mehr benötigt wurde, sobald die traditionellen Beschränkungen einmal gefallen waren, so war ja auch die wertrationale Aufladung des Gewinnstrebens als Zeichen der religiösen Erwähltheit nicht mehr benötigt, als die entsprechenden Verbote einmal gefallen waren. Der Autor fragt daher, wie die wertrationalen Motive für die moderne Wirtschaft auf Dauer gestellt werden konnten. Dieses Problem kann auch durch den Hinweis auf die generalisierte Leistungsbereitschaft durch Entkoppelung von Arbeitsmotivation und Organisationszweck nicht gelöst werden, denn hier handelt es sich gerade nicht um die spezifische Wertsphäre der modernen Wirtschaft, sondern um ein generelles Phänomen formaler Organisationen, gilt also auch für politische, pädagogische etc. Organisationen. S. 177: „Die wertrationale Handlungsorientierung nimmt in der Differenzierungstheorie Max Webers einen zentralen Platz ein: Wertsphären können sich nur in dem Maße ausdifferenzieren, wie ihre obersten Werte im Handeln der Akteure einen Eigenwert gewinnen und sich von deren Bedürfnissen und Affekten befreien können. Die wertrationale Handlungsorientierung kennzeichnet aber gerade gegenüber den anderen, von Weber unterschiedenen, Handlungstypen eine besonders ausgeprägte, situative Instabilität. Deshalb ist es für die Ausdifferenzierung von Wertsphären von besonderer Bedeutung, dass zu dem „inneren" Zwang des wertrationalen Handelns ein „äußerer" Zwang im Sinne einer oder mehrerer Formen der Handlungskoordination tritt. Denn diese Formen der Organisation von Handlungsorientierungen vermögen die zumeist instabile Wertrationalität zu stabilisieren. Um diesen Prozess der Stabilisierung adäquat erfassen zu können, ist es entscheidend, zwischen der Handlungsebene, der Ordnungsebene und der Verbandsebene zu differenzieren.“ Hier wird aber (anders als bei Stachura) die Differenzierung der Wertsphären immer schon vorausgesetzt (also nicht zum explanandum) und nur noch gefragt, wie die wertrationale Orientierung stabilisiert werden kann. 21 Schneider – Religion Quer zu der gängigen Verbindung der Handlungstheorie mit Weber (allerdings in Abgrenzung zu der von Handlungstheoretikern herausgestellten ursächlichen Bedeutung generalisierter Wertmotive für die Ausdifferenzierung) behauptet S.(181): „Die neuere Systemtheorie Luhmannschen Typs kann an die differenzierungstheoretische Argumentationslinie der Weberschen Religionssoziologie anknüpfen. Dies freilich in modifizierter Weise. In skeptischer Zurückhaltung gegenüber der These, nach der religiösen Motiven eine besondere kausale Bedeutung für die Herausbildung der modernen Gesellschaft zugeschrieben werden kann, konzentriert sie sich auf die differenzierungstheoretische Analyse der Beziehung zwischen (okzidentaler) Religion und anderen sich ausdifferenzierenden gesellschaftlichen Funktionssystemen (vgl. Luhmann 1989a: 344). Im Blick auf das Verhältnis von Religion und Gesellschaft für

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die Periode, die sich sehr grob zwischen dem 11. und dem 18. Jahrhundert datieren lässt, sieht Luhmann hier die folgende Konstellation: Noch unter dem Primat ständischer Differenzierung lasse sich zunächst "...die vorgezogene funktionale Ausdifferenzierung eines Religionssystems" beobachten, welche die "anschließende funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems zugleich vorbereitet und behindert" (Luhmann 1989a: 344). Das Religionssystem werde dann konfrontiert mit den auf es selbst zurückwirkenden Folgeproblemen dieser sozialen Konstellation. Die spätere Ausdifferenzierung von Politik, Ökonomie, Wissenschaft etc. als eigenständigen Funktionssystemen muss sich demnach durchsetzen gegen die vorausgegangene erfolgreiche Universalisierung einer religiösen Thematisierungsperspektive, die alle sozialen Lebensbereiche durchdringt, alles innerweltliche Handeln mit den Bezügen auf die transzendente Alternative von Heil und Verdammnis ausstattet und nach den eigenen Ansprüchen religiös-moralisch zu regulieren versucht..“ Dasselbe noch einmal zusammenfassend (208f) „Die Religion, so die von Luhmann heuristisch übernommene Startannahme, ist historisch der erste Handlungsbereich, der als Funktionssystem ausdifferenziert wird. Sie etabliert eine Semantik, die alle weltimmanenten Sachverhalte mit Transzendenzverweisungen ausrüstet und versucht, alle Lebensbereiche nach Maßgabe ihres eigenen Codes mit Hilfe einer seelenheilskonditionierenden (aber von ihren diesseitigen Achtungs-/Missachtungsimplikationen gelösten) Moral zu regulieren. Dadurch gerät die Religion in Widerstreit zu den Anforderungen anderer, sich später ausdifferenzierender Funktionssysteme, wie der Ökonomie, der Politik, der Wissenschaft etc.“ Religion erscheint hier also einfach als eine historisch vorauslaufende Form der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen der modernen Gesellschaft. Die Funktion der Religion in älteren Formen sozialer Differenzierung und in der Ausdifferenzierung kultureller Sozialsysteme überhaupt bleibt hier ausgeblendet. s. Bellah – 2011 - Religion in Human Evolution …. (186f.): „Die spezifische gesellschaftliche Funktion, die durch das Erfolgsmedium Glaube bedient wird, liegt in der Bereitstellung von Sinnfiguren, welche eine Schließung der Verweisungsoffenheit von Sinn zu ermöglichen scheinen, d.h. die Bestimmbarkeit unbestimmbarer Komplexität suggerieren (dazu und zum Folgenden vgl. Luhmann 1977: 79ff. und 2000: 85ff.). In den monotheistischen Religionen wird Gott zur Kontingenzformel, die als letzte Antwort auf dieses Problem dient und die ins Spiel gebracht wird, wenn es um Fragen geht, die den Bereich direkt oder indirekt zugänglichen Erlebens und Handelns überschreiten. Magisches Denken und dadurch geprägte Formen primär ritualgebundener Religiosität bleiben demgegenüber noch zu sehr auf konkrete Situationen fixiert. An der Realisierung diesseitiger Ziele interessiert, entwickeln sie auf Situationstypen bezogene Deutungen und Praktiken mit niedrigem Generalisierungsniveau, die Unkontrollierbares kontrollierbar machen sollen. Mit der Zunahme gesellschaftlicher Komplexität, die als steigende Kontingenz jedes Erlebens und Handelns erfahren wird, reicht dies nicht mehr aus. Stärker abstrahierte Deutungen werden entwickelt, die sich nicht mehr nur auf hervorgehobene Dinge und Ereignisse kaprizieren, sondern die zu erklären versuchen, warum die sichtbare Welt so ist, wie sie ist, obwohl man sich andere Möglichkeiten vorstellen könnte. Alles Beobachtbare wird auf Unbeobachtbares zurückgeführt, die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz dadurch universalisiert und die Sinngebung der diesseitigen Welt in die Transzendenz verschoben. Hier letzte Bestimmungen von Transzendenz anzubieten, hinter die nicht mehr zurückgefragt werden kann, ist die Funktion einer sich auf der Basis des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Glaube ausdifferenzierenden Religion. Rituale übernehmen nun die Rolle eines „symbiotischen Mechanismus“ (vgl. Luhmann 2000: 205), der die hochgetriebenen semantischen Generalisierungen des Glaubens in einer unmittelbaren Form des Erlebens verankert, in der das Ge-


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glaubte für die Teilnehmer als kollektiv unterstellte Realität erfahrbar wird.“ Hier ist aber doch zu fragen, ob die in den Hochreligionen betriebene Verlagerung der Problemlösung ins Kognitive (Wahrheitsmonopol statt Gemeinschaftspraxis) nicht eher ein Oberflächenphänomen beschreibt und sich die Kernfunktion in der (durch Bilderund Musikverbote einschränkten) Verwendung der Rituale verbirgt. Am Schluss (208) behauptet S. sogar gegen Webers Protestantismus-Analyse und im Anschluss an Luhmann einen „evolutionären Trend“ zur Selbstmarginalisierung der Religion: „Von der Theorie funktionaler Differenzierung her beobachtet liegt die Bedeutung dieses semantischen Syndroms darin, dass es die Rationalitäts¬standards, denen das berufliche Handeln in den sich ausdifferen¬zie¬renden Funktions¬systemen folgt, mit den religiös motivierten Handlungsanforderungen tendenziell zur Deckung bringt. Dafür lassen sich jedoch funktional äquivalente Deutungsvarianten im lutherischen Protestantismus und in der französischen Gegenreformation identifizieren, sodass der asketische Protestantismus aus dieser Perspektive betrachtet die einzigartige historische Bedeutung verliert, die Weber ihm zuschreibt. Stattdessen erscheint er nur noch als besonders ausgeprägte Realisierungsform eines allgemeinen evolutionären Trends: Die Religion hört auf, die Eigenlogik der Funk¬tionssyste¬me zu stören (vgl. Luhmann 1977: 157). Indem sie ihren eigenen Anspruch auf die detaillierte Regu¬lierung weltlichen Handelns weitgehend aufgibt, marginali¬siert sie sich selbst und überlässt das inner¬weltliche Handeln seiner Eigendynamik.“ Diese Argumentation verkennt jedoch, dass die Kernfunktion der Religion gar nicht in der Konkurrenz um Wahrheitsansprüche liegt. Je mehr die kulturelle Hegemonie der Religionen sich auf das Auslegungs-monopol für Wahrheiten stützt, deren Quelle für die Gläubigen verborgen bleibt, desto mehr kollidiert dieser Wahrheitsanspruch mit dem der moder-nen Wissenschaft, die auf Offenlegung der Quellen insistiert. Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Wahrheitsansprüchen, die sich auf sichtbare oder unsichtbare Quellen stützen, zwingt die Religionen in der Moderne sich aus der Konkurrenz um Wahrheitsansprüche zurückzuziehen und sich auf ihre soziale Kernfunktion, die Verankerung von Bindekräften der Ge-sellschaft in den Handlungsmotiven der Individuen zurückzubesinnen. 22 Junge – über symbol. gen. Kommunikationsmedien (Macht, Geld) - den Streit über system- oder handlungstheoretische Methode souverän mißachtend 213: „Im nächsten Abschnitt wird es noch ganz allgemein um Fragen der theoretischen Rahmung gehen, wobei zu aller erst dafür geworben werden soll, dass es auf der von uns gewählten Abstraktionshöhe wenig Sinn macht mit großer Geste System- und Handlungstheorie oder dgl. als einander ausschließende Alternativen zu behandeln.“ - einerseits als Beitrag zur Theorie des Dritten angelegt – andererseits als Kommunikationstheorie (aber wiederum nicht i.e.S. der Luhmannschen Systemtheorie) bzw. hier wird das Dritte von vornherein in der Eigenständigkeit der Kommunikation gegenüber den Motiven und Verhalten der Individuen verankert. s. dagegen auch die ablehnenden Bemerkungen zur Kommunikationstheorie bei Schwinn u.a. – Die m.E. falsche Konfrontation zwischen Handlung und Kommunikation (bei Renn? oder wo hab ich das gelesen?): Einerseits richtig zu sehen, dass im Kommunikationsbegriff der Elementarvorgang vom Ende her, im Handlungsbegriff dagegen vom Anfang her konzipiert ist – andererseits aber verkennend, dass das Ende ein Konstrukt ist, das man nur von der höheren Warte einer bereits stattgefundenen Selektion beobachten kann, während der Anfang (sofern man ihm nicht schon eine Teleologie

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unterlegt) die Alternative zwischen kopiergetreuer Nachahmung und Abweichung offenlässt. – In evolutionstheoretischer Perspektive sind soziale Phänomene nur zu erklären, wenn das Zusammenwirken der Mechanismen auf beiden Ebenen einbezogen wird. 213: „zeigen, dass sich der Vertragsgedanke, wie er schon die frühneuzeitliche Gesellschaftstheorie faszinierte, falls man nicht gar deutlich weiter zurück gehen will, als Versuch einer kommunikationstheoretischen Beschreibung der Gesellschaft begriffen werden kann, und dass sich die Verträge begründende Rechtsfigur der Willenserklärung, wie sie im Bürgerlichen Gesetzbuch bestimmt wird, zwanglos und Punkt für Punkt als eine Konkretisierung zeitgenössischer Kommunikationstheorien, wie sie vor allem mit den Namen Luhmann und Habermas verbunden werden, begreifen lässt.“ - J. macht deutlich, dass das Parsons-Luhmannsche Konstrukt der symbol. gen. Kommunikationsmedien in einer Theorie des Dritten nicht nur reformuliert, sondern auch aus seiner systemtheoretisch eingeengten Rolle (als selbst erzeugte Selektion der Funktionssysteme) befreit und auf der Seite mediengestützter Publikumsbeziehungen (funktionsspezifischer Öffentlichkeiten) verankert werden kann. Jetzt wird erkennbar, dass es sich bei den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien um einen innergesellschaftlichen Selektionsmodus handelt, der auf einer anderen Ebene zur Wirkung kommt, als der, auf der die Systeme sich reproduzieren und variieren .... Achtung: Querbezüge zum Beitrag von Kern herstellen – evtl. auch Schimank ... Passagen aus dem 2. Abschnitt von Junge über Theoriemoden in der Soziologie evtl. als Kontrapunkt zu den Ausf. in der Einleitung des Bandes verwenden 221f.: „Habermas und Luhmann verstehen es, je auf ihre Weise, die in der Möglichkeit des Nein-Sagen-Könnens bestehende Privatautonomie, wie man hier mit einer rechtlichen Vokabel sagen könnte, und soziale Emergenz, nämlich den Umstand, dass unsere Äußerungen erst aneinander Profil gewinnen und Halt geben, zusammen zu denken.“ Liegt es wirklich nur an der Möglichkeit, Nein zu sagen (also auf der Mikroebene der Kommunikation) – oder muss hier nicht die konstitutive Form der Verselbständigung zwischen Kollektivakteuren und Publikumsbeziehungen herangezogen werden? (Die Colemanschen „Kontrollrechte“ sind an die Klienten übergegangen!) Vgl. auch die im Beitrag von Bongarts angedeutete Relevanz des Publikums, die von Bourdieu aber immer noch zu sehr von der Akteursseite her konstruiert erscheint. 227f: „Das Publikum hat vor allem ein, wenn auch gewöhnlich im Hintergrund bleibendes Interesse daran, dass der politische Machtkampf nicht in einen Bürgerkrieg umschlägt, sondern bildlich gesprochen - sich um die geordnete Weitergabe des einen Zepters dreht. Erst an zweiter Stelle darf es sich glücklich wissen, wenn die Konkurrenz um Posten, Pensionen und Prestigegewinne nicht nur friedlich verläuft, sondern vielleicht auch noch in allgemein wohlfahrtsförderliche Bahnen gelenkt werden kann oder sich sogar durch einen durch Wahlen drohenden Austausch von Regierung und Opposition am median-voter zu orientieren lernt,22 soweit der Wechsel in die Opposition nicht durch zu bescheidene Pensionen oder den sozialen Tod durch Lächerlichkeit riskierende öffentliche Selbstbindungen blockiert ist. In ihrer Selbstbeschränkung auf Publikumsrollen signalisieren sich die Bürger wechselseitig, dass sie die Regierungsgewalt akzeptieren werden. Sie autorisieren diese durch ihr Schweigen zur sie in Treuhand vertretenden und dadurch umgekehrt auch erst als Staatsvolk konstituierenden Macht. Die sich hier andeutende Konstellation lässt sich dabei zugleich in zweierlei Hinsicht als


