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„Am Anfang war die Differenz“ Evolutionstheoretische Aspekte der Ebenenunterscheidung in Luhmanns Theorie sozialer Systeme von Klaus Gilgenmann (Osnabrück) für ein Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie Hg. Bettina Heintz und Hartmann Tyrell (2012) mit dem vorläufigen Titel INTERAKTION – ORGANISATION – GESELLSCHAFT Skriptentwurf mit Materialien (15. Juni 2012)

Zusammenfassung: Die von Luhmann in der Theorie sozialer Systeme verwendete Ebenenunterscheidung ist im Kontext seiner Evolutionstheorie zu verstehen. Es geht dabei nicht um methodologische Probleme wie in der Mikro-Makro-Diskussion, sondern um Ordnungsprobleme der Gesellschaft wie bei den Gründern der Soziologie. Differenzierung wird als Mechanismus der Restabilisierung sozialer Ordnung in der kulturellen Evolution und Ebenendifferenzierung als Freiheitsgewinn innerhalb dieser Ordnung beschrieben. Im Anschluss an Luhmann und neuere Theorien der kulturellen Evolution wird vorgeschlagen, bei der Untersuchung von Problemen der modernen Gesellschaft von einer Konkurrenz der Differenzierungsformen auszugehen. Am Anfang jeder guten Geschichte steht ein Problem und am Ende die Lösung. Differenzierung ist in der Theorie sozialer Systeme nicht das Problem, sondern die Lösung.1 Bei wissenschaftlichen Abhandlungen steht die Lösung oft schon am Anfang. Die erste Form sozialer Differenzierung ist die Bildung von sozialen Systemen selbst. Sie ist auch in Luhmanns Theorie jeder Binnen- und Ebenendifferenzierung schon vorausgesetzt. An die grundlegende (binäre) Unterscheidung zwischen System und Umwelt schließen sich dann mehrfach triadische Unterscheidungen an.1 Das ist nicht nur bei der Unterscheidung der Systemebenen Interaktion – Organisation – Gesellschaft der Fall, die im Focus dieses Bandes steht: „Man kann die soziokulturelle Evolution beschreiben als zunehmende Differenzierung der Ebenen, auf denen sich Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme bilden.“ (Luhmann 1975a: 13) Zwei weitere Fälle sollen in diesem Beitrag zur Erläuterung der Ebenenunterscheidung herangezogen werden: Das ist erstens die Unterscheidung von segmentärer, stratifikatorischer und funktionaler Differenzierung, die an die ältere soziologische Theorietradition anschließt, von Luhmann aber auch ein Stück weit von der Beschreibung historischer Formationen abgelöst und i.S. gleichzeitig gegebener Differenzierungsformen der Gesellschaft interpretiert wird: „In der Richtung von segmentären zu stratifizierten und zu funktional differenzierten Gesellschaften wächst das Potential für Neuerungen in Teilsystemen und damit das Tempo evolutionär erzeugter Strukturveränderungen.“ (Luhmann 1 „Ähnlich wie Hegel und wie Marx ist auch Darwin Differenztheoretiker par excellence. Am Anfang war die Differenz - oder wenn man es genau will: die Einheit der Differenz - verschiedener evolutionärer Funktionen“ (Luhmann 1983: 196). Die hier im Titel zitierte Anfangsformel kann mit Bezug auf die Evolution sozialer Systeme sowohl symbolisch und konstruktivistisch wie auch material und naturalistisch aufgefasst werden. Anfangsformeln wie Diese sind aber auch ironisch gehandhabte Verweise auf die motivierende Funktion einfacher (zeitlicher) Kausalverknüpfungen, wie sie in allen Erzählungen vorkommen. So behauptet der Anthropologe M. Tomasello: „Am Anfang stand die Zusammenarbeit ...“ (Gespräch mit H. Mayer, FAZ 24.11.2011)

1981: 187) Das ist zweitens die Unterscheidung evolutionärer Mechanismen der Variation, Selektion und reproduktiven Stabilisierung, die an die evolutionstheoretische Tradition anschließt und von Luhmann für die Verhältnisse der kulturellen Evolution in spezifischer Weise bestimmt wird. „Wenn die Mechanismen für Variation, Selektion und Stabilisierung schärfer differenziert werden, wird Strukturänderung wahrscheinlicher, verändert sich die Gesellschaft also schneller.“ (Luhmann 1975b: 152.)2 In allen drei Fällen geht es um die Unterscheidung von Phänomenen, die selbst der Evolution ausgesetzt sind, deren Differenz also durch Evolution gesteigert wird. Und es handelt sich um verschiedene Unterscheidungen, die miteinander verknüpfbar, aber nicht aufeinander reduzierbar sind. Das ist offenkundig im Falle der Differenzierungsformen, die Luhmann der Ebene der Gesellschaft zuordnet (wobei er zugleich darauf hinweist, dass die Differenz zwischen Interaktion und Gesellschaft unter den historischen Bedingungen des Primats segmentärer Differenzierung geringer entwickelt ist als unter den Bedingungen der anderen Differenzierungsformen). Es gilt aber auch im Fall der evolutionären Mechanismen, von denen Luhmann sagt, dass sie erst im Verlauf der kulturellen Evolution durch Ebenendifferenzierung trennscharf werden und sie damit beschleunigen. Im Folgenden soll die in der Luhmanschen Theorie sozialer Systeme enthaltene Verknüpfung der Theorie sozialer Differenzierung mit Evolutionstheorie wieder 2 In dieser Hinsicht Luhmanns Theorieangebot zusammenfassend Stichweh: „Ob es zu Evolution im Sinne eines unwahrscheinlichen und zufallsabhängigen Strukturaufbaus tatsächlich kommt, hängt davon ab, ob und wie die drei evolutionären Mechanismen getrennt sind; bei Luhmann heißen sie Variation, Selektion, Stabilisierung. Diese Frage der Trennbarkeit und der als Resultat von Evolution sich verstärkenden Distanz zwischen den evolutionären Mechanismen bildet bei Luhmann sehr deutlich den Schwerpunkt der Theoriebildung. Das erleichtert die Vernetzung mit der auf Differenzierung zielenden dominanten Tradition der Soziologie, da die zunehmende Trennung evolutionärer Mechanismen im Verhältnis zueinander mit Umbauten in der Differenzierungsform der Gesellschaft zusammenhängt.“ (Stichweh 1999: 17 – kursive Hervorhebung kg)


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aufgenommen und im Blick auf den heutigen Forschungsstand der biologischen Evolutionstheorie weitergeführt werden.2 In Luhmanns Unterscheidung zwischen Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftssystemen wird die evolutionstheoretische Unterscheidung verschiedener Ebenen der Selektion mit der soziologischen Unterscheidung verschiedener Ebenen der Sozialität kombiniert. Während die evolutionstheoretische Unterscheidung in sachlicher und zeitlicher Hinsicht einen weiten Horizont aufspannt,3 ist die Luhmannsche Unterscheidung auf die Binnendifferenzierung menschlicher Sozialität beschränkt und vorrangig auf die Analyse von Problemen der modernen Gesellschaft ausgerichtet. Die allgemeinere Fragstellung lautet, welche Funktion Formen sozialer Differenzierung und insbesondere solche der Ebenendifferenzierung für den Erhalt sozialer Systeme haben.4 Im Folgenden wird mit der Wiederaufnahme einer evolutionstheoretisch erweiterten Perspektive die These verbunden, dass durch Ebenendifferenzierung traditionelle Formen sozialer Konfliktverarbeitung5 ersetzt (und in zivilere Formen6 überführt) werden, die in der modernen Gesellschaft nicht mehr funktionieren. In dem programmatischen Aufsatz über „Interaktion, Organisation, Gesellschaft“ von 1975 hat Luhmann eine Passage der evolutionären Funktion von Ebenendifferenzierung als Erweiterung von Konfliktverarbeitungsmöglichkeiten gewidmet: „Die Bedeutung der zunehmenden Differenzierung von Systemebenen und Systemtypen läßt sich an einem Sonderproblem besonders gut vorführen, nämlich am Problem des Konflikts.“ (1975a 16)7. Wurden in der älteren Theorietradition Konflikte noch primär unter dem Aspekt der Gefährdung sozialer Ordnung betrachtet, so steht bei Luhmann die Lösung von Ordnungsproblemen, die gesteigerte Konflikttoleranz moderner Gesellschaften in Folge von Binnendifferenzierung – insbesondere in der Form ihrer Organisationen – im Vordergrund. Später verallgemeinert Luhmann diese Sichtweise auf alle Formen der menschlichen Sozialität: „Die Differenz von Gesellschaft und Interaktion transformiert Bindung in Freiheit“. (1984: 570).8 In dieser Aussage sind zwei evolutionstheoretische Prämissen enthalten, die im Folgenden entfaltet werden sollen: (1.) Alle Formen sozialer Differenzierung dienen der Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten durch deren Externalisierung und (2.) die kulturelle Evolution sozialer Differenzierungsformen geht mit zunehmender Ebenendifferenzierung einher, die mehr Freiheiten für interne Konfliktverarbeitung eröffnet. Die folgende Argumentation ist aufgeteilt in sechs Abschnitte: 1. Auflösung des Zusammenhangs zwischen Differenzierungs- und Evolutionstheorie im mainstream der Soziologie 2. Luhmanns Festhalten an dieser Verbindung unter Einschränkung auf Sinnsysteme 3. Gründe für die Auflösung und Wiederherstellung dieser Verbindung auf seiten der Evolutionsbiologie und zur

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Wiederherstellung dieser Verbindung auf soziologischer Seite 4. Umrisse einer daran anschließenden Beschreibung historischer Differenzierungsformen, insbesondere 5. Ebenendifferenzierung als Errungenschaft der Moderne und 6. Konkurrenz der Differenzierungsformen in der Weltgesellschaft. 1. Ebenenunterscheidungen in der sozialwissenschaftlichen Theorietradition9 Die starke Verbreitung von Ebenenunterscheidungen in den Sozialwissenschaften und vielen anderen wissenschaftlichen Disziplinen korreliert auffällig mit fehlender theoretischer Explikation.10 Dieser Umstand verweist darauf, dass Ebenenunterscheidungen nicht nur einen festen Bestandteil unseres Alltagswissens darstellen, sondern schon in unserer phylogenetischen Erfahrung abgespeichert sein könnten. Sie müssten dann in ontogenetischen Interaktionen nur aktiviert werden, damit wir uns mit ihrer Hilfe in der menschlichen Sozialwelt – den verschiedenen Stockwerken des soziokulturellen Gehäuses – orientieren können.11 Der Bezug auf ontologische Gegebenheiten, die den Ebenenunterscheidungen vorausgehen (der phylo- und ontogenetischen Erfahrung zugrundeliegen), ist jedoch in den Sozialwissenschaften heute weitgehend gekappt12 zugunsten einer rein analytischen Verwendung, die besonders in der Debatte über das Mikro-MakroProblem in den Sozialwissenschaften hervortritt.3 13 Die in evolutionärer Perspektive höchst unwahrscheinliche Größe menschlicher Sozialsysteme wird wie selbstverständlich vorausgesetzt und nicht als Ursache sozialer Konflikte, sondern nur als methodologisches Problem der Beschreibung von Übergängen zwischen Mikround Makrophänomenen der menschlichen Sozialität reflektiert.14 Deutlich anders angelegt war der wissenschaftliche Umgang mit Ebenenunterscheidungen in den Anfängen der Soziologie.15 Hier ist noch erkennbar, dass Differenzierung eng mit Problemen sozialer Ordnung verknüpft ist. Soziale Systembildung wird als Ordnungsleistung wahrgenommen, die durch Wachstum (Bevölkerungsvermehrung, äußere Ausdehnung und innere Verdichtung der Sozialsysteme) gefährdet ist und zu (internen und externen) Anpassungsprozessen gezwungen wird. Entsprechende Beobachtungen waren lose an einer evolutionstheoretischen Sichtweise orientiert und konnten daher von den Fortschritten der Darwinschen Theorie in Bezug auf das Verständnis von sozialen Sys-

3 S. Alexander u.a. 1987, Heintz 2004 und Greve et al. 2008. Der methodologische Streit darüber, ob soziologische Erklärungen primär auf Mikrooder Makroebene ansetzen sollten, ist evolutionstheoretisch kaum nachvollziehbar, da hier stets das Zusammenwirken von Mechanismen zur Erklärung herangezogen wird, die kausal auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. Sozialität ist evolutionstheoretisch als „selbsttragende Konstruktion“ zu betrachten – also weder aus der physischen Gegebenheit von Individuen noch aus der metaphysischen Gegebenheit von Göttern oder Sinnstrukturen abzuleiten. S. dazu Richerson and Boyd 2005: 246 f.


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tembildungen und Differenzierungsprozessen in der natürlichen Evolution profitieren. Im Folgenden soll in Umrissen dargestellt werden, wie diese theoretisch fruchtbare Verbindung, die im mainstream der Soziologie weitgehend verloren gegangen ist, wiederhergestellt werden könnte.4 Wiederzuentdecken wäre dabei das bei Spencer16, Simmel17, Durkheim,18 Max Weber,19 Elias,20 Parsons21 u.a.22 noch präsente Größenwachstumsproblem menschlicher Sozialsysteme.23 Bei Luhmann ist dieser Aspekt aus der Verbindung von soziologischer Differenzierungstheorie und Evolutionstheorie24 noch präsent:25 „Differenzierung ist notwendig ... zur Erhaltung von Kohäsion unter der Bedingung von Wachstum“ – so resümiert Luhmann in einer einleitenden Passage zum Differenzierungskapitel seiner Gesellschaftstheorie die Argumentation der Theorietradition (1997: 59626). Obwohl er es nicht für möglich hält, direkt daran anzuknüpfen, stellt soziale Differenzierung auch in seiner Auffassung eine Antwort auf Probleme dar, die durch quantitative Steigerung ausgelöst werden: „Eine weitere Annahme, für die wir empirische Evidenz in Anspruch nehmen, lautet, daß im Laufe der Evolution die auf dem Erdball zu findende Biomasse und ebenso, seitdem es Sprache gibt, die Menge der kommunikativen Ereignisse zugenommen hat. ... Will man den Befund erklären, führt das zu der Annahme, daß Mengensteigerungen dieser Art nur durch Differenzierungen möglich sind.“ (Luhmann 1997: 416). In der zitierten Eingangspassage verweist Luhmann darauf, dass das Konzept der Differenzierung bei den Gründern der Soziologie noch eng mit Problemen sozialer Ordnung in Folge von physischem Größenwachstum verknüpft war. Mit dem Autopoiesis-Konzept vollzieht Luhmann dann eine theoretische Wendung, die einerseits evolutionstheoretische Anschlußmöglichkeiten erweitert, andererseits aber durch Reduktion auf soziale Sinnkonstrukte erheblich beschränkt. Diese Umstellung lässt sich an zwei englisch-sprachigen Beiträgen Luhmanns demonstrieren. 1977 erwähnt Luhmann noch materielles und symbolisches Größenwachstum als Auslöser von Differenzierungsprozessen: “With respect to problems of increasing size, sociological theory has 4 Bei der Wiederentdeckung von Traditionslinien zwischen der Darwinschen Evolutionstheorie und der soziologischen Theorie sozialer Differenzierung geht es auch darum, durch einen politischen Zivilisationsbruch gestörte Theorietraditionen wieder erkennbar zu machen. Die bis heute in den Sozialwissenschaften andauernden Denkblockaden gegenüber der Darwinschen Theorie sind durch ihren legitimationsideologischen Mißbrauch verstärkt worden. Dazu schon Parsons (1967b: 43): “After a brief and somewhat superficial flirtation of social science with the idea of evolution, under the impact of Darwinism in the biological sciences (the names of Spencer, Ward, and Summer come to mind), there developed among social scientists a sharp reaction against the idea of evolution. The evolutionary conception has made little progress in social science since Weber's time, since much of the work of historians has been particularistic, while for an entire generation most of the comparative research was carried out hy anthropologists, whose thought was militantly anti-evolutionary. But it is significant that Weber and his great contemporary Emile Durkheim, the other most important founder of modern sociology, both thought in evolutionary terms.“ – Zur Diskreditierung der Darwinschen Theorie durch Fortschrittsglauben und „Sozialdarwinismus“ Luhmann 1981: 182-185.

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the choice between demographic and communication variables. Our framework tries to integrate both.” (44) “Stratification is a result of growth in size and complexity of the societal system.” (33). Dagegen geht es 1987 nur noch um die Zunahme systeminterner Komplexität: “The transition from one type of differentiation to another will increase the potential for social complexity and thereby will change the conditions to which the differentiation of society and interaction responds.” (116). In der folgenden Darstellung versuche ich an Luhmanns Verknüpfung von System- und Evolutionstheorie anzuschließen – allerdings mit der gravierenden Abweichung, die Abkoppelung von den natürlichen Bedingungen kultureller Prozesse nicht nachzuvollziehen und materiell-organische Aspekte27 in die Erklärung wieder einzubeziehen. 2. Luhmanns Verknüpfung von Ebenenunterscheidungen mit einer Systemtypologie28 Tyrell hat die (für diesen Band konstitutive) Frage aufgeworfen, ob in dem Luhmannschen Konzept der Ebenendifferenzierung noch unausgeschöpfte Erkenntnismöglichkeiten enthalten sind.5 Diese Frage kann auf vielfältig verschiedene Weise beantwortet werden. Eine positive Antwort setzt m.E. voraus, daß die evolutionstheoretischen Implikationen der Differenzierungstheorie einbezogen werden. In einer kontrastiven Gegenüberstellung der Binnendifferenzierung (durch Funktionssysteme) und der Ebenendifferenzierung (durch die Systemtypen Interaktion, Organisation und Gesellschaft) werden diese evolutionären Aspekte eher ausgeblendet. Nur im Blick auf die moderne Gesellschaft kann überhaupt die Frage aufkommen, ob es sich hierbei um zwei kausal verschiedene – und deshalb auch theoretisch gesondert zu betrachtende – Arten der Differenzierung handelt. Der Zusammenhang beider Formen erschließt sich, sobald die Beschränkung der Fragestellung auf die moderne Gesellschaft aufgelöst und die Binnendifferenzierung anderer und historisch älterer Formationen der Sozialität einbezogen wird. Luhmanns Theorievorschlag weicht von der (oben) skizzierten Tendenz soziologischen Denkens in zweierlei Hinsicht ab: zum Einen, indem er Ebenenunterscheidungen mit einer Systemtypologie verknüpft, zum Anderen, indem er an einer evolutionstheoretischen Perspektive festhält.29 Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei der Vorschlag, zwischen drei Arten sozialer Systeme – Interaktion, Organisation, Gesellschaft – zu unterscheiden (1975) ohne Bezug auf die Theorietradition formuliert. Bei näherer Betrachtung zeigt sich je5 In einer werkgeschichtlich orientierten Untersuchung hat Tyrell (2006) zunächst darauf hingewiesen, dass in Luhmanns frühen Arbeiten funktionale Differenzierung und Ebenendifferenzierung als Konzepte der Untersuchung der modernen Gesellschaft in einem nicht ganz geklärten Verhältnis nebeneinander stehen und das Konzept der Ebenendifferenzierung in der Weiterentwicklung der Luhmannschen Systemtheorie eher vernachlässigt würde.


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doch, dass dieser Vorschlag, indem er Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftstheorie als drei gleichermaßen notwendige und komplementäre Beschreibungen des Sozialen nebeneinander stellt, nicht nur auf die zeitgenössische Theoriediskussion sondern auch auf die Theorietradition bezogen ist.30 Offensichtlich geht es Luhmann darum, die methodologische Frontstellung zwischen (handlungstheoretischer) Mikrofundierung und (systemtheoretischer) Makrosteuerung aufzulösen.31 Weniger offensichtlich, aber folgenreich für die weitere Theorieentwicklung ist, dass Luhmann durch eine evolutionstheoretische Interpretation6 seiner Systemtypologie an wesentlichen Bestandteilen der älteren Theorietradition festhält.32 Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich, in der Debatte über reduktionistische oder emergentistische Theorien des Sozialen die Luhmannsche Systemtheorie33 einfach Letzteren zuzuordnen.7 Luhmanns Doppelstrategie wird noch deutlicher in der Einleitung zu seiner allgemeinen Theorie sozialer Systeme. Hier trägt er zunächst der fachspezifischen Tendenz Rechnung, Ebenenunterscheidungen nur analytisch zu verwenden und operiert mit einem DreiEbenen-Schema, das als analytisches Instrument nicht zwingend auf reale Zusammenhänge zwischen den darin aufgelisteten Gegenständen verweist (1984: 16f). Die sozialen Systeme der Interaktion, Organisation und Gesellschaft sind hier nicht in einer Ebenenhierarchie sondern auf einer Ebene nebeneinander angesiedelt. Die folgenden Ausführungen Luhmanns zielen aber darauf, soziale Systeme als „Selbstabstraktionen“ im Gegenstandsbereich der Soziologie zu beschreiben. Im zehnten Kapitel werden dafür Ebenenunterscheidungen mit evolutionstheoretischen Mitteln wieder eingeführt.8 Die 6 S. dazu schon das Eingangszitat (Luhmann 1975a, 13ff.). Dazu erneut Luhmann 1997: 413: „Wie immer unbefriedigend evolutionstheoretische Erklärungen, gemessen an logischen, wissenschaftstheoretischen und methodologischen Standards kausaler Erklärung und Prognose, ausfallen mögen: es gibt heute keine andere Theorie, die den Aufbau und die Reproduktion der Strukturen des Sozialsystems der Gesellschaft erklären könnte.“ 7 Im Anschluß an die Darwinsche Evolutionstheorie kann die Theorie sozialer Systeme keine „reine“ Emergenztheorie sein. Vgl. die Kritik an Luhmanns Emergenzkonzept bei Greve 2007; Heintz 2004; Lohse 2011. Die Alternative ist m.E. jedoch nicht im methodologischen Individualismus zu sehen, sondern in der Methode der Evolutionstheorie, die im Bezug auf die Verankerung evolutionärer Mechanismen von vornherein mikro- und makrofundierte Erklärungen verbindet. In diesem Sinne auch Stichweh (2007: 8): „If one distinguishes selection and isolation as two evolutionary mechanisms always running parallel towards and independent from one another this allows to get an interesting perspective on the distinction of micro- and macro-processes in systems. They are not reducible towards one another, and macro does not mean a kind of summation or aggregation of many micro events. Instead micro and macro are somehow independent levels of systemic reality which are interconnected and autonomous at the same time. Speciation events take place in an environment of continuous and ongoing adaptive processes. On the other hand one will never be able to say that speciation events result from adaptive processes as they are based in macro-mechanisms specific to the macro level on which speciation occurs. It seems to be a useful analytic strategy to transfer this kind of relation of interconnectedness and autonomy of micro-and macro-levels to the analysis of social systems.“ 8 An dieser Stelle (1984: 531) bezieht sich Luhmann nur in einer Fussnote auf Organisation als drittem Systemtyp, weil dieser nicht im Focus einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme stehen könne. Das kann m.E. so

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Differenzierung zwischen Interaktion und Gesellschaft wird einerseits als allgemeines Merkmal aller Formen menschlicher Sozialität bezeichnet34 und andererseits historisiert durch den Hinweis auf ein Auseinanderdriften der Ebenen, auf denen irreduzibel verschiedene Systemtypen sich ausdifferenzieren.35 „Im Lauf der Evolution zu höherer Komplexität verändert sich der Stellenwert der Gesamtgesellschaft im Gefüge sozialer Systeme, ändert sich vor allem durch Innendifferenzierung und Ebenendifferenzierung der Bedarf für Selektionsleistungen ...“ (Luhmann 1999: 79). Luhmanns Rekurs auf Ebenendifferenzen mit evolutionstheoretischen Mitteln ist nicht nur an dieser theoriestrategisch wichtigen Stelle zu beobachten, sondern bekanntlich auch in jeweils gesonderten Kapiteln seiner Gesellschaftstheorie und der einzelnen Funktionssysteme. Ich zitiere eine Passage aus der Gesellschaftstheorie: „Angesichts der Systemgrundlagen aller Evolution, angesichts des unauflösbaren Zusammenhangs von elementaren Operationen, Strukturbildungen und operativer Schließung des nach außen sich abgrenzenden Systems kann Differenzierung der evolutionären Funktionen nicht heißen, daß es zu einer kausalen Separierung käme. Gemeint ist allerdings, daß die Funktionen der Variation, der Selektion und der Restabilisierung durch das evoluierende System nicht koordiniert, nicht aufeinander abgestimmt werden können; denn das würde ja heißen, daß von vornherein nur so viel variiert wird, wie als Beitrag zur ‚Systemerhaltung‘ seligiert werden kann. Verzicht auf diese Art zweckmäßiger Koordination besagt, daß es vom System aus gesehen Zufall ist, wenn Variationen zu positiven bzw. negativen Selektionen führen, und daß es weiterhin Zufall ist, ob und wie diese Selektionen, die sich eigener Kriterien bedienen, im System stabilisiert werden können. Mit ‚Zufall‘ ist dann auch gesagt, daß das evoluierende System an diesen inneren Grenzen unkontrolliert umweltempfindlich ist. Hier können zufällig vorhandene, eventuell vorübergehende Umweltbedingungen einwirken, und auf diese Weise kann das System, ohne dies zu planen, Gelegenheiten nutzen, um Strukturänderungen kommunikativ plausibel durchführen zu können, die in anderen historischen Situationen unmöglich wären. So gibt die Einführung von Schrift der schon bestehenden Differenz von kompetenten und inkompetenten Rollen im Umgang mit heiligen Dingen neue Möglichkeiten und neue Probleme auf — etwa die der Festigung einer für heilig gehaltenen Tradition. ... Diese Überlegungen sprengen auch die klassische Theorienunterscheidung von endogen bzw. exogen induzierter Evolution, die sich systemtheoretisch ohnehin nicht halten läßt. Sie muß ersetzt werden durch eine komplexere Theorie, nämlich durch die Hypothese, daß ein evoluierendes System bei Differenzierung der evolutionären Funktionen mehr Außeneinflüsse aufnehmen, mehr auf historische Lagen reagieren und deshalb schneller (aber immer: rein intern) evoluieren wird.“ (Luhmann 1997: 501f.)36

verstanden werden, dass Luhmann nicht ausschließen würde, dass neben dem modernen Typ formaler Organisation auch noch viele andere Formen zwischen Interaktion und Gesellschaft vorkommen. Problematisch scheint mir aber, dass innerhalb dieser Theoriekonstruktion prinzipiell nur Systeme in Betracht kommen – also Systembildungen im System – obwohl Luhmann mit Bezug auf Märkte auch von inneren Umwelten spricht.


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Ich möchte im Folgenden zeigen, dass diese Überlegungen Luhmanns (anders als von ihm selbst wiederholt herausgestellt37) nicht unvereinbar sind mit der Darwinschen Evolutionstheorie, sofern die in der neueren Literatur rehabilitierte Gruppenselektionstheorie in das Konzept einbezogen wird.38 Die Ausdifferenzierung verschiedener Ebenen der menschlichen Sozialität ist in der auf kulturelle Evolution beschränkten Theorie Luhmanns zugleich Voraussetzung der Evolution evolutionärer Mechanismen.39 Ebenendifferenzierung garantiert die kausal unabhängige Wirkungsweise der evolutionären Mechanismen. Allerdings kann die für die Beschreibung evolutionärer Mechanismen verwendete Ebenenunterscheidung nicht mit der Unterscheidung der drei Systemtypen zusammenfallen. Wenn Luhmann den Variationsmechanismus der kulturellen Evolution auf der Ebene der elementaren Operationen der Kommunikation verortet9, so ist dies nicht gleichbedeutend mit der Verortung in Interaktionssystemen im Luhmannschen Sinne der Grenzziehung durch Anwesenheit. Wenn er den Selektionsmechanismus auf der Ebene der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien verortet, die die Annahmewahrscheinlichkeit von Kommunikation regulieren, so ist dies nicht gleichbedeutend mit der Verortung in Organisationssystemen - insbesondere nicht dem modernen Typ formaler Organisation. Und wenn Luhmann für die kulturelle Evolution einen gesonderten Restabilisierungmechanismus behauptet, der durch Systemdifferenzierung zustande kommt, so bezieht er sich damit auf eine Metaebene der Gesellschaft, die im globalen Netzwerk der Kommunikation keine Adresse hat.10 Vor dem Hintergrund neuerer Theoriedebatten, die durch die Erfolge der „life sciences“ (der neueren Evolutionsbiologie, Gehirnforschung etc.) und ihrer Verarbeitung in den Nachbardisziplinen der Soziologie, insbesondere der Psychologie, den Wirtschafts- und Technikwissenschaften und in der Philosophie, stattgefunden haben, wird nun aber auch deutlich, dass die Luhmannsche Theoriestrategie unter den Folgen der selbstgewählten Beschränkung auf soziale Sinnsysteme und der Ausklammerung materialer Entitäten leidet.40 Natürliche Organismen (einschließlich ihrer psychischen Ausstattung für Sozialisationsprozesse) und technische Artefakte (einschließlich ihrer Verwendung für erweiterte Formen menschlicher Sozialsysteme41) kommen 9 Auch Luhmanns primäre Verortung des kulturellen Variationsmechanismus in der Ja-Nein-Codierung sprachlicher Kommunikation ist eine Konsequenz seiner systemtheoretischen Prämissen, mit denen der Beitrag lebendiger Individuen ausgeklammert wird. Evolutionstheoretisch liegt es näher, das Negationspotential der menschlichen Sprache als ein grundlegendes Instrument zu betrachten, mit dem das Variationspotential menschlicher Individuen kulturell gesteigert wird. In dieser Perspektive wird dann auch besser verständlich, warum epochale Umbrüche der Differenzierungsform durch technische Innovationen der Kommunikation markiert werden. 10 Das Nichtzusammenfallen der Ebenenunterscheidungen bezüglich der Systemtypen und der evolutionären Mechanismen wird im nächsten Abschnitt mit der Unterscheidung zwischen System- und Umweltdifferenzierung im System erklärt.