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durch einen Vertrag zu Gunsten eines Dritten bestimmt charakterisieren. Der Souverän ist Drittbegünstigter des ihn durch Wahlen oder Schweigen autorisierenden Volkes. Aber das Volk, dessen Einheit sich erst auf diesem Wege konstituiert und dessen Wohlfahrt dem Souverän im Sinne eines Treuhandverhältnisses anvertraut wurde, ist ebenfalls Drittbegünstigter. [Hier wird die konstitutive Bedeutung des Publikums und die Rolle des Staats als sanktionsbewehrter Garant der Differenzierung unterschätzt!] Das Dilemma der Hobbeschen Lösung des Ordnungsproblems ist, dass der Staat einerseits als Repräsentant der Öffentlichkeit (also auf der Seite verselbständigten Erlebens) andererseits aber auch als Akteur (auf der Seite verselbständigten Handelns – hier als sanktionsbewehrter Garant der öffentlichen Ordnung) auftritt – und in dieser Doppelrolle immer in der Gefahr steht, die evoluierten Errungenschaften der Differenzierung kollabieren zu lassen. 236: „Im Medium der Macht und im Medium des Geldes werden Negationspotentiale in je spezifischer Weise konditional mit einander arrangiert und die ihnen gegenüberstehenden Bedürfnisse und Anliegen dabei in einer Weise abgeblockt, umgelenkt und vertagt, die es möglich macht, dass sie in modifizierter Form vielfach schließlich doch miteinander kompatibel gemacht werden können, so dass Dinge möglich werden, die andernfalls nicht möglich gewesen wären. Wie so etwas möglich wird, wie es zur Institutionalisierung und Verselbständigung symbolisch generalisierter Medien kommen kann, sollte hier an zwei Fällen illustriert werden. Dabei kam es uns darauf an, die bei Erörterungen dieser Prozesse heute gerne ins Feld geführten vermeintlich konstitutionslogischen Paradoxa oder Tautologien als Kurzschlüsse zu identifizieren, die sich vermeiden lassen, wenn man die Sache aus einer durch mindestens drei Parteien bestimmten Konstellation zu entwickeln sucht.“ Aber reicht es, hier von Negationspotentialen der Kommunikation zu sprechen, müsste nicht evolutionstheoretisch weitergehend von der Etablierung einer innergesellschaftlichen Differenz zwischen den Ebenen der Replikation/Variation und der Selektion gesprochen werden? 23 Stachura: Die Kreation der Differenz (Interessantester Beitrag!) 1 von 4 Teilnehmern aus dem Max Weber Institut Erfurt (Schwinn) St.s Beitrag (der von den Herausgebern nicht der Abteilung Grundlagentheorie zugeordnet wurde) sticht hervor, weil er 1. als einziger die für das Thema grundlegende Beobachtung beisteuert, dass in der systemtheoretischen Differenzierungstheorie SD nur noch als als explanans nicht als explanandum Verwendung* findet 2. als einziger Beitrag explizit an die evolutionstheoretische Tradition der Differenzierungstheorie wieder anknüpft** und 3. einen originellen Beitrag zur Weiterentwicklung einer evolutionstheoretisch fundierten Differenzierungstheorie liefert Einschränkend wäre zu sagen, dass er bei der Wiederanknüpfung an die biologische Evolutionstheorie zu sehr an die neodarwinistische Orthodoxie anlehnt und nicht die vielfältigen Ansätze zur Rehabilitation der Gruppenselektionstheorie im Rahmen vom Mehrebenenselektionstheorien (sowie auch die Wiedereinführung von Entwicklungskonzepten durch EvoDevo-Theorien) berücksichtigt. Daher gelingt es St. nur über den theoretischen Trick, dass in der kulturellen Evolution andere Gesetze gälten, doch zur Erklärung von Differenzierungsphänomenen nach dem Muster der Gruppenevolution (Verlagerung von Selektionsdruck vom Individuum auf das Sozialsystem) vorzustoßen. Noch ein hier eher verzichtbarer Einwand: Auch die (schon im Titel des Beitrags verwendete) Kreatitivitäts-Semantik passt nicht gut zum Programm einer evolutionstheoretischen Erklärung sozialer Differenzierungsphänomene. Dafür stehen die Mechanismen der Replikation, Variation und Selektion zur Verfügung. Man kann die (trotz aller Intentionalität der Akteure) mehr oder weniger zufällige Variation gegebener Differenzierungsmuster als Kreation beschreiben. Dann muss aber immer noch erklärt werden, welche

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(internen und/oder externen) Umweltbedingungen dazu geführt haben, dass einer abweichenden Variante der Vorzug gegenüber der kopiergetreuen Nachahmung gegeben wurde. * Implizit sind natürlich alle handlungstheoretischen Ansätze einem solchen Erklärungsprogramm verpflichtet – allerdings eben methodologisch reduziert auf Mikrofundierung und damit unter Kappung des in der evolutionstheoretischen Tradition der Differenzierungstheorie angelegten Mehrebenen-Ansatzes. **evtl. hier – im Anschluß an St. auch meine Ausf. zu den „negativen Gemeinsamkeiten“ der anderen Beiträge über alle Paradigmen-Unterschiede hinweg (s.u.) St. startet mit einer für das Thema grundlegenden Beobachtung, die in keinem der anderen Beiträge zu finden (Soziale Differenzierung fungiert nur noch !) : 241: „Sucht man nach einem Erklärungsprogramm innerhalb der soziologischen Differenzierungstheorie, so muss man sich in weiter zurückliegende Perioden der Fachgeschichte begeben als jene der aktuellen Systemtheorie von Niklas Luhmann. Diese hat erklärende Fragestellungen inzwischen verlernt, wohl deshalb, weil sie sie missachtete. Während sich die Systemtheorie für die Erklärung der sozialen Differenzierung zu schade war, scheuten die Klassiker der Differenzierungstheorie die Mühe der Ursachenforschung nicht. Bei Emile Durkheim wird eines der insgesamt drei Bücher seiner De la division du travail social explizit den Erklärungsfragen gewidmet.“ 242f: „Damit kann Durkheim die zentrale Frage der Differenzierungstheorie stellen: Wann führt der verschärfte Wettbewerb zu einer innovativen Differenzierung [Binnendifferenzierung!] und wann zu einer bloß quantitativen Intensivierung der konservativen Handlungsweise [genauer: zur Unterdrückung der Differenzen]? Die Utilitaristen konnten die Frage nicht richtig stellen (geschweige denn beantworten), da sie irrtümlicherweise von der Gesellschaftstheorie der ungebundenen Individuen ausgegangen sind. In dieser Theorie kooperieren die Individuen immer dann, wenn die Kooperation Vorteile bringt. Durkheim kehrt nun den Sachverhalt um: Die Individuen kooperieren und spezialisieren sich niemals, wenn sie ein bloßes Aggregat ungebundener Teile darstellen. Damit lässt sich die hier interessierende Frage auch schon beantworten: Die verschärften Umweltrestriktionen führen innerhalb einer normativ gebundenen, „solidarischen" Gemeinschaft zur Differenzierung, während sie innerhalb eines normativ ungebundenen Aggregats einzig zur Folge haben, dass der „Überlebenskampf' hitziger oder der Rückzug aus der Gesellschaft massiver wird. „In den Ländern, in denen das Leben aufgrund der übergroßen Dichte der Bevölkerung zu schwierig ist, ziehen sich die Einwohner, statt sich zu spezialisieren, gänzlich oder vorläufig aus der Gesellschaft zurück, sie wandern in andere Regionen aus" (ebd.: 336). [Das tun sie aber, wie alle Migrationsströme zeigen, nicht als ungebundene Individuen sondern immer in Gruppen!] Eine normativ gebundene, „solidarische" Gesellschaft ist kein Produkt der Differenzierung, wie die Utilitaristen es wollten, sondern ihre Voraussetzung, das autonome Individuum keine Voraussetzung der Differenzierung, sondern ihr Produkt. [Durkheims Umkehrung ist wohl selbst eher der Rivalität geschuldet! ] Mit dieser Argumentationslinie wird eine konsistente Gegenposition zum rationalistischen Utilitarismus aufgebaut, die deutlich macht, dass ohne normative Voraussetzungen nicht der anspruchsvolle Pfad der innovativen Differenzierung, sondern der anspruchslose Pfad der konservativen Intensivierung eingeschlagen wird. Doch die Lösung birgt schon ein neues Problem in sich. Wie wichtig die normativen Voraussetzungen auf der einen Seite auch sind, sie stehen im Verdacht, die Differenzierung auf der anderen Seite zu blockieren. Wird das Gesamtspektrum sozialen Handelns einer Gruppe normativ gebunden und von jedem Mitglied dieser Gruppe verinnerlicht, so wird solch ein normatives „Kollektivbewusstsein" jeden Innovationsversuch im Keim ersticken. Ein starkes Kollektivbewusstsein, das für Durkheim mit einer segmentä-


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ren Organisation der Gesellschaft einhergeht, ist „für die Arbeitsteilung ein unüberwindliches Hindernis [...], das wenigstens zum Teil verschwunden sein muß, damit die Arbeitsteilung erscheinen kann" (ebd.: 314). Nun kann man an Durkheim die Frage richten, wie es sein kann, dass das Kollektivbewusstsein „wenigstens zum Teil verschwunden sein muss", während es ja zugleich eine notwendige Voraussetzung der Differenzierung darstellt? Wie kann ein „unüberwindliches Hindernis" zugleich eine notwendige Vorbedingung sein? Seine Positionierung läuft auf ein Dilemma hinaus: Entweder schafft ein solidarischer Hintergrund den Antrieb für eine innovative Differenzierung, die aber normativ gehemmt wird, oder es gibt keine normativen Hemmungen, ergo genügend Spielraum für eine Differenzierung, die aber in Ermangelung der Antriebskraft gar nicht zustande kommen kann.“ Die Assoziation von normativer Bindung mit Nichtdifferenzierung und nichtnormativer Einstellung mit Differenzierung ist aber irreführend! Es geht doch strenggenommen um 2 Formen der Differenzierung: 1. Innen-Außen-Differenzierung, die keiner normativen Begründung bedarf, sondern eine gewissermaßen in die natürlichen Verhaltensmuster der Gruppenevolution schon eingelassene Norm ist und 2. Binnendifferenzierung, die verschiedenartige Formen der Wiederholung der Innnen-Außendifferenz im Inneren beinhaltet, die durch jeweils verschiedene normative Muster und Sanktionsmechanismen abgesichert werden. Wie schon Durkheim selbst, sieht auch St. Soziale Differenzierung nur in der Binnendifferenzierung – also auf der Innenseite der menschlichen Sozialsysteme und nicht in der allem (evolutionär) vorausliegenden Form der System-Umwelt-Differenzierung. 243f: „Die Evolutionstheorie basiert auf drei kongruenten Unterscheidungen: auf der von Genotyp und Phänotyp, der von Variation und Selektion (sowie Stabilisierung) und der von Organismus und Umwelt. Sie basiert also auf einer Trennung der Objekte (Genound Phänotyp), Prozesse (Variation und Selektion) und Ebenen (Organismus und Umwelt). [Hier fehlt aber noch die unten angeführte Ebene der Population! s.E.Mayr] Ihr zentrales Interesse gilt dabei der Angepasstheit der Organismen an die Umwelt (= Fitness), d.h. dem Zustand eines Gleichgewichtes, das sich zwischen einer (oder mehreren) Populationen) und der sie tragenden Umwelt einstellen kann. Die Angepasstheit wird dabei immer als Folge zweier unabhängiger Prozesse, Variation und Selektion, betrachtet.“ 245f: „Als Möglichkeit, diese Schwierigkeit zu umgehen, wird die Idee der Gruppenselektion diskutiert. Tatsächlich arbeitet die Selektion nicht nur auf der Ebene der Einzelsysteme, sondern auch auf der Kollektiv- oder auf der „Metasystem"-Ebene. Denn es werden nicht nur einzelne Ameisen, sondern auch ganze Ameisenstaaten, nicht nur einzelne Bäume, sondern auch ganze Wälder selektiert. Das Problem mit dieser Idee ist aber, dass die Selektion nicht allein auf der Kollektivebene wirkt. Diese Idee wäre zwar sehr verlockend, denn sie würde erklären, warum es in der Wirklichkeit doch angepasste Metasysteme gibt, warum sich die differenzierten Ameisenstämme gegen die undifferenzierten, die im Rudel (arbeitsteilig) jagenden Wolfsstämme gegen Stämme, die eigenbrötlerisches Jagdverhalten an den Tag legen, durchgesetzt haben. Doch die Idee wird verworfen mit dem Argument, dass die Selektion auf der Individualebene schneller arbeitet als auf der Kollektivebene. „The reason is that the variety of possible configurations that evolution can explore will be much larger for the global system than for the subsystems, since the global variety is the product of the possible varieties for each subsystem. It thus increases exponentially with the number of these subsystems. The more configurations a system needs to explore, the less likely that it will hit on the optimal configuration, and the longer it will take on average to reach that optimal configuration. Therefore, the

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larger the global system, the more difficult it will be for variation to find its optimum." (Heylighen/Campbell 1995: 8). Die populationstheoretische Übersetzung dieses Arguments lautet, dass die Selektion auf der Kollektivebene nicht funktionieren kann, da kooperative Gruppen nicht gegen egoistische und in diesem Falle parasitäre Eindringlinge geschützt sind. Selbst eine kooperative Population, die auf der individuellen Ebene selektiert wird, wie in der berühmten Studie von Axelrod, kann letztlich nicht verhindern, dass sie von einigen eigennützigen Parasiten befallen wird. Axelrod hat experimentell unterschiedliche „Strategien" in einem Wettkampf nach dem Muster des Gefangenendilemmaspiels gegeneinander antreten lassen. Unter den „Strategien" gab es welche, die mehr oder weniger gutmütig kooperiert haben, und welche, die jene Gutmütigkeit ausnutzen wollten. In einem einmaligen Spiel hätten die gutmütigen „Strategien" gegenüber den Schmarotzern keine Chance gehabt. Aber in einem wiederholten Spiel, unter der Bedingung der Reziprozität, konnten die netten „Strategien" einen weit größeren Erfolg vorweisen als die Parasiten. In einem weiteren Experiment hat Axelrod beobachtet, wie sich die Populationen von den netten und parasitären Strategien über Tausende von Generationen entwickeln. Dafür wurden die in einer Runde gewonnenen Punkte als die Anzahl der Nachkommen in der folgenden Runde interpretiert. Der evolutorische Erfolg der reziprok kooperativen Strategien war durchschlagend; sie hatten den mit Abstand größten reproduktiven Erfolg. Gleichwohl sind die parasitären Strategien nicht ganz ausgestorben (Axelrod 1991: 45). Die kooperativen Strategien sind gegen die Eindringlinge nur unter sehr bestimmten Bedingungen geschützt.23 Hierzu gehört in erster Linie eine gesicherte Zukunft, d.h. die Annahme, dass das Spiel fortgesetzt wird, und ein hinreichend großes Interesse an zukünftigen Spielergebnissen. Verschlechtern sich die Bedingungen, wird ein evolutorisch stabiler Zustand im Sinne von John Maynard Smith (Maynard Smith 1974) wahrscheinlich in einer Koexistenz einer kooperativen Mehrheit mit einer parasitären Minderheit bestehen. Ist der „Schatten der Zukunft" nicht hinreichend groß, kann die kooperative Population von Eindringlingen dominiert werden.“ Hier schlägt sich der Autor vorschnell auf die Seite der neodarwinistischen Orthodoxie! (Daher kommt dann die partielle Rehabilitierung der Gruppenselektion speziell für menschliche Sozialsysteme auf der Ebene memetischer Replikation eher überraschend) Das führt nebenbei auch zu kuriosen Nachlässigkeiten: 246: „In der sozialwissenschaftlichen Evolutionsforschung gibt es einen weitgehenden Konsens darüber, dass die soziale [gemeint: kulturelle] Evolution nicht durch Gene gesteuert wird.“ Die in der Soziologie weitgehend übliche Verdrängung des Umstands, dass Sozialität kein Privileg menschlicher Lebewesen ist, wird abgestützt durch die dogmatische Ablehnung von Gruppenselektion in den genzentrierten Ansätzen des Neodarwinismus (s. dagegen aber E.Mayr, E. Wilson, Sober/Wilson, Boyd/Richerson, Blute etc. ) S. 249ff formuliert St. eine Position, die aus dem (vermeintlichen) Dilemma zwischen einer memetischen Theorie der Gruppenselektion und der normativen Theorie sozialer Differenzierung Durkheims herausführt: „Diese Position beginnt mit der Einsicht, dass die Differenzierung sinnvollerweise nicht als Anpassung an die Umwelt gedacht werden kann. [Der Autor verkennt, dass jede Form von Gruppenbildung immer schon zugleich Nichtanpassung (auf der Ebene der Organismen) und Anpassung (auf der Ebene der Sozialsysteme) ist.] Diese Denkweise hat den Umgang mit der Differenzierungsproblematik von Smith bis Spencer geprägt, und auch Durkheim ist nicht frei davon. Sie besteht in der Annahme, dass die Umwelt fix, einheitlich und offen ist. Es gibt mit anderen Worten nur eine Umwelt, und die Aufgabe der Organismen besteht darin, effiziente Wege der


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Anpassung an diese eine, von allen geteilte Umwelt zu finden. Diese Sichtweise verkennt aber, dass es noch eine andere „Seite" der Anpassung gibt: „There are thus two sides to the machinery involved in the development of nature. On one side, there is a given environment with organisms adapting themselves to it. The scientific materialism of the (nineteenth century) epoch emphasized this aspect. From this point of view, there is a given amount of material, and only a limited number of organisms can take advantage of it. The givenness of the environment dominates everything. (...) On other side of the evolutionary machinery, the neglected side is expressed by the word creativeness. The organisms can create their own environment." (Whitehead 1927: 140) (Hodgson 1993: 96). Materiell gibt es in der Tat nur eine Umwelt. Aber biologisch und sozial gibt es so viele Umwelten, wie es viele Lebens- oder Handlungsweisen gibt. Für einen Fleischfresser existieren die Blätter und Früchte, die es in seiner Umgebung real gibt, nicht, zumindest nicht als Opportunitäten und Restriktionen seiner Umwelt. Damit Staaten zur Umwelt der Geldinstitute werden, muss man erst auf die Idee einer Obligation kommen. Solange es keine Schatzpapiere gibt, existiert der entsprechende Umweltsektor für die Banken nicht. [Historisch schlecht gewähltes Beispiel!] Mit der Erfindung der Feinbackwaren erschufen sich die Bergeller Bäcker Mitte des 18. Jahrhunderts zunächst in Venedig, dann in ganz Europa eine vorher nicht existierende Umwelt von Feinbackwaren-Konsumenten und vermehren sich seither in exponentiel1er Weise, solange es die unverbrauchte Umwelt trägt. Die entscheidende Frage dabei ist stets, unter welchen Umständen die alte Umwelt mit ihren Wettkämpfen verlassen und die Erschließung einer neuen Umwelt gewagt wird. Wann hört der gewöhnliche Bäcker auf, mit anderen gewöhnlichen Bäckern zu konkurrieren, und versucht, einen völlig neuen Wettkampf in einer völlig neuen Umwelt zu bestreiten? Wann wandern die Organismen oder die Akteure in neue Umwelten ab? Wie schwierig die Frage zu beantworten ist, so einleuchtend ist die Vermutung, dass sie nicht im Rahmen des einseitigen adaptativen Paradigmas lösbar ist. Der kreative Akt der Erschaffung von neuen Handlungsweisen mit den dazugehörenden Umwelten lässt sich sinnvollerweise nicht als Problem des effizienten Ressourcenverbrauchs thematisieren. Der kreative Organismus passt sich der gegebenen Situation nicht an - er lässt diese hinter sich. Es ist auch nicht der Weg von einem lokalen zu einem globalen Maximum in einer Fitnesslandschaft, sondern vielmehr die Entdeckung einer neuen Landschaft selbst. Natürlich unterliegt auch diese neue Landschaft dem Regiment des Knappheitsprinzips, und auch die neue Handlungsweise muss von der Umwelt getragen werden. [Deshalb wäre es m.E. besser von der Schaffung eines Schutzschirms statt von der Entdeckung einer neuen Landschaft zu sprechen!] Die andere „Seite" der Evolution, von der Whitehead spricht, oder auch die andere „Richtung" der Situationsanpassung (Stachura 2008; 2009a) bedeutet also nicht, dass es keine situativen Zwänge mehr gibt und die Umwelt nun einem Märchenland gleicht, sondern nur, dass die neuen Zwänge keine Schnitt- oder Teilmenge der alten Zwänge darstellen, dass man sich also wirklich in einer ganz neuen Welt befindet. Es gibt keine Verrechnungsmöglichkeiten, keine ökonomischen Kalküle, die den „Nettonutzen" der Auswanderung gegenüber dem Verbleib in der „Heimat" bestimmen lassen würden. Wie wollte man den „Nettonutzen" der Ausdifferenzierung eines genuin religiösen Handelns aus dem Geflecht ökonomischmilitärisch-kultischer Handlungen bestimmen? Wie sollte man den religiösen gegenüber dem ökonomischen „Erfolg" oder „Ertrag" abwiegen? Die Umwelt ist weder einheitlich noch transparent oder quantitativ bestimmt. Sie ist nicht einheitlich, weil die Übergänge von einem Bereich in einen anderen mit Sperren versehen sind; sie ist nicht transparent, weil nur der jeweilige Binnenbereich gedanklich erfasst werden kann, und sie ist nicht fest limitiert, weil die Kreativität immer neue Landschaften in dieser Umwelt entstehen lässt.“

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257: Ganz im Gegensatz zu den programmatischen Beschränkungen der Einleitung (des zit. Rückseiten-texts) weitet St. die Betrachtung sozialer Differenzierung auf ältere Formationen der menschlichen Gesellschaft aus: „Es wäre auch voreilig, diesen Zustand normativer Dissonanzen allein den „modernen" Gesellschaften zuzurechnen. Auch die, in Durkheims Terminologie, segmentären Gesellschaften kennen vielfältige normative Handlungsweisen, die unter Umständen miteinander kollidieren können. Damit eröffnet sich ein Feld für Fluktuationen von einzelnen Instrumenten aus dem einen in den anderen normativen Rahmen, für die normative Entbettung und die Kreation neuer normativer Rahmen - mit anderen Worten: für die soziale Differenzierung.“ 24 Schimanks Fünf-Fronten-Kampf Sch.s Beitrag eröffnet die Abteilung „Differenzierungsdynamiken“ und nimmt dabei – ohne (wie Stachura) explizit an die evolutionstheoretische Theorietradition anzuknüpfen und von vornherein beschränkt auf Phänomene der modernen Gesellschaft – eine konflikttheoretische Perspektive ein: 261: „Meine These lautet: Sehr viele Dynamiken der Gegenwartsgesellschaft lassen sich als Kämpfe um Differenzierungsstrukturen verstehen. Hierzu will ich ein analytisches Instrumentarium vorstellen. Dies geschieht in drei Schritten. In einem ersten Schritt werde ich auf akteurtheoretischer Grundlage funktionale Differenzierung als Strukturform der modernen Gesellschaft charakterisieren, die durch ein Spannungsverhältnis von teilsystemischem Eigen-Sinn und intersystemischer Arbeitsteiligkeit gekennzeichnet ist. Dieses Spannungsverhältnis prägt die gesellschaftlichen Differenzierungsdynamiken, zu deren Analyse man - wie ich im zweiten Schritt zeigen werde - die teilsystemischen Leistungsproduzenten als fokale Akteure an fünf Fronten in den Blick nehmen muss. Die ersten vier Frontlinien verlaufen an teilsystemischen Grenzen zur gesellschaftlichen Umwelt: gegenüber dem Publikum individueller Leistungsabnehmer, gegenüber Leistungsproduzenten anderer Teilsysteme, gegenüber den Leistungsproduzenten der Wirtschaft sowie gegenüber den gesellschaftlichen Sachwaltern ökologischer Belange. Eine fünfte Frontlinie durchzieht das Teilsystem selbst; hier stehen einander verschiedene Fraktionen von Leistungsproduzenten gegenüber. Abschließend bilanziere ich in einem dritten Schritt noch ganz kurz den Stellenwert der hier behandelten Fragen auf der differenzierungstheoretischen Agenda.“ Sosehr man der Diagnose „Kämpfe um Differenzierungsstrukturen“ zustimmen mag, sowenig kann das Erklärungsprogramm überzeugen, das die Ursachen (mehr oder weniger tautologisch) in den Erscheinungsformen funktionaler Differenzierung verankert und nicht in einer andauernden Konkurrenz historisch evoluierter Formen sozialer Differenzierung in der modernen Gesellschaft . Die fünf Frontlinien, die Sch. beschreibt, sind dagegen sämtlich aus der funktionalen Differenzierung als dominantem Merkmal der Moderne abgeleitet (Luhmanns Dominanzannahme wird hier also undiskutiert übernommen!). Die teilsystemischen Eigenwerte funktionaler Differenzierung können aber – zumindest dort, wo sie in vollem Umfang institutionalisiert sind – nicht zur Erklärung für Kampfkonstellationen herangezogen werden. Im Prinzip ist soziale Differenzierung niemals die Ursache, sondern die Lösung von Konkurrenzkonflikten. Aber jede dieser historisch evoluierten Lösungen verlagert das Problem zugleich auf eine höhere Ebene, wo es sich als Konkurrenz der Differenzierungsformen selbst reproduziert. 264f: „Die Teilsysteme koexistieren somit in einem arbeitsteiligen, aber zugleich spannungsreichen Zusammenwirken. Zwar gilt durchaus, dass in jedem Teilsystem Leistungen erbracht werden, die anderswo benötigt werden: in anderen Teilsystemen und, letztlich und als Gesamtpaket, in der Lebensführung der individuellen Gesellschaftsmitglieder, die als Leistungsempfänger in spezifischen Rollen in alle Teilsysteme inkludiert sind. Die funktional differenzierte Gesellschaft als Ganze stellt jedoch im Zusammenwirken ihrer Teilsysteme alles andere als eine, einer übergrei-