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darin nur als Objekte der Beobachtung und Beschreibung, nicht aber als kausal wirksame Elemente der menschlichen Sozialität vor.11 Stattdessen werden Sozialsystemen eigendynamische Steuerungsfähigkeiten zugeschrieben, die herkömmlich lebendigen Individuen (oder Göttern) vorbehalten waren.42 Die natürliche und dingliche Umwelt kommt als Ursache von Wirkungen nur vor, soweit sie in der Kommunikation wahrgenommen wird.43 Als kausal wirksam gilt primär die Differenz zwischen System und Umwelt.44 „Geht man von diesen Grundlagen einer am Systembegriff orientierten Gesellschaftstheorie aus, kann soziokulturelle Evolution nicht auf dem Kontinuum der organischen Evolution angesiedelt werden.“45 Mit dieser methodologischen Beschränkung geht eine Verschiebung der für soziale Systembildung grundlegenden Probleme von Konkurrenz auf Kontingenz einher. Damit wird nicht nur die Anschlussfähigkeit der Luhmannschen Theorie für Forschungsergebnisse aus den Nachbardiszplinen, sondern auch die Umsetzung des erkenntnisleitenden Anspruchs einer Synthese von Systemdifferenzierungs-, Kommunikations- und Evolutionstheorie46 behindert.12 Das in evolutionstheoretischer Perspektive gravierendste Folgeproblem dieser Beschränkung ist der Umstand, dass Konkurrenzkonflikte mit physischer Gewalt als auslösende Ursachen sozialer Ordnungsbildung nicht angemessen thematisiert werden können. Luhmann erklärt die Emergenz sozialer Systeme in konstruktivistischer Perspektive (und in Abgrenzung zu Parsons) durch doppelte Kontingenz: „Wir können anschließen an den »order from noise principle« der allgemeinen Systemtheorie. Es braucht gar nicht schon festliegender Wertkonsens zu sein, das Problem doppelter Kontingenz ... saugt geradezu Zufälle an, sie macht zufallsempfindlich, und wenn es keinen Wertkonsens gäbe, würde man ihn erfinden. Das System entsteht, etsi non daretur Deus.“ (1984: 150f). Deutlicher kann man sich kaum von der Auffassung des Problems sozialer Ordnung in der Tradition von Hobbes und Durkheim absetzen. Die Auffassung, wonach das allen Sozialsystemen 11 Für die im Begriffschema der allgemeinen Systemtheorie neben den sozialen Systemen eingeordneten psychischen Systeme, Organismen und Maschinen hält Luhmann es nicht für nötig (oder auch nicht für möglich?) vergleichbare „Selbstabstraktionen“ (1984: 17) also reale historische Zusammenhänge zu rekonstruieren wie für die Systeme der Interaktion, Organisation und Gesellschaft. 12 In einem neueren Beitrag bemerkt Stichweh, dass Luhmann im Hinblick auf die Erklärung sozialen Wandels eher wenig Gebrauch mache von Evolutionstheorie: “There is not much use of evolutionary concepts for problems of historical explanation in Niklas Luhmann. The task of understanding historical change in social structures is mainly relegated to differentiation theory in Luhmann's writings. And from this explanatory uselessness of evolutionary theory results a very restrictive - nonetheless very interesting - version of evolutionary theory.” Er plädiert deshalb unter Bezugnahme auf (die Mehrebenenselektionstheorie von) E.Mayr für eine engere Verbindung zwischen Differenzierungs- und Evolutionstheorie. „Differentiation theory then has to be understood as a theoretical technique for describing and explaining social structures in the evolution of world society. This means differentiation theory will somehow be integrated into evolutionary theory, as a part of it.” (Stichweh 2007: 528f) Der von E.Mayr entdeckte Mechanismus der Isolation ist eine Präzisierung des Selektionsmechanismus auf der Ebene von Populationen. S. Mayr 1997.


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zugrundeliegende Problem doppelte Kontingenz sei, erscheint als Überverallgemeinerung eines kognitiven Problems, das so nur in Organisationssystemen modernen Typs auftreten kann.47 Das Problem sozialer Ordnung, das in Konkurrenzkonflikten zum Ausdruck kommt, wird zu einem Entscheidungsproblem verdünnt. In evolutionstheoretischer Perspektive wäre jedoch nicht doppelte Kontingenz als Auslöser von Systembildung zu betrachten, sondern gewissermaßen doppelte Konkurrenz: nämlich auf der Ebene der Individuen und auf der Ebene ihrer Sozialsysteme.13 3. Biologische Evolutionstheorie und soziologische Differenzierungstheorie48 „In ihrer abstrakten Form genommen, sind Mehrebenen-Erklärungen evolutionärer Prozesse nichts Neues. Sie haben generell die Ein-Faktor-Erklärungen abgelöst“ schreibt Luhmann und bezieht sich dabei auf Marx und Weber (1975b, 157) Er verwendet die Ebenenunterscheidung, um die kausale Unabhängigkeit der Mechanismen der Variation, Selektion und Restabilisierung innerhalb der kulturellen Evolution plausibel zu machen. Jeder Mechanismus wirkt auf einer anderen Systemebene und gerade durch die Nichtabgestimmtheit der Operationen verschiedenartiger Systeme kann sich Evolution ergeben. Dagegen geht es in der Evolutionsbiologie darum zu zeigen, dass der Mechanismus der Selektion auf verschiedenen Ebenen und damit auf ganz verschiedene Einheiten, also auch auf kulturelle Objekte zugreifen kann.49 Biologische und soziologische Verwendungen von Differenzierungsbegriffen bezeichnen auf den ersten Blick völlig verschiedene Sachverhalte. Mit der Differenzierung der Arten in der natürlichen Evolution wird zugleich eine Anpassung der Phänotypik der Individuen an den Selektionsdruck der natürlichen Umwelt beschrieben, während Differenzierung in der kulturellen Evolution zwar auch als Anpassung an den Selektionsdruck der Umwelt zu beschreiben ist, sich aber nicht mehr in der Anpassung der organischen Anatomie der Individuen sondern in der Anpassung der Anatomie ihrer Sozialsysteme zeigt. Der Zusammenhang beider Verwendungen wird erst mit dem evolutionstheoretischen Konzept der Mehrebenenselektion erkennbar. In evolutionstheoretischer Perspektive sind zwei Arten von Ebenenunterscheidungen zusammenzuführen, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen: Ebenen verschiedenartiger Systeme und verschiedenartige Ebenen im System. Zu diesem Zweck muss die Beschränkung der evolutionstheoretischen Perspektive auf die Binnendifferenzierung menschlicher Sozialsysteme ein Stück weit zurückgenommen50 und die Verwendung 13 Dies impliziert keineswegs eine einseitige Festlegung auf Konflikt als historische Ausgangslage (i.S. eines Hobbesianischen Modells). Evolutionstheoretisch sind Konflikt und Kooperation als gleichursprünglich zu betrachten. In einem erweiterten Sinn kann von Kooperation bereits auf der Ebene der Moleküle gesprochen werden (Nowak 2011: 115ff, vgl. dazu schon Tarde 1890 (2009 ).

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von Ebenenunterscheidungen in der neueren Evolutionsbiologie einbezogen werden. Die im Titel dieses Beitrags (und in der ersten Fussnote) zitierte Formulierung von der anfänglichen Differenz kann auf verschiedene Weise ausgelegt werden. Bei Luhmann ist die Anfangsformel auf soziale Sinnkonstruktion bezogen. Die allen Sinnoperationen anhaftende Kontingenz zwingt zu Entscheidungen. Jede sinnhafte Bezeichnung setzt eine Unterscheidung schon voraus, die durch einen Beobachter vollzogen wird. Deshalb steht Differenz am Anfang jeder Beobachtung. Bezogen auf reale Vorgänge im Gegenstandsbereich der Beobachtung entsteht hier allerdings ein Problem, das nach einer theoretischen Auflösung verlangt. Der Vorgang der Differenzierung kann nur dann am Anfang stehen, wenn eine operationsfähige Einheit gegeben (also entweder vorausgesetzt oder im Akt der Unterscheidung selbst erzeugt) ist, die eine Differenz erzeugt, indem sie sich von Anderem - z.B. ein System von seiner Umwelt - abgrenzt.51 In evolutionstheoretischer Perspektive kann die Formel von der anfänglichen Differenz ganz realistisch verstanden werden. Auch hier ist mit dem Anfang nicht irgendein Ur-Anfang gemeint, der sich wissenschaftlicher Beobachtung entzieht, sondern die evolutionäre Errungenschaft von Sozialsystemen in der Evolution natürlicher Lebewesen.52 Die „Einheit der Differenz“ ist das Sozialsystem selbst, das sich von seiner Umwelt unterscheidet. Differenz kann also auch in einem ontologisch-substantiellen Sinn verstanden werden, nämlich als Gegebenheit von sozialen Systemen, die sich durch Zeichen, die ihre Teilnehmer wahrnehmen, von ihrer Umwelt unterscheiden. Auch diese Differenz setzt Beobachter voraus, die sie wahrnehmen. Aber diese Wahrnehmung ist nicht an die Verfügung über sprachliche Symbole gebunden, sondern nur an ein Sensorium, über das alle sozial lebenden Tierarten bereits verfügen. Die primäre Differenz kommt demnach nicht erst in menschlichen Sozialsystemen vor, die auf der Grundlage von symbolischem Unterscheidungspotential operieren.53 Soziale Systeme gibt es nicht nur bei Menschen14, sondern bei vielen Tierarten in verschiedenartigsten Aus14 So heisst es noch bei Parsons: „In the most general sense, sociology should be relevant to all living organisms in so far as they interact ...“ (Parsons and Bales 1961: 33). Dagegen wird im Konstruktionsschema der Luhmannschen Systemtheorie (1984: 16) der Begriff des Sozialen mit der Auflistung sozialer Systeme neben Maschinen und Organismen von vornherein auf die kulturellen Systeme beim Menschen beschränkt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Luhmann nicht vom mainstream der neueren deutschen Soziologie. Auch der Begriff der sozialen Evolution wird in vielen Beiträgen so verwendet, als ob das Soziale eine Besonderheit des Menschen wäre. So schon bei Habermas (1976, 129): „Soweit mir bekannt ist, liegen Theorien, die soziale Evolution erklären oder auch nur angemessen konzeptualisieren, bisher nicht vor.“ Neuerdings wieder bei Stephan Müller 2010 und Wortmann 2011. Dagegen hatte schon H.v.Foerster die kulturalistische Reduktion beklagt: „ ... die Existenz der sogenannten Sozialwissenschaften verweist auf die Weigerung, anderen Wissenschaften zu gestatten sozial zu sein.“ (1974: 28 zit. aus der dt. Übersetzung in Morin 2010: 22). Anders Stichweh 2007, der auch nach Globilisierungsprozessen in den Sozialsystemen anderer Spezies fragt.


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prägungen.15 Umstritten ist in der Biologie nicht die Frage der natürlichen Gegebenheit sozialer Systeme, sondern nur die Frage, auf welcher Ebene natürlicher Phänomene der Selektionsdruck der jeweiligen Umwelt zur Wirkung gelangt.16 Während Darwin17 und Spencer noch davon ausgingen, dass dies auf mehreren Ebenen (hier v.a. Individuen und Gruppen) möglich sei, hat sich im Neodarwinismus auf der Grundlage der Entdeckungen der Molekulargenetik zunächst die Ansicht durchgesetzt, dass natürliche Selektion im wesentlichen auf der Ebene der Gene stattfinde und andere Ebenen (aufgrund von Implikationen des genetischen Reproduktionsmechanismus oder aus empirischen Gründen) vernachlässigbar seien.54 Weder die Individuen55 noch ihre sozialen Systeme,56 sondern ihre Gene sollten als die entscheidenden Objekte der natürlichen Selektion betrachtet werden.57 In dieser Verengung der neodarwinistischen Theorie sind weitere Gründe18 für die Auflösung der traditionellen Verbindung zwischen soziologischer Differenzierungstheorie und biologischer Evolutionstheorie und für Luhmanns Revision zu erkennen.19 In Opposition zu dieser dogmatischen Lehrmeinung sind in der neueren 15 S. die schon von Spencer erwähnten Formen der Sozialität bei Insekten und Wirbeltieren. Der Umstand, dass Sozialsysteme bereits in der natürlichen Evolution zu beobachten sind, spricht natürlich nicht nur gegen ihre Emergenz aus doppelt kontingenten Sinnoperationen, sondern auch gegen reduktionistische Erklärungsversuche i.S. des methodologischen Individualismus. 16 Im Hinblick auf Formen sozialer Differenzierung in der kulturellen Evolution sind einfache Analogien mit Bezug auf die Differenzierung der Arten in der natürlichen Evolution nicht hilfreich. Hier ist zunächst der grundlegende Unterschied zu beachten: Die Differenzierung der natürlichen Arten setzt immer am Organismus der einzelnen Individuen an – die Differenzierung der menschlichen Kultur hingegen an ihren Sozialsystemen. Das vermittelnde Glied ist Gruppenselektion. Im Unterschied zu den vielfältigen Beiträgen aus Psychologie und Gehirnforschung ist hier der genuin soziologische Beitrag zur Theorie der kulturellen Evolution verankert. - Zur Geschichte der Kontroverse um Gruppenselektion in der Evolutionsbiologie zusammenfassend Sober/Wilson 1998: 50ff – dazu erneut Nowak 2011: 83f. Für eine knappe Übersicht s. auch Kappelhoff 2011. 17 Eine diesbezügliche Passage bei Darwin (2008: 801) vielzitiert aber noch immer nicht zureichend verstanden: "Es darf nicht vergessen werden, daß, wenn auch eine hohe Stufe der Moralität nur einen geringen oder gar keinen Vortheil für jeden individuellen Menschen und seine Kinder über die anderen Menschen in einem und demselben Stamme darbietet, doch eine Zunahme in der Zahl gut begabter Menschen und ein Fortschritt in dem allgemeinen Maßstab der Moralität sicher dem einen Stamm einen unendlichen Vortheil über einen andern verleiht. Ein Stamm, welcher viele Glieder umfaßt, die in einem hohen Grade den Geist des Patriotismus, der Treue, des Gehorsams, Muthes und der Sympathie besitzen und daher stets bereit sind, einander zu helfen und sich für das allgemeine Beste zu opfern, wird über die meisten anderen Stämme den Sieg davontragen, und dies würde natürliche Zuchtwahl sein." 18 Hier abgesehen von den politisch-moralischen Gründen, die sich aus dem historischen Zivilisationsbruch ergeben, in dem die Darwinsche Theorie zur Legitimation rassistischer Politik mißbraucht wurde. 19 Bei genauerer Betrachtung sind auf Seiten der Soziologie mindestens drei Reaktionen auf die dogmatische Verengung der Darwinschen Evolutionstheorie zu unterscheiden. Im mainstream wurde nur die (z.T. moralisch unterlegte) Ignoranz gegenüber evolutionsbiologischen Argumenten verstärkt. In der Luhmannschen Systemtheorie wurde eine allgemeine Evolutionstheorie postuliert, in der dann natürliche und kulturelle Evolution nicht nur theorietechnisch, sondern auch der Sache nach als voneinander unabhängig zu betrachtende Anwendungsfälle gelten. Nur für Rational Choice Theorien schien es möglich, an den gendeterminierten Individualismus bruchlos anzuschließen, wenngleich mit wenig Gewinn für die Erklärung sozialer Phänomene (s. nur Esser 1993: 165-215)

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Evolutionsbiologie Theorien der Mehrebenenselektion58 entstanden, in denen die kausale Wirkungsweise des Selektionsmechanismus wieder stärker von der genetisch basierten Wirkungsweise des Replikationsmechanismus der natürlichen Evolution abgegrenzt wird.20 Damit ist es möglich, die Besonderheit der kulturellen Evolution des Menschen zu beschreiben und sie zugleich als eingebetteten Teil der natürlichen Evolution aufzufassen.59 Und vor allem ist es damit auch wieder möglich, das eingangs mit Bezug auf die soziologische Theorietradition erwähnte Problem der enormen Ausdehnung und Verdichtung menschlicher Sozialsysteme60 wieder aufzugreifen und für die Analyse der modernen Gesellschaft fruchtbar zu machen.61 Sobald ein Sozialsystem sich gegenüber seiner Umwelt ausdifferenziert hat, verlagert62 und verteilt63 sich der Selektionsdruck auf zwei Ebenen: Zum einen auf die Makroebene der Konkurrenz verschiedener Sozialsysteme um dieselben Ressourcen innerhalb einer gegebenen, aber auch aktiv veränderbaren Umwelt (betweengroup-selection64); zum anderen auf die Mikroebene der Konkurrenz zwischen den Individuen innerhalb ihres Sozialsystems (within-group-selection).65 Letztere ist in der natürlichen Evolution der Lebewesen primär durch Formen der sexuellen Selektion (die Konkurrenz um Fortpflanzungschancen) bestimmt.21 Die evolutionäre Errungenschaft der sexuellen Fortpflanzung hat auch die natürlichen Formen der Individualität mit beschränkter Lebenszeit hervorgebracht.22 Insofern sind auch die Ebenenunterscheidungen der biologischen Evolutionstheorie historisch zu verstehen.66 In evolutionsbiologischer Perspektive steht also an dem durch soziale Systembildung bezeichneten Anfang nicht nur die Differenz zwischen System und Umwelt, sondern auch die zwischen systeminterner Selektion und Umweltselektion.67 Mit der Verlagerung erheblicher Teile des Selektionsdrucks der natürlichen Umwelt auf die Makroebene entsteht ein Spielraum für vielfältig verschiedene Formen der Selektion im Innenbereich der 20 Die genzentrierten Theorieansätze im Neodarwinismus hatten in dieser Hinsicht eine Denkblockade errichtet, die sich u.a. auch durch den Verweis auf den legitimationsideologischen Missbrauch von Gruppenselektionstheorien in der Vergangenheit legitimierte. Neue Theorien der Mehrebenenselektion haben diese Blockade durchbrochen. (Sober/Wilson 1998, Richerson/Boyd 2005 u.a.) Evolutionstheoretischen Ansprüchen genügt es allerdings nicht, die Möglichkeit einzuräumen, dass Selektion auf mehreren Ebenen stattfinden kann, und die entsprechenden Wirkungen zu beschreiben. Es muss auch erklärt werden, wie es dazu kommen konnte: welche evolutionären Vorteile aus dem Wechsel der Ebenen entspringen. In dieser Hinsicht ist daran zu erinnern, dass die Erstbesiedlung von Lebensräumen durch einzellige Lebewesen erfolgt, und dass Alles, was danach kommt, komplizierter gebaut sein muss, um sich eine ökologische Nische erschließen zu können. Demnach handelt es sich bei der Ausdifferenzierung neuer Ebenen der Selektion um einen Mechanismus, der die Evolution zu immer höherstufigen Gebilden / Organismen veranlasst – also eine Richtung oder einen Pfad festlegt, ohne ausschließen zu können, dass es sich dabei um eine Sackgasse handelt. 21 S. dazu G.Miller 2001 und Zahavi 1998, denen das Verdienst der Wiederentdeckung und Weiterentwicklung der Darwinschen Theorie der sexuellen Selektion zukommt. Allerdings fehlt bei diesen Autoren noch eine angemessene Einbettung in eine Theorie der Gruppenselektion. 22 S. dazu vorzüglich Wieser 1998.


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Sozialsysteme.68 Dieser Spielraum69 ist allerdings nicht beliebig groß, denn er muß ja dahingehend genutzt werden, dass die Systeme nicht nur sich selbst (als sozialer Schutzraum gegenüber dem Selektionsdruck der Außenwelt) sondern auch in der Konkurrrenz mit anderen Sozialsystemen auf der Makroebene erhalten können.70 Daher bleibt auch auf der Mikroebene der Individuen ein erheblicher Druck erhalten, der in Formen der Beschränkung der Konkurrenz im Inneren der Sozialsysteme zum Ausdruck kommt.71 Auch Luhmann sieht in der Bildung sozialer Systeme nicht den Anfangspunkt, sondern eine spezifische Errungenschaft der Evolution: „Die Unwahrscheinlichkeit des Überlebens isolierter Individuen oder auch isolierter Familien wird transformiert in die (geringere) Unwahrscheinlichkeit ihrer strukturellen Koordination, und damit beginnt die soziokulturelle Evolution.“ (1979b, 414).23 Die auf den ersten Blick mit der Darwinschen Evolutionstheorie (als Umweltselektionstheorie) unvereinbare Prämisse der operativen Geschlossenheit und Eigenselektivität sozialer Systeme72 kann im Rekurs auf Theorien der Mehrebenenselektion aufgenommen und spezifiziert werden.73 Theorien der Mehrebenenselektion74 ermöglichen eine Wiederherstellung der weitgehend unterbrochenen Verbindung zwischen soziologischer Differenzierungstheorie und biologischer Evolutionstheorie auf einer erneuerten Grundlage.75 Hier liegen nicht nur die wichtigsten Anschlusspunkte für eine soziologische Theorie der kulturellen Evolution, sondern auch für die Wiederentdeckung des in der soziologischen Differenzierungstheorie weitgehend verdrängten Konfliktpotentials24 kultureller Sozialsysteme.76 Der mainstream soziologischen Denkens ist – ungeachtet der Divergenz zwischen methodologischen Individualismen und Kollektivismen – voreingenommen für friedliche und kooperative Lösungen sozialer Probleme. Das große schmutzige Geheimnis, dass alle historisch vorgefundenen Formen friedlicher Kooperation auf der Externali23 In einer Fußnote zum obigen Zitat verweist Luhmann auf entsprechende Ausführungen bei Spencer und fährt fort: „Diese Zeit einbeziehende, auf Dynamik abstellende Problemstellung schließt es aus, Evolution lediglich an ihren strukturellen Resultaten abzulesen, zum Beispiel an ihren Auswirkungen auf die Verteilung von Energie und Macht oder auf die Koordination von Integrationsebenen der Gesellschaft. Zwar ist es wichtig, solche Resultate mitzuerfassen, etwa in der Form von Verteilungen der Handlungspotentiale auf "Ebenen" oder "Subsysteme". Aber diese Resultate sind das, was die Evolutionstheorie erklären müßte. Die Beschreibung der entstandenen Differenzen ist selbst noch keine Evolutionstheorie, und dies auch dann nicht, wenn das Material in ein historisches Nacheinander eingeordnet, also als Sukzession dargestellt wird. Deshalb sehen wir das Problem in der Morphogenese von Komplexität.“ (Luhmann 1997: 415) 24 Auch im Hinblick auf die Bedeutung von Konflikten ist festzuhalten, dass das Luhmannsche Theorieangebot vom mainstream der Soziologie abweicht. Allerdings kommt das evolutionäre Risikopotenzial sozialer Konflikte unter den Prämissen der Reduktion auf Sinnsysteme nicht angemessen zum Ausdruck. Wenn Luhmann (im Anschluss an Simmel) Konflikt als sozialen Integrationsmechanismus beschreibt, überbetreibt er die Abstraktion von historischen Konfliktlagen. Konflikte sind nur unter zwei Bedingungen integrativ: wenn sie aus der Innenwelt der Systeme in die Außenwelt verlagert werden, oder wenn sie in Wettbewerbsformen zivilisatorisch eingehegt werden.

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sierung des Konfliktpotentials beruhen (oder zumindest damit einhergehen), wird aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängt. Man kann nicht mehr verstehen, wie jemals der „Krieg als Vater aller Dinge“ bezeichnet werden konnte.25 Der soziologisch interessante Punkt an Ebenenunterscheidungen der Evolutionsbiologie ist also darin zu sehen, dass es sich stets um Formen der Konfliktverarbeitung – der Einschränkung von Konkurrenzkonflikten77 auf der unteren Ebene und der Steigerung von Konfliktpotenzial auf der höheren (sozial höher aggregierten) Ebene – handelt.78 Auch in der kulturellen Evolution ist eine Verlagerung des Selektionsdrucks durch eine Systembildung mit Binnendifferenzierung zu beobachten, die den Selektionsdruck für die Individuen vermindert. Dieser Vorgang kann im weitesten Sinne als Organisation bezeichnet werden.79 Im Sinne jenes Organisationskonzepts, das der älteren Differenzierungstheorie zugrundeliegt, ist der Begriff des Organismus weder auf lebende Individuen in der natürlichen Evolution noch auf bestimmte soziale Formen in der kulturellen Evolution beschränkt.80 Er kann vielmehr auf alle Einheiten angewandt werden, die durch interne Differenzierung Konkurrenz unter Individuen beschränken und sie auf die Ebene der Sozialsysteme verlagern. Nicht nur die Objekte der Organisationssoziologie sondern auch Individuen81 und Gesellschaften lassen sich in diesem Sinne als Organismen beschreiben.82 Der ältere Gebrauch des Organismusbegriffs, an den Spencer, Durkheim u.a. noch anschließen, und an den auch die Rede vom Superorganismus83 in der neueren Evolutionssoziologie (Wilson/Sober 1989) wieder anknüpft, war nur lose mit der körperlichen Organisation von Lebewesen assoziiert. Organisation meint hier nichts anderes als funktionale Differenzierung, die sich einerseits als materiale Arbeitsteilung von der Interaktionsebene auf die Ebene größerer Einheiten und andererseits als symbolische Orientierung auf eine Metaebene verlagert.84 Die Einführung der Organismus-Metapher in die Soziologie85 ist häufig kritisiert86 und zurückgewiesen worden.87 Dabei ist jedoch zu wenig unterschieden worden zwischen zwei Versionen der damit konstruierten Analogie. Biologische Beobachtung hat gezeigt, dass sich in der Ontogenese (einschließlich der Embryogenese) gewisse Elementarformen vergangener Stadien der Phylogenese wiederholen. Mißverständnisse sind durch die Umkehrung dieser Beobachtung entstanden, worin 25 In den Kultur- und Sozialwissenschaften wird dagegen die Auffassung vertreten: „dass die Menschen und Tiere eine starke Hemmung haben, Artgenossen zu töten, dass Krieg eine Erfindung der jüngeren Zeit ist und dass Kämpfe zwischen indigenen Völkern harmlose Rituale waren, bis sie mit den europäischen Kolonisatoren zusammentrafen.“ (Pinker 2011: 73). Die grundlegende Bedeutung von Konkurrenzkonflikten zwischen Sozialsystemen wird nicht mehr in der soziologischen Differenzierungstheorie, sondern – vor dem Hintergrund globaler Konflikte (Huntington 1998) – eher in Kultur- und Religionssoziologie thematisiert. Zum Wiederanknüpfen an die Tradition sozialwissenschaftlicher Konflikttheorie Bonacker 2006 und mit Bezug auf globale Konflikte Bonacker/Weller 2008.


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die Menschheitsgeschichte nach dem Modell ontogenetischer Entwicklung modelliert wird. Hier ist also zu unterscheiden zwischen einem entwicklungstheoretischen und einem selektionstheoretischen Gebrauch der Organismus-Analogie: (1.) In der entwicklungstheoretischen Version, die sich auf die Entfaltung des Organismus aus einem schon vorprogrammierten Keim (Embryo) bezieht, wird eine Teleologie erzeugt, die mit der Darwinschen Theorie nicht vereinbar ist. Eine solche Argumentation ist z.B. in Comtes Drei-Stadien-Gesetz zu erkennen. Sie kehrt wieder in Stufentheorien, die den Verlauf der kulturellen Evolution analog zu den genetisch vorbestimmten Phasen ontogenetischer Entwicklung (als Fortschritt i.S. eines vorgegebenen Plans) rekonstruieren.88 (2.) In der selektionstheoretischen Version, die sich auf den sozialen Organismus als Schutzschirm89 gegenüber dem Selektionsdruck der Umwelt bezieht, ist keinerlei Teleologie enthalten. Die schützende Organisation kann durch Ausbau der ökologischen Nische und Binnendifferenzierung gesteigert werden – sie kann daran aber auch scheitern. Nur diese Version ist kompatibel mit der Darwinschen Theorie der Gruppenselektion.90 Ausgangspunkt für die Beschreibung kultureller Formen sozialer Differenzierung ist die evolutionäre Errungenschaft eines Replikationsmechanismus menschlicher Sozialsysteme, der nicht mehr auf der Weitergabe genetischer sondern symbolischer Merkmale91 basiert und damit erheblich raschere Anpassungsvorgänge ermöglicht. Als primordiale Form sozialer Differenzierung ist auch unter diesem Aspekt die Systembildung selbst zu betrachten, die zu einer durch symbolische Markierungen26 befestigten Differenz zwischen Innenund Außenwelt führt. Historisch geht Systemdifferenzierung jeder Ebenendifferenzierung voraus und reproduziert sich in entsprechenden Formen der Ebenendifferenzierung. Diese Formen sind als Mittel der internen Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten in Verbindung mit der Ausdehnung und Verdichtung menschlicher Sozialsysteme zu betrachten. Sobald sich aber ein Sozialsystem in seiner Umwelt ausdifferenziert hat,92 gibt es immer zwei Möglichkeiten, intern weiter zu prozedieren.93 Ebenendifferenzierung vollzieht sich nicht nur als Fortsetzung der Systemdifferenzierung im Inneren der Sozialsysteme (also in kommunikativ gegenüber dem individuellen Erleben verselbständigten und dadurch operativ geschlossenen Sinnstrukturen), sondern immer auch in (physisch-organisch gestützten) Interaktionsketten94 kooperierender und konkurrierender Akteure, die nicht operativ geschlossen sind. Es handelt sich um einen 26 Symbolische Markierungen (Richerson-Boyd 2005: 211-224) dienen der Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern nicht nur von Organisationen (worauf Luhmann verweist 1991: 202), sondern auch schon bei Familien und Verwandtschaftsgruppen, sozialen Bewegungen und anderen erweiterten Formen der menschlichen Sozialität zwischen der Mikroebene der Interaktion und der Metaebene der Gesellschaft.

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Wiedereintritt95 beider Seiten der System/UmweltUnterscheidung im Inneren der Sozialsysteme:27 Systeme im System werden gebildet durch Binnendifferenzierung. So entstehen Einheiten, die gegen den Selektionsdruck der Umwelt geschlossen erscheinen. Als solche kommen in der kulturellen Evolution nur Gesellschaften, ihre im Medium der Kommunikation (segmentär, stratifikatorisch, funktional) ausdifferenzierten Teilsysteme und ihre symbolisch generalisierten Elementareinheiten in Betracht. Die operative Geschlossenheit dieser Systeme wird auf der Metaebene96 der symbolisch generalisierten Formen erzeugt und in den Orientierungen der individuellen und kollektiven Akteure (auf Mikro- und Makroebene) verankert, mit denen sie die innergesellschaftlichen Umwelten voneinander abgrenzen, in denen sie miteinander konkurrieren. Umwelten im System werden gebildet durch die Publikumsbeziehungen der individuellen und kollektiven Akteure. In diesen Beziehungen kommt der durch kulturelle Gruppenevolution ins Innere der Gesellschaft verlagerte Selektionsdruck der Umwelt zur Wirkung, demgegenüber die miteinander kooperierenden und konkurrierenden Akteure keine operative Geschlossenheit besitzen. Wenn Luhmann in den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (im Anschluss an eine von Parsons eingeführte Terminologie, 1997:473ff.) den Selektionsmechanismus der kulturellen Evolution sieht, dann rekurriert er auf die inneren Umwelten kultureller Sozialsysteme, in denen ein Publikum als unbeteiligter Dritter97 die konkurrierenden Akteure selbst handlungsentlastet erlebt, beobachtet und über ihren Erfolg entscheidet. Der in den Publikumsbeziehungen der Akteure (Öffentlichkeiten, Märkte) wirksame Selektionsdruck wird einerseits gesteigert (ausgedehnt und höher aggregiert) durch technisch erweiterte Mittel der Kommunikation und andererseits einge27 Diese Verbindung zwischen Differenzierungstheorie und Systemtheorie ist bei Luhmann zuerst 1977 formuliert und i.S. von SystemDifferenzierung ausgebaut worden. Der Wiedereintritt der Umweltseite im System ist jedoch in der Folgezeit theoretisch unterbelichtet geblieben. Zunächst hat Luhmann selbst darauf hingewiesen, dass es einer evolutionären Systemtheorie nicht nur um System-im-System- oder System-zuSystem-, sondern auch um systeminterne System-Umwelt-Beziehungen gehen muß: “We must apply a system/environment theory and analyze the internal environments of functionally differentiated societies carefully to see the crucial point: the relation of each single functional subsystem to the society is not identical with the relation of each subsystem to its social environment; nor is this relation to the internal environment simply a set of inter-system relations.” (1977: 36) In diesem Sinne wären auf der Umweltseite nicht nur die jeweils anderen Funktionssysteme oder die Gesellschaft als Ganze zu betrachten, sondern auch die funktionsspezifischen Öffentlichkeiten, Märkte und Wettbewerbsformen ihrer Organisationen. Der Wiedereintritt der Umweltseite im System ist von Luhmann in der Folgezeit mit eher formalen Argumenten aus der systemtheoretischen Untersuchung ausgeschlossen worden: „Der Formenkatalog [der Differenzierungsformen segmentär, zentral/peripher, stratifikatorisch und funktional] ist mit Hilfe der Unterscheidung von gleich und ungleich gewonnen. Diese Unterscheidung paßt nur auf Vergleichbares, also nur auf Systeme, nicht aber auf System/Umwelt-Beziehungen (denn es hat keinen Sinn, die Umwelt im Verhältnis zum System als "ungleich" zu bezeichnen). Eben deshalb mußten wir die Theorie der Differenzierungsformen auf System-zu-System-Beziehungen beschränken.“ (1997: 613f.)