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fenden Zwecklogik folgende, wohl abgestimmte Arbeitsteilung wie in einer durchgeplanten Organisation - dar. Es handelt sich vielmehr um eine höchst widerwillige Arbeitsteilung, die aus der Sicht derjenigen Akteure, die an der Leistungsproduktion eines bestimmten Teilsystems mitwirken, wie folgt gesehen wird: Am liebsten wäre ihnen, wenn die jeweils von ihnen benötigten Leistungen von den Akteuren der anderen Teilsysteme zuverlässig erbracht würden, man selbst aber völlig rücksichtslos gegenüber Leistungserwartungen der anderen den jeweiligen Eigen-Sinn kultivieren könnte. Und eine Bedienung der externen Leistungserwartungen ergibt sich eben nicht, wie bei Adam Smith's „invisible hand" (Ullman-Margalit 1978), als automatischer Nebeneffekt der Kultivierung des Eigen-Sinns. Ab einem gewissen Punkt gilt eher das Gegenteil: je eigen-sinniger, desto weniger Leistung!“ Hier wird das Verhalten der Teilnehmer an Funktionssystemen nach dem Muster des Gefangenen-Dilemmas modelliert. Was dabei aber übersehen wird, sind die Beziehungen zwischen den Akteuren (Organisationen Leistungsrollen) der Funktionssysteme und ihren Klienten (Publika, Öffentlichkeiten), die trotz funktionsspezifischer Verselbständigung für soziale Kontrolle der Leistungsträger sorgen. S. dann den Publikumsbezug im Folgenden (als 1 von 5 Konfliktkonstellationen statt als konstitutive Bedingung) im sog Inklusionsspiel! Zum Publikumsbezug vgl. den Beitrag von Th. Kern! 268: Damit bin ich an einem Punkt angelangt, wo sich aus der bisher präsentierten theoretischen Konzeption funktionaler Differenzierung die Leitfrage für die im Weiteren unternommene Betrachtung von Differenzierungsdynamiken erschließt. Funktionale Differenzierung konstituiert eine Arbeitsteiligkeit gesellschaftlicher Leistungsproduktionen, die einerseits durch hochgradige Spezialisierung eine enorme Qualitätsverbesserung der Leistungen bewirkt. Das gilt durchgängig von der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion über wirtschaftliche Güter und Dienstleistungen bis zu Gerichtsurteilen und Kunstwerken. Andererseits läuft die Art der Spezialisierung in Gestalt einer selbstreferentiellen Schließung der teilsystemischen Sinnhorizonte darauf hinaus, dass sich die Leistungsproduktionen gar nicht als solche verstehen, sondern zu einer Verselbständigung gegenüber den gesellschaftlichen Leistungsbedarfen neigen. Dies ist ein funktionaler Antagonismus: Die Leistungsproduktion ist hin- und hergerissen zwischen den Polen von Selbst- und Fremdreferentialität und darf im Sinne optimaler Qualität weder zu stark in die eine, noch zu stark in die andere Richtung gehen.24 Weder darf die selbstreferentielle Schließung in ein „bad closing" dergestalt übergehen, dass die „legitime Indifferenz" gegenüber den Erwartungen aus der gesellschaftlichen Umwelt in eine völlige Abschottung mündet - was hieße, den äußeren Ring fremdreferentieller Programmstrukturen gänzlich abzuschütteln und in eine „interventionsresistente Umweltinadäquanz" (Rosewitz/Schimank 1988) zu verfallen. Noch darf umgekehrt die Teilsystemautonomie durch übermächtige fremdreferentielle Einwirkungen im Sinne eines „bad opening" verlorengehen.24 Geschähen derartige „feindliche Übernahmen" (Schimank 2006) nicht bloß punktuell, sondern in größerem Maßstab, und bei mehr als einem Teilsystem, dann liefe das auf eine Erosion funktionaler Differenzierung hinaus. Anders gesagt: Die Vermeidungsimperative stellen gesellschaftliche Desintegration auf der einen, gesellschaftliche Überintegration auf der anderen Seite dar.“ [Und was passiert, wenn funktionale Differenzierung nicht funktioniert? Dann wird die Gesellschaft nicht zu einer undifferenzierten Einheit, vielmehr greifen die Akteure auf ältere Formen sozialer Differenzierung zurück!] 271f: „Das Inklusions-Spiel, das sich aus dem aufeinander bezogenen Handeln dieser - natürlich analytisch vereinfachten - vier Gruppen von Akteuren ergibt, läuft darauf hinaus, dass beide konkurrierenden Publikumsfraktionen jeweils Bündnispartner der

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entsprechenden Fraktionen der Leistungsproduzenten sind: Bessergestellte und „autonomer Pol" vs. Schlechtergestellte und „weltlicher Pol". Dabei sind die Publikumsfraktionen in ihren Interessen relativ festgelegt. Insbesondere die Schlechtergestellten brauchen ein „Massenangebot". Unter Teilen der Bessergestellten gibt es - entgegen den eigenen Interessen - eine mehr oder weniger starke Solidarmoral, also Offenheit für die Teilhabeinteressen der Schlechtergestellten, sowie auch die Einsicht in funktionale Erfordernisse der verstärkten Inklusion der Schlechtergestellten, etwa als Ausschöpfung von „Bildungsreserven"; aber im Zweifelsfall überwiegt das Interesse an eigener Privilegiensicherung. Die teilsystemischen Leistungsproduzenten haben einen größeren strategischen Bewegungsraum. Ihren beiden Fraktionen ist die Kehrseite der je eigenen Position durchaus deutlich. Wer die eigene Autonomie hochhält, kann sich eine schwindende gesellschaftliche Wichtigkeit der eigenen Leistungsproduktion und entsprechend begrenzte Ressourcenzuteilungen einhandeln. Die Kehrseite der Wachstumsstrategie über Anlocken neuen Publikums ist demgegenüber die Autonomiegefährdung durch Verwässerung des Leitwerts. Die Zugeständnisse der teilsystemischen Leistungsproduzenten - und das bedeutet: die teilsystemischen Autonomieeinbußen - können dabei soweit gehen, dass man z.B. von einer „Entsportung des Sports" (Gruppe 1988: 50) oder analog etwa mit Blick auf „Politainment" (Dörner 2003) von einer „Entpolitisierung der Politik" sprechen muss.“ Aber wird nicht umgekehrt ein Schuh daraus? Nicht Zugeständnisse ans Publikum gefährden die teilsystemische Autonomie, sondern die Defektionsbereitschaft der Leistungsträger die funktionssystemischen Beschränkungen der Konkurrenz zu unterlaufen (Korruption). Und umgekehrt sichert erst die Kontrolle der Akteure durch das Publikum auf den teilsystemischen Märkten und Öffentlichkeiten die Autonomie der Teilsysteme. Die konstitutive Funktion des Publikums für die Genese und Reproduktion funktionaler Differenzierung wird hier – ähnlich wie schon bei Luhmann – unterschätzt. Obwohl die Auffächerung der möglichen und wirklichen Konfliktdimensionen in funktionssystemischen Akteurskonstellationen für eine „differenzierungstheoretische Agenda“ (281f) durchaus noch ertragreich sein könnte, so ist doch an dieser Beobachtungsperspektive die Beschränkung auf Phänomene funktionaler Differenzierung (und innerhalb dieser Schranken die Unterschätzung des Publikumsbezugs) zu bemängeln. Die Konfliktkonstellation der Moderne müsste m.E. evolutionstheoretisch tiefer gelegt und als Konkurrenz der historisch evoluierten Differenzierungsformen („Konflikt der Kulturen“) rekonstruiert werden. 25 Kern – Differenzierung mit Publikum Soziale Netzwerkanalyse als Ausgangspunkt der Erklärung von sozialer Differenzierung. 285: „powerful framework for describing social differentiation in terms of relational patterns among actors in a system" (Burt 1982: 19) 285: „Trotz ihrer breiten Übereinstimmung hinsichtlich des Erkenntnisinteresses [ist das so?] ist die Netzwerkanalyse in der Differenzierungstheorie bisher kaum auf Resonanz gestoßen. Beide Diskursstränge verlaufen weitgehend getrennt nebeneinander. Die Diskussion in Deutschland konzentriert sich hauptsächlich auf die Systemtheorie, wobei es zumeist um die Frage geht, ob und inwiefern es sich bei sozialen Netzwerken um autopoietische Systeme handelt und worin ihre Besonderheit liegt (Teubner 1992; Tacke und Bommes 2006; Aderhold 2004; Holzer 2008).“ 287: „Die Einbindung der Gesellschaftsmitglieder in die Teilsysteme wird über die Publikumsrolle organisiert. Der Publikumsbegriff bezieht sich mithin auf den Personenkreis, der eine bestimmte Leistung aus den Teilsystemen erhält. Typische Beispiele sind Konsumenten (Wirtschaft), Fernsehzuschauer (Massenmedien) oder Gläubige (Religion). Der „Empfang teilsystemischer Leistungen vollzieht sich dabei nicht quasi automatisch oder passiv",


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sondern erfolgt zumeist „in Form einer aktiven Partizipation" (Burzan et al. 2008: 30). Da sich im Inklusionskonzept bereits andeutet, dass die Teilsysteme für ihre Leistungen stets Abnehmer brauchen, kommt dem Publikumsbegriff in der Theorie sozialer Differenzierung eine zentrale Bedeutung zu.“ Hier deutet sich eine wichtige Erweiterung der Theorie sozialer Differenzierung an, die über das hinausgeht, was innerhalb der Systemtheorie mit dem Inklusionskonzept gemeint ist: das Publikumsnetzwerk als innere Umwelt der funktionsssystemspezifischen Kollektivakteure (Leistungsorganisationen) ... 288: „Aus funktionalistischer Perspektive leistet das Publikum hauptsächlich drei Beiträge zur Reproduktion der modernen Gesellschaft: An erster Stelle steht die Integration der Teilsysteme, an zweiter die Bildung eines strukturellen Puffers zwischen den Teilsystemen und an dritter Stelle die Konstitution der Öffentlichkeit.“ M.E. laufen alle 3 Funktionen auf dasselbe hinaus: Stabilisierung der innergesellschaftlichen Umweltselektion da 1. und 2. durch Stabilisierung der Differenzen und 3. durch Konstitution einer Umwelt, die für die Akteure (handlungsinterventionierend) nicht erreichbar ist, weil die in ihr netzwerkartig eingebundenen Individuen in ihrer kommunikativen Einstellung (medientechnisch) auf Erlebenskomponenten reduziert sind – und gerade dadurch in ihren Handlungsentscheidungen kausal unabhängig Selektionsdruck ausüben. 290: „Die Autonomie der Teilsysteme ist dadurch gewahrt, dass sie ihre Umweltbeziehungen in hohem Maße selektiv gestalten; das heißt, in vielen Bereichen existieren spezifische verbindende und trennende Mechanismen, die als Puffer eine lawinenartige Ausbreitung von Störungen verhindern (Luhmann 2010: 355). In modernen Gesellschaften wird diese Pufferfunktion zwischen den Teilsystemen insbesondere durch das Publikum wahrgenommen. Der maßgebliche Mechanismus dafür liegt in der „eigentümlichen Kombination von Rollenerfordernissen und individueller Selbstbestimmung" (Luhmann 2010: 356): Die Individuen werden einerseits in die Teilsysteme einbezogen und erhalten die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Wenn es in einem Teilsystem der Gesellschaft jedoch zu plötzlichen Veränderungen oder Störungen kommt, hängt die Wirkung dieses Wandels davon ab, wie die Gesellschaftsmitglieder den Wandel jeweils individuell verarbeiten und - etwa in der Form von neuen Ansprüchen - an andere Teilsysteme weitergeben. Unter funktionalen Gesichtspunkten ist die individuelle Freiheit somit eine wesentliche Voraussetzung für die Trennung der verschiedenen Rollen eines Akteurs.25 Die Unabhängigkeit der Teilsysteme beruht damit in hohem Maße auf der Fähigkeit der Individuen, die unterschiedlichen Erwartungszusammenhänge der Teilsysteme, in denen sie sich jeden Tag bewegen, nicht nur auszubalancieren, sondern auch auseinanderzuhalten.“ Vielleicht kein Zufall, dass K. sich in dieser Argumentation auf einen Text von Luhmann (die posthum 2010 publizierte Politische Soziologie) stützen kann, der vor dem Ausschluß lebendiger Individuen aus der Systemtheorie stammt. 290f: „Ein dritter Funktionskreis des Publikums betrifft die Konstitution der Öffentlichkeit. Zeitgenössische Konzepte beschreiben die Öffentlichkeit als einen Raum, der beliebigen Personen offensteht und damit potenziell unbegrenzt ist. Die liberale politische Theorie spricht in diesem Sinne von einer „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute" (Habermas 1990: 86), die sich in den Anfängen der europäischen Moderne bei Tischgesellschaften oder in Kaffeehäusern und Salons zusammenfanden. In diesem Sinne lassen sich mit Ikegami Öffentlichkeiten aus netzwerkanalytischer Perspektive als „communicative sites that emerge at the points of connection among social and/or cognitive networks" (Ikegami 2005: 47-48) definieren. Mit anderen Worten: Öffent-