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schränkt durch die Binnendifferenzierung der innergesellschaftlichen Umwelt. Für die aus der Evolutionsbiologie stammende Unterscheidung von vier Objektbereichen – Gene, Organismen, Populationen, Arten – lassen sich parallele Unterscheidungen mit Bezug auf Phänomene der kulturellen Evolution bezeichnen. Die entsprechenden Objekte der Selektion sind Symbole, Individuen, Organisationsformen und Gesellschaften. Diese Parallelität ist nicht nur als formale Analogie zu betrachten, sondern als Folge realer Differenzierungsprozesse, die auf die Einbettung der kulturellen Evolution in die grundlegenden Mechanismen der natürlichen Evolution verweisen.98 Um kulturelle Evolution zu verstehen, ist es wichtig, den Dualismus der Replikation symbolischer und materieller Faktoren als Einheit zu fassen,99 deren evolutionäres Potential gerade auch davon abhängt, dass sie zur Seite der natürlichen Welt niemals völlig geschlossen ist. Die Kombination aus Offenheit und Geschlossenheit ist als materiell-geistiger Doppelcharakter100 in kulturelle Sozialsysteme eingebaut101, weil sie sich einerseits zwar mittels symbolischer Markierungen von der Umwelt abgrenzen, mit diesen Markierungen aber niemals nur (selbstreferenziell) auf Symbolisches,102 sondern immer auch auf materielle Entitäten (Individuen, Gruppen, Populationen) beziehen.103 In der folgenden Skizze wird versucht, die vier Objektbereiche durch Unterscheidung von zwei Ebenen mit zwei Ausprägungen104 aufzugliedern. Die schematische Darstellung nimmt die Unterscheidung irreduzibel verschiedener Typen der Systembildung in der vertikalen Dimension auf und kombiniert sie in der horizontalen Dimension mit der Unterscheidung zwischen operativ offenen (dem Selektionsdruck der Umwelt direkt ausgesetzten) und operativ geschlossenen (dem direkten Selektionsdruck entzogenen) Einheiten.105 Natürliche Evolution (mit Mehrebenenselektion) Makroebene

Metaebene

Selektion II

Populationen

Arten

operativ

offen

geschlossen

Variation / Selektion I

Organismen

Gene

Mikroebene Kulturelle Evolution

Mikroebene

Selektion III

Replikation / Variation

Makroebene

Metaebene

Selektion

Gruppen (Organisation)

Gesellschaften (Differenzierung)

operativ

offen

geschlossen

Variation

Individuen (Interaktion)

Symbole (Markierung)

Mikroebene

Mikroebene

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Restabilisierung

Replikation

Die Unterscheidung in der vertikalen Dimension106 als Mikro- und Makroebene folgt der in vielen Disziplinen eingeführten Terminologie.107 Evolutionsbiologisch108 ist die empirisch gleichzeitige Gegebenheit und Irreduzibilität der Ebenen vorausgesetzt, auf der individuelle Organismen und ihre Sozialsysteme erscheinen.109 Die Unterscheidung in der horizontalen Dimension bezieht sich auf Unterschiede in den Eigenschaften der Phänomene als Varianten und Objekte der Selektion.110 Es geht um den Unterschied zwischen operativ offenen Einheiten, die als solche (auf beiden Ebenen) der Umweltselektion in einem körperlichen Sinne111 direkt ausgesetzt sind – das gilt für Organismen und Populationen ebenso wie für menschliche Individuen und Organisationen112 – und operativ geschlossenen Einheiten, die der Selektion nur indirekt ausgesetzt sind, nämlich (a) als elementare (molekulare) Merkmale natürlicher und kultureller Einheiten auf der Mikroebene und (b.) als emergente und durch differentielle Selektion auf der Metaebene erzeugte Superphänomene mit geteiltem Genpool bzw. institutionellem Wissensvorrat.113 Mit der Unterscheidung in der horizontalen Dimension des Schemas versuche ich auch Einwänden von Luhmann gegen die Mikro-Makro-Unterscheidung Rechnung zu tragen (Luhmann 1997b).114 Die an Größenunterschieden (raum-zeitliche Ausdehnung) festgemachte Unterscheidung lässt sich nicht ohne weiteres übertragen auf symbolische Repräsentationen – weder auf die summarische Bezeichnung von Gesellschaften noch auf die singulären Erkennungsmerkmale der Zugehörigkeit von Individuen.28 Dies ändert aber nichts daran, dass es evolutionstheoretisch einen Unterschied macht, ob wir es mit der face-to-face-Interaktion von Individuen zu tun haben oder mit global agierenden Organisationen.115 Selektion im Darwinschen Sinne vollzieht sich nicht auf der Ebene der (wahrgenommenen) Arten, sondern auf der Ebene der (lebendigen) Populationen.116 Übertragen auf kulturelle Evolution heisst das: sie findet nicht auf der Ebene der Gesellschaften117, sondern auf der Ebene

28 Die Frage, ob es unabhängig von der kulturellen Evolution menschlicher Populationen oder in loser Koppelung auch eine Evolution kultureller Sinngehalte (Ideenevolution) gibt, lasse ich hier beiseite. Jedenfalls ist davon abzuraten, menschliche Sozialsysteme nicht nur als Reflexionsformen kultureller Selektion auf der Metaebene, sondern auch als selbst evoluierende Einheiten zu bezeichnen. Es würde wieder auf ein teleologisches Organismus-Konzept hinauslaufen.


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der Populationen29 sozialer Akteure statt. Es ist also zu unterscheiden zwischen zweierlei Objekten der Selektion: nämlich (1.) den sinnlich wahrnehmbaren Objekten, die als variantenreiche Träger von Merkmalen des Genpools und des kulturellen Wissensvorrats zu Angriffspunkten der Selektion werden und (2.) den latenzgeschützten, dem direkten Zugriff der Umwelt entzogenen Objekten, den Replikationseinheiten, die als Buchhalter vergangener Selektionen118 fungieren, zugleich (mittels kulturell implementierter Regeln) aber auch zu „stabilisierenden“ Orientierungsmitteln für den Vollzug von Selektion werden.119 In den folgenden Abschnitten ist zu zeigen, wie das hier entwickelte Instrumentarium eingesetzt werden kann, um in der kulturellen Evolution angelegte reale historische Differenzierungsprozesse zu beschreiben.120 4. Formen sozialer Differenzierung als Medien der Konfliktverarbeitung121 Wenn „am Anfang ... die Differenz“ war, dann gibt es auch kein Ziel, das in der kulturellen Evolution angelegt wäre. So folgert Luhmann (1997: 451f.): „Die Unterscheidungen der Evolutionstheorie bezeichnen mithin Differenzen, die Differenzen prozessieren. Und es ist diese Struktur, die es unnötig werden läßt, von einem Endziel oder einem Gesetz der geschichtlichen Bewegung zu sprechen.“122 Es gibt allerdings historische Pfade, die durch evolutionäre Errungenschaften (mit sogenanntem Sperrklinkeneffekt) festgelegt sind. Diese Pfadstrukturen lassen sich mit den Mitteln einer evolutionstheoretisch angeleiteten Differenzierungstheorie beschreiben. Die allgemeine Beschreibung evolutionärer Funktionen – Replikation, Variation, Selektion und Restabilisierung – ist zu unterscheiden von der Beschreibung konkreter Mechanismen, die in bestimmten historischen Formen zur Wirkung kommen.123 Dementsprechend ist auch die allgemeine Beschreibung sozialer Systemdifferenzierung zu unterscheiden von der Beschreibung historischer Formationen sozialer Differenzierung: „... segmentäre Gesellschaften, stratifizierte Gesellschaften und funktional differenzierte Gesellschaften ... unterscheiden sich durch das für die Primärstrukturierung benutze Differenzierungsprinzip und sodann durch die Komplexität gesellschaftsinterner und –externer Umwelten, die ermöglicht und mit Systembildung kompatibel gemacht wird.“ (Luhmann 1981: 187). 124

29 Mit dem Begriff der Population sind soziale Makroeinheiten mit klar umrissenen Umweltgrenzen und organisierter Binnendifferenzierung bezeichnet. In dieser Hinsicht kommen zunächst Staaten, in der Moderne aber eben auch andere organisierte Supersysteme in Betracht. (Deshalb hat sich Luhmann immer wieder gegen die theorietraditionelle Gegenüberstellung oder auch Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft gewandt.) Dagegen bezeichnet der Gesellschaftsbegriff ähnlich wie der der Arten in der Biologie operativ geschlossene Einheiten, die nicht direkt der Umweltselektion ausgesetzt, aber durch einen geteilten Genpool (bzw. Wissensvorrat) definiert sind. In diesem Sinne ähnelt der Gesellschaftsbegriff dem Begriff der Kultur – mit der Spezifikation, dass sich in der Moderne eine Weltkultur ausbildet und deshalb die Verwendung des Begriffs im Plural immer schon auf Konflikte verweist.

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Gegen Luhmanns Beschreibung der kulturellen Evolution entlang des historischen Primats sozialer Differenzierungsformen sind zwei Einwände erhoben worden, die m.E. nur teilweise zutreffen (und durch evolutionstheoretische Reformulierung ausgeräumt werden können). Ein grundlegender Einwand richtet sich gegen die Rigidität des Schemas – segmentär, stratifikatorisch, funktional – das nicht genügend Raum für die Beschreibung anderer Differenzierungsformen125 und ihrer Kombinationen ließe und zudem – trotz gegenteiliger Behauptungen Luhmanns – als teleologische Konstruktion erscheint.30 Gegen diesen Einwand ist darauf zu verweisen, dass sozialwissenschaftliche Darstellungen, die sich überhaupt auf allgemeine Aussagen über die Menschheitsgeschichte einlassen,126 implizit oder explizit (um nicht zu sagen: unvermeidbar) mit einer ähnlichen Dreiteilung operieren.31 Viele Autoren unterscheiden zwischen der Kultur der Moderne, traditionellen Hochkulturen und den kulturellen Formen von Stammesgesellschaften. Unterschiede zur Luhmannschen Dreiteilung sind eher terminologisch: Die meisten Autoren machen die erste Epochenschwelle an dem Aufkommen staatlicher Herrschaftsformen fest, während Luhmann den Begriff des Staats für die moderne Gesellschaft reserviert.127 Die Unterscheidung zwischen staatlichen und vorstaatlichen Gesellschaften hat den Vorteil, mit dem Gewaltmonopol eine für die Evolution kultureller Sozialsysteme grundlegende Form der Konfliktverarbeitung herauszustellen. Ein anderer Einwand (der sich ebenfalls auf den Verdacht einer Entwicklungslogik in der Luhmannschen Theorie der Evolution stützt) bezieht sich darauf, dass in Luhmanns Darstellung eine zureichende Erklärung für den Wechsel im historischen Primat der Differenzierungsformen – also für den Übergang von segmentär zu stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften und von diesen zur funktional differenzierten Gesellschaft – fehle. Auch dieser Einwand ist nur zum Teil berechtigt (und soweit berechtigt durch evolutionstheoretische Reflexion

30 In diesem Sinne u.a. Blute 2002. Ich habe diesen Einwand schon oben mit Bezug auf zweierlei Verwendungen der Organismus-Analogie relativiert. Dazu gehört auch der Hinweis auf den „Sperrklinkeneffekt“ evolutionärer Errungenschaften. 31 Luhmann selbst ist auf den Einwand einer typologisch vergröberten Epocheneinteilung i.S. einer teleologischen Dreistufenlehre bereits eingegangen (1997: 515f.) Dazu auch Stichweh (1994:41) „Beim jetzigen Stand der Diskussion scheint es hier einen natürlich nicht unbestrittenen Minimalkonsens zu geben, der von einer primär segmentären Differenzierung einfacher Gesellschaften, einer hierarchischen Differenzierung in traditionalen Hochkulturen und einer funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft ausgeht. Das würde unter anderem implizieren, daß beispielsweise Zentrum/Peripherie nie als primäre Differenzierungsform vorgekommen ist, ihr vielleicht eher Überleitungsfunktionen beim Übergang von einem Primat zu einem andern zuwuchsen oder sie neben Stratifikation als weitere Form asymmetrischer Strukturierung traditionaler Hochkulturen tritt.“ – Starke Einwände, allerdings weniger gegen die Typologie der Formen, sondern gegen die These vom historischen Primat einer Differenzierungsform bei Hondrich 1987. Vgl. zur historischen Gesellschaftstypologie auch schon Tenbruck 1972. Zur Verwendung einer groben Dreiteilung der Gesellschaftsgeschichte s. neuerdings Bellah 2011, North et al. 2011, Pinker 2011.


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zu entkräften).32 Als wichtige Auslöser von historischen Umbrüchen in den Differenzierungsformen führt Luhmann technische Innovationen an. In dieser Hinsicht hat er den Werkzeugcharakter der menschlichen Sprache und ihrer technischen Erweiterungen als Variationsmechanismus herausgestellt: „Deshalb verändern die großen Schwellen in der Entwicklung der Kommunikationstechnik, nämlich der Übergang von mündlicher zu schriftlicher und der Übergang von mündlich/schriftlicher zu zusätzlicher technisch verbreiteter Kommunikation (Massenkommunikation) auch die Bedingungen der Evolution: Die Kapazitätserweiterung des Variationsmechanismus erfordert andere Formen der Selektion und andere Formen der Stabilisierung.“ (Luhmann 1981: 185). In dieser Hinsicht ist allerdings nicht nur die Technisierung der Kommunikationsmittel im Inneren sondern auch die Technisierung der Mittel in der Auseinandersetzung mit anderen Sozialystemen sowie mit der äußeren Natur einzubeziehen.128 Der Anschein der „Härte“ der technischen Artefakte und der Zielgerichtetheit von Technisierungen ist nur der Widerschein der Konkurrenzkämpfe, in denen die Technik als Mittel zum Einsatz kommt: als Beherrschungstechnik gegenüber der äußeren Natur, als Waffentechnik gegenüber konkurrierenden Sozialsystemen und als Kommunikationstechnik in der Vernetzung des Sozialsystems selbst. Das Ziel der Technisierung liegt also gar nicht in der Sache (dem „stählernen“ Gehäuse der Sozialität) selbst, sondern in den Konkurrenzvorteilen, die ihre jeweiligen Betreiber aus der Anwendung ziehen. Das macht Technisierung zu einem Zufallsgenerator in der Evolution kultureller Sozialsysteme. Der damit ermöglichte „Fortschritt“ im Ausbau des soziokulturellen Gehäuses kommt erst unter den Bedingungen der Differenzierung zum Vorschein, die die innergesellschaftliche Konkurrenz regulieren und stabilisieren.129 Charakteristisch für die einfachsten kulturellen Formen33 ist die Bildung gleichartiger Subsysteme, die durch strenge Regulierung der Generations- und Geschlechtsbeziehungen (Inzestverbote) bestimmt sind.130 32 Dieser Einwand ist m.W zuerst von Kuchler (2003) vorgetragen worden. (Allerdings hatte schon Tyrell 1978: 180 angefragt, ob Luhmanns Differenzierungstheorie historisch unterbestimmt sei.) Einschränkend ist aber darauf hinzuweisen, dass Luhmann für die Innenseite der Sozialsysteme mit Bezug auf die Entwicklung der technischen Kommunikationsmittel von Sprache über Schrift zum Buchdruck und neuen Medien ein mächtiges Instrument der Ausdehnung und Verdichtung bezeichnet hat, das durchaus geeignet ist, den Zusammenbruch älterer und die Suche nach neuen Differenzierungsformen zu erklären. Was (in der Konsequenz des Autopoiesis-Konzepts) bei Luhmann fehlt, ist der Bezug auf Mittel der Kriegsführung und der Naturbearbeitung, mit dem auch die Ausdehnung auf Kosten konkurrierender Sozialsysteme und Veränderungen ihrer ökologischen Nische in die Erklärung einbezogen werden können. 33 Obwohl die Datenlage dazu in vieler Hinsicht nur spekulative Aussagen erlaubt, ist in evolutionstheoretischer Perspektive noch einmal zu unterscheiden zwischen primordialen Formen der Sozialität in dem langen Prozess der Hominisation und den primären Formen der Jäger- und SammlerKulturen – s. Turner/Maryanski 2008: 129ff., die in dieser Hinsicht v.a. den Vergleich mit der Sozialität von Menschenaffen (insbesondere Schimpansen) heranziehen.

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Vorschriften zum Frauen- und Gabentausch dienen der Vermeidung von Konkurrenzkonflikten131 zwischen den sozialen Subsystemen (Verwandtschaftsgruppen, Clans) und sichern die Bildung größerer (segmentär differenzierter) Systeme.132 Das grundlegende Problem einfacher Sozialsysteme, das durch segmentäre Differenzierung im Rahmen einer Gabenökonomie gelöst wird, bilden die auf der Basis reziproker Reaktionen ansonsten unbeendbaren Racheketten in Folge von Konflikten. Das Nullsummenspiel der Gabenökonomie ist jedoch nicht vereinbar mit den erweiterten Verteilungsmöglichkeiten, die aus den technischen Errungenschaften der Landwirtschaft erwachsen. Das Wiederaufbrechen der Konkurrenzkonflikte zwischen den beteiligten Herkunftsgruppen kann nur beendet werden durch die Herausbildung staatlicher Herrschaftsformen mit Gewaltmonopol. Auch in den kulturell weiter ausdifferenzierten Agrargesellschaften und den auf schriftlicher Überlieferung133 basierenden Hochkulturen bleibt die Verwandtschaftsgruppe der primäre Bezugspunkt auf der Mikroebene. Sie sind jedoch nicht mehr nur segmentär sondern auch hierarchisch (nach Schichten) eingeordnet. Damit steigen die Freiheitsgrade für die Entwicklung vielfältig verschiedener Lebensformen, aber auch die sozialen Ungleichheiten134 im Inneren der Sozialsysteme. Gegen die aus moderner Sicht übliche Lesart der Strukturen traditioneller Hochkulturen hat Luhmann deutlich gemacht, dass es auch bei stratifikatorischer Systembildung primär um die Kommunikation unter Gleichen geht: „equality becomes a norm for internal communication and inequality becomes a norm for communication with the environment." (Luhmann 1977: 33). Die durch Stratifikation erzeugte Ungleichheit kann somit als ein Sekundäreffekt – i.S. der Externalisierung von Konkurrenzkonflikten – betrachtet werden.34 Das grundlegende Problem stratifikatorisch differenzierter Gesellschaften bleibt die Legitimation der sozialen Ungleichheit, einschließlich der der Repräsentanten staatlicher Gewalt, die auf eine göttliche Macht verlagert wird, somit unsichtbar und für die Akteure auf direktem Wege nicht erreichbar wirkt. Diese Form der Legitima34 Zu den evolutionären Vorteilen hierarchischer Formen der Mehrstufigkeit schreibt Luhmann bereits in seiner frühen Politischen Soziologie: „Gesellschaften, die über eine permanente, nicht nur in Notfällen zu improvisierende und nicht an Verwandtschaft gebundene Herrschaftsstruktur verfügen, erweisen sich als anderen normalerweise überlegen. Ihre Struktur bleibt, von vollständigen Katastrophen abgesehen, erhalten, auch wenn sie besiegt und unterjocht werden, weil sich andere soziale Mechanismen, vor allem Religion, militärische Organisation und Wirtschaft auf Herrschaft eingestellt haben und sie stabilisieren dadurch, daß sie sie voraussetzen. Angesichts der Bedeutung des Hierarchiegedankens und angesichts seiner Nachwirkungen bis in heutige Auffassungen von Staat und Gesellschaft hinein lohnt es sich, diesen Erfolg systemtheoretisch etwas genauer zu analysieren. Dabei stößt man auf zwei zusammenhängende Momente, die wir als Mehrstufigkeit und als strukturelle Unbestimmtheit systeminterner Prozesse bezeichnen können. ... Eine solche Spezialisierung ist nur erreichbar, wenn die Spezialrollen im System generelle Unterstützung erfahren, das heißt ohne Rücksicht auf das Ergebnis einzelner Entscheidungsprozesse mit Mitteln und Legitimität ausgestattet werden.“ (Luhmann 2010: 61)


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tion staatlicher Herrschaft wird jedoch zunehmend prekär mit der Ausdehnung und Verdichtung der menschlichen Sozialität, die durch technisch erweiterte Kommunikationsmittel (insbesondere den Buchdruck) in der Neuzeit erreicht wird. Sie wird daher in der modernen Gesellschaft abgelöst durch die innerweltliche Form der Legitimation durch das Volk (Demokratie). Alle Formen der Binnendifferenzierung sozialer Systeme sind als Beschränkungen der Konkurrenz zugunsten der Aufrechterhaltung des sozialen Schutzschirms gegenüber dem Selektionsdruck der Umwelt zu erklären.135 Zugleich ist als ein durchgängiges Muster der kulturellen Evolution die Verlagerung der verhaltenssteuernden Unterschiede von material fixierten zu symbolisch generalisierten Formen zu beobachten.136 In allen Formen sozialer Differenzierung ist das andauernde Ordnungsproblem zu identifizieren, das in der dreifachen Externalisierung von Konflikten (1.) durch Exklusion Abweichender, (2.) durch Verlagerung auf die Systemebene in Kriegen und (3.) durch transzendentale Legitimation137 der diesbezüglichen Gewaltmittel zum Ausdruck kommt. Dieses tradierte Modell der Konfliktverarbeitung gerät durch die globale Ausdehnung und Vernetzung der Kommunikation in der modernen Gesellschaft in Schwierigkeiten. Das ist der Grund, warum Formen der Binnendifferenzierung, die in der Theorietradition stets als Lösung von Ordnungsproblemen erschienen, in der modernen Kulturkritik eher als Teil des Problems beschrieben werden.35 Sowohl für Stammesgesellschaften wie auch für alle traditionalen Gesellschaftsformen gilt, dass Konflikte im Inneren durch Formen sozialer Differenzierung (der Ein- und Ausgrenzung) unterdrückt und Konflikte (mit konkurrierenden Sozialsystemen) im Äußeren mit großer Härte und Opferbereitschaft ausgetragen werden.138 Im Hinblick auf die moderne Gesellschaft ist nun zu erkennen, dass die traditionelle Form kultureller Doppelmoral139 – friedlich nach Innen, kriegerisch nach Außen – zunehmend problematisch wird, weil in Folge der globalen Ausdehnung und internen Verdichtung140 der Gesellschaft keine konkurrierenden Sozialsysteme mehr zur Verfügung stehen.141 Alle Konkurrenzkonflikte müssen in dem global erweiterten Innenraum ausgetragen werden142 und entweder durch neue Formen sozialer Binnendifferenzierung gezähmt oder zum Sprengsatz für die soziale Ordnung werden.143 5. Ebenendifferenzierung als zivilisatorische Errungenschaft der Moderne144 In sozialwissenschaftlichen Theorien der Modernisierung ist der wichtigste Unterschied zwischen traditionellen und modernen Gesellschaften an den Freiheitsund Gleichheitsrechten der Individuen festgemacht worden. Daher erscheint es nur schwer verständlich, 35 Ich beziehe mich auf die diversen Theorien über das Unbehagen an der Moderne, die (mehr oder weniger romantisch verklärt) eine Entdifferenzierungsprogrammatik vertreten. S. nur Taylor 1995.

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dass Luhmann Ebenendifferenzierung generell als Freiheitsgewinn interpretiert hat, obwohl es sich doch – zumindest in den hierarchischen Formen, die in den letzten drei- bis sechstausend Jahren die Sozialsysteme der Menschheit dominierten – eher um Institutionen sozialer Ungleichheit und der Beschränkung individueller Freiheiten handelte. Die (paradoxe) Provokation145 des Luhmannschen Arguments besteht wohl darin, dass all diese Beschränkungen dazu gedient haben, den Freiheitsspielraum im Inneren der soziokulturellen Gehäuse gegenüber dem Selektionsdruck der äußeren Umwelt erhöht haben.36 Allerdings hat erst die moderne Gesellschaft Formen der Ebenendifferenzierung hervorgebracht, in denen auch die Freiheitsspielräume der Individuen gegenüber dem Selektionsdruck im Inneren der soziokulturellen Systeme gewachsen sind. Binnendifferenzierung kann als Folge der technischen Ausdehnung und Verdichtung menschlicher Sozialsysteme – also als Reaktion auf intern gesteigerten Selektionsdruck – erklärt werden. Dies gilt auch für die Wahrnehmung verschiedener Ebenen menschlicher Sozialität, die mit jeder neuen Form der Binnendifferenzierung einhergeht. Die in allen Formen menschlicher Sozialität zu beobachtende Differenz zwischen der körperbasierten Interaktion unter Anwesenden und den symbolisch markierten Grenzen der Gesellschaft wird durch Ausdehnung der Sozialsysteme mit technischen Mitteln, die historische Umbrüche in der dominanten Differenzierungsform auslösen, immer weiter auseinandergezogen. Im Anschluss an die theorietraditionelle Unterscheidung historischer Großformationen sozialer Binnendifferenzierung146 ist zu erkennen, dass es sich nicht nur bei den Formen stratifikatorischer Differenzierung147 sondern auch bei segmentärer und funktionaler Differenzierung148 immer auch um Formen der Ebenendifferenzierung149 handelt.150 Bei segmentärer Differenzierung gilt dies nur in dem elementaren Sinne der übergeordneten Regeln für den Frauen- und Gabentausch.151 Bei funktionaler Differenzierung gilt dies in einem spezifisch gesteigerten Sinne: (a) durch Auseinanderziehen der Ebenen der Interaktion152 auf der Mikroebene als Privatsphäre37 gegenüber einer Makroebene der Interak36

Den Freiheitsgewinn in hierarchischen Formen der Ebenendifferenzierung stellt auch Stichweh heraus: „Ein zweite Implikation hierarchischer Komplexität ist, daß sie ein anderes Gleichgewicht von Freiheitsspielräumen für Variation und Stabilisierungspotentialen zu beschreiben erlaubt. Einerseits führt die Autonomisierung der Ebenen dazu, daß für jede einzelne Ebene ein größerer Freiraum für eine gleichsam unkontrollierte Drift durch ihre Möglichkeitsräume entsteht, und andererseits treten Stabilitätsvorteile bei Fehlern in der Informationsübertragung auf, weil eine Mehrzahl von Ebenen zur Verfügung steht, auf denen eine eventuelle Störung noch aufgefangen werden kann.“ Stichweh 1999: 10. 37 Das tradierte Konzept der Privatheit, das aus einer frühen Entwicklungsstufe der modernen Gesellschaft stammt und die Privatsphäre primär als Schutzraum vor Übergriffen der Staatsmacht definierte, erscheint heute zunehmend obsolet in Folge der enormen Ausdehnung der Sphäre der Interaktion unter Individuen durch neue Medien. So wird erkennbar, dass das entscheidende Merkmal der Ebenendifferenz zwischen Privatheit und Öffentlichkeit nicht in der Unbeobachtbarkeit sondern in der Unkontrolliertheit des privaten Verhaltens – also nicht im Datenschutz, sondern in den Freiheitsrechten – liegt.


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tion als öffentliche Sphäre38 und (b) durch Auseinanderziehen der Ebenen der Organisation auf der Mikroebene als disziplinierender Austausch durch Mitgliedschaft gegenüber der Makroebene der Organisationen als Austauschbarkeit der Individuen durch Funktionsstellen.39 Die moderne Gesellschaft kann in den verschiedenen Stockwerken ihres Gehäuses soziale Gleichheit (konkurrenzsteigernd) und Ungleichheit (konkurrenzvermeidend) zugleich unterbringen.153 Die extreme Ausdifferenzierung der Ebenen, auf denen diese Prozesse verlaufen, wird zum Merkmal der modernen Gesellschaft. Hier wird augenfällig, was Luhmann zu der verallgemeinernden Aussage veranlasst hat: „Die Differenz von Gesellschaft und Interaktion transformiert Bindung in Freiheit" (1984: 570).154 In dieser Form der Ebenendifferenzierung ist das Zusammenwirken evolutionärer Errungenschaften mit einem langen historischen Vorlauf zu beobachten. Die Form der Organisation durchbricht das Muster der Koordination über geteilte Handlungsmotive (Zwecke). Man muß sich für das Produkt nicht interessieren, um sich auf Kooperation einzulassen. Die Form der Öffentlichkeit durchbricht das Muster der interaktiven Reziprozität („Tit for Tat“.155) Man kann sich am Publikum nicht rächen, wenn es schlechte Leistungen bestraft.40 Als eine Form der Technisierung der Kommunikation in (gegenüber dem individuellen Erleben) verselbständigten Handlungsketten wird die moderne Mitgliedschaftsorganisation zu einem dauerhaften Moment des Variationsmechanismus der kulturellen Evolution.156 Als eine Form der Technisierung der Kommunikation in (gegenüber dem individuellen Handeln) verselbständigten Erlebensformen (Publikumsrollen157) wird Öffentlichkeit158 in der Moderne zu einem ebenso dauerhaften Moment159 innergesellschaftlicher Umweltselektion.160

38 So heißt es dann bei Luhmann 1997: 825f: „In den Funktionssystemen können nun die für sie spezifischen Rollenasymmetrien [Leistungs- und Publikumsrollen - kg] verstärkt werden, weil sie andere Rollen nicht mehr mitzuberücksichtigen haben. ... Was man von der Gesellschaft weiß, weiß man aus den Massenmedien.“ Ausführlicher dazu 1997: 1096ff. 39 Der evolutionäre Zusammenhang zwischen der Bildung formaler Organisationen und funktionaler Differenzierung wird in der typologischen Betrachtung der Systemebenen eher verdeckt. Eine in dieser Hinsicht deutliche Formulierung findet sich in einem erziehungswissenschaftlichen Handbuch-Artikel von Luhmann (1969: 399ff ): „eine komplexe funktional-differenzierte Gesellschaftsstruktur“ ist „nur durch Organisation möglich, und zwar deshalb, weil die primären Teilbereiche der Gesellschaft, etwa Politik und Verwaltung, Wirtschaft, Religion, Kultur, Freizeitvertreib, Krankenpflege usw. nur durch Organisation entsprechender Teilsysteme getrennt und an spezifischen Funktionen ausgerichtet werden können. In dem Maße, als die Gesellschaft durch funktionale Differenzierung hohe Komplexität erreicht, wird Organisation als Systembildungsprinzip in all ihren Teilbereichen unentbehrlich“. 40 Zur Beschreibung des langen historischen Vorlaufs der modernen Formen der Öffentlichkeit gehört, dass ihr Selektionseffekt auf der „indirekten Reziprozität“ beruht, die sich in Reputation niederschlägt (Nowak 2011: 51ff.) wie auch die Projektion auf ein überirdisches Wesen, das Alles sieht und soziales Fehlverhalten mit Reputationsverlust und Höllenfeuer bestraft. Dem entspricht die für moderne Formen der Öffentlichkeit konstitutive (aber auch unter irdischen Bedingungen letztlich unerfüllbare) Forderung nach Transparenz.