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lichkeiten verbinden Individuen und Gruppen aus unterschiedlichen sozialen Lebensverhältnissen und Kontexten. Auf der einfachsten Stufe bilden sich Öffentlichkeiten somit schon bei der Begegnung zwischen zwei Fremden (aus zwei sozialen Gruppen). [Ist der Ursprung nicht eher in den Versammlungen und rituellen Festen zu sehen?] Über die Massenmedien hat sich die Kommunikation mit der Zeit jedoch auf einen immer weiteren Kreis von Personen ausgedehnt, die mittlerweile ein Massenpublikum konstituieren. Während die liberale politische Theorie der Öffentlichkeit insbesondere bei der politischen Meinungsbildung eine wichtige Rolle zuschreibt, betont die Systemtheorie, dass sich das Phänomen keinesfalls auf die Sphäre des Politischen beschränkt (Luhmann 1992): Soweit Wirtschaft, Religion, Bildung etc. über ihr spezifisches Publikum verfügen, besteht in fast allen Teilsystemen die Grundlage für die Bildung einer jeweils eigenständigen Öffentlichkeit.25 293: „Obgleich die Wahrnehmung einer Publikumsrolle die aktive Partizipation des Individuums einschließt (Stichweh 1988), zeichnen vor diesem Hintergrund viele wirtschaftssoziologische Studien vom Konsumenten oft ein passives Bild (vgl. dazu kritisch: Hellmann 2010: 27-29). Zwar liegen mittlerweile Untersuchungen vor, etwa über den Prosumer (Blättel-Mink/Hellmann 2010), die dieses einseitige Bild korrigieren, darüber hinaus wird der aktiven und kreativen Partizipation des Publikums im Differenzierungsprozess - im Sinne eines Wechselspiels von role making und role taking - jedoch immer noch zu wenig Rechnung getragen.25 Die rein funktionale Analyse von Rollenstrukturen lässt darüber hinaus keine Schlüsse zu, wie sich die Mitwirkung des Publikums auf die Gestaltung von Rollenbeziehungen und damit auf den Verlauf von Differenzierungsprozessen auswirkt. Ebenso bleibt unklar, welche Faktoren für bestimmte strukturelle Ergebnisse ursächlich verantwortlich sind.“ 297: Öffentlichkeit ist somit kein statisches Gebilde, sondern eine dynamische Konfiguration von Akteuren, die sich in einem sozialen Raum bewegen, der durch eine „multiplicity of cultural structures, such as idioms, discourses, and narratives" (Emirbayer und Goodwin 1994: 1445) geprägt ist. Es genügt nicht, die Öffentlichkeit ausschließlich als Spiegel zu betrachten, in dem sich die Teilsysteme selbst beobachten. Vielmehr handelt es sich bei der Öffentlichkeit um ein Netzwerk aus schwachen Bindungen, von dem oft entscheidende Impulse für Innovation und Wandel in den Teilsystemen ausgehen. [genauer: Selektionsdruck!] Der Autor interessiert sich nur für die Veränderung von Rollen in Publikusmnetzwerken (i.S. sekundärer Leistungsrollen, die den primären Leitungsträgern Konkurrenz machen vgl. auch Stichweh). Er übersieht dabei die grundlegende konstitutive Funktion des Publikums, die in der eigentümlichen Doppelrolle zwischen (relativ ohnmächtiger) aktiver Partizipation des Einzelnen und (durchaus wirkmächtiger) Funktion in der passiv-erlebenden Rolle der Massenkommunikation angelegt ist. Sie kann erst im Rahmen einer evolutionstheoretischen Aufassung von sozialer Differenzierung (als innere Umweltselektion) angemessen interpretiert werden. 298: Trotz ihrer einflussreichen Position sind die Träger primärer Leistungsrollen nicht die einzige Triebkraft des sozialen Wandels. Das Überschreiten von viel bewanderten Pfaden - auf das kulturelles Improvisieren letztendlich hinausläuft (McLean 2007) - ist für einen Leistungsrollenträger oft mit erheblich höheren Kosten verbunden als für das Publikum. [Das ist ja gerade das Geheimnis der mächtigen Wirkung!] Gerade durch die zentrale Position im öffentlichen Raum, an den Schnittstellen und Übergängen zwischen den Teilsystemen wird das Publikum immer wieder zum Ausgangspunkt für Innovationen, die in ihren Wirkungen weit in die Teilsysteme hineinreichen können. Infolge der Artikulation sich wandelnder Interessen, bilden sich im Spannungsfeld unterschiedlichster Möglichkeiten und Erwartungen schließlich neue


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Leitbilder, auf deren Basis die Legitimität etablierter sozialer Rollen und Strukturen immer wieder infrage gestellt und kulturell verfestigte Grenzen aufgeweicht werden. Diese Einführung alternativer Praktiken und Bewertungsmaßstäbe untergräbt die Eindeutigkeit der etablierten Ordnung, was selten im Interesse der Inhaber etablierter Leistungsrollen ist. Entsprechend unterstützt diese Gruppe zumeist eher graduelle Veränderungen und ist darauf bedacht, das Monopol auf die Ausübung ihrer Leistungsrolle zu verteidigen (Rao und Giorgi 2006; Ahuja 2000; Lounsbury und Rao 2004; Fligstein 1996). 300: „Wie in diesem Beitrag deutlich wurde, bietet die Netzwerkanalyse mit dem Konzept der strukturellen Äquivalenz einen vielversprechenden Anknüpfungspunkt für die Untersuchung von neuen Rollenstrukturen in den sozialen Teilsystemen. Während der Mainstream der (zumeist funktionalistischen Variante der) Differenzierungstheorie noch immer davon ausgeht, dass Akteure fortwährend mit der Reduktion von Komplexität und Kontingenz beschäftigt sind, lässt sich aus netzwerkanalytischer Perspektive zeigen, dass Akteure in vielen Fällen Ambiguität und Ungewissheit in sozialen Beziehungen bewusst aufbauen und offenhalten, um bestimmte Zwecke zu realisieren. In diesem Sinne lässt sich das Konzept der sekundären Leistungsrolle als Teil eines Vorgangs interpretieren, in dessen Verlauf einzelne Gruppen innerhalb des Publikums ihre zunächst oft nur unspezifischen Interessen und Bedürfnisse artikulieren und in der Interaktion mit anderen Handelnden schließlich immer weiter klären. In diesem Prozess kommt nach Joas (1992) die Kreativität des menschlichen Handelns in besonderer Weise zum Tragen: Ambiguität und Vieldeutigkeit werden zuerst aufgebaut, um dann wieder schrittweise reduziert zu werden. Unter den jeweils gegebenen historischen, kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen können daraus innovative Problemlösungen hervorgehen, die als neue Rollenstrukturen in die sozialen Teilsysteme integriert werden. Das Publikum ist somit ein bedeutender Träger von sozialen Differenzierungsprozessen. Die Öffentlichkeit - verstanden als ein Netzwerk aus schwachen und relativ unbestimmten sozialen Beziehungen - erweist sich als ein beinahe unerschöpflicher Raum von Handlungs- und Erfindungsmöglichkeiten, der mit der Ausdifferenzierung der sozialen Teilsysteme immer größer wird.“ Aber ist es wirklich das Publikum selbst, das diese Varianzen erzeugt – oder ist es nicht eher an deren Selektion beteiligt? 26 Kroneberg – Demokratisierung mit rational choice 305: „Für die Modernisierungstheorie sind soziale Differenzierung und die Herausbildung demokratischer politischer Regime Bestandteile eines übergreifenden historischen Prozesses (Lipset 1981; Parsons 1967, 1972). Soziale Differenzierung als Prozess meint dabei die zunehmende Etablierung spezifischer Geltungskontexte für bestimmte Werte und Oberziele, in deren Folge sich unter anderem Religion, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft als relativ autonome Handlungsbereiche herausgebildet haben (Bachmann 2009; Lepsius 1997; Schwinn 2001).26 Für politisches Handeln bedeutet dies, dass eine ausschließliche Orientierung an der Gewinnung politischer Macht und der Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen legitim wird, die Berücksichtigung ökonomischer, religiöser oder anderer Gesichtspunkte dagegen als Eigenwert inakzeptabel und politisch begründungsbedürftig erscheint. Ein derart autonomes politisches Handeln ist jedoch auch außerhalb demokratischer Regime prinzipiell möglich und wurde auch ideengeschichtlich zunächst in Bezug auf das Handeln monarchistischer Herrscher ausgearbeitet (Hobbes 1651; Machiavelli 2001 [1532]). Weshalb sollte man also einen kausalgenetischen Zusammenhang zwischen sozialer Differenzierung und Demokratisierung annehmen? Die systemtheoretischen Antworten auf diese Frage vermögen nicht zu überzeugen, da sie funktionalistisch argumentieren (allgemein Joas 1992: 306ff.; Kern 2007). Danach stellen komplexe ausdifferenzierte Gesellschaften erhöhte Anforderungen an politische Steuerung und die

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Legitimation politischer Macht, denen demokratische Regime eher begegnen können als Autokratien (Luhmann 1974, 1987; Parsons 1967, 1972). Der funktionale Bedarf erklärt freilich nicht das Zustandekommen einer Demokratisierung. [Das macht funktionalistische Erklärungen doch nicht generell wertlos, sondern nur ergänzungsbedürftig durch historisch-genetische Erklärungen! In der Biologie gibt es dafür die Unterscheidung zwischen ultimaten und proximaten Funktionen.] Die pauschale Ablehnung funktionalistischer Erklärungen wird dem Stand der Diskussion (zur Vermeidung funktionalistischer Fehlschlüsse) – insbesondere auch in der biologischen Evolutionstheorie – nicht gerecht. Wenn soziale Differenzierung erklärt werden soll, dann ist es nicht zwingend, nur nach konkreten historischen Konflikten zu fahnden, die zur Ausdifferenzierung von Handlungs- und Wertsphären geführt haben, sondern dann kann auch generalisierend (und die konkrete Forschung anleitend) nach der Funktion gefragt werden, die Formen sozialer Differenzierung in der Reproduktion menschlicher Gesellschaften haben. 306: „Um Licht ins Dunkle des von der Modernisierungstheorie behaupteten Zusammenhangs zwischen sozialer Differenzierung und Demokratisierung zu bringen, bedarf es einer Rekonstruktion der zugrunde liegenden sozialen Mechanismen im Rahmen des Makro-Mikro-Makro-Modells soziologischer Erklärungen. Das heißt, es muss gezeigt werden, auf welche Weise ein größeres Niveau an sozialer Differenzierung die fur den Demokratisierungsprozess relevanten Akteure, ihr Handeln und handelndes Zusammenwirken beeinflusst. Um diese Zusammenhänge in hinreichender Abstraktion und Präzision herauszuarbeiten (Hedström und Swedberg 1998: 24f.) werden spieltheoretische Modelle betrachtet, die in der Transitionsforschung entwickelt worden sind.“ Wenn soziale Differenzierung (funktional!) als ein Mechanismus der innergesellschaftlichhen Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten verstanden wird, dann ist Demokratisierung – als zivilisatorische Errungenschaft eines unblutig regulierten und diesseitig legitimierten Machtwechsels – die Ausformung dieses Mechanismus in der Sphäre der Politik. Erst unter dieser Prämisse können auch die vom Autor angeführten (spieltheoretisch modellierten) Hinweise auf spezifische Konfliktkonstellationen den modernisierungstheoretisch behaupteten Zusammenhang zwischen sozialer Differenzierung und Demokratisierung handlungstheoretischgenetisch aufhellen. Am Ende wird deutlich, dass Kronebergs Beitrag eher die handlungstheoretische Substitutierbarkeit als einen Bedarf zur handlungstheoretischen Ergänzung der systemtheoretischen Version demonstrieren soll: 326f: „Häufig bilden also sozialstrukturelle Veränderungen das kausale Bindeglied zwischen der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme und der strategischen Interaktion der Akteure in der Liberalisierungs- und Transitionsphase (siehe bereits Rössel 2000). Durch den Prozess gesellschaftlicher Differenzierung konstituieren sich sozialstrukturelle Gruppen wie die Arbeiterklasse oder die Mittelschicht, denen eine zentrale Bedeutung für den Demokratisierungsprozess zukommt (Schwinn 2001: 390ff., siehe auch den Beitrag von Schwinn in diesem Band). Tendenziell demokratiefeindliche Gruppen, wie die der Großgrundbesitzer oder die autoritäre Herrschaftselite selbst, werden dagegen ökonomisch geschwächt bzw. verlieren ihre interne Geschlossenheit. Dem Etikett nach strukturalistische Ansätze, wie der klassentheoretische Ansatz von Rueschemeyer und Kollegen (1992), lassen sich also problemlos in die Gesamtargumentation integrieren. All dies geschieht im Rahmen des methodologischen Individualismus. Dieser expliziert die handlungstheoretischen Annahmen, die in strukturalistischen Ansätzen implizit ebenfalls zu Grunde gelegt werden müssen, will man nicht nur die „Nachfrage" nach Demokratie, sondern auch ihr „Angebot" erklären (Berger 1999: 153f.). Ein eigenständiger Beitrag der Systemtheorie zur kausalgenetischen Erklärung von Demokratisierungsprozessen ist nicht erkennbar: Deren vornehmlich funktionalistischen Argumente sind entweder unhaltbar oder sie lassen sich handlungstheoretisch


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übersetzen, indem man die Funktionalität einer Demokratisierung nicht als objektive Aussage, sondern als Interessenartikulation teilsystemischer Trägerschichten rekonstruiert (Joas 1992: 331; Kern 2007). Es besteht somit kein Grund, für einen Eklektizismus verschiedener „soziologischer Großtheorien" in der Transitionsforschung zu plädieren (vgl. Merkel 1996: 32Iff). Zwar bestehen unterschiedliche inhaltliche Analyseschwerpunkte, wie etwa die zwischen klassen- und spieltheoretischen Arbeiten, diese sind jedoch nicht als meta-theoretische Differenzen aufzufassen.“ 27 Kusche – Differenzierung mit Klientelismus Wie kann die systemtheoretische Differenzierungstheorie mit Phänomenen (wie Klientelismus) umgehen, die auf den ersten Blick im Widerspruch zu den Grenzmarkierungen moderner Funktionssysteme stehen? 331f: „Klientelismus erscheint ... zum einen in der Kontinuität mit vormodernen Strukturen oder als spezifisches Problem des Übergangs zur Moderne, zum anderen dagegen als Bedingung wie Instrument von Politik und damit selbst als modern. In den 1960er und 1970er Jahren überwog in der Literatur zum Thema Klientelismus die erste Sichtweise, während heute die zweite dominiert und politischer Klientelismus nicht mehr als Relikt traditionaler Gesellschaft begriffen wird (vgl. Roniger 2004). Damit stellt sich aber die Frage, wie der Umstand, dass politischer Klientelismus selbst in Staaten wie den USA, Japan, Italien oder Griechenland vorkommt, theoretisch vereinbar ist mit der Vorstellung von einem eigenständigen, auf Politik spezialisierten Bereich der Gesellschaft, von dem man mit Bezug auf diese, wie andere Staaten wie selbstverständlich spricht.“ 332: „Daher ist in einem nächsten Schritt zu untersuchen, ob Klientelismus auch die horizontale Ausdifferenzierung eines spezifisch politischen Funktionsbereichs ermöglicht. Dazu bietet sich der Rückgriff auf die soziologische Systemtheorie an, die moderne Gesellschaft mit deren funktionaler Differenzierung in Zusammenhang bringt, also gerade mit der Differenzierung politischer Sinnbezüge (im Rahmen der Theorie: Kommunikationen) gegenüber anderen. Allerdings hat die Systemtheorie das Thema Klientelismus bislang weitgehend ignoriert.“ 339: „Die Beschreibung von politischem Klientelismus als rationale Austauschbeziehung untergräbt Versuche, Politik mittels normativer Kriterien, d.h. Erwartungen an eine autonome politische Handlungssphäre, die durch universalistisches, gemeinwohlorientiertes Handeln bestimmt wäre, von anderen gesellschaftlichen Bereichen abzugrenzen. Andere Mechanismen der Abgrenzung erörtert die Klientelismusforschung nicht. Sie kann Politik nur mit dem Modell der Hierarchie erfassen und auf dieser Basis diffuse klientelistische Verpflichtungen und Klientelismus mit spezifisch politischen Sinnbezügen theoretisch nicht klar voneinander unterscheiden.“ 340: „Für die Systemtheorie kommt es ... in erster Linie darauf an, dass die durch Parteien ermöglichte Codierung von Kommunikation anhand der Unterscheidung Regierung/Opposition Macht klar als politische Macht erkennbar macht. Neben der Codierung ist dafür der Bezug auf eine spezifische Funktion des Politischen entscheidend. Diese Funktion liegt im „Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden" (Luhmann 2000: 84). Die Funktion politischer Herrschaft als solche ist nicht an die funktionale Differenzierung als primäre Differenzierungsform der Gesellschaft gebunden. Sie erscheint in primär stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften als Problem der Beherrschung eines Territoriums und, damit zusammenhängend, als Problem des Umgangs mit der Differenz zwischen einem Zentrum politischer Macht und einer Peripherie (vgl. Luhmann 1989a: 67ff). Das Problem ist eines der Rivalität zwischen Herrscher und einer (relativ geringen) Anzahl

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potentieller Konkurrenten, die nach Kriterien der Verwandtschaft möglicherweise die Herrschaft streitig machen und in der Peripherie eigene Machtbasen entwickeln könnten. Die Beobachtung dieser möglichen Rivalen und ihrer Interessen ist für den Machterhalt des Herrschers entscheidend; sie hat damit gleichzeitig den Effekt, den Handlungsspielraum des Herrschers zu beschränken. Es ist diese, auf Stratifikation beruhende Rivalität, die mit der Ausdifferenzierung des politischen Systems in das politische System selbst verlagert und schließlich in die Form der Differenz von Regierung und Opposition gebracht wird (vgl. Luhmann 1989a: 136). Und es ist diese Umstellung, die der Klientelismusforschung entgeht, weil sie sich auf hierarchische Differenzierung konzentriert.“ Erst im Fazit nimmt die Autorin – und auch nur andeutungsweise und z.T rätselhaft - zu handlungstheoretischen Alternativen Stellung: 344: „ ,Klientelismus' bezeichnet eine bestimmte Erwartungsstruktur, die sich anhand des Modells der Patron-Klienten-Dyade charakterisieren lässt und in unterschiedlichen Kontexten auftreten kann. Es handelt sich um Erwartungen, die gleichzeitig mit Machtasymmetrie und wechselseitiger Abhängigkeit rechnen und insofern mit Hierarchie. Sofern derartige Erwartungen weit verbreitet und damit institutionalisiert sind, lösen sie sich von konkreten Personen ab und werden zu Rollenerwartungen, die sich z.B. auf Politiker im Verhältnis zu Wählern beziehen können, aber auch auf Landbesitzer im Verhältnis zu Bauern. Da sich diese Art von Erwartungen an unterschiedliche Rollen heften kann, geben Rollenkonzepte, die auch handlungstheoretisch konzipierbar sind, nicht ausreichend Auskunft, wenn es um die Frage geht, was politischen Klientelismus ausmacht. Soll die Ausdifferenzierung von Politik nicht als allmähliche Verwirklichung und Vervollkommnung von Wesensmerkmalen des Politischen verstanden werden, deren Auftauchen in Rollenerwartungen dann als Gradmesser für Ausdifferenzierung dienen könnte, bleibt nur, sie als Herausbildung eines Bereichs spezifischer Sinnorientierungen zu begreifen, ohne dabei bestimmte Sinngehalte vorauszusetzen. [Das ist rätselhaft formuliert!] Die Systemtheorie geht davon aus, dass eine derartige politische Sinnorientierung stattdessen zwei Anhaltspunkte findet, die Limitation und inhaltliche Offenheit miteinander verbinden: eine spezifische Funktion des Politischen sowie die Orientierung an einem binären Code (vgl. Luhmann 2000: 81). Die Codierung Regierung/Opposition und die Funktion, die Kapazität für kollektiv verbindliches Entscheiden bereitzuhalten, sind nicht nur mit politischen Programmen, sondern auch mit klientelistischen Erwartungsstrukturen kompatibel. In beiden Fällen spielt hierarchische Differenzierung eine Rolle - im klientelistischen Fall erkennbar an der hierarchischen Gestalt der ausgedehnten Machtpyramiden, die so genannte Parteimaschinen ausmachen, im zweiten Fall in Form von Parteiämtern, mit deren Kompetenzen die Möglichkeit einhergeht zu beeinflussen, welche Themen und welche Entscheidungsoptionen in parteiinternen Abstimmungen zum Zuge kommen. In beiden Fällen ergibt sich die Relevanz der hierarchischen Differenzierung jedoch erst, wenn man sie im Kontext der Unterscheidung Regierung/Opposition begreift. [Kompatibilität von Klientelismus und funktionaler Differenzierung ist ein eher mageres Resultat!] 28 Verweis auf entsprechende Ausführungen im folgenden Abschnitt über soziale Ungleichheit. 29 Greve – mit Rekurs auf Parsons Wichtige Korrektur an der von Schwinn, Schimank u.a. (mit je verschiedenen Konsequenzen: bei Schimank kombinatorisch, bei Schwinn handlungstheoretisch reformuliert) vertretenen Auffassung, wonach es es sich bei Differenzierungs- und Ungleichheitstheorien um inkompatible (weil einerseits nur mit Systembezug, andererseits nur mit Akteursbezug operierende) Perspektiven handle.


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351: „Es ist nun leicht zu sehen, worin die „Gefahr" einer Annahme der Eigenständigkeit von Differenzierung und Ungleichheit als Strukturprinzipien der modernen Gesellschaft besteht, nämlich darin, dass sie zu der problematischen grundbegrifflichen Annahme führt, die moderne Gesellschaft lasse sich nicht allein entlang der Beziehungen von Akteursgruppen beschreiben, sondern müsse eine davon unabhängige Strukturierung durch autonome Teilsysteme berücksichtigen. Bei Schimank ist diese Paradigmenintegration Programm (Schimank 2005), bei Schwinn finden wir hingegen eine strikt handlungstheoretische Position (Schwinn 2001). Aus dieser Sicht scheint es mir aber zwingend, die theoretischen Grundentscheidungen von der Zeitdiagnose klar zu trennen. Die vorstehenden Überlegungen lassen sich in drei Thesen zusammenfassen: Erstens sind Differenzierung und Ungleichheit nicht zwei verschiedene Theorieperspektiven, sondern eine angemessene Differenzierungstheorie wird Gleichheit und Ungleichheit als Prinzipien sozialer Differenzierung beschreiben. Man wird hier bestenfalls von einer analytischen Unterscheidung zweier Beschreibungsperspektiven sprechen können, da zweitens gilt, dass die Differenzierung zwischen Teilsystemen und die Differenzierung zwischen Akteursgruppen Beschreibungen eines Handlungszusammenhangs darstellen.29 Drittens ist die These vom Primat der Gleichheit/Ungleichheit eine empirische Frage danach, in welcher Weise sich die Relationen zwischen Akteuren ändern.“ G. zeigt, dass eine solche Integration der Perspektiven auf Differenzen zwischen Akteurseinheiten und Teisystemen bei Parsons noch angelegt war und erst in der Luhmannschen Version von Systemtheorie aufgelöst wurde (also jene Version von D.theorie, die dann zum Ausgangspunkt des Streits über handlungstheoretische Alternativen wurde). Zur Luhmannschen Theorievariante mit Ungleichheit als Exklusion: 354: „Luhmann führt den Begriff der Exklusion bekanntlich nach einem Besuch brasilianischer Favelas in die Theorie ein (Luhmann 2005). Exklusion bezeichnet den Ausschluss aus sozialen Systemen (zur Übersicht und Diskussion des Konzeptes vgl. u.a. Farzin 2006; Göbel/Schmidt 1998; Stichweh 2005). Diese lässt sich auf die verschiedenen Systemreferenzen beziehen: Interaktionen, Organisationen und Gesellschaft, letzteres unter Einbeziehung der Funktionssysteme.29 Schließlich lässt sich noch der Fall einer Exklusionsindividualität unterscheiden, womit gemeint ist, dass Individuen in der modernen Gesellschaft nie vollständig in bestimmte soziale Systeme inkludiert sind, sondern immer nur punktuell oder ausschnitthaft. Während das Vorliegen von Exklusionen im Hinblick auf Interaktionen und Organisationen unvermeidlich ist und den Normalfall darstellt, da niemand in alle Interaktionen und Organisationen integriert ist, stellt sich dies für die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft anders dar. War Luhmann in seinen früheren Arbeiten davon ausgegangen, dass moderne Gesellschaften dadurch gekennzeichnet sind, dass die Funktionssysteme kein Exklusionsmotiv kennen, sondern auf Vollinklusion angelegt sind (Luhmann 1965; Luhmann 1981), ändert sich diese Einschätzung gravierend. Zwar bleibe die Selbstbeschreibung der Gesellschaft weiterhin auf Inklusion bezogen, die Realität weiche aber in gravierendem Maß davon ab: „Denn funktionale Differenzierung kann, anders als die Selbstbeschreibung der Systeme es behauptet, die postulierte Vollinklusion nicht realisieren. Funktionssysteme schließen, wenn sie rational operieren, Personen aus oder marginalisieren sie so stark, daß dies Konsequenzen hat für den Zugang zu anderen Funktionssystemen." (Luhmann 1995: 148; vgl. auch Luhmann 1997: 169)“ [Hier fehlt aber die Unterscheidung zwischen Inklusion in Leistungsrollen, die immer exklusiv bleiben, und in Publikumsrollen!] 355: „... So ist zu fragen, ob die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion überhaupt mit Ungleichheit zusammenhängt. Zunächst ist die Unterscheidung anders gebaut, denn Luhmann geht von einer strikten Dichotomie aus, wohingegen Ungleichheit in der Regel gradualisiert ist. Auch muss man sehen, dass Exklusionen

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dort, wo sie auf Interaktion und Organisation bezogen sind, nicht unmittelbar Fragen der Ungleichheit berühren. Zugleich bezeichnet aber ein Ausschluss aus bestimmten Funktionssystemen (wenn auch nicht aus allen, wie der Kunst, der Religion etc.) sicherlich einen gravierenden Fall sozialer Ungleichheit (zu dieser Signalwirkung des Begriffs und die Nähe zu verwandten Konzepten wie Armut, vgl. auch Leisering 2004). ... Eine weitere Frage lautet, unter welchen Bedingungen Exklusionen wahrscheinlich werden. Führt man Exklusionen auf die Eigenrationalität der Funktionssysteme zurück, so müssten Exklusionen in besonderem Maße dort auftreten, wo funktionale Differenzierung deutlicher durchgesetzt ist. Da es aber kaum plausibel ist, davon auszugehen, dass Exklusionen beispielsweise in Brasilien auf den höheren Grad an funktionaler Differenzierung zurückzuführen sind, müssten die Fälle unterschieden werden, in denen Exklusionen auf funktionale Differenzierung zurückzuführen sind, von solchen, in denen es die fehlende funktionale Differenzierung ist, die den Charakter der Exklusion bestimmt (Greve 2004).“ 30 Rössel – mit Ressourcenkonzept In diesem Beitrag werden die Konzepte sozialer Ungleichheit und sozialer Differenzierung zunächst so nebeneinander stehend behandelt, wie dies im Beitrag von Greve (gegen Schimank und Schwinn) kritisiert wurde. 378: „Dabei wird als theoretischer Ausgangspunkt die Machtressourcentheorie als eine empirisch vielfach geprüfte, makrosoziologische Theorie herangezogen werden, die sich zudem auf austauschtheoretische Mikroannahmen stützt. Diese kann produktiv mit der Differenzierungskonzeption verknüpft werden, so dass die Formulierung empirisch prüfbarer Generalisierungen in Hypothesenform möglich wird. Da im Zentrum der Machtressourcentheorie das Konzept der Ressource steht, das auch zentral für den Begriff der sozialen Ungleichheit ist, kann auf diese Weise eine Verbindung von Differenzierungskonzeption und Ungleichheitsbegriff hergestellt werden. Auf dieser Grundlage soll erstens gezeigt werden, dass - im Gegensatz zu Luhmanns These - das Verhalten von Akteuren in Interaktionssituationen keinesfalls ausschließlich durch den Bezug auf Funktionssysteme erklärt werden kann, sondern immer auch durch die Struktur sozialer Ungleichheit determiniert ist. Zweitens soll darüber hinaus verdeutlicht werden, dass die sinnhaften Orientierungen und Institutionen, die für spezifische gesellschaftliche Bereiche zentral sind, selbst durch die Struktur sozialer Ungleichheit geprägt sind.30 Die vorgeschlagene Verbindung des Differenzierungskonzepts mit dem Ungleichheitskonzept ist auch mit erheblichen Gewinnen für die Differenzierungstheorie selbst verbunden. Betrachtet man nämlich den umfangreichen Diskurs über soziale (funktionale, gesellschaftliche, etc.) Differenzierung in den Sozialwissenschaften, so fallen dem Leser zwei Merkmale besonders ins Auge. Erstens die Tatsache, dass häufig der Fokus fast ausschließlich auf der Definition und Redefinition von Grundbegriffen liegt (vgl. als Beispiel Nassehi 2004), dagegen nur in Ausnahmefällen generalisierte theoretische Aussagen über die Ursachen der Entstehung und die zeitliche und räumliche Variation von sozialer Differenzierung gemacht werden. Zweitens ist auch augenfällig, dass über zeitdiagnostische Arbeiten und Fallstudien hinaus kaum empirische Forschung vorliegt, die sich systematisch am Differenzierungskonzept orientiert, was auch das Fehlen von theoretischen Generalisierungen erklären mag.“ [Ich verstehe nicht, was hier mit theoretischen Generalisierungen gemeint ist.] Hier wäre also der Frage nachzugehen, inwieweit „das Konzept der Ressource“ über Ressourcenkonflikte eine evolutionstheoretische Perspektive eröffnet. Die folgende Zusammenfassung zeigt aber, dass das an sich vielversprechende Ressourcenkonzept hier nicht historisch-evolutionstheoretisch angelegt, sondern nur in der empirisch vergleichenden Betrachtung von „ausdifferenzierten ge-