Variation Technisierung

Selektion Wettbewerb

Makroebene

Organisation

Öffentlichkeit

Mikroeebene

Interaktion

Privatheit

Handeln

Erleben

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Das mit älteren Formen der Binnendifferenzierung menschlicher Sozialsysteme durchgesetzte Muster der Vermeidung von Konkurrenzkonflikten im Inneren und ihrer Verlagerung auf die Ebene der Konkurrenz zwischen den Systemen ist in der globalisierten Gesellschaft der Moderne nicht mehr fortsetzbar.161 Die Ausdifferenzierung verschiedener Ebenen der Sozialität ermöglicht hier die Wiedereinführung von Konkurrenz in sozial geregelten Formen. Nur auf der Metaebene ist Konkurrenz noch ausgeschlossen – und dies auch nur soweit der Primat funktionaler Differenzierung durchgesetzt ist.41 Funktionssysteme stehen in einem Verhältnis zueinander, in dem sie sich wechselseitig nicht ersetzen, also auch nicht konkurrieren können. Auf der Makroebene der Organisationen findet Konkurrenz – nach dem Muster der Überlebenskonkurrenz, jedoch politisch reguliert als Wettbewerb162 – in historisch nie zuvor für möglich gehaltenem Maße statt.42 Auf der Mikroebene der Individuen findet mehr als je zuvor Konkurrenz nach dem Muster der immer schon internalisierten Fortpflanzungskonkurrenz statt.163 Menschliche Individuen sind immer schon in zweifacher Weise an den Formen sozialer Systembildung durch Gruppenselektion beteiligt: als natürliche Organismen und als Träger kultureller Replikationseinheiten.164 Steigerungsformen der menschlichen Individualität entstehen in der Moderne gerade dadurch, dass die Individuen (in ihren kulturellen Orientierungen) nicht mehr bestimmten Teilsystemen (Strata) angehören. Interaktionssysteme bilden von Gruppenzwängen freigesetzte Spielräume (Freisetzung natürlicher Dispostionen im Rahmen eher loser Bindungen).165 Darüber entwickeln sich Organisationen als soziale Makroebene, die in scharfem Kontrast dazu gerade durch strenge Regulierungen166 sich auszeichnet. Von einer gesonderten Ebene der Gesellschaft kann hier nicht mehr in einem ontologisch-substanziellen Sinn – also eines sozialen Netzwerks mit ungeregelten Between-GroupKonkurrenzen – sondern nur noch i.S. einer Metaebene 41 Dass dies aber nicht generell schon der Fall ist, zeigt sich an dem Umstand, dass der Zugang zu den Leistungs- und Publikumsrollen der meisten Funktionssysteme an die im Rahmen der Weltgesellschaft noch segmentär ausdifferenzierte Staatsbürgerschaft gebunden ist. 42 Diese Aussage bezieht sich keineswegs nur auf die – in den Diskursen über Globalisierung meist zuerst genannte – Regulierung der Konkurrenz unter Akteuren der Wirtschaft (insbesondere der Finanzwirtschaft) sondern auch auf die Konkurrenz in anderen Funktionssystemen. Hier ist sogar die Regulierung der Konkurrenz unter den Akteuren der Politik an erster Stelle zu nennen. Denn die Aufteilung der politischen Macht im geregelten Wechsel und parlamentarischen Zusammenspiel zwischen Regierung und Opposition ist gewissermaßen der Paradefall für die zivilisatorischen Errungenschaften der Reinternalisierung von Konkurrenzkonflikten auf der Makroebene.


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gesprochen werden, die die von den Individuen (auf der Mikroebene) internalisierten Orientierungen mit Bezug auf alte und neue Differenzierungsformen der Gesellschaft enthält.43 Die zunehmende Differenzierung zwischen einer Mikroebene der Interaktion mit ihren enorm gesteigerten Freiheitsgraden für die Entfaltung der natürlichen Dispositionen der Individuen44 und einer Makroebene mit ihren durch hochspezialisierte Organisationen und Wettbewerb disziplinierten Verhaltensmustern kann einerseits als Lösung (für die Probleme einer global ausgedehnten Gesellschaft167) und andererseits als Problem (für die gesteigerten Anforderungen an die Bildungsprozesse) der Individuen beschrieben werden.45 168 Virulente Konflikte entwickeln sich auf der Makroebene typischerweise in den Zwischenräumen staatlicher Regulierungsmacht in mißlingenden Formen funktionaler Differenzierung (failed states, Korruptionsnetzen, neuen Kriegen169, fundamentalistischen Bewegungen170 etc.171) und auf der Mikroebene typischerweise in mißlingenden Bildungsprozessen von Individuen, denen schon in ihren primären Sozialisationsprozessen Voraussetzungen für die Entfaltung des unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung erforderlichen Grades an Individualisierung fehlten.172 43 So ist auch der innerfachliche Streit darüber, ob die Soziologie – entgegen der landläufigen Redeweise – für analytische Zwecke überhaupt einen Gesellschaftsbegriff benötige (und wenn ja, einen starken oder schwachen) darauf zurückzuführen, dass traditionell starke Gesellschaftsbegriffe immer von der (identitätssichernden) Voraussetzung konkurrierender Gesellschaften gezehrt haben. (S. Schwinn im Rekurs auf M.Weber gegen Luhmann etc.) 44 Zu den Freiheitsgraden der Interaktion, die es in dieser Form aber erst in der Moderne gibt (Luhmann 1997: 478): „Die Interaktion kann mit allen möglichen Absonderlichkeiten experimentieren, weil sie sicher sein kann, daß die Gesellschaft ohnehin fortbesteht. Die Gesellschaft vollzieht aber nicht nur Interaktionen, sie ist zugleich immer auch gesellschaftliche Umwelt von Interaktionen. Diese innergesellschaftliche Differenz verhindert, daß alles, was in Interaktionen einfällt, gefällt, mißfällt, sich auf die Strukturen des Gesellschaftssystems auswirkt.“ 45 Eine Pointe der Luhmannschen Systemdifferenzierungstheorie besteht darin, dass die Problemdiagnose der soziologischen Theorietradition in gewisser Weise umgekehrt wird: „Während vom Klassikerbegriff der Integration her die moderne Gesellschaft als desintegriert beschrieben werden müßte, weil sie sich intern nicht mehr auf irgendein inhaltliches Einheitskonzept verständigen kann, führt die hier vorgeschlagene Begriffsbildung zur gegenteiligen Diagnose. Die moderne Gesellschaft ist überintegriert und dadurch gefährdet“ Diese Diagnose wird von Luhmann weitergeführt bis zu der Konsequenz der ökologischen Selbstgefährdung der Menscheit. Sie bleibt jedoch aufgrund der systemtheoretischen Prämissen (die den Selektionsdruck der Umwelt ausschließen) in kausaler Hinsicht eigentümlich unbestimmt: Die moderne Gesellschaft „hat in der Autopoiesis ihrer Funktionssysteme zwar eine Stabilität ohne gleichen; denn alles geht, was mit dieser Autopoiesis verträglich ist. Zugleich ist sie aber auch in einem Maße durch sich selbst irritierbar wie keine Gesellschaft zuvor. Eine Vielzahl struktureller und operativer Kopplungen sorgen für wechselseitige Irritation der Teilsysteme, und das Gesamtsystem hat, das liegt in der Form funktionaler Differenzierung begründet, darauf verzichtet, regulierend in dieses Geschehen einzugreifen.“ (Luhmann 1997: 618) Die Rede vom Verzicht suggeriert eine subjekthafte Eigendynamik der Gesellschaft als System. Von Selbstirritation hätten auch die soziologischen Klassiker sprechen können, wenn sie mit dem Systembegriff gearbeitet hätten. Die Befürchtung des Zerfalls sozialer Ordnung wegen Entfremdung oder Ungleichheit stellt jedenfalls auch schon Selbstirritation dar. Die Rede von der zunehmenden Selbstirritation des Systems kollidiert aber mit der Beobachtung, dass die moderne Gesellschaft auch mehr als jede Andere (mit wissenschaftlichen Mitteln) auf Probleme reagiert, die sie selbst in ihrer ökologischen Nische produziert hat.

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Individualisierung ist seit Beginn der Moderne als Gefahr für den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft gedeutet worden. Sie ist besser zu verstehen, wenn man sie als eine letzte Steigerungsform sozialer Differenzierung, als evolutionär unwahrscheinliche Form der Konfliktinternalisierung betrachtet.46 Erst wenn man auch die dunkle Seite der soziokulturellen Evolution, die mörderischen Gruppenkonflikte, die Realität der Völkermorde in der Konkurrenz der Sozialsysteme zur Kenntnis genommen hat, kann man ermessen, welche evolutionäre Errungenschaft die Freisetzung von Individualität auf der Mikroebene der modernen Gesellschaft173 und die Regulierung von Konkurrenzkonflikten durch Recht und friedlichen Wettbewerb darstellt.174 In evolutionstheoretischer Perspektive ist zu erkennen, dass die gesteigerten Formen der Individualisierung in der Moderne175 durchaus wirkungsvolle, aber niemals irreversible Errungenschaften176 gegen den Rückfall in tradierte (ethnisch-national-religiös-zentrierte) Formen der Konfliktaustragung bilden.47 6. Konkurrenz der Differenzierungsformen in der Weltgesellschaft177 Der Beginn der Moderne läßt sich auch dadurch charakterisieren, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen Innen- und Außenwelt der Gesellschaft kollabiert. Die Ausdehnung der Menschheit vollzieht sich nicht mehr nur durch wandernde Gruppen und kriegführende Einheiten mit entsprechenden Sozialsystemen, sondern durch ein globales Netzwerk der Gesellschaft, das keine anderen Gesellschaften mehr neben sich kennt.48 Seitdem ist von der Metaebene der menschlichen Sozialität als „Weltgesellschaft“ die Rede.178 46 Die Annahme, dass Individualisierung mit einer für die psychische Gesundheit riskanten Internalisierung von Konfliktpotential einhergeht, gehört schon zum Selbstverständnis der Moderne. Die auffällige Ähnlichkeit der Ebenenunterscheidungen für psychische Systeme (s. Freuds Es-IchÜberich-Triade) ist unter dem Aspekt der Koevolution psychischer und sozialer Systeme - als Möglichkeitsbedingung kultureller Errungenschaften - noch nicht zureichend reflektiert. S. dazu auch schon Hondrich 1987: 298. Wenn zeitdiagnostisch von einer Destabilisierung der Individualität durch wechselnde Moden die Rede ist, könnte man auch umgekehrt fragen, ob der lockere Austausch der Selbstkonzepte im Gebrauch neuer Medien nicht auch Hinweise auf eine „Superstabilität“ des modernen Individualismus enthält. (Als superstabil hat Luhmann die Differenzierungsstruktur der modernen Gesellschaft bezeichnet, weil sie Variation immer schon einschließt.) 47 In dieser Hinsicht grundlegend die Umstellung von Gruppenrechten auf individualisierte Menschenrechte. Darüberhinaus aber auch alles, was zum Schutz und zur Steigerung der menschlichen Individualität als einer Sozialform der Moderne gesagt wurde - s. schon Durkheim (1984, 1986 - dazu neuerdings affirmativ Joas 2011). Die gelegentlich im Umkreis der Luhmannschen Systemtheorie gepflegten Diskurse über die „Dividualität“ des Menschen sind wohl eher der romantischen Gegenströmung zuzurechnen. Biologisch gesehen endet die Dividualität (und beginnt die Individualität) mit der Einnistung der befruchteten Eizelle – worauf kürzlich im Kontext der moralisch überreizten PID-Debatte hingewiesen wurde. 48 Dazu Stichweh: “In a long-term historical perspective migration and the establishment of local cultures following migration events may have been the major mechanism of isolation (cf. Stichweh 2005, 145-159). If one looks at the migration history of mankind this is especially true in periods in which migration meant the occupation of geographical spaces which were not inhabited before and which were settled by a group coming from elsewhere. Especially if migration was a onetime event and the contact between geographical spaces was not continued after the migration event


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Die Luhmannsche Gesellschaftstheorie hat in erheblichem Maße dazu beigetragen, den soziologischen Begriff der Gesellschaft allgemeiner zu fassen, von der Assoziation mit älteren Differenzierungsformen (die den Begriff der Gesellschaft im Plural plausibler erscheinen lässt179) abzulösen und in Übereinstimmung mit der Beobachtung der epochalen Ausdehnung und internen Verdichtung der menschlichen Sozialität auf dem Planeten zu bringen (Heintz/Münch/Tyrell 2005). Die symbolische Schließung auf der Ebene der Weltgesellschaft fällt zusammen mit einer materialen Schließung auf der Makroebene global konkurrierender Akteure durch globale Netzverdichtung. In zeitdiagnostischer Perspektive geht es um die Beobachtung einer neuen Weltlage als Folge der Nichtfortsetzbarkeit traditioneller Formen der Konfliktverarbeitung.180 Der Diagnose dient ein evolutionstheoretisch geschärfter Blick auf die Geschichte menschlicher Sozialsysteme, mit dem die Verlagerung von Konkurrenzkonflikten auf die Makroebene der Konkurrenz zwischen Sozialsystemen als ein grundlegender Mechanismus sozialer Ordnungsbildung (Voraussetzung der internen Steigerung von Kooperationsbereitschaft) wieder aufgedeckt wird.181 Die Ebenendifferenzierung der Sozialsysteme in der modernen Gesellschaft war in dieser Tradition als zivilisatorische Errungenschaft zu betrachten.182 In Luhmanns Gesellschaftstheorie sind es allerdings nicht die Konflikte konkurrierender Kollektivakteure, die den Selektionsdruck für neue Differenzierungsformen entstehen lassen, vielmehr erscheint umgekehrt der Primat funktionaler Differenzierung183 wie ein heimlicher Regent, der die Bildung von Organisationen „nahelegt“.49 this resulted in the establishment of local cultures closed off towards one another. These conditions are no longer given in present-day world society. This is still a system in which the transfer of informations and the transfer of institutions is sometimes furthered by the short-time or long-time migration of persons. But primarily world society is based in communicative interrelations which can be continued via telecommunication and organizations and networks without necessarily being dependent on the migration of persons. Isolation, separation and boundaries then arise in social, communicative spaces. Concepts such as autopoiesis and the operational closure of autopoietic systems are meant to describe and to analyze these new realities in which one can no longer say that systems are separated by boundaries in space (Maturana 1985). Instead social spaces are constituted by the emergence of systems and these social spaces do not penetrate one another. Social boundaries are not in space but between spaces.“ (Stichweh 2007: 10) Dies erklärt das Ende der Konfliktexternalisierungsmöglichkeiten auf der Makroebene konkurrierender Sozialsysteme. Auf der Mikroebene individuellen Handelns und Erlebens bleiben räumliche Beschränkungen allerdings durchaus wirksam. 49 Luhmann 1997: 607f: „Wie bereits mehrfach betont, kann das Gesellschaftssystem Kommunikationen nur als systeminterne Operationen verwenden, also nicht mit der gesellschaftsexternen Umwelt kommunizieren. Dies gilt aber nicht für die durch Differenzierung geprägten gesellschaftsinternen Verhältnisse. Es gibt also durchaus Kommunikationen, die systeminterne Systemgrenzen überschreiten. Daraus ergibt sich ein im Laufe der gesellschaftlichen Evolution zunehmender Bedarf für Organisation. Denn nur als Organisation, das heißt nur in der Form der Repräsentation seiner eigenen Einheit, kann ein System mit seiner Umwelt kommunizieren. Dieser Prozeß des Nahelegens von Organisationsbildung setzt sich unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung innerhalb der Funktionssysteme fort, etwa für Firmen, die ihre Produkte am Markt anbieten bzw. sich die dafür notwendigen Ressourcen am Markt beschaffen müs-

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Luhmann hat in der globalen Ausdehnung und Verdichtung kultureller Sozialsysteme zur „Weltgesellschaft“ Probleme für die Fortsetzung der kulturellen Evolution gesehen. Er hat diese Probleme allerdings nicht primär auf die Muster der Konfliktverarbeitung (also das Potenzial zur Restabilisierung) bezogen, sondern auf fehlende Wahlmöglichkeiten (also auf das Potenzial zur Variation): „Wenn der hier skizzierte Theorieansatz einer genaueren Überprüfung standhält, hätte man als Ergebnis der soziokulturellen Evolution einen in vielen Hinsichten bedenklichen Zustand zu akzeptieren. Das Gesellschaftssystem ist, ausgehend von Europa, Weltgesellschaft geworden. Es gibt nur noch ein Gesellschaftssystem, nur noch eine evolutionsfähige Gesellschaft, und das kann bei funktionaler Differenzierung trotz aller regionalen Unterschiede auch nicht anders sein. Ist auf dieser Grundlage aber weitere Evolution hinreichend wahrscheinlich? Selbst wenn man im Evolutionsbegriff jeden Fortschrittsglauben eliminiert, selbst wenn man Evolution im günstigen Falle als hinausgeschobene Destruktion begreift, bleibt die Frage: Ist Evolution an einem einzigen Fall ohne jeden Spielraum für Zerstörung und Regeneration überhaupt möglich?“ (Luhmann 1983: 200)184

Funktionale Differenzierung ermöglicht die interne Vermeidung von Konkurrenzkonflikten, ohne dafür auf soziale Rangunterschiede (Schichtungshierarchien) zurückgreifen zu müssen. Aber kann die moderne Gesellschaft auch auf die Externalisierung von Konflikten (Kriege) verzichten? Zur Diagnose von Problemen der modernen Gesellschaft muss die Frage gestellt werden, was mit dem inhärenten Konfliktpotential aller Formen menschlicher Sozialität passiert, wenn die größtmögliche Aggregationsebene – das global ausgedehnte und kommunikativ verdichtete Netz der Weltgesellschaft – erreicht ist und somit auf dieser Ebene keine betweengroup selection mehr stattfinden kann.185 Hier bieten sich (grob vereinfacht) zwei Möglichkeiten: (1.) Die Integration auf der globalen Ebene und die Reinternalisierung von Konkurrenzkonflikten in zivilisatorisch geregelten Wettbewerbsformen auf den darunterliegenden Ebenen (primär der Organisationen und der Individuen);186 (2.) das Mißlingen funktionaler Differenzierung auf der globalen Ebene und die Regression auf between-group-Konkurrenzkonflikte auf diversen darunterliegenden Ebenen, die ältere Organisationsformen bezeichnen (Kulturen, Nationen, Ethnien).187 In der modernen Gesellschaft ist beides zugleich zu beobachten: einerseits die Entwicklung neuer Formen sozialer sen; oder für alle möglichen gesellschaftlichen Gruppierungen, die, wenn der Staat einmal organisiert ist, ihm gegenüber spezifische Interesse zu vertreten suchen. Ähnlich wie im Verhältnis Gesellschaft/Interaktion gibt es also auch im Verhältnis Gesellschaft/Organisation einen langfristigen und schwer reversiblen Effekt der Evolution gesellschaftlicher Differenzierungsformen. Wir finden uns hier an der Stelle, an der die soziologische Klassik (Michels, Weber) ‚Bürokratie‘ als Bedingung moderner Gesellschaftsordnung analysiert hatte.“ In historisch-genetischer Perspektive wäre aber auch umgekehrt (bottomup) zu fragen: ob nicht die zunehmende Durchdringung der Gesellschaft mit Organisationssystemen die Umstellung symbolischer Erwartungsstrukturen auf funktionsspezifische Organisation-Publikums-Beziehungen mit dem entsprechenden Selektionsdruck „nahegelegt“ hat.


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Differenzierung, die mehr Freiheitsgrade auf der Mikroebene mit stärker regulierten Formen der Austragung von Konkurrenz auf der Makroebene verbinden,188 und andererseits die zunehmende Virulenz ungeregelter Formen der Konfliktaustragung, deren Akteure in fundamentalistischer Einstellung auf ältere Formen sozialer Differenzierung rekurrieren.50 In seinem Frühwerk „Grundrechte als Institution“ hat Luhmann diese Tendenzen (noch eher normativ) als Entdifferenzierung charakterisiert: „Die Gefahr der Entdifferenzierung, der Politisierung des gesamten Kommunikationswesens, ist in der gesellschaftlichen Emanzipation und Autonomsetzung des politischen Systems angelegt, ist mithin Merkmal des Differenzierungsprozesses selbst. (...) Die Erhaltung der sozialen Differenzierung erfordert (...) korrigierende und blockierende Institutionen, die dieser Gefahr entgegenwirken. Die Gewaltentrennung ist eine der bekanntesten; die Trennung von Politik und Verwaltung (...) eine der wirksamsten. Allen voran ist jedoch die Institution der Grundrechte zu nennen, die von der neueren deutschen Verfassungslehre mit Recht in den Mittelpunkt ihrer Staatskonzeption gestellt wird.“ (1965: 24) Im Spätwerk der Gesellschaftstheorie spricht Luhmann dann von Differenzierungsproblemen in einem abstrakteren Sinn: „Die Entstehung distinkter Formen innergesellschaftlicher Systemdifferenzierung ist also einerseits ein Resultat von Evolution. Die Differenzierungsformen selbst sind evolutionäre Errungenschaften. Andererseits wirken sie auf die Evolution selbst zurück, indem sie jeweils spezifische Schwierigkeiten haben, eine Trennung der evolutionären Mechanismen einzurichten.“ (1997: 498).189 Einmal evoluierte Formen sozialer Differenzierung verschwinden nicht aus der menschlichen Gesellschaft, wenn sich der Primat bestimmter Formen historisch und geographisch unter internem und externem Selektionsdruck ändert.190 Ihre typischen Grundformen – segmentär, stratifikatorisch, funktional – bleiben nicht nur im symbolischen Wissensvorrat der Gesellschaft erhalten, sondern sie können auch selbst auf der Metaebene der Gesellschaft in Konkurrenz zueinander geraten.191 Alle 50 Probleme traditioneller Konfliktexternalisierungsmechanismen in der Moderne sind von Luhmann wie folgt beschrieben worden: „Solange Solidarität benötigt wird und gefragt ist, orientiert man sich an absoluten Kriterien, deren soziale Bedingtheit nicht thematisiert wird. Das sind Kriterien mit religiösem, moralischem oder tribalem (ethnischen) Gehalt. Auch sie wirken sozial diskriminierend, aber so, daß nach konform und abweichend unterschieden wird und Abweichende als ungläubig, als Barbaren, als Heiden, als "saraceni" oder später dann als unvernünftig ausgeschlossen und ausgestoßen werden können. Ihnen gegenüber gibt es weder Solidarität noch moralische Verpflichtungen. Die Umstellung auf Risikoperspektiven ändert diese Form der Diskriminierung radikal. Jetzt liegen die Perspektivendivergenzen in der Gesellschaft. Sie spalten im Hinblick auf die Zukunft die Gesellschaft mit jeweils wechselnden Besetzungen in Entscheider und Betroffene; und was für die einen rational ist, ist für die anderen ein überzeugender Grund für Protest und Widerstand. Auch jetzt gibt es noch neu sich bildende Solidaritäten, aber sie nehmen fundamentalistische Züge an. Sie entstehen im Bewußtsein des eigenen religiösen oder ethnischen Anderssein; aber dies in einer Weltgesellschaft, von der man sich, was Kommunikation, Versorgung und eben auch Technik angeht, abhängig weiß.“ Luhmann 1997: 534.

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Formen sozialer Differenzierung dienen der Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten – in ihrer traditionellen Form überwiegend durch Externalisierung und Verlagerung auf eine höhere Ebene.192 Da dies in der modernen Gesellschaft durch ihre globale Ausdehnung und interne Verdichtung ausgeschlossen ist, tritt an die Stelle der Konkurrenz geschlossener Sozialsysteme die Konkurrenz der symbolischen Orientierungen mit Bezug auf alte und neue Differenzierungsformen auf der Metaebene.51193 Dieser „Kampf der Kulturen“194 wirkt auf die Spielräume des Verhaltens auf der Makro- und Mikroebene zurück.195 Unter den Bedingungen der Konkurrenz symbolisch generalisierter Orientierungen erweist sich Ebenendifferenzierung als ambivalente Form der Reinternalisierung sozialer Konflikte196 und der Dynamisierung sozialer Strukturen.197 Die moderne Gesellschaft lässt – wie die Vielzahl der Konflikte zeigt – einen historischen Primat für die mit ihr evoluierte funktionale Differenzierungsform nur in einem sehr eingeschränkten Sinne zu.52198 Die Entwicklung der modernen Weltgesellschaft ist primär nicht durch funktionale Differenzierung, sondern durch die Konkurrenz der historisch evoluierten Differenzierungsformen bestimmt. Ebenendifferenzierung steigert die Freiheitsgrade des Verhaltens im Binnenraum der Sozialsysteme und kompensiert damit Beschränkungen, die den Individuen zum Schutz vor dem Selektionsdruck der Umwelt in ihren Sozialsystemen auferlegt werden. Dieser Kompensationsmechanismus wird mit der Evolution funktionaler Differenzierung einerseits immens gesteigert – wirkt andererseits aber auch konfliktverschärfend199 in der Konkurrenz der historisch evoluierten Differenzierungsformen unter den Bedingungen ihrer globalen Ausdehnung und lokalen Verdichtung.200 In der neuen Konfliktkonstellation der Weltgesellschaft, die von der ökologischen Selbstgefährdung der Menschheit bestimmt ist,53 können die alten Formen der 51 In vielen Beiträgen, die an die Luhmannsche Gesellschaftstheorie anschließen, wird die Zunahme von Konfliktkonstellationen in der modernen Weltgesellschaft auf den Primat funktionaler Differenzierung zurückgeführt. Stichweh (2010) vertritt die Auffassung, dass ein Mangel an expliziter Theoriebildung zu der Frage bestehe, „was eine Krise in einem spezifischen Funktionssystem für alle anderen Funktionssysteme innerhalb einer funktional differenzierten Weltgesellschaft bedeutet. Gäbe es nur politische und wirtschaftliche Krisen, würde dies in gewisser Weise mit der Vorstellung einer horizontalen sozialen Ordnung konfligieren, in der keine klare Überlegenheit einzelner Funktionssysteme angenommen werden kann. Wenn nämlich eine Krise u.a. darin besteht, dass sie auch die Operationen anderer Funktionssysteme stört, würde das Übergewicht politischer und wirtschaftlicher Krisen zugleich ein ungleich höheres Vermögen dieser Systeme bedeuten, Hemmungen und Irritationen in anderen Funktionssystemen hervorzurufen. Eine solche Vorrangstellung in der Produktion negativer Effekte würde die Annahme einer horizontalen Ordnung funktionaler Verschiedenheiten in Frage stellen.“ 52 Luhmann selbst hat die These vom historischen Primat einer Differenzierungsform in seinen späteren Ausführungen über Exklusion und Inklusion eingeschränkt: Es sei „wichtig, daß man die Theorie sozialer Differenzierung mit einer entsprechenden Begrifflichkeit anreichert und die Erwartung aufgibt, die Gesellschaft könne aus der Perspektive der vorherrschenden Typik stratifikatorischer bzw. funktionaler Differenzierung ausreichend beschrieben werden.“ (Luhmann 1995: 264). 53 Das Supersozialsystem der Menschheit bleibt abhängig von seinen natürlichen Voraussetzungen und der Tragfähigkeit seiner ökologischen Nische. Unter den Bedingungen der globalen Ausdehnung und internen Ver-


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Konfliktverarbeitung wiederkehren. Das zivilisatorische Projekt der Moderne ist in der Reflexion und Reinternalisierung des gattungsgeschichtlich ererbten Konfliktpotentials zu erkennen.54 Literatur Alexander, Jeffrey C., Bernhard Giesen, Richard Münch und Neil J. Smelser (Hrsg.), 1987: The Micro-Macro-Link. Berkeley: University of California Press. Bellah, R.N., 2011: Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age. Harvard University Press: Cambridge, Mass. / London, England Bonacker, Th. & Ch. Weller (Hrsg.), 2006: Konflikte der Weltgesellschaft. Akteure-Strukturen-Dynamiken, Frankf.M.: Campus. Bonacker, Th., 2008: Die Konflikttheorie der autopoietischen Systemtheorie, S. 267-292 in: Bonacker, Th. (Hrsg.) 2008: Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Eine Einführung. Wiesbaden: VS. Darwin, Ch., 1874: The Descent of Man and Selection in Relation to Sex. 2nd ed. 2 vols. New York: American Home Library. Deutsche Ausgabe 2008: Die Abstammung des Menschen. Gesammelte Werke, Frankf.M. Dawkins, R., 1996: Das egoistische Gen. Reinbek bei Hamburg. Durkheim, É., 1984: Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne, 1902/1903. Frankfurt.M.: Suhrkamp. Durkheim, É., 1986: Der Individualismus und die Intellektuellen. S. 54-70 in: Bertram, H. (Hrsg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie. Frankfurt.M.: Suhrkamp. Foerster, H.v., 1974: Cybernetics of cybernetics, or the control of control and the communication of communication. Biological computer Laboratory, University of Illinois, Urbana. Greve, J., A. Schnabel & R. Schützeichel, (Hrsg.), 2008: Das MikroMakro-Modell der soziologischen Erklärung. Zur Ontologie, Methodologie und Metatheorie eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS Habermas, J., 1976: Zum Theorienvergleich in der Soziologie: am Beispiel der Evolutionstheorie S. 129-143 in: Habermas, J. 1976, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankf.M.: Suhrkamp Heintz, B., 2004: Emergenz und Reduktion. Neue Perspektiven auf das Mikro-Makro-Problem, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 56, Heft I: 1-31.

dichtung wird erkennbar, dass es immer noch andere (konkurrierende) Sozialsysteme auf dem Planeten gibt - und seien es bisher unbesiegte Bakterienstämme. Selektion kann eben auch auf der Ebene der Arten stattfinden. Auch die Auslöschung der Menschheit wäre ein Fall von Mehrebenenselektion. 54 In evolutionstheoretischer Perspektive ist dies nicht als Höherentwicklung (im Sinne eines teleologischen Modells mit funktionaler Differenzierung als Endstadium der Geschichte) zu verstehen, sondern als Weiterentwicklung im Sinne eines pluralistischen Modells mit mehr Möglichkeiten und Risiken. – Die Internalisierung von Konfliktpotential setzt nicht erst in der Moderne ein. Die hier skizzierte Argumentation sollte aber zeigen, dass Zivilisierung der Kultur durch das Ende der Konfliktexternalisierung in der globalisierten Gesellschaft in gewisser Weise erzwungen wird. Zu den „Ursachen“ der Zivilisation gehört aber die lange Liste historischer „preadaptations“ (zu dem auch von Parsons und Luhmann verwendeten Begriff s. neuerdings Turner/Maryanski 2008: 55 u.a.). Mechanismen sozialer Differenzierung, die die interne Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten ermöglichen, begleiten die kulturelle Evolution von Anfang an. Ihre natürlichen Anfänge sind bereits bei tierischen Populationen in der sexuellen Selektion zu erkennen. In der kulturellen Evolution sind ihre primären Formen in der Ja-Nein-Codierung der menschlichen Sprache zu erkennen (s. u.a. Luhmann 1997: 221ff). Dies ändert jedoch nichts an der traditionellen Prädominanz von Mechanismen der Konfliktexternalisierung. Erst in der Moderne wird die Umstellung auf interne Verarbeitung von Konflikten zu einer Überlebensfrage der Menschheit.

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Weitere Literaturhinweise im Anhang201


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– Anhang des Beitrags für ZfS-Sonderband 2012 mit Materialien

Anhang mit Anmerkungen und Materialien

1 Ich sehe hier ab von der Dreigliedrigkeit, die Luhmann seinem Theoriegebäude insgesamt zuschreibt, zumal diese Triade mit dem Vorrang der Systemtheorie zugleich dementiert wird.* Hier zeigt sich bei Luhmann eine ähnliche Unbestimmtheit durch Doppelbestimmung (Paradoxieverliebtheit) wie beim Begriff der Gesellschaft, der einerseits alles Soziale umfasst und andererseits eine besondere Ebene des Sozialen darstellt. – Ich sehe hier auch ab von einer weiteren Triade, der Unterscheidung von drei Sinndimensionen, die Luhmann weitgehend unerläutert verwendet. Hier stellt sich ja die Frage, ob die Sinndimensionen nicht besser aus einer Vierfeldertafel zu entfalten wären, die auf der einen Seite (der sozialen Bedingungen) die Unterscheidung von Person und Sache und auf der anderen Seite (der materialen Bedingungen) die Unterscheidung von Zeit und Raum enthält. (Letzteres bei Luhmann als Sinndimension ganz weggelasssen.) S. auch meine Reformulierung systemtheoretischer Unterscheidungen durch Rekombination der Unterscheidung zwischen symbolischen und materiellen Faktoren im 4. Abschnitt. * Ich sehe einen grundlegenden Mangel der Luhmannschen Theoriekonstruktion darin, dass unter den darin integrierten Theoriesträngen – System-, Kommunikations- und Evolutionstheorie – nicht der Evolutionstheorie, sondern der Systemtheorie die führende Rolle zugeschrieben wird. Unter dem Dach der Evolutionstheorie stünde die konzeptionelle Integration von Kommunikationstheorie für Vorgänge der Replikation und Variation auf der Mikroebene und Systemdifferenzierungstheorie für Vorgänge der Selektion und Stabilisierung auf der Makroebene. 2 In methodologischer Hinsicht geht es darum, dass Differenzierung normalerweise nur deskriptiv als Moment soziologischer Erklärungen eingeführt, aber nicht selbst zum Gegenstand der Erklärung gemacht worden ist. Diese Blindstelle im soziologischen Werkzeug kann mit evolutionstheoretischen Mitteln aufgehellt werden: (1.) mit Bezug auf primordiale Formen der SystemUmwelt-Differenzierung (2.) mit Bezug auf konkurrierende Formen der sozialen Binnendifferenzierung (3.) mit Bezug auf die damit einhergehende Ebenendifferenzierung (Mikro-Makro) und 4. schließlich mit Bezug auf Konkurrenzkonflikte zwischen den evoluierten Differenzierungsformen selbst. 3 Die evolutionstheoretische Unterscheidung ist auf die Beschreibung von Systemübergängen in der Evolution der Lebewesen gerichtet. S. dazu Wieser 1998 und 2003 und meine Hinweise auf Theorien der Mehrebenenselektion im 3. Abschnitt. 4 Anstelle der eingangs verwendeten Formel von Problem und Lösung reformuliere ich die Fragestellung mit Bezug auf Funktion in der Terminologie soziologischer Theoriediskussionen. 5 Mit dem Bezug auf Konflikt wird hier auch auf die in evolutionstheoretischer Perspektive unabdingbare Akteursperspektive verwiesen. Konflikte werden immer von Akteuren ausgetragen - Individuen, Gruppen oder Organisationen – und nicht von symbolisch konstituierten (in Medien der Öffentlichkeit generalisierten) Systemen. Evolutionstheoretisch ist die Akteursperspektive aber (über die Formen der Konfliktverlagerung) immer schon mit einer Systemperspektive kombiniert (Mehrebenenselektion). 6 Es gilt im Folgenden zwischen dem Begriff der Kultur und dem Begriff der Zivilisation zu unterscheiden. (Norbert Elias hatte sich bekanntlich in der Einleitung zu seinem Werk über den Prozess der Zivilisation gegen diese Unterscheidung mit dem Argument gewandt, dass die Höherbewertung des Kulturbegriffs ein Ausdruck des romantisch-deutschen Sonderwegs sei. Hier soll mit umgekehrter Stoßrichtung an der Unterscheidung festgehalten werden. Diesbez. anders aber schon der Elias-Schüler Cas Wouters 1999) Kultur wird hier verwendet als Sammelbezeichnung für vielfältig verschiedene und konkurrierende historische Formen der Konfliktverarbeitung im Inneren sozialer Systeme, die immer auch auf

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Mechanismen der Konfliktexternalisierung und -verlagerung auf die Ebene der Konkurrenz zwischen den Sozialsystemen beruhen. Zivilisation wird hier verwendet als Bezeichnung für vielfältig verschiedene Formen der internen Regulierung von sozialen Konflikten einschließlich des historischen Sonderfalls der Moderne, in dem Mechanismen der Konfliktverarbeitung durch Externalisierung nicht mehr funktionieren. 7 Hier der gesamte Abschnitt zu Ebenendifferenzierung als Form der Konfliktverarbeitung aus Luhmanns programmatischen Aufsatz über Interaktion, Organisation Gesellschaft von 1975: „Die Bedeutung der zunehmenden Differenzierung von Systemebenen und Systemtypen läßt sich an einem Sonderproblem besonders gut vorführen, nämlich am Problem des Konflikts. Von Konflikt wollen wir immer dann sprechen, wenn ein Teilnehmer an Interaktionen es ablehnt, Selektionsvorschläge zu übernehmen und diese Ablehnung mitteilt. Es ist für den Begriff gleichgültig, ob die Annahmezumutung auf Wahrheit, Liebe, auf rechtliche oder moralische Normen oder auf Übermacht gestützt wird; entscheidend ist die Benutzung des Negationspotentials zur Ablehnung der zugemuteten Selektion. Weder die bloße Existenz von Standes- oder Klassenunterschieden noch die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems sind als solche schon Konflikte, aber sie können als konfliktsträchtige Lagen beschrieben werden, und es interessiert dann, unter welchen zusätzlichen Bedingungen sie zum Ausbruch von Konflikten führen. Wir analysieren zunächst auf der Ebene der Interaktion unter Anwesenden. Die Rückkommunikation der Weigerung, einer Selektionszumutung nachzukommen, stößt hier auf besondere Schwierigkeiten. Sie ist deshalb problematisch, weil diese Systeme unter der Bedingung thematischer Konzentration operieren, also jeweils nur ein Leitthema traktieren können. Wird der Konflikt durch Weigerung zum Thema gemacht, strukturiert das Gesamtsystem sich entsprechend um. Man reagiert auf dieses neue Thema und es entsteht eine Kontroverse, wenn nicht ein Streit, der mehr oder weniger limitiert, was dann im System noch möglich ist. Interaktionssysteme können offene Konflikte schlecht nebenherlaufen lassen, dazu sind sie nicht komplex genug. Sie haben nur die Wahl, Konflikte zu vermeiden oder Konflikte zu sein. Interaktionsnah strukturierte archaische Gesellschaftssysteme finden sich den entsprechenden Beschränkungen ausgesetzt. Sie stehen beständig vor der Alternative der Konfliktunterdrückung oder des offenen und gewaltnahen Streites. Darauf sind ihre pressionsreichen Schlichtungsverfahren eingestellt. Sie können deshalb nur primitive Formen gesellschaftlicher Differenzierung entwickeln, die einerseits in der Konfliktunterdrückung effektiv sind und andererseits gegen Gewaltakte und Sezessionen relativ immun. Das leisten Formen segmentärer Differenzierung nach Häusern, Geschlechtern, Wohngemeinschaften, Siedlungen. Alle weitere Entwicklung setzt eine Steigerung des Konfliktspotentials auf der Ebene der Gesellschaft voraus, und dies in zweifacher Hinsicht: als Möglichkeit, Konflikte durch Rückkommunikation von Verweigerungen zu erzeugen, und als Möglichkeit, Konflikte als laufende Angelegenheit zu ertragen und in kritischen Fällen zu entscheiden. Mit zunehmender Komplexität steigt die Differenzierung der Interessen und Perspektiven, nehmen die Anlässe und die strukturellen Möglichkeiten für Negationen zu. Die Sozialordnung muß jetzt vorsehen, daß Rechtsnormen geändert, daß Tauschofferten ohne Kränkung zurückgewiesen, daß behauptete Wahrheiten bezweifelt werden; daß man dem religiösen Zeremoniell fernbleibt, ohne dadurch die Gefühle anderer zu verletzen oder gar aus Religionsgemeinschaften austritt. An der Steigerung der Negationspotentiale hängt die Möglichkeit, jeweils andere Spezialinteressen konsistent zu verfolgen. Außerdem beruht darauf die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung, die Möglichkeit, Gegebenes zu variieren. Schließlich setzt der gesamte Organisationsmechanismus gesteigerte Mobilität mit Möglichkeiten zum Abbrechen und Neueingehen sozialer Beziehungen voraus. Differenzierung, Innovation und Organisation hängen damit ab von einer Normalisierung des Konfliktverhaltens.


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Die Lösung dieses Problems liegt in einer stärkeren Differenzierung von Interaktionssystemen und Gesellschaftssystem. Ein solches Auseinanderziehen von Interaktion und Gesellschaft hat die Folge, daß die Gesellschaft vom Konfliktsmodus ihrer Interaktionssysteme unabhängig wird. Sie kann, ohne ihre eigene Kontinuität zu gefährden, in weitem Umfange den Abbruch von Interaktion als Modus der Konfliktlösung zulassen. Sie kann, vor allem im Rahmen ihres Rechtssystems, besondere Interaktionssysteme zulassen, die auf die Behandlung von Streitfällen spezialisiert sind. Und sie kann allgemein die Konflikttoleranz erhöhen, indem sie die Expansion der Konflikte einschränkt. Die Konkurrenz auf dem Markt, die große ideologische Kontroverse, die konterkarrieren- den Schachzüge in der Mikropolitik der Organisationen schließen es nicht aus, daß man gemeinsam zum Essen eingeladen wird oder auf Empfängen nebeneinandersteht. Daß man nicht mehr auf konkret-gemeinsames Zusammenleben angewiesen ist, erleichtert sowohl das Abbrechen als auch das Fortsetzen sozialer Beziehungen im Konfliktsfalle. Andererseits heißt dies, daß eine Transposition von Konflikten auf die Ebene des Gesellschaftssystems eine mehr oder weniger künstliche, politische Aggregation von Interessen erfordert. Ihre Klassenlage muß den Betroffenen bewußt gemacht, wenn nicht eingehämmert werden als Voraussetzung einer Politisierung des unterstellten Klassenkonflikts. Hier könnte eine Theorie sozialer Massenbewegungen anschließen. Solche Be- wegungen kommen unter den angegebenen Bedingungen als historische Prozesse selektiver Selbststeigerung zustande. Sie bauen ihre eigenen Voraussetzungen phasenweise auf, gewinnen ihre Dynamik und Entwicklungsrichtung also aus ihrer eigenen Geschichte. Die Heftigkeit von Interaktionskonflikten, in die sie ausmünden können, ergibt sich aus der Künstlichkeit der Interessenaggregation und aus der Eliminierung anderer Möglichkeiten im historischen Prozeß. Im Verhältnis zum gesamten Interaktionsvolumen werden gesamtgesellschaftliche Konflikte in komplexen Gesellschaften seltener und gefährlicher. Dies Bild rundet sich ab, wenn man das Konflikthandeln in Organisationen mit in Betracht zieht. Organisationssysteme unterwerfen alle Mitglieder einem Modus hierarchischer Konfliktsbehandlung und -entscheidung, dessen Anerkennung sie zur Mitgliedschaftspflicht machen. Zugleich differenzieren sie interne und externe Konflikte und unterbrechen deren Zusammenhang mit sonstigen Konflikten ihrer Mitglieder. Man darf sich im Dienst nicht an seinen Privatfeinden rächen, darf den Kindern des politischen Gegners keine schlechteren Zensuren erteilen oder umgekehrt dem Lehrer die Auszahlung eines Bankkredits verweigern, weil er schlechte Zensuren erteilt hatte. Entsprechend ist es eine für Organisationen typische Mitgliederpflicht, intern bestehende Konflikte — etwa Meinungsverschiedenheiten des Kollegiums in der Versetzungskonferenz — nach außen zu verbergen. In welchem Umfange diese Gebote faktisch realisiert werden können, ist eine empirische Frage. Keine Frage ist jedoch, daß mit Hilfe dieses neuen Systemtyps Organisation Konflikte in einem Umfange ermöglicht und reguliert werden können, wie es auf der Basis von Interaktion und Gesellschaft allein nicht möglich wäre. (Luhmann 1975, 16-18) 8 Evtl. das Zitat aus Soziale Systeme (1984, 569f.) hier weglassen, weil ich es auch im 5. Abschnitt verwende. 9 ad 1: Theorietradition 10 Darauf hat nicht zuletzt Latour (2007) verwiesen, dessen AkteurNetzwerk-Theorie den instruktiven Sonderfall einer Sozialtheorie darstellt, in der jede Form von Ebenenunterscheidungen vermieden (und in Verbindungen aufgelöst) wird. Ich werde deshalb im Folgenden wiederholt die Luhmannsche Ebenenunterscheidung mit Latours Nichtunterscheidung vergleichen. Zum Kern der Neudefinition des Sozialen bei Latour gehört das technisch erweiterte soziokulturelle Gehäuse. Man kann die Funktion und Wirkungsweise der menschlichen Sozialwelt tatsächlich nicht verstehen, wenn man nicht die technischen Erweiterungen einbezieht, die das soziokulturelle Gehäuse ausmachen. Die Frage ist nur, in

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welcher Form das technisch Gemachte in die Beschreibung der Sozialität einbezogen wird. Latour geht hier weiter (als zB. alle Soziobiologen) indem er dem Begriff des Sozialen alles Interaktive, wechselseitig Reziproke nimmt, das ja auch für die Sozialwelten nichtmenschlicher Lebewesen noch charakteristisch ist. Wenn nun nicht mehr nur lebendige Individuen, sondern auch „tote“ Dinge zu den Elementen („Akteuren“ bzw. „Aktanten“) des Sozialen gehören, dann fehlt auf der Elementarebene (Mikroebene) das (für Systembildung gegenüber der Umwelt) erforderliche Moment der Selbstabgrenzung. Dies ist aber für eine evolutionäre Sozialtheorie (mit Mehrebenenselektion – s. 3. Abschnitt) unabdingbar. Für eine evolutionstheoretische Soziologie stellt die Mikro/Makro-Unterscheidung (wie für Latour) keine methodologische Alternative dar. Dennoch kann für sie die soziale Welt nicht so „flach“ sein wie bei Latour: „Ein Akteur-Netzwerk wird immer dann aufgezeichnet, wenn im Laufe einer Forschung die Entscheidung getroffen wird, Akteure, welcher Größenordnung auch immer, durch lokale und verbundene Orte zu ersetzen, anstatt sie nach Mikro und Makro einzuteilen. Beide Bestandteile von »Akteur-Netzwerk« sind wesentlich, daher der Bindestrich. Der erste Teil (der Akteur) verweist auf den engen Raum, in dem all die großartigen Zutaten der Welt ausgeheckt werden; der zweite Teil (das Netzwerk) erklärt vielleicht, durch welche Transportmittel, Spuren, Fährten, welche Typen von Informationen die Welt in all diese Stätten hineingebracht wird und wie jene dann, transformiert, wieder aus diesen engen Wänden heraus zurückgepumpt werden. Daher bildet das Bindestrich-»Netzwerk« nicht die heimliche Präsenz des Kontexts, sondern bleibt das, was die Akteure miteinander verknüpft. Anstatt wie der Kontext eine andere Dimension zu sein, die einer engen und flachen Beschreibung Volumen verleiht, erlaubt das Netzwerk den Beziehungen, flach zu bleiben und die Rechnung für die »Transaktionskosten« vollständig zu bezahlen. Es gibt nicht eine Mikro-Soziologie und eine Makro-Soziologie, sondern zwei verschiedene Weisen, die Beziehungen zwischen Mikro und Makro zu sehen: Die erste baut eine Reihe von Russischen Puppen - das Kleine wird eingebettet, das Große ist das, was einbettet; und die zweite entfaltet Verbindungen - klein sein heißt unverbunden sein, groß sein heißt verbunden sein.“ (2007, 310) „Durkheims Gesellschaft »sui generis«, Luhmanns »autopoietische Systeme«, Bourdieus »symbolische Ökonomie« oder Becks »reflexive Modernisierung« sind ausgezeichnete Erzählungen, wenn sie uns darauf vorbereiten, nach Abschluß der Vorstellung die politische Aufgabe der Zusammensetzung aufzunehmen; sie sind irreführend, wenn sie als Beschreibung dessen verstanden werden, worin die gemeinsame Welt besteht. Bestenfalls bieten Panoramen einen prophetischen Ausblick auf das Kollektiv, schlimmstenfalls sind sie nur dessen sehr dürftiger Ersatz.“ (2007, 327) Latour reduziert also das in der älteren Theorietradition virulente Ordnungsproblem der unwahrscheinlichen Größe menschlicher Sozialsysteme (mit seinen sozialen und ökologischen Folgekosten) auf ein Problem der angemessenen Beschreibungsmethode. Aber auch Latour kann die evolutionäre Besonderheit nicht bestreiten, dass menschliche Sozialsysteme größer (i.S. von räumlich und zeitlich ausgedehnter) sind als die aller anderen Lebewesen. Größe macht einen Unterschied! 11 Hinweis auf Claessens 1980 gegen den antidarwinistischen mainstream der Philosophischen Anthropologie - evtl. in Verbindung mit Hinweisen auf neuere Erkenntnisse aus der EvoDevoForschung und die schon älteren Ebenenunterscheidungen in der Psychologie (s. mein Hinweis auf Freud in 6.). 12 Turner and Maryanski 2008, 1: “Many social scientists still downplay evolution, preferring instead to believe in what Leda Cosmides and John Tooby (1992) have termed the Standard Social Science Model. The sociological variant of this model goes something like this: Humans evolved like any other animal, but once the brain became sufficiently large to allow for the produc-


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tion and use of culture, such as language and other symbol systems that the capacity for language allows, the explanation for human behavior and social structure must be understood in nonbiological terms. True, there may be some basic needs lodged in human biology say, for affiliation, solidarity, power, and other behavioral propensities, but these needs are conditioned and constrained by culture and social structure to such a high extent that emphasis should be on sociocultural rather than biological bases for human behavior and social organization. Individuals learn how to behave through their socialization into a culture or cultures, and their actions are highly constrained by social structure. This kind of "social constructivist" model pervades sociology, and it has become part of a common defense against, if not outright rejection of, any theory or research on the biology of human behavior. To be sure, this model is certainly in the ballpark, but it is simply too extreme. Humans are animals that evolved like all other animals; and despite the spectacular, if not dangerous, cultural systems and social structures that our large brains allow us to construct, these do not obviate the influence of biology on human behavior and social organization, now or in the distant past. …. Yet, we do not need to go to the other extreme and argue that culture and social structure are in some direct way caused by biology and, hence, are to be explained largely by biology—a mistake that early sociobiologists once made (e.g., Wilson, 1975, 1978). But we do need to be attuned to the fact that human biology not only makes human culture and social structure possible (in ways that the Standard Social Science Model argues), but the viability of culture and social structure over the long term is affected by the biology of humans as an evolved primate. There is nothing very radical or extreme in this conclusion because most of the canonized early figures in sociology made similar assertions that some types of sociocultural formations are more in tune with human biology than others. For example, Karl Marx's concept of alienation, Emile Durkheims views on anomie and egoism, Vilfredo Pareto's analysis of sentiments and derivations, or George Herbert Mead's views on self, all imply that there are some fundamental needs driven by human biology that culture and social structure can accommodate, or violate. “ Zur Auflösung der theorietraditionellen Verbindung zwischen Differenzierungs- und Evolutionstheorie in der deutschen Soziologie s. auch Schmid 1998, Stichweh 1991, 1999 und Wortmann 2010. 13 Zur Auflösung des Methodenstreits über das Mikro-MakroProblem mit den Mitteln Darwinscher Evolutionstheorie Richerson / Boyd 2005: 246f: “The social sciences have long been bedeviled by the ‘micro-macro problem.’ (Alexander 1987) If, like economists, you start with a theory based on individual behavior, how can you ever get to a proper account of society-scale phenomena like social institutions? If you start with collective institutions, like many sociologists and anthropologists do, how do you make room for individuals? A distinguished sociologist once astounded us with the claim that it had been proved that you had to pick one or the other and that it was a logical certainty that the two approaches could never be unified. Actually, Darwinian concepts provide a neat account of the relations between individual and collective phenomena. Darwinian tools were invented to integrate levels. The basic biological theory includes genes, individuals, and populations. In these models, what happens to individuals (for example, natural selection) affects the populations properties (for example, the frequencies of genes), even as individuals are the prisoners of the gene pool they draw upon. Many other links between individuals and the populations they live in are possible, and the addition of culture creates still more. We have considered examples such as conformist transmission, where the frequency of a cultural variant, a population property, affects its probability of being imitated by individuals. Darwinian tools help us build linkages between phenomena at different levels as given problems require. Individuals seem to be hapless prisoners of their institutions because, in the short run,

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individual decisions don't have much effect on institutions. But, in the long run, accumulated over many decisions, individual decisions have a profound effect on institutions. Evolutionary theory gets right the basic structure of the relationship between individuals and the collective properties of their societies.” 14

Hier geht es nicht nur um den Methodenstreit über Mikrofundierung oder Makrokonstitution, sondern auch über den quer dazu verlaufenden Streit über den Gesellschaftsbegriff (s. Schwinn, Göbel, Firsching, Tenbruck, Weber). Wenn soziale Differenzierung als Verarbeitungsform von sozialen Konflikten verstanden wird, dann spricht dies sowohl für Mikrofundierung (denn Konflikte werden ja stets von Individuen oder Kollektivakteuren ausgetragen) als auch für Makrokonstitution, denn der ultimate Grund für die Konfliktverarbeitung (Kooperation statt Konflikt) ist in dem Schutz zu erkennen, den die Gesellschaft als Sozialsystem vor dem Selektionsdruck der Umwelt bietet.

15 Hier noch ausf. Belege aus Durkheim 1977 und Simmel 1908 [1992] heranziehen - s. folgende Endnoten. Diesbez. Hinweise auch auf Comte, Spencer, Tarde u.a. die inzwischen aus der Ahnengalerie der Lehrbücher gestrichen wurden. Obwohl M.Weber ja eher für die methodologische Reduktion in Anspruch genommen wird, wären wohl auch bei ihm Belege zu finden (s. insbes. seine Ausführungen zu Kampf und Konflikt). 16 „Doch wer kennt schon Spencer genau? Ein Gedanke zumindest weist unverkennbar auf ihn zurück und wird durch die systemtheoretische Orientierung noch bekräftigt: daß funktionale und strukturelle Differenzierung die kritische Variable des menschlichen Fortschritts sei.“ So Luhmann noch in einem frühen Skript zur Politischen Soziologie (posthum 2010, 51). Mit Bezug auf die häufig (und meist abweisend) zitierte Formulierung Spencers vom Übergang von Homogenität zu Heterogenität, wird häufig übersehen, dass Spencer Homogenität für strukturell instabil gehalten hat. (Hinweis bei Stichweh 1994: 40). Das Größenwachstumsproblem bei Spencer wird von Rüschemeyer wiefolgt spezifiziert: „Die Größe einer Bevölkerung wird von Spencer als Voraussetzung für interne Differenzierung angeführt. Das hat nicht notwendig mit Bevölkerungswachstum und Überbevölkerung zu tun. Vielmehr gehen in Spencers Sicht die Entstehung „zusammengesetzter" Gesellschaften und die Differenzierung politischer Organisation oft, und typisch, auf Konflikt und Unterwerfung zurück. Diese Differenzierungsprozesse haben also mehr mit Macht und Machtinteressen zu tun als mit Bevölkerungsdruck und wirtschaftlicher Produktivität. Bevölkerungsdruck, der sich aus einem Bevölkerungswachstum ergibt, das die gegebenen Ressourcen übersteigt, führt zu ganz anderen Kausalüberlegungen. Hier kommen ,,the survival of the fittest" und „adaptive capacity" ins Spiel. Warum aber Differenzierung als „Antwort" („answering structures" ist eine Spencersche Formulierung) auf solche Probleme zustande kommt, ist nicht eindeutig. Naiv funktionalistische Argumente stehen neben solchen, die auf Konflikt und auf die Eliminierung weniger effektiver Sozialformen abheben; gleichzeitig bleiben auch, wie oben angedeutet, noch andere Mechanismen im Spiel. Wenn Spencer in seinen Detailanalysen durchaus auch Stagnation und Rückfälle in der gesellschaftlichen Evolution anerkennt, dann werden diese Kausalfragen selbstverständlich umso dringlicher.“ (1984, 168f) Dazu noch einige Passagen aus Spencers Sociology Part1: (Introduction) “Beginning with the earliest traces of mankind,- we can discern a general (though by no means constant) trend towards increasing size and complexity of human societies, whereby a larger and larger proportion of the globe is taken over by increasingly complex entities. Though occasionally interrupted —as when, for instance, the Roman empire was replaced by the numerically smaller as well as organizationally simpler feudal principalities—the trend towards increasing size, differentiation and integration is unmistakable in the history of civilization, and attested beyond doubt by written records as well as the findings of archaeology.” (§ 214). When we say that growth is common to social aggregates and organic aggregates, we do not thus entirely exclude communi-


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ty with inorganic aggregates. Some of these, as crystals, grow in a visible manner ; and all of them, on the hypothesis of evolution, have arisen by integration at some time or other. Nevertheless, compared with tilings we call inanimate, living bodies and societies so conspicuously exhibit augmentation of mass, that we may fairly regard tins as characterizing them both. Many organisms grow throughout their lives; and the rest grow throughout considerable parts of their lives. Social growth usually continues either up to times when the societies divide, or up to times when they are overwhelmed. Here, then, is the first trait by which societies ally themselves with the organic world and substantially distinguish themselves from the inorganic world. (§ 215.) It is also a character of social bodies, as of living bodies, that while they increase in size they increase in structure. Like a low animal, the embryo of a high one has few distinguishable parts; but while it is acquiring greater mass, its parts multiply and differentiate. It is thus with a society. At first the unlikenesses among its groups of units are inconspicuous in number and degree; but as population augments, divisions and sub-divisions become more numerous and more decided. Further, in the social organism as in the individual organism, differentiations cease only with that completion of the type which marks maturity and precedes decay. Though in inorganic aggregates also, as in the entire Solar System and in each of its members, structural differentiations accompany the integrations; yet these are so relatively slow, and so relatively simple, that they may be disregarded. The multiplication of contrasted parts in bodies politic and in living bodies, is so great that it substantially constitutes another common character which marks them off from inorganic bodies. (§225-226) “Kindred unlikenesses of size strike us when we contemplate the entire assemblage of human societies. Scattered over many regions there are minute hordes—still extant samples of the primordial type of society …. The growths of individual and social organisms are allied in another respect. In each case size augments by two processes, which go on sometimes separately, sometimes together. There is increase by simple multiplication of units, causing enlargement of the group; there is increase by union of groups, and again by union of groups of groups. The first parallelism is too simple to need illustration; but the facts which show us the second must be set forth.” (§ 257) “But there emerge certain generalizations which we may safely accept. The stages of compounding and re-compounding have to be passed through in succession. No tribe becomes a nation by simple growth; and no great society is formed by the direct union of the smallest societies. Above the simple group the first stage is a compound group inconsiderable in size. The mutual dependence of parts which constitutes it a working whole, cannot exist without some development of lines of intercourse and appliances for combined action; and this must be achieved over a narrow area before it can be achieved over a wide one. When a compound society has been consolidated by the co-operation of its component groups in war under a single head—when it has simultaneously differentiated somewhat its social ranks and industries, and proportionately developed its arts, "which all of them conduce in some way to better co-operation, the compound society becomes practically a single one. Other societies of the same order, each having similarly reached a stage of organization alike required and made possible by this co-ordination of actions throughout a larger mass, now form bodies from which, by conquest or by federation in war, may be formed societies of the doubly-compound type. The consolidation of these has again an accompanying advance of organization distinctive of it—an organization for which it affords the scope and which makes it practicable—an organization having a higher complexity in its regulative, distributive, and industrial systems. And at later stages, by kindred steps, arise still larger aggregates having still more complex

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structures. In this order has social evolution gone on, and only in this order does it appear to be possible. Whatever imperfections and incongruities the above classification has, do not hide these general facts—that there are societies of these different grades of composition; that those of the same grade have general resemblances in their structures; and that they arise in the order shown.” (§ 268) “We saw that societies are aggregates which grow; that in the various types of them there are great varieties in the growths reached; that types of successively larger sizes result from the aggregation and re-aggregation of those of smaller sizes; and that this increase by coalescence, joined with interstitial increase, is the process through which have been formed the vast civilized nations. (§270) We saw that societies are aggregates which grow; that in the various types of them there are great varieties in the growths reached; that types of successively larger sizes result from the aggregation and re-aggregation of those of smaller sizes; and that this increase by coalescence, joined with interstitial increase, is the process through which have been formed the vast civilized nations. Along with increase of size in societies goes increase of structure. Primitive hordes are without established distinctions of parts. With growth of them into tribes habitually come some unlikenesses; both in the powers and occupations of their members. Unions of tribes are followed by more unlikenesses, governmental and industrial—social grades running through the whole mass, and contrasts between the differently-occupied parts in different localities. Such differentiations multiply as the compounding progresses. They proceed from the general to the special. First the broad division between ruling and ruled; then within the ruling part divisions into political, religious, military, and within the ruled part divisions into food-producing classes and handicraftsmen; then within each of these divisions minor ones, and so on. … Increase of size, resulting from the massing of groups, necessitates means of communication; both for achieving combined offensive and defensive actions, and for exchange of products. Faint tracks, then paths, rude roads, finished roads, successively arise; and as fast as inteicourse is thus facilitated, there is a transition from direct barter to trading carried on by a separate class; out of which evolves a complex mercantile agency of wholesale and retail distributors. The movement of commodities effected by this agency, beginning as a slow flux to and reflux from certain places at long intervals, passes into rhythmical, regular, rapid currents: and materials for sustentation distributed hither and thither from being few and crude become numerous and elaborated. Growing efficiency of transfer with greater variety of transferred products, increases the mutual dependence of parts at the same time that it enables each part to fulfil its function better.” Turner und Maryanski schreiben Spencer die Entdeckung eines evolutionären Mechanismus zu: „There is another kind of selection that early functional theories implicitly recognized. This can be termed "functional selection" or, in deference to Herbert Spencer (1898 [1874-96]), who was the first sociologist to make this alternative selection process central to his sociology, we will term this kind of selection Spencerian selection and juxtapose it to Darwinian selection. Spencer also employed Darwinian arguments, as is evident by his famous phrase, "survival of the fittest," that he first articulated almost a decade before Darwin's great book, On the Origin of Species (see Spencer, 1888 [1851]). But it is Spencer's implicit notion of functional selection that is important for understanding the origins of the first societies among culture- using humans. Spencerian selection argues that once an animal can think, plan, and be instrumental by virtue of language and culture, the mode of adaptation to the environment changes in significant ways. Often human populations confront problems in their environment that require them to make adjustments if they are to sustain themselves in this environment. There are, in essence, selection pressures on groups to make the necessary ad-