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sellschaftlichen Bereichen“ der modernen Gesellschaft zur Anwendung kommt. 386: „Zusammenfassend betrachtend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Ressourcenbegriff sich für eine theoretische Verknüpfung zwischen AGBs, die Ressourcen benötigen, verteilen, produzieren und kontrollieren einerseits und sozialer Ungleichheit als sozial bedingter Verteilung von Ressourcen über Bevölkerungen andererseits ausgezeichnet eignet. Auf dieser Basis kann nicht nur die Entstehung von sozialer Ungleichheit aus dem Funktionieren der ausdifferenzierten gesellschaftlichen Bereiche analysiert werden, sondern es können auch empirisch prüfbare Hypothesen über die Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und deren Wandel formuliert werden.“ Die Argumentation ist allerdings mehr darauf focussiert, die Annahmen der Theorie funktionaler Differenzierung empirisch zu widerlegen, als durch handlungs- und konflikttheoretische Reformulierung Spielraum für andere Beschreibungen der modernen Gesellschaft (fortdauernde Konkurrenz mit älteren Differenzierungsmustern) zu gewinnen: 388: „Die vorstehenden Ausführungen verdeutlichen, dass man von einer Interdependenzunterbrechung zwischen den Funktionssystemen einer Gesellschaft kaum sprechen kann. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Besetzung von Positionen in den Funktionssystemen schon die Relevanz der sozialen Ungleichheit für das Operieren der Systeme selbst demonstriert. Diese Frage möchte ich an dieser Stelle aufgreifen und dafür argumentieren, dass die sozial bedingte Verteilung von zentralen Ressourcen in der Gesellschaft, also die Struktur sozialer Ungleichheit, relevant für das Funktionieren der verschiedenen AGBs ist. Dazu sollen zwei Punkte betrachtet werden: erstens soll die Bedeutung der Ressourcenausstattung von Personen für ihre Behandlung als Publikumsrollenträger der verschiedenen Bereiche betrachtet werden, zweitens soll die Zentralität der Ressourcenausstattung und damit der Position in der Ungleichheitsstruktur für das Verhalten von Leistungsrollenträgern betrachtet werden.“ Die Unterscheidung zwischen Publikums- und Leistungsrollen bietet zweifellos einen starken Ansatz für eine handlungstheoretische Reformulierung der Differenzierungstheorie. (s. dazu auch den Beitrag von Kern). Dieser Ansatz wird jedoch m.E. von Rössel kaum genutzt, weil er seine Hypothesen fast ausschließlich auf der (ungleichen) Ressourcenausstattung der Leistungsrollen stützt und Publikumsrollen nur unter dem Aspekt einbezieht, inwieweit sie durch Ressourcenausstattung in ungleichem Maße an Leistungen partizipieren. Der innergesellschaftliche Selektionsdruck, der vom Publikum der Funktionssysteme auf die leistungserbringenden Akteure ausgeübt wird, kommt auf diese Weise überhaupt nicht in den Blick. 392: „Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in diesem Abschnitt auf der Basis von einigen theoretischen Überlegungen und dokumentiert durch empirische Beispiele, plausi- bilisiert werden konnte, dass eine Prägung des Verhaltens von Akteuren in den jeweiligen AGBs durch ihre eigene Position in der Struktur der sozialen Ungleichheit wie auch durch die Position ihres Gegenübers auf der Seite des Publikums zu erwarten ist. Die Hypothesen H3 bis H9 sprechen dafür, dass in den gesellschaftlichen Bereichen, auch unter Bedingungen funktionaler Differenzierung, die Sachlogik der Teilbereiche durch eine soziale Logik der sozialen Ungleichheit immer wieder uminterpretiert und durchbrochen wird. Im Gegensatz zu Luhmanns These, die in der Einleitung zitiert wurde, dürfte für die kausale Erklärung des Verhaltens in konkreten Interaktionssituationen keinesfalls nur die Funktionssystemzugehörigkeit, sondern durchgängig auch die Ressourcenausstattung von Personen und damit die Struktur der sozialen Ungleichheit relevant sein (vgl. Rössel 2009a, Rössel/Bromberger 2009 für empirische Belege).“

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. 392: „Bisher wurde gezeigt, dass davon auszugehen ist, dass sich Akteure in ihrem Verhalten in den jeweiligen AGBs nicht ausschließlich an deren kulturellen Leitideen orientieren, sondern diese in vielfacher Weise durch ihre Position in der Struktur der sozialen Ungleichheit gebrochen uminterpretieren, umgehen und brechen. Dies ist aber nicht der einzige Mechanismus über den soziale Ungleichheit für das Funktionieren von AGBs relevant wird. Diese sind ja einerseits durch die Orientierung an spezifischen kulturellen Leitwerten und Ideen gekennzeichnet, andererseits aber durch interdependente Organisationen und individuelle Akteure, die sich in ihrem Verhalten zumeist nicht direkt an diesen Leitwerten orientieren, sondern an Institutionen. Darunter sollen hier Regeln des Handelns verstanden werden, die erstens in der relevanten Bevölkerung zumeist bekannt und zweitens durch Sanktionen gestützt sind (Knight 1992). Die Bildung von spezifischen Institutionen ist einerseits abhängig von den jeweiligen kulturellen Leitideen, andererseits aber vom interessengeleiteten Handeln von individuellen und kollektiven Akteuren. Knight (1992) hat in einer brillanten Analyse gezeigt, dass interessengeleitete, rationale Akteure Institutionen nicht allein deshalb herstellen, weil damit ein öffentliches Gut geschaffen wird. So werden bestimmte Eigentumsrechte nicht deshalb institutionalisiert, weil damit für alle Personen eine pareto-superiore Situation geschaffen werden kann. Hier handelt es sich offensichtlich um ein klassisches Kollektivgutproblem, bei dem kein Akteur auch nur einen Finger krumm machen würde, um das Kollektivgut herzustellen. Akteure werden nur dann zur Schaffung von Institutionen bereit sein, wenn diese Institutionen ihnen spezifische, selektive Anreize bieten. Das bedeutet aber in der Regel, dass die konstruierten Institutionen eine Umverteilungswirkung zugunsten einer Gruppe von Akteuren haben müssen. Die spezifische Ausgestaltung der Umverteilung wird von den Interessen der beteiligten Akteure und ihrer jeweiligen Machtposition abhängig sein (Coleman 1991a). In der Machtressourcentheorie wurde dieses Theorem zumeist auf Klassenbeziehungen bezogen (Korpi 1985). Dieser Fokus ist eine, für die Zwecke dieses Aufsatzes, durchaus sinnvolle Eingrenzung. Erstens ist damit die Perspektive allein auf Mobilisierungsprozesse gerichtet, die die Struktur sozialer Ungleichheit als Grundlage haben. Zweitens sind damit aber auch empirisch besonders wichtige Mobilisierungsprozesse berücksichtigt, da Klassenkonflikte auch in der Gegenwart eine besonders herausgehobene Rolle spielen.30“ Warum wird hier immer nur systeminterne Umverteilung betrachtet? Es könnte sich doch auch um den Verteilungseffekt zwischen zwei konkurrierenden Gruppen mit je eigenem Sozialsystem handeln, den die Gruppe mit dem institutionell besser ausgestatteten System zu ihren Gunsten entscheidet! Damit entfällt aber das Argument, dass Institutionen (wie soziale Differenzierung) nur dann entstehen können, wenn sie einen Umverteilungseffekt zugunsten einer partikularen Akteursgruppe haben. 31 Schwinn - globale Ungleichheiten beklagt fehlende Theoriebildung bezüglich sozialer Ungleichheit auf globaler Ebene, sieht aber kein methodologisches Problem, die bisher für nationale Kontexte entwickelten Konzepte der Ungleichheitsforschung auf die globale Ebene zu übertragen. 399f: „Ich sehe für das Thema Globalisierung sozialer Ungleichheit theoretisch-konzeptionellen, aber keinen methodologischen Reflexionsbedarf. Viele der begrifflichen Instrumente und Theoreme der bisherigen Ungleichheitsforschung verlieren nicht ihre Bedeutung, sie müssen nur konsequent auf das Globalisierungsthema angewendet und an dieses konzeptionell angepasst werden. Das tun die bisherigen Ungleichheitsforscher nicht ausreichend und zufriedenstellend. Und auf der anderen Seite sind jene, die sich vom Etikett des „methodologischen Globalismus" beeindrucken lassen, zu sehr mit der Suche nach Neuem beschäftigt und sehen nicht, welchen reichhaltigen analytischen Werkzeugkasten die traditionelle Ungleichheitssoziologie bereithält.


„Soziale Differenzierung“ – Rezension für Soziologische Revue Heft 3 Juli 2012

Das Fehlen geeigneter theoretischer Konzepte für globale Ungleichheitsverhältnisse wird von verschiedener Seite beklagt (Breen/Rottmann 1998; Beck/Grande 2004: 258ff; Kreckel 2004: 322; Müller 2004: 39, Greve 2010). Unterschiedliche Phänomene werden unter dem Stichwort „globale soziale Ungleichheit" thematisiert: 1. Die Ungleichgewichte zwischen größeren Regionen, etwa zwischen West- und Osteuropa oder die zwischen der nördlichen und südlichen Hemisphäre; 2. Die Auswirkungen der Globalisierung auf binnennationale Sozialstrukturen und den Wohlfahrtsstaat; 3. Transnationale Ungleichheiten quer zu Nationen und Regionen. Es sind also internationale, intranationale und transnationale Ausprägungen globaler sozialer Ungleichheit zu unterscheiden. Räumliche und soziale Mobilität sind dabei nicht das Gleiche. Während Migranten oder professionelle Berufsgruppen sich physisch bewegen, können primär national verortete Klassen und Schichten durch transnationale Effekte in ihrer sozialen Lage und in ihren Lebenschancen herausgefordert werden, ohne sich räumlich zu bewegen.“ Was S. aber nicht in den Blick kommt, ist der Umstand, dass auf der globalen Ebene ein zentraler Mechanismus der Konfliktverarbeitung (wg. ungleicher Ressourcenverteilung) – nämlich die Verlagerung auf die Ebene konkurrierender Sozialsysteme – nicht mehr zur Verfügung steht. 401: „In dieser Situation lohnt es sich, nach Anschlussmöglichkeiten an die Differenzierungstheorie zu suchen (Schwinn 2007; Schwinn 2008). Diese hat den Vorteil, mit der Globalisierungsthematik relativ gut zurechtzukommen und damit der Ungleichheitsdiskussion die erforderlichen konzeptionellen Hilfestellungen zu bieten, die diese aus eigenen Bordmitteln nicht zu bestreiten vermag. Zum Verhältnis von Differenzierungs- und Ungleichheitstheorie zunächst einige allgemeine Ausführungen. Die Differenzierung verschiedener Ordnungen in der modernen Gesellschaft wirkt an der Bildung sozialstrukturell relevanter Gruppen mit. Arbeiterklasse, Bürgertum, Angestellte, Frauen, Ethnien sind allesamt soziale Bezugsgrößen, die durch institutionelle Differenzierungen gefördert wurden und die zwischen ihren Angehörigen spezifische, institutionenbezogene, gemeinsame Merkmale etablieren (Esser 1988; Elwert 1989; Giegel 1992: 100; Lepsius 1993: 189ff; Schwinn 2001).“ Dieses Verfahren impliziert, dass ähnlich wie in der systemtheoretischen Version auf Differenzierung nicht als explanandum sondern nur noch als explanans Bezug genommen wird! Die Stärke dieses Beitrags liegt m.E. weniger darin, dass er ein Konzept zur Intergation von Ungleichheits- und Differenzierungstheorie enthält, als vielmehr darin, dass er deutlich macht, dass für das Funktionieren funktionaler Differenzierung auf globaler Ebene wesentliche institutionelle Voraussetzungen (Gewaltmonopol, Rechtsmonopol u.a.) fehlen – weshalb auf globaler Ebene wohl eher von einer Konkurrenz funktionaler Differenzierung mit älteren Differenzierungsformen gesprochen werden muß. Dies wird besonders deutlich in der schwachen Bedeutung meritokratischer Strukturen und der starken Bedeutung sozialer Netzwerke auf globaler Ebene. 410: „Festzustellen ist, dass den sich globalisierenden Teilsystemen keine lebensweltlich bedeutsamen transnationalen Wahrnehmungs- und Vergleichshorizonte für soziale Ungleichheit nachwachsen oder korrespondieren. Das ist auch nicht für Europa der Fall (Bach 2009). Die EU hat für soziale Ungleichheit keine eigenständige Deutungskraft, und nennenswerte soziale Konflikte, die sich entlang von europäischen Cleavages entzünden könnten, sind nicht zu entdecken und zu erwarten. Die makrosozialen oder systemischen Verflechtungen der differenzierten Ordnungen bleiben unterhalb der für soziale Ungleichheit relevanten Wahrnehmungsschwelle der Bevölkerung (Delhey 2007: 157ff; Mau/Mewes 2009: 261f.; Rippl et al. 2009: lOOf.). Wir haben hier einen Vergesellschaftungsvorsprung oder eine Vergesellschaftungskluft zwischen Differenzierungs- und Ungleichheitsstrukturen. Die Umfrageergebnisse des EUROBAROMETERS (2007) dokumentieren, dass die Verbundenheit der Menschen mit