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justments. This kind of selection often occurs when there is little density and competition among sociocultural units; rather, there is simply an absence of variability or structures on which Darwinian selection can act. Instead actors in a population must use the ability to think and plan to cre¬ate a new kind of structure to survive in an environment. For example, if a population finds that its growth has led to resource depletion, it faces Spencerian selection pressures to discover—whether through trial and error, borrowing, or innovation—a way to increase production. Individuals and collective actors are forced to create new cultural systems and social structures to meet the challenges posed by these selection pressures, and if these new sociocultural systems increase fitness in the environment, they are retained in what Dawkins (1976) loosely calls the ‘meme pool.’” (Turner & Maryanski 2008, 122f, s. auch 301ff.) 17 Aus: Georg Simmel: Soziologie Kapitel X: Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität (S.527f:) „Haben wir zwei soziale Gruppen, M und N, die sich scharf voneinander unterscheiden, sowohl nach den charakteristischen Eigenschaften wie nach den gegenseitigen Gesinnungen, deren jede aber in sich aus homogenen und eng zusammenhängenden Elementen besteht: so bringt die quantitative Erweiterung eine steigende Differenzierung hervor; die ursprünglich minimalen Unterschiede unter den Individuen nach äußerlichen und innerlichen Anlagen und deren Betätigung verschärfen sich durch die Notwendigkeit, den von immer mehreren umkämpften Lebensunterhalt durch immer eigenartigere Mittel zu gewinnen; die Konkurrenz bildet im numerischen Maß der an ihr Beteiligten die Spezialität des Individuums aus.“ (S. 535f:) „Die Kreise der sozialen Interessen liegen konzentrisch um uns: je enger sie uns umschließen, desto kleiner müssen sie sein. Nun ist aber der Mensch nie bloßes Kollektivwesen, wie er nie bloßes Individualwesen ist; darum handelt es sich hier natürlich nur um ein Mehr oder Minder und nur um einzelne Seiten und Bestimmungen der Existenz, an denen sich die Entwicklung vom Übergewicht des einen zu dem des andern zeigt. Und diese Entwicklung wird Stadien haben können, in denen die Zugehörigkeiten zu dem kleinen wie zu dem größeren sozialen Kreise nebeneinander in charakteristischen Folgen hervortreten. Während also die Hingabe an einen engeren Kreis im allgemeinen dem Bestande der Individualität als solcher weniger günstig ist, als ihre Existenz in einer möglichst großen Allgemeinheit, ist psychologisch doch zu bemerken, daß innerhalb einer sehr großen Kulturgemeinschaft die Zugehörigkeit zu einer Familie die Individualisierung befördert. Der Einzelne vermag sich gegen die Gesamtheit nicht zu retten; nur indem er einen Teil seines absoluten Ich an ein paar andre aufgibt, sich mit ihnen zusammenschließt, kann er noch das Gefühl der Individualität, und zwar ohne übertriebenes Abschließen, ohne Bitterkeit und Absonderlichkeit wahren. Auch indem er seine Persönlichkeit und seine Interessen um die einer Reihe andrer Personen erweitert, setzt er sich dem übrigen Ganzen sozusagen in breiterer Masse entgegen. Zwar der Individualität im Sinne des Sonderlingtums und der Innormalität jeder Art wird durch ein familienloses Leben in einem weiten Kreise weiter Spielraum gelassen; aber für die Differenzierung, die dann auch dem größten Ganzen zugute kommt, die aus der Kraft, aber nicht aus der Widerstandslosigkeit gegenüber einseitigen Trieben hervorgeht - für diese ist die Zugehörigkeit zu einem engeren Kreise innerhalb des weitesten oft von Nutzen, vielfach freilich nur als Vorbereitung und Übergang. Die Familie, deren Bedeutung zuerst eine politisch-reale, mit wachsender Kultur mehr und mehr psychologisch-ideale ist, bietet als Kollektivindividuum ihrem Mitglieder einerseits eine vorläufige Differenzierung, die es auf diejenige im Sinne der absoluten Individualität wenigstens vorbereitet, andrerseits einen Schutz, unter dem die letztere sich entwickeln kann, bis sie der weitesten Allgemeinheit gegenüber bestandsfähig ist. Die Zugehörigkeit zu einer Familie stellt in höheren Kulturen, wo doch zugleich die Rechte der Individualität und der weitesten Kreise sich geltend machen, eine Mi-

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schung der charakteristischen Bedeutung der engen und der erweiterten sozialen Gruppe dar. - Es ist schon für die Tierwelt die ganz gleiche Beobachtung gemacht worden, daß die Neigung zur Familienbildung in umgekehrtem Verhältnis zur Bildung größerer Gruppen steht; das monogame und selbst polygame Verhältnis hat etwas so Exklusives, die Sorge für die Nachkommenschaft beansprucht die Eltern in so hohem Maße, daß die weitergehende Sozialisierung bei derartigen Tieren darunter leidet. Darum sind die organisierten Gruppen unter den Vögeln verhältnismäßig selten, während z. B. die wilden Hunde, bei denen völlige Promiskuität der Geschlechter und gegenseitige Fremdheit nach dem Akt herrscht, meistens in eng zusammenhaltenden Meuten leben; bei den Säugetieren, bei denen sowohl familienhafte wie soziale Triebe herrschen, bemerken wir stets, daß in Zeiten des Vorherrschens jener, also während der Paarungs- und Erzeugungszeit, die letzteren bedeutend abnehmen. Auch ist die Vereinigung der Eltern und der jungen zu einer Familie eine um so engere, je geringer die Zahl der jungen ist; ich erwähne nur das bezeichnende Beispiel, daß innerhalb der Klasse der Fische diejenigen, deren Nachkommenschaft völlig sich selbst überlassen ist, ihre Eier zu ungezählten Millionen ablegen, während die brütenden und bauenden Fische, bei denen sich also die Anfänge eines familienhaften Zusammenhaltes finden, nur wenige Eier produzieren. Man hat in diesem Sinne behauptet, daß die sozialen Verhältnisse unter den Tieren nicht von den ehelichen oder elterlichen, sondern nur von den geschwisterlichen Beziehungen ausgingen, da diese dem Individuum viel größere Freiheit ließen als jene, und es deshalb geneigter machen, sich eng an den größeren Kreis anzuschließen, der sich ihm eben zunächst in den Geschwistern bietet, so daß man das Eingeschlossensein in eine tierische Familie als das größte Hemmnis für den Anschluß an eine größere tierische Gesellschaft angesehen hat.“ Daher die enorme Bedeutung der Exogamie für die initiale Bildung größerer Gruppen beim Menschen. (562f.) „Je weniger, infolge der Vergrößerung des Wirtschaftskreises, der Produzent seine Konsumenten kennt, desto ausschließlicher richtet sich sein Interesse nur auf die Höhe des Preises, den er von diesen erzielen kann; je unpersönlicher und qualitätsloser ihm sein Publikum gegenübersteht, um so mehr entspricht dem die ausschließliche Richtung auf das qualitätlose Resultat der Arbeit, auf das Geld; von jenen höchsten Gebieten abgesehen, auf denen die Energie der Arbeit aus dem abstrakten Idealismus stammt, wird der Arbeiter um so mehr von seiner Person und seinem ethischen Interesse in die Arbeit hineinlegen, je mehr ihm sein Abnehmerkreis auch persönlich bekannt ist und nahe steht, wie es eben nur in kleineren Verhältnissen statthat. Mit der wachsenden Größe der Gruppe, für die er arbeitet, mit der wachsenden Gleichgültigkeit, mit der er dieser nur gegenüberstehen kann, fallen vielerlei Momente dahin, die den wirtschaftlichen Egoismus einschränkten. Nach vielen Seiten ist die menschliche Natur und sind die menschlichen Verhältnisse so angelegt, daß, wenn die Beziehungen des Individuums eine gewisse Größe des Umfanges überschreiten, es um so mehr auf. sich selbst zurückgewiesen wird. Dabei handelt es sich nicht nur um die rein quantitative Ausdehnung des Kreises, die an und für sich schon die persönliche Interessiertheit für jeden seiner Punkte bis zu einem Minimum herab vermindern muß; sondern auch um die qualitative Mannigfaltigkeit innerhalb seiner, die es verhindert, daß sich das Interesse mit eindeutiger Bestimmtheit an einen einzelnen Punkt hefte, und die so den Egoismus gewissermaßen als das logische Resultat aus den gegenseitigen Paralysierungen unverträglicher Ansprüche übrig läßt. Aus diesem formalen Motiv heraus hat man z. B. die Buntheit und innere Heterogeneität der Habsburgischen Besitzungen für eine der Veranlassungen dazu gehalten, daß die Habsburger mit ihrer ganzen Politik nur ihr Hausinteresse im Auge hatten.“ Mit Bezug auf Konkurrenzkonflikte als Auslöser von Differenzierung s. auch Simmel über Streit (Soziol. 1908, 135f. 206. 248) Auch Luhmann knüpft in seiner Betrachtung von Konflikten an


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Simmels eher formale Betrachtung an, die gegenüber Durkheim eine Entdramatisierung darstellt. Konflikte können demnach die Ordnung der Gesellschaft gar nicht in Gefahr bringen. Die Simmelsche Reduktion des Begriffs der Gesellschaft auf die Beziehungen („Wechselwirkungen“) zwischen den Individuen verkennt aber ihre Funktion als Schutzschirm gegenüber dem Selektionsdruck der natürlichen und sozialen Umwelt – und damit auch eine wesentliche Dimension von Konflikten! 18 Zum irreduziblen Systemcharakter des Sozialen bei Durkheim (2002: 187) „Kraft dieses Prinzipes ist die Gesellschaft nicht bloß eine Summe von Individuen, sondern das durch deren Verbindung gebildete System stellt eine spezifische Realität dar, die einen eigenen Charakter hat. Zweifellos kann keine kollektive Erscheinung entstehen, wenn kein Einzelbewußtsein vorhanden ist; doch ist diese notwendige Bedingung allein nicht ausreichend. Die einzelnen Psychen müssen noch assoziiert, kombiniert und in einer bestimmten Art kombiniert sein; das soziale Leben resultiert also aus dieser Kombination und kann nur aus ihr erklärt werden." Diese häufig zitierte methodologische Vorschrift Durkheims ist besser zu verstehen vor dem Hintergrund seiner historischen Erklärung sozialer Differenzierung aus Konkurrenzkonflikten. Durkheim 1977 (1930) S.306-308: „Wenn sich die Arbeit in dem Maß mehr teilt, in dem die Gesellschaften umfangreicher und dichter werden, dann nicht darum, weil die äußeren Umstände mannigfaltiger sind, sondern weil der Kampf um das Leben heißer ist. – Darwin hat zu Recht bemerkt, daß die Konkurrenz zwischen zwei Organismen um so heftiger ist, je ähnlicher sie einander sind. Da sie die gleichen Bedürfnisse haben und die gleichen Ziele verfolgen, rivalisieren sie überall. Solange sie mehr Hilfsmittel haben als sie brauchen, können sie Seite an Seite leben. Erhöht sich aber ihre Zahl in einem Ausmaß, daß der Hunger nicht mehr genügend gestillt werden kann, dann bricht der Krieg aus, und er ist um so heftiger, als der Mangel größer ist, d. h. je größer die Zahl der Konkurrenten ist. Ganz anders ist es dagegen, wenn die Individuen, die zusammenleben, verschiedenen Gattungen oder Arten angehören. Da sie sich nicht auf dieselbe Weise ernähren und nicht dasselbe Leben führen, belästigen sie sich nicht gegenseitig; was dem einen zugute kommt, ist für die anderen wertlos. Die Konfliktgelegenheiten vermindern sich also mit den Gelegenheiten, sich zu begegnen, und das um so mehr, je weiter die Gattungen oder Arten voneinander entfernt sind. »In einer wenig weiten Region, die der Immigration offensteht, und wo folglich der Kampf zwischen den Individuen sehr lebhaft sein muß, stellen wir immer eine große Vielfalt in den Gattungen fest. Ich habe festgestellt, daß ein Rasenstück von 3 oder 4 Fuß, das jahrelang den gleichen Lebensbedingungen ausgesetzt worden war, 20 Pflanzenarten ernährt, die 18 Gattungen und 8 Klassen angehörten, was beweist, wie verschieden diese Pflanzen untereinander waren.« (Darwin, Origine des espéces, 131) Jeder kann im übrigen selber feststellen, daß in einem Feld neben dem Getreide eine große Anzahl von Unkräutern wächst. Auch die Tiere bestehen um so leichter den Kampf, je verschiedener sie sind. Unter einer Eiche kann man bis zu 200 Insektenarten finden, die untereinander in guter Nachbarschaft leben. Die einen leben von den Früchten des Baumes, die anderen von Blättern, andere wieder von der Rinde und von der Wurzel. »Es wäre absolut unmöglich, daß eine ähnliche Anzahl von Individuen auf einem Baum leben könnte, wenn alle der gleichen Gattung angehörten; wenn alle zum Beispiel von der Rinde oder nur von den Blättern lebten.« (Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, 1868) Auch innerhalb des Organismus wird die Konkurrenz unter den verschiedenen Geweben dadurch vermindert, daß sie sich von verschiedenen Substanzen ernähren. – Die Menschen unterliegen dem gleichen Gesetz. In einer Stadt können die verschiedensten Berufe nebeneinander leben, ohne sich gegenseitig schädigen zu müssen, denn sie verfolgen verschiedene Ziele. Der Soldat sucht den militärischen Ruhm, der Priester die moralische Autorität, der Staatsmann die Macht, der Gewerbetreibende den Reichtum, der Gelehrte wissenschaftliches Ansehen; jeder kann sein Ziel erreichen, ohne den anderen

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daran zu hindern, ebenfalls sein Ziel zu erreichen. Genauso ist es auch mit den Funktionen selbst, wenn sie weniger weit auseinander liegen. Der Augenarzt konkurriert nicht mit dem Irrenarzt, der Schuhmacher nicht mit dem Hutmacher, der Maurer nicht mit dem Tischler, der Physiker nicht mit dem Chemiker usw. Da sie verschiedene Dienste leisten, können sie sie parallel leisten. – Je mehr die Funktionen einander nähern, desto mehr Kontakt haben sie untereinander und desto größer ist folglich die Gefahr, daß sie sich gegenseitig bekämpfen. Da sie in diesem Fall durch verschiedene Mittel ähnliche Bedürfnisse befriedigen, ist es unvermeidlich, daß sie mehr oder weniger versuchen, sich gegenseitig Rechte wegzunehmen. Niemals wird ein Beamter mit einem Gewerbetreibenden konkurrieren; aber der Brauer und der Winzer, der Tuchmacher und der Seidenfabrikant, der Dichter und der Musiker werden sich Mühe geben, sich gegenseitig auszustechen. Wer die gleiche Funktion ausübt, kann nur auf Kosten des anderen gedeihen. Wenn man sich also diese verschiedenen Funktionen unter der Form eines verzweigten Busches vorstellt, der aus einem gemeinsamen Stamm kommt, dann wird an den äußersten Enden am wenigsten gekämpft, während der Kampf regelmäßig zunimmt, je mehr man sich dem Zentrum nähert. So ist es nicht nur im Inneren einer Stadt, sondern in der ganzen Gesellschaft. Ähnliche Berufe, die sich an den verschiedenen Punkten des Gebietes befinden, machen sich um so heftiger Konkurrenz, je ähnlicher sie einander sind, sofern die Verkehrs- und Transportschwierigkeiten nicht ihre Handlungsfreiheit einengen. – Dies angenommen, ist es leicht zu verstehen, daß jede Verdichtung der sozialen Masse, besonders wenn sie von einer Zunahme der Bevölkerung begleitet ist, notwendigerweise die Fortschritte der Arbeitsteilung bestimmt.“ Zur Abgrenzung seiner soziologischen Methode gegenüber der älteren Theorietradition mit Bezug auf das Verhältns zwischen Individuuum und Gesellschaft schreibt Durkheim (1961, 201204): „Aus der Reihe der hier aufgestellten Regeln ergibt sich eine bestimmte Auffassung der Gesellschaft und des kollektiven Lebens. Zwei gegensätzliche Theorien sind in dieser Hinsicht bisher vertreten worden. Für die einen wie Hobbes und Rousseau gibt es keine Kontinuität zwischen Individuum und Gesellschaft. Der Mensch widerstrebt von Natur aus dem Gemeinschaftsleben und fügt sich ihm nur gezwungen. Die sozialen Zwecke sind nicht nur die Kreuzungspunkte der individuellen Zwecke; vielmehr sind sie ihnen entgegengesetzt. Um das Individuum zu ihrer Befolgung zu bewegen, muß ein Zwang ausgeübt werden, und in der Institution und Organisation dieses Zwanges besteht vorzugsweise das soziale Geschehen. Weil aber das Individuum als die alleinige Realität des menschlichen Daseins angesehen wird, kann diese Organisation, die darauf gerichtet ist, es zu hemmen und in Schranken zu halten, nur als eine künstliche aufgefaßt werden. Sie ist nicht in der Natur begründet, da sie dem Einzelnen Gewalt an- zutun bestimmt ist, indem sie ihn daran hindert, seine antisozialen Tendenzen zur Geltung zu bringen. Sie ist ein künstliches Produkt, eine gänzlich von Menschenhand aufgebaute Maschine, die, wie alle Erzeugnisse dieser Art, nur darum ist, was sie ist, weil sie die Menschen so gewollt haben. Ein Willensentschluß hat sie geschaffen, ein anderer Entschluß kann sie umformen. Darüber hat weder Hobbes noch Rousseau das Widerspruchsvolle an der Annahme bemerkt, daß das Individuum selbst der Urheber einer Maschine sein soll, deren wesentliche Rolle darin besteht, ihren Urheber durch Zwang zu beherrschen und einem Zwang zu unterwerfen. Oder es schien ihnen wenigstens, daß es hinreiche, um diesen Widerspruch zum Verschwinden zu bringen, ihn in den Augen seiner Opfer durch den geschickten Kunstgriff des sozialen Vertrages zu verkleiden. Von der entgegengesetzten Idee ließen sich die Theoretiker des Naturrechtes, die Nationalökonomen und in neuerer Zeit Spencer leiten.1 Für sie ist das soziale Leben wesentlich spontan und die Gesellschaft eine Naturtatsache. Wenn sie ihr aber diesen Charak-


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ter beilegen, so geschieht es nicht deshalb, weil sie ihr eine spezifische Natur zuerkennen, sondern weil sie ihre Grundlage in der Natur des Individuums finden. Ebensowenig wie die vorerwähnten Denker sehen sie in der Gesellschaft ein System von Erscheinungen, das auf Grund besonderer Ursachen durch sich selbst existiert. Während aber jene das soziale Leben nur als konventionelle Ordnung auffaßten, die keinerlei Band mit der Wirklichkeit verknüpft und die sozusagen in der Luft schwebt, weisen ihm diese die fundamentalsten Instinkte des Menschen als Sitz an. Der Mensch neigt von Natur aus zum politischen, häuslichen, religiösen Leben, zum Tauschverkehr usw., und es sind diese natürlichen Neigungen, denen die soziale Organisation entspringt. Infolgedessen muß sich diese nirgends, wo sie normal auftritt, mit Gewalt aufdrängen. Sobald sie zum Zwange greift, geschieht dies darum, weil sie nicht ist, was sie sein soll, oder weil die Umstände anormal sind. Im Prinzip braucht man nur die individuellen Kräfte sich frei entfalten zu lassen, damit sie sich sozial organisieren. Weder die eine noch die andere Doktrin ist die unsere. Allerdings erheben wir den Zwang zum Kriterium jedes soziologischen Tatbestands. Nur geht dieser Zwang nicht von einer mehr oder weniger erklügelten Maschine aus, die den Menschen die Fallen, in die sie sich selbst gefangen haben, verhüllen soll. Er ist einfach darauf zurückzuführen, daß sich die Individuen einer Kraft gegenüber finden, welche sie beherrscht und vor der sie sich beugen; doch ist diese Kraft eine natürliche. Sie entsteht aus keiner konventionellen Einrichtung, die der menschliche Wille im Ganzen der Wirklichkeit hinzugefügt hat. Sie geht vielmehr aus dem innersten Wesen der Wirklichkeit selbst hervor; sie ist das notwendige Produkt gegebener Ursachen. Auch ist es nicht erforderlich, zu einem Kunstgriff zu greifen, um das Individuum zu freiwilliger Unterordnung zu bewegen; es genügt, ihm den Zustand seiner Abhängigkeit und natürlichen Inferiorität zum Bewußtsein zu bringen — damit es sich in der Religion eine anschauliche und symbolische Vorstellung hiervon mache oder durch das Mittel der Wissenschaft sich adäquate und bestimmte Begriffe darüber bilde. Da die Überlegenheit der Gesellschaft nicht bloß physisch, sondern auch moralisch und geistig ist, hat sie von der freien Forschung, richtigen Gebrauch der letzteren vorausgesetzt, nichts zu fürchten. Die Reflexion, die den Menschen einsehen läßt, um wieviel reicher, differenzierter und lebenskräftiger das soziale Wesen ist als das individuelle, kann ihm nur einleuchtende Gründe für die Unterordnung, die von ihm gefordert wird, und für die Gefühle der Ergebenheit und des Respektes, welche die Gewohnheit in seinem Inneren fixiert hat, vermitteln.2 Nur eine ungewöhnlich oberflächliche Kritik könnte also unserem Begriffe des sozialen Zwanges vorwerfen, daß er die Theorien von Hobbes und Machiavelli erneuere. Wenn wir aber im Gegensatz zu diesen Philosophen die Natürlichkeit des sozialen Lebens behaupten, so geschieht das nicht deshalb, weil wir dessen Quelle in der Natur des Individuums finden, sondern weil es unmittelbar aus dem kollektiven Sein abzuleiten ist, das an sich ein Wesen sui generis darstellt; es geschieht deshalb, weil das soziale Leben der besonderen Formung entspringt, der die einzelnen Psychen vermöge der Tatsache ihrer Assoziation unterliegen und aus der eine neue Existenzform entsteht.3 Wenn wir also mit den einen die Erkenntnis teilen, daß sich diese dem Individuum unter der Erscheinungsform des Zwanges zeigt, nehmen wir mit den anderen an, daß sie ein spontanes Produkt der Wirklichkeit ist. Und was diese scheinbar widersprechenden Elemente logisch miteinander verbindet, ist die Tatsache, daß diese Wirklichkeit, aus der sie fließt, über das Individuum hinausreicht. Das heißt, daß die Ausdrücke Zwang und Spontaneität in unserer Terminologie einen anderen Sinn haben, als Hobbes dem ersten und Spencer dem zweiten gibt. Zusammenfassend sei gesagt: der Mehrzahl der Versuche, die zur rationalen Erklärung der soziologischen Tatbestände unternommen worden sind, konnte man vorwerfen, daß sie entweder die Idee der sozialen Unterordnung gänzlich beseitigten oder sie nur mit Hilfe trügerischer Erschleichungen wahren konnten. Die von

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uns soeben aufgestellten Regeln gestatten hingegen die Ausgestaltung einer Soziologie, die die wesentliche Bedingung eines jeden Lebens in der Gemeinschaft im Geiste der Unterordnung erblickt, und gründen diesen Geist auf Vernunft und Wahrheit. Fussnoten: 1. Die Stellung Comtes zu diesem Gegenstand ist ein ziemlich zweideutiger Eklektizismus. 2. Das ist auch der Grund, warum nicht jeder Zwang normal ist. Nur demjenigen gebührt diese Bezeichnung, welcher irgendeiner sozialen Überlegenheit, nämlich einer geistigen oder moralischen entspricht. Jener aber, den ein Individuum gegen ein anderes ausübt, weil es stärker oder reicher ist, ist abnormal und kann sich nur durch Gewalt behaupten, insbesondere, wenn dieser Reichtum nicht den sozialen Wert des Individuums ausdrückt. 3. Unsere Theorie steht zu der von Hobbes sogar in größerem Gegensatz als zu der des Naturrechts. Für die Anhänger der letzteren Theorie ist das soziale Leben nur in dem Maße natürlich, als es aus der individuellen Natur deduziert werden kann. Nun können, streng genommen, bloß die allgemeinsten Formen der sozialen Organisation auf diesen Ursprung zurückgeführt werden. Das Detail ist von der extremen Allgemeinheit der psychischen Eigenschaften allzu entfernt, als daß eine Anknüpfung an sie möglich wäre. Dasselbe erscheint also dieser Schule ebenso als ein künstliches Erzeugnis wie ihren Gegnern. Für uns ist dagegen alles natürlich, selbst die speziellsten Einrichtungen, denn alles ist in der Natur der Gesellschaft begründet. Zum Wandel auf der Makroebene infolge von Variationen auf der Mikroebene (Durkheim 2002: 194): „Wenn wirklich die entscheidende Bedingung der sozialen Phänomene, wie gezeigt wurde, in der Tatsache der Assoziation selbst besteht, müssen die Phänomene mit den Formen dieser Assoziationen, d. h. mit der Art und Weise, wie die grundlegenden Bestandteile der Gesellschaft gruppiert sind, variieren. ... Die Elemente, aus denen sich dieses Milieu zusammensetzt, gehören zwei Gattungen an: es sind Personen und Dinge." Durkheims Verdienst besteht zweifellos darin, die sozialen Bindekräfte gesucht (und in den diversen Formen der Religion und ihren funktionalen Äquivalenten gefunden) zu haben, die die zerstörerischen Kräfte der Konkurrenz bändigen. Die Schwachstelle seiner Sozialtheorie besteht allerdings darin, dass er fast ausschließlich die Innenseite der menschlichen Sozialsysteme betrachtet und die Verlagerung der Konkurrenzkonflikte auf die Außenseite vernachlässigt hat. Aus einem Kommentar von Matthias König: „Dazu ist zunächst in Erinnerung zu rufen, dass Durkheim das oben bereits erwähnte »Gesetz der Geschichte«, das auf eine lineare Theorie gesellschaftlicher Evolution hinzudeuten scheint, um ein »Gesetz der Schwerkraft der sozialen Welt« ergänzt, das gewissermaßen die kausalen Mechanismen für die Entstehung von Arbeitsteilung und damit von organischer Solidarität beinhaltet. Ausgangspunkt für sein Erklärungsmodell ist das Wachstum von sozialem Volumen und moralischer Dichte. Diese Größen bemessen sich nach Durkheim an der absoluten Bevölkerungsgröße und der Bevölkerungsdichte einerseits sowie der durch Verkehrs- und Kommunikationstechnologien ermöglichten Interaktionshäufigkeit andererseits. Das signifikante Wachstum dieser Größen erzeugt einen Kampf ums Dasein, erhöht den Druck zur Spezialisierung und führt - gewissermaßen als Ventil jenes Daseinskampfes - zum Fortschreiten der Arbeitsteilung, die schließlich ihrerseits organische Solidarität hervorbringt. Nun muss man diese darwinistische Argumentationslogik nicht gänzlich mitvollziehen [weil der Darwinismus hier teleologisch missverstanden wird] um doch den Zusammenhang zu sehen, der zwischen der infra-struktur- und technologiebedingten Kommunikations-verdichtung und dem Formwandel von Solidarität besteht. Dieser Zusammenhang wird daher auch, oft mit Rekurs auf Durkheim, von einigen zeitgenössischen Theoretikern als Erklärung für die Prozesse der Europä-isierung und Globalisierung in Anschlag gebracht. Durkheim selbst hatte die Stoßrichtung solcher Erklä-


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rungen bereits vorweggenommen, als er, der ansonsten als methodologischer Nationalist par excellence gelten kann, die national geschlossenen Gesellschaften ledig-lich als Übergangsstufe auf dem durch die fortschrei-tende Arbeitsteilung vorgezeichneten Weg zur Entste-hung größerer sozialer Einheiten bis hin zur Menschheit betrachtete. Es lohnt sich, Durkheims Überlegungen, deren historischer Hintergrund die Intensivierung von Welthandel und völkerrechtlicher Regulierung in der Zeit zwischen 1870 und 1914 war, hier einmal etwas ausführlicher nachzuvollziehen: »Ein lange gehegter Traum der Menschen«, so Durkheim, »ist, endlich das Ideal der menschlichen Brüderlichkeit zu verwirklichen.« Trotz partikularer Bindungen richteten sich die Wünsche der Menschen auf Frieden in den internationalen Beziehungen. Diese Wünsche »können aber nur befriedigt werden, wenn alle Menschen eine einzige, den gleichen Gesetzen unterworfene Gesellschaft bilden.« Intersoziale Konflikte könnten nur durch die regulierende Wirkung einer übergreifenden Gesellschaft begrenzt werden. Zwar sei es so, dass die kulturellen Verschiedenartigkeiten noch zu groß für die unmittelbare Erfüllung jenes Ideals menschlicher Brüderlichkeit seien; eine »europäische Gesellschaft« sei aber bereits im Entstehen begriffen, und daher lasse sich auch am Ideal der Menschheit festhalten. »Nun wissen wir aber, daß sich größere Gesellschaften nicht bilden können, ohne daß sich die Arbeitsteilung entwickelt.« Daher gelte: »Das Ideal der menschlichen Brüderlichkeit kann sich nur in dem Maß erfüllen, in dem die Arbeitsteilung fortschreitet.« Interessant ist Durkheim für die Debatte um Europäisierung und Globalisierung also vor allem, weil er die fortschreitende Arbeitsteilung auf einen Formwandel sozialer Integration bezieht. Genau dies leistet weder die marxistische Tradition, wie sie etwa in der Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein anzutreffen ist, noch die systemtheoretische Tradition, aus deren Perspektive sich Integration allenfalls noch systemisch, also im Rücken der Akteure vollzieht. Eine an Durkheim orientierte Perspektive fokussiert demgegenüber gerade die sozialintegrative Dimension globaler Dynamiken und fragt nach den institutionellen und kulturellen Kontexten, in die globale Arbeitsteilung und funktionale Differenzierung eingebettet sind. Was die institutionelle Seite des Formwandels der Sozialintegration angeht, so wiederholt sich im Prozess der Europäisierung und Globalisierung noch einmal die von Durkheim nachvollzogene Dialektik der Desintegration kleinerer und Integration größerer Einheiten.“ (S. ... M. König (2008): Wie weiter mit Emile Durkheim? Hg. Hamburger Institut für Sozialforschung.) 19 Eine im Hinblick auf das Größenwachstumsproblem einschlägige Stelle bei M.Weber habe ich noch nicht gefunden. Weber interessiert sich (im Unterschied zu Durkheim, Simmel, Elias) primär für die Konkurrenzkonflikte auf der Metaebene. Diese Sicht ist jedoch in evolutionstheoretischer Perspektive mit der Durkheimschen durchaus vereinbar. Denn auch der „Kampf der Wertordnungen“ ergibt sich aus der Nichtexternalisierbarkeit von Konkurrenzkonflikten in der Moderne. (S. meine Ausf. im 6. Abschnitt). Daher hier zunächst ein Zitat mit Bezug auf das (mit dem Größenwachstumsproblem verbundene) Problem der Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten auf zwei Ebenen (Max Weber, 1972, ... Soziologische Grundbegriffe § 8. Begriff des Kampfes): „Zu scheiden von dem Kampf der Einzelnen um Lebens- und Ueberlebenschancen ist natürlich »Kampf« und »Auslese« sozialer Beziehungen. Nur in einem übertragenen Sinn kann man hier diese Begriffe anwenden. Denn »Beziehungen« existieren ja nur als menschliches Handeln bestimmten Sinngehalts. Und eine »Auslese« oder ein »Kampf« zwischen ihnen bedeutet also: daß eine bestimmte Art von Handeln durch eine andere, sei es der gleichen oder anderer Menschen, im Lauf der Zeit verdrängt wird. Dies ist in verschiedener Art möglich. Menschliches Handeln kann sich a) bewußt darauf richten: bestimmte konkrete, oder: generell bestimmt geordnete, soziale Beziehungen, d.h. das ihrem Sinngehalt entsprechend ablaufende Handeln zu stören oder im Entstehen oder Fortbestehen zu verhindern (einen »Staat« durch

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Krieg oder Re-volution oder eine »Verschwörung« durch blutige Unterdrückung, »Konkubinate« durch polizeiliche Maßnahmen, »wucherische« Geschäftsbeziehungen durch Versagung des Rechtsschutzes und Bestrafung), oder durch Prämierung des Bestehens der einen Kategorie zuungunsten der ändern bewußt zu beeinflussen: Einzelne sowohl wie viele verbundene Einzelne können sich derartige Ziele setzen. Es kann aber auch b) der ungewollte Nebenerfolg des Ablaufs sozialen Handelns und der dafür maßgebenden Bedingungen aller Art sein: daß bestimmte konkrete, oder bestimmt geartete, Beziehungen (d. h. stets: das betreffende Handeln) eine ab-nehmende Chance haben, fortzubestehen oder neu zu entstehen. Alle natürlichen und KulturBedingungen jeglicher Art wirken im Fall der Veränderung in irgendeiner Weise dahin, solche Chancen für die allerverschiedensten Arten sozialer Beziehungen zu verschieben. Es ist jedermann unbenommen, auch in solchen Fällen von einer »Auslese« der sozialen Beziehungen – z. B. der staatlichen Verbände – zu reden, in denen der »Stärkere« (im Sinn des »Angepaßteren«) siege. Nur ist festzuhalten, daß diese sog. »Auslese« mit der Auslese der Menschentypen weder im sozialen noch im biologischen Sinn etwas zu tun hat, daß in jedem einzelnen Fall nach dem Grunde zu fragen ist, der die Verschiebung der Chancen für die eine oder die andere Form des sozialen Handelns und der sozialen Beziehungen bewirkt, oder eine soziale Beziehung gesprengt, oder ihr die Fortexistenz gegenüber ändern gestattet hat, und daß diese Gründe so mannigfaltig sind, daß ein einheitlicher Ausdruck dafür unpassend erscheint. Es besteht dabei stets die Gefahr: unkontrollierte Wertungen in die empirische Forschung zu tragen und vor allem: Apologie des im Einzelfall oft rein individuell bedingten, also in diesem Sinn des Wortes: »zu-fälligen«, Erfolges zu treiben. Die letzten Jahre brachten und bringen davon mehr als zuviel. Denn das oft durch rein konkrete Gründe bedingte Ausgeschaltet-werden einer (konkreten oder qualitativ spezifizierten) sozialen Beziehung beweist ja an sich noch nicht einmal etwas gegen ihre generelle »Angepaßtheit«.“ Während Durkheim den Nationalstaat in politisch-moralischer Hinsicht ohne seine Außenseite – gewissermaßen schon als Stellvertreter der Weltgesellschaft – denkt, steht bei Weber die Konkurrenz der Nationalstaaten stark im Vordergrund (s. schon die Akademische Antrittsrede 1895: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik S. 10-30 Ges. Pol. Schriften.) Webers Markierung der traditionellen Doppelmoral und ihrer Überwindung in der modernen Gesellschaft (aus dem Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Mit- und Nachschriften 1919/20): „Um noch einmal die Eigenart des okzidentalen Kapitalismus und ihre Ursachen zusammenfassend darzulegen, so sind folgendes die entscheidenden Züge. Nur er hat eine rationale Arbeitsorganisation geschaffen, die sonst nirgends vorkommt. Handel hat es überall und zu allen Zeiten gegeben, und er läßt sich bis in die Steinzeit zurückverfolgen; ebenso finden wir in den verschiedensten Epochen und Kulturen Kriegsfinanzierung, Staatslieferungen, Steuerpacht, Amtspacht usw., nicht aber rationale Arbeitsorganisation. Ferner finden wir überall sonst: primitiv nebeneinander streng gebundene Binnenwirtschaft, so daß von irgendwelcher Freiheit des wirtschaftlichen Gebarens zwischen den Genossen des gleichen Stammes, der gleichen Sippe keine Rede ist, und daneben absolute Ungebundenheit des Handels nach außen; Binnenund Außenethik sind verschieden, und darüber steht absolute Rücksichtslosigkeit der Finanzgebarung. Nichts kann so streng gebunden sein wie die Sippenwirtschaft in China oder die Kastenwirtschaft in Indien, aber auch nichts so skrupellos wie der indische Außenhändler. Dagegen ist die Aufhebung der Schranken zwischen Binnenwirtschaft und Aussenwirtschaft, Binnenmoral und Außenmoral, das Eindringen des händlerischen Prinzips in die Binnenwirtschaft und die Organisation der Arbeit auf dieser Basis das zweite Charakteristikum des okzidentalen Kapitalismus. Endlich ist die Zersetzung der ursprünglichen wirtschaftlichen Gebundenheit zwar auch anderwärts eingetreten, so in Babylon;


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aber nirgends finden wir die unternehmungsweise Organisation der Arbeit wieder, wie sie der Okzident kennt.“ (MWG III-6 S. 349) „Ursprünglich stehen zwei verschiedene Einstellungen zum Erwerb unvermittelt nebeneinander: nach innen Gebundenheit an die Tradition, an ein Pietätsverhältnis zu den Stammes-, Sippenund Hausgenossen unter Ausschluß hemmungslosen Erwerbs innerhalb des Kreises der durch die Pietätsbande miteinander Verbundenen: Binnenmoral – und absolute Hemmungslosigkeit des Erwerbstriebes im Verkehr nach außen, wo jeder Fremde ursprünglich Feind ist, dem gegenüber es keine ethische Schranke gibt: Außenmoral.“ (MWG III-6 S. 384) Noch nachzugehen wäre hier dem Hinweis von Bachmann auf Mehrebenenanalysen bei Max Weber: Ulrich Bachmann: Wertrationalität, Markt und Organisation S.159ff in: Schwinn/Kroneberg/Greve (Hg.) 2011: Soziale Differenzierung. Handlungstheoretische Zugänge in der Diskussion – s. dazu auch Stachura, Mateusz/Bienfait, Agathe/Albert, Gert/Sigmund, Steffen (Hrsg.) (2009): Der Sinn der Institutionen. Mehr-Ebenen- und Mehr-Seiten-Analyse. Studien zum Weber-Paradigma. Wiesbaden: VS Verlag 20 Der von Norbert Elias beschriebene „Monopolmechanismus“ basiert auf der Austragung von Konkurrenzkonflikten und dient der Integration immer größerer Sozialsysteme (Elias 1939: 144/145): „Wenn in einer größeren gesellschaftlichen Einheit ... viele der kleineren gesellschaftlichen Einheiten, die die größere durch ihre Interdependenz bilden, relativ gleiche gesellschaftliche Stärke haben und dementsprechend frei - ungehindert durch schon vorhandene Monopole - miteinander um Chancen der gesellschaftlichen Stärke konkurrieren können, also vor allem um Subsistenz und Produktionsmittel, dann besteht eine sehr große Wahrscheinlichkeit dafür, daß einige siegen, andere unterliegen, und daß als Folge davon nach und nach immer weniger über immer mehr Chancen verfügen, daß immer mehr aus dem Konkurrenzkampf ausscheiden müssen und in direkte oder indirekte Abhängigkeit von einer immer kleineren Anzahl geraten. ... Das allgemeine Schema, nach dem sich dieser Ablauf vollzieht, ist recht einfach: In einem gesellschaftlichen Raum soll es eine bestimmte Anzahl von Menschen geben und eine bestimmte Anzahl von Chancen, die knapp oder unzureichend ist im Verhältnis zum Bedürfnis der Menschen. Angenommen, es kämpft in diesem Raum von allen diesen Menschen zunächst je einer mit je einem anderen um die vorhandenen Chancen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie alle sich unendlich lange in dieser Gleichgewichtslage halten, und daß in keinem dieser Paare ein Partner siegt, außerordentlich gering ...; siegen aber einige der Kämpfenden, so vermehren sich ihre Chancen; die der Besiegten verringern sich; in der Hand eines Teils der ursprünglich Kämpfenden sammeln sich größere Chancen; der andere Teil scheidet aus dem unmittelbaren Wettbewerb mit ihnen aus; angenommen, es kämpft von den Siegenden von neuem je einer mit je einem anderen, so wiederholt sich das Spiel: wiederum siegt ein Teil und gewinnt die Verfügungsgewalt über die Chancen der Besiegten; ein noch kleinerer Anteil von Menschen verfügt über eine noch größere Anzahl von Chancen; eine noch größere Anzahl von Menschen ist aus dem freien Konkurrenzkampf ausgeschieden; und der Vorgang wiederholt sich, bis schließlich im optimalen Fall ein Einzelner über alle Chancen verfügt und alle anderen von ihm abhängig sind.“ 21 Parsons schließt in Bezug auf soziale Differenzierung weitgehend an die ältere Theorietradition an und betont mit Durkheim (und gegen Spencers Vertragstheorie) die institutionell latenten Voraussetzungen sozialer Ordnung. Damit erscheint in erster Linie die geteilte Wertordnung (und erst in zweiter Linie – mit Bezug auf die zu spezifizierenden Normen - auch Differenzierung) als Lösung für die Probleme sozialer Ordnung. [Hier wäre evtl. als Verdienst Luhmanns herauszustellen, den Focus wieder stärker auf Differenzierung - als Stabilisierungsmechanismus gerichtet zu haben.]

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In der folgenden Passage von Parsons (aus Parsons and Bales 1961, 45) werden Konkurrenzkonflikte durch Größenwachstum der menschlichen Gesellschaft als Auslöser von Differenzierungsprozessen indirekt angesprochen: “Perhaps the most fundamental determinant underlying the segmentation of social systems is the indispensability of the human individual as an agency of performance. But there are essential limits, not only to what a given individual can do, but to the effectiveness with which individuals can cooperate. The problems of communication and other aspects of integration may thus multiply as a result of an increasing scale of organization; in certain respects, therefore, subcollectivities may acquire a distinctive organization, including a special integration or solidarity relative to the larger systems of which they are parts. By the concept segmentation I refer, in discussing the formation of collectivities, to the development of subcollectivities, within a larger collectivity system, in which some of the members of the larger system participate more intimately than in others. In this sense, segmentation is a factor independent of the differentiation of function between the sub-collectivities. Thus a large-scale society may comprise millions of nuclear families, all of which perform essentially similar functions in the socialization of children; here the structure is highly segmented but not highly differentiated. The necessity of segmentation derives largely from the problems of integration resulting from the other exigencies to which units of the system are subject. At the same time, however, it gives rise to new problems of integration: the more units there are, the less likely they will be just "naturally" to coordinate their activities in ways compatible with the smooth functioning of the system as a whole. This tends, in more complex systems, to give rise to special mechanisms of integration, which will have to be discussed in due course.” Zur primären Differenzierung menschlicher Gruppen entlang der Geschlechts- und Generationsrollen (Parsons/Bales 1955, 22f): “It goes without saying that the differentiation of the sex roles within the family constitutes not merely a major axis of its struc-ture, but is deeply involved in both of these two central func-tion-complexes of the family and in their articulation with each other. Indeed we argue that probably the importance of the family and its functions for society constitutes the primary set of reasons why there is a social as distinguished from purely reproductive, differentiation of sex roles. We will maintain that in its most essential structure the nuclear family consists of four main role-types, which are differentiated from each other by the criteria of generation and sex. Of these two, generation is, in its social role-significance, biologi-cally given, since the helplessness of the small child, particularly of course the infant, precludes anything approaching equality of "power" between the generations in the early stages of socializa-tion. This biological "intrinsicness" does not, however, we feel apply in at all the same way to sex; both parents are adults and children of both sexes are equally powerless. We will argue that the differentiation of sex role in the family is, in its sociological character and significance, primarily an example of a basic qualitative mode of differentiation which tends to appear in all systems of social interaction regardless of their composition. In particular this type of differentiation, that on "instrumental-expressive" lines, is conspicuous in small groups of about the same membership-size as the nuclear family, .... We suggest that this order of differentiation is generic to the "leadership element" of small groups everywhere and that the problem with respect to the family is not why it appears there, given the fact that families as groups exist, but why the man takes the more instrumental role, the woman the more expressive, and why in detailed ways these roles take particular forms. In our opinion the fundamental explanation of the allocation of the roles between the biological sexes lies in the fact that the bearing and early nursing of children establish a strong presumptive primacy


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of the relation of mother to the small child and this in turn establishes a presumption that the man, who is exempted from these biological functions, should specialize in the alternative instrumental direction.” In der Verknüpfung der Ebenen der Sozialität und der Individualität durch Theorien der Internalisierung von Werten und Normen sieht Parsons den wichtigsten Durchbruch der modernen Sozialwissenschaften: “It is noteworthy that Durkheim, working in sociology, discovered essentially the same basic phenomenon of internalization and interpenetration as did Freud in his study of the personality, and that the same discovery was made independently by Charles Horton Cooley and George Herbert Mead. This convergence is, in my opinion, one of the great landmarks in the development of modern social science.” (Parsons 1967a, 27) Zu Parsons Rekurs auf Ebenenunterscheidungen in der Biologie – s. Anm. ad 4 Zu Parsons über Gruppenkonflikte und modernen Fundamentalismus – s. Anm. ad 6 22 In einer weitergehenden Ausarbeitung wäre hier natürlich auch an die vorsoziologische Theorietradition anzuknüpfen, die in der Soziologie und in der Ethnologie weiterverarbeitet wurde. S. nur die in dem von Parsons u.a. 1961 hg. Sammelband Theories of Society auszugsweise aufgenommenen (konfliktbetonenden) Sozialtheorien von Machiavelli, Hobbes, Locke, Smith, Malthus u.a. - Machiavelli: “… if any lesson is useful to the citizens who govern republics, it is that which demonstrates the causes of the hatreds and dissensions in the republic, so that, having learned wisdom from the perils experienced by others, they may maintain themselves united. And if the divisions of any republic were ever noteworthy, those of Florence certainly are most so, because the greater part of the other republics of which we have any knowledge were content with one division, by which, according to chance, they either increased or ruined their city.” (98) - Hobbes: „So that in the nature of man we find three principle causes of quarrell. First, Competition; Secondly Diffidence, Thirdly Glory.“ (100) - Malthus: “When these two fundamental laws of society, the security of property, and the institution of mar-riage, were once established, inequality of condi-tions must necessarily follow. Those who were born after the division of property, would come into a world already possessed. If their parents, from having too large a family, could not give them sufficient for their support, what are they to do in a world where every thing is appropriated? We have seen the fatal effects that would result to a society, if every man had a valid claim to an equal share of the produce of the earth. The members of a family which was grown too large for the original division of land appropriated to it, could not then demand a part of the surplus produce of others, as a debt of justice. It has appeared, that from the inevitable laws of our nature, some human beings must suffer from want. These are the unhappy persons who, in the great lottery of life, have drawn a blank. The number of these claimants would soon exceed the ability of the surplus produce to supply. Moral merit is a very difficult distinguishing criterion, except in extreme cases. The owners of surplus produce would in general seek some more obvious mark of distinction. And it seems both natural and just, that except upon particular occasions, their choice should fall upon those, who were able, and professed themselves willing, to exert their strength in procuring a further surplus produce; and thus at once benefiting the community, and enabling these proprietors to afford assistance to greater numbers. All who were in want of food would be urged by imperious necessity to offer their labour in exchange for this article so absolutely essential to existence. The fund appropriated to the maintenance of labour, would be, the aggregate quantity of food possessed by the owners of land beyond their own con-sumption. When the demands upon this fund were great and numerous, it would naturally be divided in very small shares. Labour would be ill paid. Men would offer to work for a bare subsistence, and the

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rearing of families would be checked by sickness and misery. On the contrary, when this fund was increasing fast; when it was great in proportion to the number of claimants; it would be divided in much larger shares. No man would exchange his labour without receiving an ample quantity of food in return. Labourers would live in ease and comfort; and would consequently be able to rear a numerous and vigorous offspring. On the state of this fund, the happiness, or the degree of misery, prevailing among the lower classes of people in every known State, at present chiefly depends. And on this happiness, or degree of misery, depends the increase, stationariness, or decrease of population. And thus it appears, that a society constituted according to the most beautiful form that imagina-tion can conceive, with benevolence for its moving principle, instead of self-love, and with every evil disposition in all its members corrected by reason and not force, would, from the inevitable laws of nature, and not from any original depravity of man, in a very short period, degenerate into a society, constructed upon a plan not essentially different from that which prevails in every known State at present; I mean, a society divided into a class of proprietors, and a class of labourers, and with self-love for the mainspring of the great machine.” (110f) 23 Für die Wiederaufnahme des Größenordnungsproblems in den Sozialwissenschaften ein Zitat aus einer neuen Studie von D. North u.a. (2011, 55-59: „Der Übergang zum Ackerbau und die Züchtung von Pflanzen und Tieren löste vor zehntausend Jahren die Neolithische Revolution aus. Die Entstehung von Städten, neue Produktionstechniken und neue Formen sozialer Organisation wandelten während der folgenden fünftausend Jahre menschliche Gesellschaften um. Archäologische Funde belegen die Bildung von Gruppen, die erstmals in der Geschichte der Menschheit mehr als einige hundert Personen umfaßten. Ungeachtet der Ursachen der Neolithischen Revolution - Klimawandel, genetische Veränderungen, Einführung der Landwirtschaft oder neue Sozialtechniken - müssen wir erklären können, wie Gesellschaften vor zehn- bis fünftausend Jahren sich so erheblich zu vergrößern vermochten. Größere Gesellschaften erforderten neue Methoden der Eindämmung und Kontrolle von Gewalt. Die einfachsten sozialen Einheiten in Wildbeuterordnungen (Banden oder Familiengruppen) waren typischerweise Gruppen von 25 bis 50 Personen. Größere soziale Einheiten (Stämme, lokale Gruppen, Zusammenschlüsse starker Männer) reichen bis zu 500 Personen. In jeder dieser Organisationsformen sozialen Zusammenwirkens bedeutet eine Vergrößerung vermehrte interne Konflikte und einen Anstieg des von Rappaport so genannten „Irritationskoeffizienten": „Anlässe für Irritation ... vermehren sich rascher als die Bevölkerung. Nehmen wir den Bevölkerungsanstieg als linear an, so wäre der Anstieg einiger Arten von Streitigkeiten ... als ungefähr geometrisch anzunehmen" (1968: 116). Die mit steigender Gruppengröße ceteris paribus einhergehende Zunahme von Gewalt und Unruhen entspricht der allgemein beobachteten positiven Korrelation zwischen Gewaltpegel und Bevölkerungsgröße in modernen Gesellschaften. (FN 21:Johnsons (1982) Gedanke des skalaren Stress besagt, daß der Mensch seine kognitiven Grenzen erreicht, wenn er gleichzeitig sechs oder sieben verschiedene Punkte zu erledigen hat, so daß sechs Gruppen zu sechs Personen, also 36 Personen, oder sechs Gruppen solcher 36, also 216 Personen, natürliche Gruppengrößen sein könnten.) In der anthropologischen Forschung finden sich immer wieder die Ziffern 25 und 200. Die Größe der einfachen Wildbeutergruppe scheint bei 25 Personen zu liegen (Kelly, 1993, S. 209-16). Agglomerationen von Banden oder Familiengruppen zählten oft gegen 200 Personen. Den Kategorien von Service (1971) - Bande, Stamm, Häuptlingsherrschaft und Staat - entsprechen Gruppen ungefähr dieser Größe; allerdings könnte die von einem Häuptling geführte Einheit bis zu 1000 Personen umfaßt haben. Johnson und Earle (2000, S. 32) wandeln die Kategorien von Service um in Familiengruppen (unterschieden nach Familien in einem Lager


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und Familien in einem Dorf), lokale Gruppen (sowohl führerlose wie solche unter Führung starker Männer) und regionale Gruppen (sowohl Häuptlingsherrschaften als auch Staaten). Die Größe dieser verschiedenen Gesellschaften wird nach oben durch Probleme der Gewaltkontrolle begrenzt.23 (FN 22: In Johnson und Earle (2000, S. 246) findet sich eine Tabelle, in der ethnographische Untersuchungen über 19 Gesellschaften zusammengefaßt sind, wobei diese nach der Bevölkerungsgröße untergliedert sind, und zwar so, daß die Grenzen bei 25/30, bei 200/250 und bei 1.000 liegen (auch wenn, wie nicht anders zu erwarten, die Kurve nicht vollkommen ist). Service (1971) erörtert Größenkategorien und Typen. Für Dunbar (1996) liegt - aufgrund von Untersuchungen über Gehirngröße und Gruppengröße bei Primaten - die optimale Größe einer menschlichen Gruppe bei 150. Bandy (2004) untersucht den Prozeß von Gruppenbildung und Gruppenzerfall anhand mittelamerikanischer Gesellschaften.) Das Belegmaterial ist zwar umstritten, doch scheinen kleine Gesellschaften hohe Gewaltpegel zu verzeichnen (Keely, 1996; LeBlanc, 2003; Steckel und Wallis, 2006). Es sammelt sich zwar neues archäologisches Material an, aber die Belege dafür, was vor fünf- oder zehntausend Jahren geschah, sind zu spärlich, um Schlußfolgerungen über die Gesellschaftsordnung in neolithischen Gesellschaften zu erlauben. Drei Arten von verfügbarem Material sind jedoch relevant für die Frage der Gesellschaftsordnung und deren Größenverhältnisse. Die anthropologische Forschung kann mit einer Fülle ethnographischer Untersuchungen kleiner Gesellschaften aufwarten; diese lassen auf Ähnlichkeiten in der Organisation von Gesellschaften schließen, die größenmäßig von lokalen bis zu regionalen Gemeinwesen reichen oder von Stämmen bis zu Häuptlingsgesellschaften. Hierher gehört auch die Literatur über den Aufbau „ursprünglicher" Gesellschaften, die ersten Kulturen großen Ausmaßes, die in verschiedenen Teilen der Welt ohne Einflüsse von außen entstanden zu sein scheinen (Trigger, 2003). Schließlich haben wir anhand archäologischer Skelettfunde und -befunde auch Belege für die Häufigkeit menschlicher Gewaltanwendung in Gesellschaften der Neuen Welt (Steckel und Rose, 2002) Johnson und Earle (2000) bieten eine Zusammenfassung 19 ethnographischer Untersuchungen von unterschiedlich großen Gesellschaften. Besonders interessant ist der Übergang von lokalen zu regionalen Gruppen oder von Gesellschaften mit einem starken Mann zu Häuptlingsgesellschaften. In Gesellschaften mit einem starken Mann führt ein einzelner oder eine Familie die Gruppe; er verfügt über größeren Reichtum, unterliegt aber erheblichen Beschränkungen durch die Gruppe insgesamt. Der große Mann führt, indem er sich ein persönliches Gefolge schafft. Er genießt üblicherweise das entscheidende Privileg (oder erfüllt die Funktion) der Kontrolle des Tauschhandels zwischen seiner Gruppe und anderen Gruppen. ... Das anthropologische Belegmaterial erlaubt den Schluß, daß die zunehmende Größe menschlicher Gesellschaften mit dem Entstehen sozialer Organisationen, wie sie die Logik des natürlichen Staates impliziert, zu tun hat. Die politische Ökonomie von Häuptlingsgesellschaften bringt die Logik des natürlichen Staates zum Ausdruck. Alle der ursprünglichen alten Kulturen waren Gesellschaften mit ausgeprägten theokratischen Hierarchien, in denen beschränkter Zugang zu wirtschaftlichen, politischen, militärischen und religiösen Funktionen von entscheidender Bedeutung für die Identifizierung der Sozialperson eines Eliteangehörigen war. Die Befunde an Skelettresten erlauben den Schluß, daß mit der Vergrößerung von Gesellschaften die Gewaltanwendung gegenüber Menschen zurückging.“ 24 Zu Verbindungen zwischen Luhmann und Spencer s. Beetz 2010: „Zwar ergibt sich aus Spencers Leitbegriff ‚Evolution‘ eine strukturgenetische Fassung, die den Schwerpunkt der Theorie auf die Zeitdimension verlagert, während der mit Parsons assoziierbare Strukturfunktionalismus sich eher an Fragen der Bestandserhaltung orientiert. Doch sowohl Parsons als auch Luhmann verbinden schließlich die differenzierungstheoretische mit einer evolutionstheoretischen Perspektive - allerdings unter Berufung auf

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Darwin, nicht auf Spencer! - und greifen damit letztlich beide auf die Spencerschen Grundbegriffe Evolution, Differenzierung und Funktion zurück. Da die Evolutionstheorie sich als ein an die reale Strukturgenese angelehntes natürliches Klassifikationsschema nutzen lässt, bildet sie sogar eine notwendige Voraussetzung für die - bereits bei Parsons schleichend einsetzende - Ontologisierung des Sys-tembegriffs: Ein System ist dann das, was sich historisch als funktionaler Strukturzusammenhang real etabliert. Bereits Spencer hatte den Zusammenhang von Strukturen und Funktionen auf biologischer, psychologischer und soziologischer Ebene jeweils anhand der Relation zwischen „inneren" und „äußeren Zuständen" untersucht und war damit der Innen/AußenUnterscheidung des AGIL-Schemas von Parsons und der Luhmannschen Fokussierung auf System/Umwelt- Differenzen schon recht nahe gekommen. Im Unterschied zu Spencers „System der synthetischen Philosophie" beschränkt sich die von Luhmann konstruierte analytische Ontologie allerdings weitestgehend auf soziale Systeme.“ In einer Fussnote fügt Beetz hinzu: „Biologische und psychische Systeme sind zwar konzeptionell vorgesehen, die entsprechenden Subtheorien werden aber von Luhmann nicht selbst ausgearbeitet. Ähnliches gilt für Spencer im Hinblick auf die Bereiche Physik und Chemie, die in Comtes „Cours de philosophie positive" (1832-1840) noch ausführlich behandelt werden. Es ist somit theoriegeschichtlich eine sukzessive Einengung des Fokus zu konstatieren.“ 25 So bei Luhmann noch explizit im Anschluss an Spencer in der ersten (Mitte der sechziger Jahre entstandene) Ausarbeitung seiner Politischen Soziologie: „Die Gesellschaft entwickelt sich zu größerer Eigenkomplexität und ist dadurch in der Lage, die Welt komplexer zu erfassen und auf Sinn zu reduzieren. Die Eigenkomplexität der Gesellschaft wird dadurch erhöht, daß eine Vielzahl gleichartiger Kleinsysteme, in denen jeder Teilnehmer alles weiß, sieht, kann und miterlebt, die Komplexität der Welt also auf die Fassungskraft des einzelnen beschränkt sein muß, ersetzt wird durch relativ große, für den einzelnen nicht mehr voll überblickbare Sozialsysteme, die in sich für spezifische Funktionen Teilsysteme bilden, also funktional differenziert sind. Die Struktur jener Kleinsysteme ist funktional-diffus gebildet.“ (Luhmann 2010, 52) Hier oder an späterer Stelle darauf hinzuweisen, dass bei Luhmann die theoretische Relevanz des Größenproblems sozialer Systeme zwar noch thematisiert, aber zumindest für die Moderne eher heruntergespielt wird. Anstelle von Ausdehnung rückt die kommunikative Verdichtung in den Vordergrund: „Eine der generellen Bedingungen zunehmender funktionaler Differenzierung wird mit all diesen Entwicklungen durchgehend relevant – nämlich das Erfordernis entsprechender Größenordnungen. Funktionale Spezifikation setzt hinreichend viele und häufig vorkommende Interaktionen voraus. Dieser Bedarf wird nicht – oder jedenfalls nicht nur – durch Bevölkerungsvermehrung oder durch Expansion des sich modernisierenden Gesellschaftssystems, durch Vergrößerung der Staaten oder durch religiöse Mission erfüllt, sondern vor allem durch Prozesse, die Talcott Parsons „inclusion“ nennt. Inklusion bedeutet, daß alle Funktionskontexte für alle Teilnehmer des gesellschaftlichen Lebens zugänglich gemacht werden ...“ Luhmann 1975b: 160. Nach einem Exkurs über die Bedeutung numerischer Größenverhältnisse in allen vergangenen Gesellschaftssystemen folgt die etwas vorschnelle Behauptung: „Erstmals in der Geschichte setzen heute demographische Bedingungen keine Grenze für mögliche Zivilisation.“ (a.a.O. 161) Auch in der Gesellschaftheorie (1997, 151) kehrt diese These wieder: „Im Prinzip ist die Gesellschaft heute von demographischen Vermehrungen oder Verminderungen der Bevölkerung unabhängig. Für die Fortsetzung der Autopoiesis des Gesellschaftssystems auf dem erreichten Entwicklungsniveau steht auf alle Fälle genug Kapazität zur Verfügung. Und sobald man das merkt, kann man dazu übergehen, Bevölkerungswachstum nicht mehr als Segen, sondern als Problem, wenn nicht als Fluch zu beschreiben.“ Luhmann verkennt hier,