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der eigenen Stadt (86%) und ihrem Land (91%) deutlich größer ist als die mit der EU (53%). Für die subjektive Ein- und Zuordnung zu sozialen Einheiten ist der transnationale Referenzrahmen gegenüber dem regionalen und nationalen von untergeordneter Bedeutung.“ 415f: „Wir sind von der mangelnden Beachtung sozialer Ungleichheit in der Globalisierungsliteratur ausgegangen. In den Weltsystemansätzen wird soziale Ungleichheit entweder weitgehend vernachlässigt oder ökonomistisch reduziert. Diese mangelnde Berücksichtigung globaler sozialer Ungleichheit zieht das gesellschaftstheoretische Potenzial der Soziologie insgesamt in Mitleidenschaft. Wenn diese eine zentrale makrosoziale Strukturdimension verliert oder vernachlässigt, sollte man von ihr keine allzu verlässlichen Diagnosen und Prognosen zur globalen Entwicklung erwarten. Der vorliegende Beitrag sieht keinen methodologischen, sondern einen theoretisch-konzeptionellen Reflexionsbedarf für das Thema globale soziale Ungleichheit. Hierfür wurde der Anschluss an die Differenzierungstheorie gesucht. Mit Differenzierung und sozialer Ungleichheit sind jeweils spezifische Ordnungsprozesse verbunden, die nicht auseinander abgeleitet werden können, die aber wechselseitig Bedingungen füreinander setzen.31 Dies wurde hier für die eine Einflussrichtung verfolgt. Die Sozialstruktur einer Gesellschaft ist ohne Kenntnis ihres differenzierten Institutionenarrangements nicht analysier- und erklärbar. Zu fragen war dabei, wie das sich durch Globalisierungsprozesse verschiebende Differenzierungsmuster soziale Ungleichheit tangiert. Für alle drei Ausprägungen globaler sozialer Ungleichheit: intranationale, internationale und transnationale, hat sich die Bedeutung des Nationalstaates als zentral herausgestellt, sowohl dort, wo er existiert, als auch auf jenen Ebenen, wo seine strukturierende Wirkung nachlässt oder fehlt. Für drei strukturgebende Aspekte wurde dies verfolgt. Fehlende Regulation des institutionellen Zusammenwirkens der sich globalisierenden Teilbereiche lässt informelle Netzwerke für ungleichheitsrelevante Kapitaltransformationen wichtiger werden und führt zu veränderten Bedingungen der Elitenbildung auf globaler Ebene. Beides privilegiert die hoch qualifizierten Beschäftigungsgruppen. Dies gilt auch für die Orientierungshorizonte im Zusammenhang mit den kommunikativen Infrastrukturen für Klassenbildung und Interessenformulierung. Für die Mittel- und Unterschichten übersetzen sich die globalen makrostrukturellen Zusammenhänge und Wirkungsketten nicht in subjektiv relevante Orientierungen. Differenzierungs- und Ungleichheitsprozesse gehorchen verschiedenen Vergesellschaftungsbedingungen. Schließlich führt der fehlende Verteilungsund Konfliktrahmen zu nicht adressier- und regulierbaren Konflikten auf transnationaler Ebene. (Welt)Gesellschaftstheoretisch hat soziale Ungleichheit eine spannende Zukunft. Das zeigt gerade der Kontrast zu den nationalstaatlichen Erfahrungen. Die Institutionalisierung des Klassenkampfes hat über Jahrzehnte hinweg zu befriedeten Verhältnissen geführt und damit zugleich das gesellschaftsprognostische Potenzial der Ungleichheits- und Sozialstrukturforschung eingeschläfert. Dieses kann aktuell für eine globale Ungleichheitsforschung zurückgewonnen werden, insofern sie Aspekte thematisiert, die in den differenzierungstheoretisch angelegten Weltgesellschaftstheorien zu kurz bzw. nicht in den Blick kommen. Die Wiederholung der nationalstaatlichen Erfahrung, in der, wie dargelegt, die sozialstrukturellen Gruppen mit Bezug auf die politischen Institutionen gewachsen sind, ist mittelfristig nicht wahrscheinlich. Die globale Ebene ist keine sozialintegrative und sie ist keine politische Einheit. Den verbreiteten normativen Forderungen nach internationaler Gerechtigkeit fehlt der zivilgesellschaftliche und institutionelle Unterbau. Den enormen „Ungleichheiten an sich", die durch Globalisierungsprozesse produziert werden, wachsen kaum „Ungleichheiten für sich" nach. Die Chancen, dass aus statistisch erfassbaren Einheiten und Unterschieden sozial bewusste und handlungsfähige werden, sind auf der globalen Ebene für die verschiedenen Schichten nicht gleich und nur für eine kleine privilegierte Schicht gegeben. Globale Ungleichheit ist in hohem Maße


„Soziale Differenzierung“ – Rezension für Soziologische Revue Heft 3 Juli 2012

eine unartikulierte und konfliktlose. Solange es keine legitimationspflichtige Welt(herrschafts)ordnung gibt, sind hier Ungleichheiten in einem Ausmaß möglich, das nationale Sozialordnungen sprengen würde. Dies könnte sich als Stolperstein einer differenzierungstheoretisch angelegten Weltordnung erweisen. [Sind soziale Ordnungen theoretisch angelegt?] Sie produziert Probleme, ohne die erforderlichen Bedingungen für ihre Lösung zu bieten. Ungleichheiten, die nicht thematisiert werden können, neigen zu eruptiven Ausbrüchen oder unkontrollierbaren Effekten.“ [Sch. berücksichtigt nicht, dass sich im Prozess der Globalisierung die Ungleichheiten zwischen den Staaten und Regionen verringern und dafür einerseits die Ungleichheitskonflikte auf der Mikroebene der Individuen wieder stärker hervortreten und andererseits sich auf einer Metaebene als Konflikte der Differenzierungsformen (Kulturen) reproduzieren] 32 Als Beispiel wäre hier die Verarbeitung von Ungleichheitsproblemen durch technischen Fortschritt – Umverteilung der Produktivitätsgewinne – zu nennen. Da dies in weiten Regionen der Globalgesellschaft nicht stattfindet, liegt der Rückgriff auf gewaltsame Verteilungskämpfe nahe. 33 Die Inkongruenz der Theorieperspektiven (auf Ungleichheit und Differenzierung) kann durch evolutionstheoretische Mehrebenenanalyse aufgelöst werden: Bei der Beschreibung von Ungleichheit auf der Mikroebene der Individuen geht es stets um Ressourcenverteilungskonflikte, die durch soziale Differenzierung verarbeitet und auf eine höhere Ebene verlagert werden. Differenzierung vermindert Konkurrenzkonflikte in einem Sozialsystem – sei es durch Markierung der Außengrenzen oder durch verschiedene Schichten im Inneren oder durch Aufteilung in verschiedene Funktionsbereiche. Auf der Makroebene der Sozialsysteme bedeutet Ungleichheit also etwas ganz Anderes (als auf der Mikroebene): nämlich den Ausschluß von Konkurrenz. Nur Gleiches kann miteinander konkurrieren (Alte nicht mit Jungen, Bauern nicht mit Adligen, Unternehmer nicht mit Politikern). 34 Der wichtigste Hinweis aus der älteren Theorietradition für eine handlungstheoretische Fundierung der Theorie sozialer Differenzierung wird hier nicht aufgenommen – weder von Handlungstheoretikern noch von Systemtheoretikern (und auch nicht von Dritten) – nämlich soziale Differerenzierung als Verarbeitungsform von sozialen Konflikten (die immer von handelnden Akteuren ausgetragen werden) zu rekonstruieren. Dazu gehört dann auch, dass es immer darum geht, die Einheit der Gesellschaft gegenüber ihrer Umwelt – und Kooperation anstelle von Konflikt – herzustellen. 35 „Die Differenzierungstheorie war von Beginn an eine Strukturund Entwicklungstheorie. Schützeichel beklagt, dass letztere bei der Unterscheidung weniger Differenzierungsarten und -phasen stehen geblieben und nicht in der Lage ist, spezifische Entwicklungspfade und die Varianz von Differenzierungsverläufen zu erfassen. Eisenstadt (1964) hat diese Kritik schon früh an Parsons' Evolutionsmodell vorgetragen und mit seinem Spätwerk die Diskussion über multiple modernities angestoßen. Um das analytische Potential der Differenzierungstheorie weiterzuentwickeln, ist es erforderlich, nicht immer wieder die drei Haupttypen und Phasen zu präsentieren, sondern die Differenzierungstheorie historisch und typenbildend differenzierter anzulegen. Hier erweist sich der Gesellschaftsbegriff als erkenntnishemmend, da er eine Entität unterstellt, die in ihrer Entwicklung nur wenige Strukturmuster aufweist. Nach Schwinn gelingt es Luhmann nicht, die Evolution von Gesellschaft überzeugend darzulegen. Die Strukturbrüche der Evolution fallen durch das Raster seiner Wandlungstheorie, die mit dem Schema Variation - Selektion - Restabilisierung arbeitet. Zum anderen verengt die Setzung von drei gesellschaftlichen Differenzierungsarten den Blick auf jene Wandlungsprozesse, die zu diesen Typen führen. Der Pool an Restabilisierungsmöglichkeiten ist durch die drei Differenzierungsmuster geschlossen. Erst eine Kombination aus Handlungs- und Strukturtheorie eröffnet Varianzen. Einen interessanten Vorschlag in diese Richtung legt Stachura vor. Er setzt an der Spencer-DurkheimKontroverse an. Ohne normative Voraussetzungen werden keine

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anspruchsvollen Pfade innovativer Differenzierung eingeschlagen, sondern anspruchslosere der Intensivierung des Bestehenden. Eine Theorie, die auf utilitaristische Motive für Differenzierungsprozesse rekurriert, übersieht, dass die meisten Innovationen riskant sind und kurzfristig weniger Gewinn abwerfen als konservative Strategien. Erst der normative Hintergrund sorgt dafür, dass neue und riskante Wege eingeschlagen werden. Andererseits ist zu vermuten, dass das Kollektivbewusstsein auch Innovationen blockiert. Normen sind zugleich notwendige Bedingung wie Hindernis für Differenzierungsprozesse. Freilich sind Normen, auch in einfach strukturierten Gesellschaften, nicht frei von Dissonanzen, und sie sind nicht immun gegenüber instrumentellutilitaristischen Erwägungen. Aus variierenden Kombinationen dieser Motiv- und Regeltypen leitet Stachura verschiedene Entwicklungspfade ab. In diese Richtung kann auch Bachmanns differenzierungstheoretische Analyse von Webers „Protestantischer Ethik und der ,Geist' des Kapitalismus" gelesen werden. Aus der Unterscheidung und Kombination des Motiv- und des Regelaspekts wirtschaftlichen Handelns lassen sich verschiedene Typen von Wirtschaftsordnungen unterscheiden, von denen eine die kapitalistische Marktwirtschaft darstellt. Sie ist dadurch charakterisiert, dass die Motivation von Zweck (traditionelle Bedarfszwecke) auf Wert (bedarfsentkoppelter Selbstzweck) und die Regel von normativ fixierten traditionellen Märkten auf instrumentelle, weitgehend normfreie Marktprozesse umgestellt werden. Der nach Weber unwahrscheinliche Übergang in die moderne Ökonomie kann nach rein utilitaristischen Kategorien nicht verständlich gemacht werden. Er benötigt eine zunächst religiös geliehene Wertmotivation, die eine gewisse Immunität gegenüber Nutzenkalkulationen und instrumentellen Erwägungen bietet. Erfolgsaussichten konnten diesen innovativen Durchbruch nicht erklären, weil die kurzfristigen Gewinnerwartungen unsicher und eher geringer waren als in den herkömmlichen Strategien. In diesem Typus von Analyse wird das akteurlose Schema von Variation - Selektion - Restabilisierung durch eines ersetzt, das sich für die Motive von Akteuren in sich verändernden strukturellen Kontexten interessiert, ohne dass das Ergebnis dieses Wandlungsprozesses schon ex ante durch eine feste Anzahl von möglichen Differenzierungsmustern festgelegt ist.“ (425f.) 36 „Soziale Differenzierung darf nicht auf funktionale Differenzierung reduziert werden. Sie umfasst weitere Strukturprinzipien, das ist unstrittig. Kontrovers ist jedoch, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. In der neueren Systemtheorie werden drei Differenzierungstypen: segmental, stratifikatorisch und funktional, unterschieden und mit diesen die sozialevolutionären Stadien markiert. Die Grundidee dabei ist, dass es einen dominanten Differenzierungstypus gibt, dem sich die anderen unterordnen bzw. an dem sie sich anpassen müssen. Für moderne Sozialverhältnisse wird von einem Primat funktionaler Differenzierung ausgegangen, der soziale Ungleichheit zur zweitrangigen und abhängigen Strukturdimension herabstuft. Die Kritik an dieser Sichtweise (Schwinn 2004; Schwinn 2007) wird durch mehrere Beiträge dieses Bandes bestätigt und der Zusammenhang der beiden Differenzierungsprinzipien genauer ausgearbeitet (Greve, Rössel, Bongaerts, Schimank, Kern, Schwinn). Zentrale Momente der differenzierten Bereiche, wie die Grenzziehung zwischen den und die Dynamik der Ordnungen, sind ohne die Berücksichtigung sozialer Ungleichheit nicht zufriedenstellend zu erklären.“ (428f.) Wenn das aber so ist, ist doch zu fragen, warum „die Grenzziehung zwischen den und die Dynamik der Ordnungen“ nicht deutlicher (als in diesem Band geschehen) auf die Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten zwischen Akteuren um knappe Ressourcen zurückgeführt worden sind. Stattdessen werden umgekehrt Konflikte auf gegebene Differenzierungsmuster zurückgeführt (und die systemtheoretische Auffassung sozialer Differenzierung als nicht weiter hinterfragbarer Erklärungsgrundlage handlungstheoretisch fortgeführt).


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