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dass gerade unter den Bedingungen der globalen Vernetzung die demographischen Ungleichgewichte virulent werden können: S. die Youth Bulge-Hypothese von Bouthol u.a. zur Entstehung kriegerischer Konflikte in der Moderne. In einem Aufsatz von 1977 (Differentiation of Society) findet sich zwar noch die Berücksichtigung demographischer Faktoren, zugleich aber eine Umkehrung der Kausalzusammenhänge. Während bei Spencer und Durkeim das evolutionär unwahrscheinliche Größenwachstum den Bedarf für neue Differenzierungsformen hervorbringt, heisst es bei Luhmann nun: “stratification requires enlarged size”. “With respect to problems of increasing size, sociological theory has the choice between demographic and communication variables. Our framework tries to integrate both. Demographic variables refer to the growth of the population integrated into one society. From a systems point of view, these are external variables because persons as concrete psycho-organic systems belong to the environment of systems of social communication. Only communication variables relate to the internal processes of social systems. Sufficient size of the population has to be recognized as an important external condition for a sufficient number of communicative acts, but it can be used for intensifying the communication system only if appropriate techniques of communication are available, and it can, in part, be replaced by communication techniques. A country with low density population may have high density communication and vice versa. High density communication has developed, roughly speaking, in three steps: from animal communication to language, to writing, and to mass distribution. Each step presupposes a sufficient population as an environmental precondition and responds to it by enlarging the number and intensifying the selectivity of communicative understandings. The change of communication channels by superadding more powerful means increases again the size of the population a societal system can integrate. The size of the system, then, stabilizes the required channels and techniques of communication as an almost irreversible evolutionary universal.” In der letzten Fassung seiner Gesellschaftstheorie bezieht sich Luhmann zwar auch noch auf quantitatives Wachstum als Auslöser evolutionären Wandels, will dabei aber vom Bezug auf lebende Einheiten (Individuen, Populationen) auf kommunikative Einheiten umstellen: „Mit Hilfe des Begriffs der ‚Population‘ hatte die ältere Evolutionstheorie die Ursachen für Variation systemintern lokalisiert. Das hat einerseits dazu geführt, in demographischen Variablen, hauptsächlich im unwiderstehlichen Trieb der Menschen, sich zu vermehren, den Auslösefaktor aller evolutionären Höherentwicklung zu sehen, so z.B. für den Übergang zur Landwirtschaft, für Arbeitsteilung, für die Bildung von Hierarchien. Solche Ein-Faktor-Erklärungen gelten heute als überholt. Auch von dem hier vertretenen Gesellschaftsbegriff aus müßte man aber von Variablen wie Kommunikationsdichte oder Häufigkeit und Diversität des Informationsanfalls ausgehen und vor allem: zirkuläre Verhältnisse der Abweichungsverstärkung in Betracht ziehen.“ (Luhmann 1997, 434) Abgesehen von den selbsterzeugten Zwängen vorgängiger Theorieentscheidungen ist jedoch kein Grund zu erkennen, warum in evolutionstheoretischer Perspektive der Bezug auf quantitative Veränderungen der Kommunikation (Ausdehnung und Verdichtung) den Bezug auf quantitative Veränderungen der Lebewesen (Individuen und Populationen) ausschließen oder überflüssig machen sollte. Luhmann grenzt sich an dieser Stelle aber ausdrücklich von theoretischen Ansätzen ab, die beide Bezüge kombinieren (und zählt in einer Fussnote abgelehnte Mischformen bei Aldrich, Hannan/Freeman u.a. auf): „Mit Hilfe der Systemreferenz ‚soziale Systeme‘ läßt sich auch der Streit zwischen eher demographisch-ökologischen und eher an Kultur orientierten Evolutionstheorien entscheiden. Wer sich für Menschen als lebende Population (im Kampf mit Mücken, Löwen, Bakterien usw.) interessiert, muß demographische Orientierungen wählen. Von einer Evolution des Sozialsystems Gesellschaft kann man dagegen nur sprechen, wenn man nicht an ein lebendes, sondern an

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ein kommunizierendes System denkt, daß in jeder seiner Operationen Sinn reproduziert, Wissen voraussetzt, aus eigenem Gedächtnis schöpft, kulturelle Formen benutzt. Es geht also gar nicht um eine sinnvolle wissenschaftliche Kontroverse, sondern um die Wahl einer Systemreferenz, das heißt: um eine Entscheidung über den Gegenstand der evolutionstheoretischen Analyse.“ (Luhmann 1997, 434f) 26 Der an dieser Stelle zitierte Satz stellt also nicht Luhmanns Differenzierungstheorie dar, sondern seine Zusammenfassung der Theorietradition (1997, 595f.): „Seitdem es Soziologie gibt, befaßt sie sich mit Differenzierung. Schon dieser Begriff verdient einige Aufmerksamkeit. Er steht für die Einheit (oder die Herstellung der Einheit) des Differenten. Auch ältere Gesellschaften hatten natürlich Unterschiede beobachtet, sie unterschieden Städter von Landbewohnern oder Adelige von Bauern oder Angehörige einer Familie von denen einer anderen; aber es genügte ihnen, auf die verschiedenen Qualitäten der Wesen und der Lebensformen zu achten und entsprechende Erwartungen zu bilden, so wie im Umgang mit Dingen auch. Mit dem Begriff der Differenzierung wird ein abstrakterer Zugriff ermöglicht, und man darf vermuten, daß dieser Abstraktionsschritt ausgelöst wurde durch die Neigung des 19. Jahrhunderts, Einheiten und Differenzen als Resultat von Prozessen zu begreifen — sei es von evolutionären Entwicklungen, sei es (wie zum Beispiel im Fall der politisch geeinten "Nationen") von gezieltem Handeln. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnte man mit diesem Konzept der Differenzierung von Fortschrittstheorien auf Strukturanalysen umschalten und trotzdem die positive Einschätzung der Fruchtbarkeit von Arbeitsteilung aus den Wirtschaftswissenschaften übernehmen. Noch Parsons' Theorie des allgemeinen Handlungssystems ist auf dieses Konzept gebaut. Es bot eine Zentralformel sowohl für Entwicklungsanalysen (zunehmende Differenzierung) als auch eine Erklärung des modernen Individualismus als Resultat von Rollendifferenzierung. Georg Simmel wird von da aus zu einer Analyse des Geldes geführt, Durkheim zu seinen Überlegungen über Veränderungen der Formen moralischer Solidarität und Max Weber zu seinem Begriff der Rationalisierung unterschiedlicher Lebensordnungen wie Religion, Wirtschaft, Politik, Erotik. Die Dominanz des Differenzierungskonzepts bewährt sich gerade darin, daß es scheinbar andersartige Theorieansätze — solche der Entwicklung, solche der Individualität, solche der Wertkriterien nicht ausschließt, sondern gerade zugänglich macht. Differenzierung ist notwendig, könnte man resümieren, zur Erhaltung von Kohäsion unter der Bedingung von Wachstum.“ Zu Luhmanns theoretisch veränderter Auffassung von Konkurrenz und Konflikt – insbesondere nach der autopoietischen Wende s. Anm. im letzten Abschnitt (Endnote 145) 27 Aspekte, die bei Comte, Durkheim, Parsons u.a. noch berücksichtigt wurden. 28 ad 2: Luhmanns Systemebenenevolution Ich beschränke mich hier auf Luhmanns Verknüpfung zwischen Systemdifferenzierungs- und Evolutionstheorie und verweise, was die Darstellung anderer (für die im Focus des Bandes stehende Unterscheidung von Systemebenen relevanten) Aspekte des Luhmannschen Theorieangebots, seiner Entwicklung und offenen Probleme betrifft, auf die diesbezüglichen Beiträge von Tyrell/Kauppert, Hirschauer, Schwinn (hinzu kommen vermutlich noch diesbez. Ausf. von Heintz und Schneider). 29 Eine programmatische Formulierung der Erkenntnisgewinne, die sich Luhmann aus der Verknüpfung von Darwinscher Evolutionstheorie und soziologischer Systemtheorie verspricht findet sich in Luhmann 1997 (48f.): “The Darwinistic approach, … replaces the notion of a directional, historic sequence of changes from simple to complex states by the distinction of functions and mechanisms necessary for the use of chance in structural change. It is the higher complexity of this theory that increases the interdependencies between the theory of evolution and the theory of systems, provided that the theory of systems itself achieves adequate complexity. The same holds true for the reverse perspective. If we con-


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ceive of systems as open-systems-in-an-environment, structural changes have to presuppose non-coordinated events in systems and environments. Non-coordinated events are contingencies in themselves and with respect to their coincidence and conjunctive causality. The contingent coincidence of contingencies, and this is a plausible definition of chance, may lead to structural changes given the conditions stated by the theory of evolution. It is the higher complexity of both theories and the coordinated change of paradigmata in both areas that increases the prospect of theoretical integration.“ Ich lasse hier die Frage offen, ob und inwieweit es sich bei der Verknüpfung zwischen Systemtheorie und Evolutionstheorie, die in allen Phasen der Entwicklung des Luhmannschen Werks zu finden ist, eher um eine kontinuierliche oder eine diskontinuierliche Entwicklung handelt. Viele Zitate, die ich im Folgenden anführe, sprechen eher für Kontinuität. Es ist aber auch nicht zu bestreiten, dass Luhmanns Auffassung in dieser Hinsicht Schwankungen aufweist: In frühen Arbeiten sieht Luhmann in der Verknüpfung von Evolutions- und Systemtheorie die Möglichkeit, der Diskreditierung des Fortschrittsgedankens im Neodarwinismus entgegenzutreten unter Verweis auf die Steigerung der Eigenkomplexität sozialer Systeme durch Binnendifferenzierung (Luhmann, 2010, 51ff). In späteren Arbeiten bekennt sich Luhmann mit dem Neodarwinismus gegen die Auffassung von Evolution als gerichtete Entwicklung und grenzt sich von OrganismusAnalogien ab (Luhmann 1981, 178ff.) Nach der „autopoietischen Wende“ (1984) begründet Luhmann seine Abweichung von der Darwinschen Theorie der Umweltselektion: „...die Theorie autopoietischer Systeme erzwingt eine begriffliche Revision. Für sie ist Angepaßtsein Voraussetzung, nicht Resultat von Evolution; und Resultat dann allenfalls in dem Sinne, daß die Evolution ihr Material zerstört, wenn sie Angepaßtsein nicht länger garantieren kann.“ (Luhmann 1997, 446). Dass Adaptation nur Voraussetzung, nicht aber auch Resultat von Evolution (im weitesten Sinne gradueller Anpassungen) sein soll, ist m.E. mit der Darwinschen Evolutionstheorie unvereinbar. Mit dieser Revision schneidet Luhmann historisch-genetische Erklärungsmöglichkeiten für den Wandel sozialer Systeme ab und kehrt (obwohl er es bestreitet) zu einem Modell organischer Entwicklung zurück. Denn nur für Organismen kann ja gesagt werden, dass sie immer schon vorangepasst sind. Sie entwickeln sich nicht nach dem Muster von Variation und Selektion, sondern nach einem genetischen Programm, das Ereignisse in der Umwelt epigenetisch als Anregung oder Störung verarbeitet. Zur Kritik an Unzulänglichkeiten der Verbindung zwischen soziologischer Differenzierungs- und Evolutionstheorie bei Parsons und Luhmann s. schon Blute 1979, 2002 (Ausführlicher im Blick auf konkurrierende Ansätze dieser Verbindung auch Wortmann 2009 – Anm. dazu unten). Hierzu ist aber auch anzumerken, dass Blute von einer neodarwinistisch verengten Evolutionstheorie ausgeht und mit ihrer Kritik an teleologischer „Embryologie“ neuere Entwicklungen (einerseits Gruppenselektion und andererseits Epigenetik, „EvoDevo“-Theorie, Carroll 2008) zu wenig berücksichtigt, die aus heutiger Sicht mit der soziologischen Systemdifferenzierungstheorie wieder besser vereinbar sind. Zum Begriff der Epigenese Wilson 1998, 258f: „Epigenese, einst ein rein biologischer Begriff, steht für die Entwicklung eines Organismus unter dem kollektiven Einfluß von Erbmaterial und Umwelt. Die epigenetischen Regeln ... sind die angeborenen Operationsweisen des Sinnessystems und Gehirns, sozusagen die Faustregeln, die es dem Organismus erlauben, schnelle Lösungen für Probleme zu finden, auf die er in der Umwelt stößt. Sie prädisponieren Individuen, die Welt auf bestimmte Weise wahrzunehmen und automatisch bestimmte Entscheidungen anderen vorzuziehen. Aufgrund dieser Regeln sehen wir zum Beispiel den Regenbogen in vier Grundfarben und nicht als ein Kontinuum von Lichtfrequenzen, vermeiden wir sexuellen Kontakt zu nahen Verwandten, sprechen in grammatikalisch zusammenhängenden Sätzen, lächeln Freunden zu und fürchten uns vor Fremden, wenn

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wir ihnen allein begegnen. Die typischerweise emotional gelenkten epigenetischen Regeln veranlassen das Individuum in allen Verhaltenskategorien zu jenen relativ schnellen und richtigen Reaktionen, die unsere Überlebens- und Reproduktionsfähigkeit am ehesten garantieren. Aber sie lassen Raum für die potentielle Entwicklung einer immensen Bandbreite kultureller Variationen und Kombinationen. Und manchmal, vor allem in komplexen Gesellschaften, führen sie mittlerweile gar nicht mehr zu Lösungen, die zum Erhalt von Gesundheit und Wohlergehen beitragen. Das von ihnen gelenkte Verhalten kann sogar schädlich sein und dem Wohl eines Individuums oder einer Gesellschaft entgegenwirken.“ 30 In dem programmatischen Beitrag über „Interaktion, Organisation, Gesellschaft“ von 1975 bezieht sich Luhmann ausdrücklich auf die „derzeit wichtigsten Schwerpunkte soziologischer Forschung“ und ihre Integration durch Systemtheorie (1975, 10). Hirschauer geht in seinem Beitrag sogar so weit zu behaupten, dass Luhmann damit einen „Burgfrieden des Faches mit sich selbst wie er im letzten Drittel des 20. Jh.s Konsens wurde“ begründen wollte. Das ist natürlich übertrieben. Ich schließe mich im Folgenden aber Hirschauers Aufassung an, dass Luhmann mit der konsistenzsteigernden Beschränkung des Gegenstandsbereichs der Soziologie auf soziale Sinnsysteme einen zu hohen Preis gezahlt und wichtige Anschlussmöglichkeiten der Theoriebildung geopfert hat. Luhmanns programmatische Formulierung: „Dabei ist Evolution immer zugleich Bindung an Geschichte und Befreiung von Geschichte; sie schließt an vorliegende Errungenschaften an, macht das Gesellschaftssystem aber zugleich von deren genetischen Bedingungen unabhängig.“ (1975a, 12) macht nur Sinn im Rahmen einer Theorie, in der alles Soziale nur noch als Sinnkonstrukt zählt. 31 S. dazu Luhmanns Beitrag in dem Alexander-Band über das Mikro/Makro-Problem (Luhmann 1987) und noch einmal schärfer in dem späteren Aufsatz über Mikrodiversität (Luhmann 1997b). In dem Beitrag von 1987 stellt Luhmann die Überlegenheit seiner Systemtypologie im Hinblick auf empirisch gehaltvolle Aussagen gegenüber der nur analytischen Mikro-Makro-Unterscheidung heraus. Dabei wird (anders als in der Einleitung zu Soziale Systeme) deutlich, dass auch in seiner Systemtypologie eine Ebenendifferenz (hier zwischen Interaktionssystemen und Gesellschaftssystemen) eingeschlossen ist: „The distinction between interaction and society has been formulated as a distinction of (selfreferential) systems. The distinction of micro and macro is formulated as a distinction of levels. The concept of system has empirical references; the concept of level has logical references. The concept of system can be used to include self-references as empirical phenomena. The concept of level has been invented to exclude self-references insofar as they amount to tautologies or paradoxes. The micro/ macro distinction reduces the complexity of the description of an object, disregarding reciprocal interdependencies among the levels. For instance, we can say that disorder at one level may be seen as order at another without confronting the paradox of saying that disorder is order. This expedient may be used whenever unavoidable. Wherever we can replace it with systems theory, however, we should use the more powerful conceptualization.“ (Luhmann 1987b ....) Luhmanns Behauptung, dass in Mikro-Makro-Ansätzen Interdependenzen zwischen den Ebenen ausgeschlossen würden, trifft aber nicht zu auf Theorien, in denen eine Mikroebene zur Erklärung von (aggregierten) Phänomenen auf der Makroebene herangezogen und Rückwirkungen der Makroebene auf die Mikroebene einbezogen werden. 32 Beetz hat kürzlich noch einmal daran erinnert, dass Luhmann in der frühen Diskussion mit Habermas unter dem Titel „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie“ (1971) in die verkehrte Ecke gestellt worden ist (Beetz 2010b, 94f.) Denn in vieler Hinsicht steht die Luhmannsche Systemtheorie stärker als der soziologische mainstream in der Theorietradition der Aufklärung. Die platte Gegenüberstellung von Technik und Aufklärung, die mit der Ausdifferenzierung der Geisteswissenschaften aufgekommen ist,


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ist schon in Blumenbergs Kritik an Husserls Technikbegriff treffend zurückgewiesen worden (Blumenberg 1963, 1981 – von Luhmann wiederholt zitiert). Blumenberg verweist auf das prinzipiell zirkuläre Verhältnis, in dem Technisierung nicht nur als Ergebnis (Distanzierung) sondern auch als Voraussetzung von Reflexion (Freisetzung) zu erkennen ist. 33 Wenn Luhmann der Mikroebene keine eigenständige Bedeutung zurechnen würde, könnte er wohl kaum (so poetisch) formulieren: „die gesellschaftlichen Teilsysteme schwimmen auf einem Meer ständig neu gebildeter und wieder aufgelöster Kleinsysteme.“ (Luhmann 1997, 812) Das Problem liegt hier eher in der Vorentscheidung, auf allen Ebenen gleichermaßen von autopoietischen Systemen auszugehen. Diese Entscheidung ist nicht kompatibel mit der Differenzierung evolutionärer Funktionen (Variation und Selektion auf verschiedenen Ebenen). In evolutionstheoretischer Perspektive konsequent (aber nicht ganz kompatibel mit Luhmanns Theorientscheidungen) weist Heintz mit einem Beispiel aus der Rechtsentwicklung für strukturbildende Effekte im Rahmen der Weltgesellschaft „darauf hin, dass Interaktionen für diesen gesellschaftlichen Evolutionsprozess eine zentrale Rolle spielen, und zwar genau in jenem Sinne, wie es Luhmann beschrieben hat: die lokalen Verhandlungen bilden den Variationspool, auf den globale Rechtssetzungsprozesse zurückgreifen.“ (2007, 354) 34 Am Schluss des 10. Kapitels (1984, 588f) bezeichnet Luhmann die Differenz zwischen Gesellschaft und Interaktion sogar als allgemeine Bedingung der Möglichkeit soziokultureller Evolution: „Interaktionssysteme können und müssen laufend aufgegeben und neu begonnen werden. Das macht eine übergreifende Semantik, eine Kultur erforderlich, die diesen Vorgang in Richtung auf Wahrscheinliches und Bewährtes steuert. Insofern wirkt die Gesellschaft selektiv auf das, was als Interaktion vorkommt, ohne dadurch Widersprechendes und Abweichendes sicher auszuschließen. Die gesellschaftliche Selektion determiniert also nicht; sie lockt mit dem Leichten und Gefälligen, und das kann gerade auch im Abweichen vom offiziell angebotenen Muster liegen. Sie bietet Interaktion an si eis placet, und wenn sich daraufhin Muster durchsetzen, wird gerade dadurch das Abweichen attraktiv, interessant, profitabel. Die Kraft der Selektion liegt nicht in einer kausalgesetzlichen Mechanik, auch nicht im design oder in der Kontrolle der Komplexität; sie ergibt sich daraus, daß es um an sich unwahrscheinliche Ordnungsmuster geht, die trotzdem, aber nur unter Bedingungen, wahrscheinlich funktionieren. Die Gesellschaft ist jedoch ihrerseits Resultat von Interaktionen. Sie ist keine Instanz, die unabhängig von dem, was sie seligiert, eingerichtet ist. Sie ist kein Gott. Sie ist gewissermaßen das Ökosystem der Interaktionen, das sich in dem Maße, als es Interaktionschancen kanalisiert, selbst verändert. Sie erreicht das, was Interaktion allein nie könnte: immer Unwahrscheinlicheres wahrscheinlich zu machen; aber sie erreicht es (mit den immer wichtiger werdenden Ausnahmen, die wir skizziert haben) nur durch Interaktion. Insofern kann man festhalten: die Gesellschaft seligiert die Interaktionen, die Interaktionen seligieren die Gesellschaft; und beides läuft im Sinne des Darwinschen Begriffs von Selektion, das heißt: ohne Autor. Die Selektion ist aber nicht einfach Selektion des passenden Systems durch die Umwelt, und sie ist auf Seiten des Systems nicht einfach Anpassung des Systems an die Umwelt. Sie ist auf der Ebene sozialer Systeme eine sich selbst konditionierende Selektion, und die Selektion der Selektion ist durch die Differenz von Gesellschaft und Interaktion in Gang gebracht. Die Differenz von Gesellschaft und Interaktion ist mithin Bedingung der Möglichkeit soziokultureller Evolution. Hierbei geht es nicht um eine Evolution lebender Systeme, also auch nicht um eine Evolution, die über reproduktive Isolierung von Populationen zu einer Differenzierung nach Arten und Gattungen führt.“ Schwinn weist in seinem Beitrag zu Recht darauf hin, dass in der Luhmannschen Systemtheorie die allgemeinere Ebenenunterscheidung zwischen Gesellschaft und Interaktion und die Be-

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schreibung von Interaktionssystemen als ein von sozialem Selektionsdruck freigesetztem Moment moderner Gesellschaften häufig nicht klar unterschieden wird. Allerdings lässt sich Schwinn bei seiner Kritik an Luhmanns Universalitätsbehauptung bezüglich der Unterscheidung von Interaktion und Gesellschaft zu sehr auf die theorietraditionelle Unterscheidung segmentärer, traditionaler und moderner Sozialsysteme ein und übersieht, dass die Evolution der Sozialität nicht erst mit segmentär differenzierten – deshalb zwischen Anwesenden und Abwesenden unterscheidenden – Gesellschaften beginnt, sondern mit primordialen Gemeinschaften von Hominiden, Primaten etc. die alters- und geschlechtsspezifische Differenzierung aufweisen, aber keine (dauerhaften) Verbindungen mit konkurrierenden Sozialsystemen bilden. So auch schon Luhmann: „segmentäre Gesellschaften" bilden sich „mit Hilfe der Differenzierung gleicher Wohn- und/oder Verwandtschaftseinheiten bereits quer zu vorher dominierenden Differenzen, etwa des Geschlechts und des Alters, die ihrerseits bereits Sakraleinrichtungen zum Schutze der Differenz gebildet hatten" (Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt am Main 1989, S. 265 - Hinweis aus Tyrell 2001, 530) [Dieser Punkt wäre im 5. Abschnitt evtl. nochmal aufzugreifen!] 35 An dieser Stelle ist evtl. auch darauf hinzuweisen, dass Luhmanns evolutionstheoretische Argumentation sich nicht nur auf die leicht nachvollziehbare Beobachtung zunehmender Differenz zwischen Phänomenen der Interaktion, Organisation und Gesellschaft (bzw. der Verselbständigung der entsprechenden Systemarten) stützt, sondern sich dabei zugleich auf eine zunehmende Differenzierung der evolutionären Mechanismen der Variation, Selektion und Restabilisierung (s. dazu u.a. Luhmann 1975b 151, 1975c 195 und erneut 1997, 501f s. zit. u.) und auf die Entwicklung und Koexistenz verschiedenartiger Differenzierungsformen gesellschaftlicher Teilsysteme bezieht. In der frühen Religionssoziologie Luhmanns ist der folgende Exkurs zur Unterscheidung der evolutionären Bedeutung von Teilsystemdifferenzierung und Ebenendifferenzierung zu finden: „Einschneidende, die Gesellschaft als ganzes betreffende Änderungen lassen sich sowohl auf der Ebene des sozialen Systems selbst als auch auf der Ebene seiner Selbst-Thematisierung und Konzeptualisierung feststellen. Die gesellschaftliche Evolution führt zu zwei verschiedenartigen Strukturänderungen, die zwar miteinander zusammenhängen, aber begrifflich sorgfältig unterschieden werden müssen: Das Gesellschaftssystem selbst ändert die Form seiner primären Differenzierung, es stellt sich von Schichtung auf funktionale Differenzierung um. Die Konsequenzen für das Religionssystem hatten wir im vorigen Kapitel unter dem Titel Säkularisierung erörtert. Im Zusammenhang damit werden außerdem Ebenen der Systembildung auseinandergezogen und deutlicher voneinander geschieden. Gesellschaftssysteme, Organisationssysteme und Interaktionssysteme sind verschiedenartige Sozialsysteme, sie verfolgen verschiedenartige Strategien der Grenzziehung und Grenzerhaltung gegenüber ihrer jeweils systemspezifischen Umwelt, sie unterscheiden sich in ihren Strukturen, ihren Ordnungsleistungen, in der für sie erreichbaren Systemkomplexität. Im Unterschied zu Systemdifferenzierung bedeutet Ebenendifferenzierung keine vollständige Trennung der Systeme. Diese Einsicht ist der Leitfaden für die nachfolgenden Überlegungen. Natürlich schließt jede Gesellschaft eine Vielzahl von Interaktionen und gegebenenfalls eine Vielzahl von Organisationen ein; Gesellschaft ist für diese eingeschlossenen Systeme daher immer beides: das eigene System und die gesellschaftliche Umwelt. Auch Organisationen und Interaktionen sind insofern gesellschaftliche Systeme, die Gesellschaft hört nicht etwa an ihren Grenzen auf. Systemgrenzen sind ja nur Selektionsanweisungen, und diese können kumuliert werden. Sie können audi und werden in komplexen Gesellschaften sehr oft in Widerspruch treten. Ein solcher Widerspruch wird typisch durch Unschärfe der gesellschaftlichen Anforderungen und durch Unterlaufen der organisatorischen Anfor-


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derungen auf der Ebene der Interaktion gelöst. Probleme dieser Art stecken hinter der Frage, ob und wie die gesellschaftliche Funktion der Religion und die Gesellschaftlichkeit religiösen Erlebens und Handelns wirksam organisiert werden können. Ein Auseinanderziehen von Ebenen für gesamtgesellschaftliche, organisatorische und interaktionelle Systembildung kann aber nur in dem Maße realisiert werden, als die Gesellschaft größer und komplexer wird. Dann wird es möglich, Interaktionen und Organisationen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz zu entlasten, so wie umgekehrt das Gesellschaftssystem nicht mehr nach Art einer Makro-Interaktion oder korporativ nach Art einer MakroOrganisation gebildet wird. Erst dann wird es möglich, die ebenenspezifischen Möglichkeiten der Systembildung als entweder Gesellschaft oder Organisation oder Interaktion ohne Kontamination durch Strukturmerkmale des anderen Typs voll auszunutzen. Beide Richtungen des Strukturwandels der neuzeitlichen Gesellschaft hängen offensichtlich zusammen. Für stratifizierte Gesellschaften lag es nahe, sich selbst als korporative Organisation, als »politischer Körper« zu begreifen, weil in genau dieser Form die Asymmetrie der Schichtung und die Asymmetrie der Herrschaftsbeziehungen als notwendige Einheit, als Mitgliedschaftserfordernis und als Bedingung guten, menschenwürdigen Lebens begriffen werden konnten. Bei funktionaler Differenzierung entfällt, obgleich es beträchtliche Ungleichverteilungen in allen Medienbereichen gibt, dieses Problem der strukturell definierten und askribierten Ungleichheit. Andererseits expandiert die Gesellschaft in die Form einer einzigen Weltgesellschaft und wird auch intern so komplex, daß sie nicht mehr als organisierte Einheit begriffen werden kann. Nicht einmal ihre wichtigsten Teilsysteme lassen sich als Systeme organisieren. Für Wirtschaft und Wissenschaft ist das evident. Aber auch der »Staat« ist als organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit nur noch eine Komponente des politischen Systems. Es wird klar, daß sich Erziehung nur insoweit organisieren läßt, als sie schulförmig erfolgt, und für das Religionssystem wird man in bezug auf Kirchen, Sekten oder religiöse Vereine aller Art analoge Konsequenzen ziehen müssen. Die funktionale Differenzierung erzwingt als Form des Gesellschaftssystems die Nichtidentität gesellschaftlicher System- bzw. Teilsystembildung und organisatorischer Systembildung, was zugleich aber heißt, daß Organisation als eigenständiger Typus entsteht und wichtiger wird als je zuvor. Auf der Ebene der begrifflichen Darstellungen ist dieser Transformationsprozeß sehr wohl reflektiert worden, hat aber bisher noch nicht zu theoretisch ausgereiften Neukonzipierungen geführt. Die alte Lehre von der korporativ verfaßten, durch politische Ämter handlungsfähigen societas civilis wurde um die Wende zum 19. Jahrhundert durch einen Begriff der (wirtschafts-)bürgerlichen Gesellschaft ersetzt, für den die Merkmale der Handlungsfähigkeit und des Zweckkonsenses entbehrlich erschienen. Das führte zunächst zur Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, wobei der Staatsbegriff aus der Gesellschaft die Merkmale der Organisiertheit, Zweckmäßigkeit und kollektiven Handlungsfähigkeit herauszieht und auf sich stellt. Damit spitzt sich auf Seiten des Staates der Problemkreis Organisation und Legitimation ihres Entscheidens, auf seiten der Gesellschaft der Problemkreis Freiheit und trotzdem noch möglicher Ordnung zu. Insofern kann man mit einem Buchtitel Bertrand Russels das 19. Jahrhundert als Jahrhundert der Freiheit und Organisation betrachtend. Da diese Gesellschaft nicht mehr als kollektive Organisation dargestellt werden kann, zugleich aber ganz wesentlich auf Organisationsleistungen angewiesen ist, bildet sich zunächst in bezug auf Organisation der Ressentiment-Begriff »Bürokratie«, der die laufend anfallenden Enttäuschungen mit Organisation erklärt. Es hat jedoch noch einige Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gebraucht, um mit Hilfe eines erneuten begrifflichen Revirements Gesellschaft und Organisation zu kontrastieren. Die Gesellschaftstheorie wird »entökonomisiert« vor allem mit Hilfe einer Theorie des sozialen Systems auf der Grundlage eines Konzepts des sozialen (nicht notwendig individuell rationalen) Handelns.

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Hieraus entsteht gegenwärtig die Vorstellung eines umfassenden weltgesellschaftlichen Sozialsystems, in dem alle Sonderfunktionskreise wie Wirtschaft, Politik oder Religion nur Teilsysteme ausdifferenzieren. Andererseits präzisiert sich, von gesellschaftlichen Funktionen gleichsam freigesetzt, nun auch der Begriff der Organisation. Im Anfang dieses Jahrhunderts noch kaum unterscheidbar von allgemeinen, z. B. organologischen oder teleologischen Ordnungskonzepten, gewinnt der Organisationsbegriff heute seine Konturen im Kontext einer hochspezialisierten Theorie organisierter Sozialsysteme. Die sozialstrukturelle Differenzierung von Ebenen und Typen der Systembildung, von Gesellschaft und Organisation, findet damit nachträgliche Anerkennung auch in der Differenzierung der Begriffe und Theorien.“ Luhmann 1999, 276-280 36 Hier ein ausführlicheres Zitat dieser Passage zur Differenzierung der Mechanismen Variation, Selektion und Restabilisierung auf verschiedenen Ebenen aus Luhmann, 1997, 501f: „Angesichts der Systemgrundlagen aller Evolution, angesichts des unauflösbaren Zusammenhangs von elementaren Operationen [Mikroebene] Strukturbildungen [Mesoebene?] und operativer Schließung des nach außen sich abgrenzenden Systems [Makroebene!] kann Differenzierung der evolutionären Funktionen nicht heißen, daß es zu einer kausalen Separierung käme. Gemeint ist allerdings, daß die Funktionen der Variation, der Selektion und der Restabilisierung durch das evoluierende System nicht koordiniert, nicht aufeinander abgestimmt werden können; denn das würde ja heißen, daß von vornherein nur so viel variiert wird, wie als Beitrag zur "Systemerhaltung" seligiert werden kann. Verzicht auf diese Art zweckmäßiger Koordination besagt, daß es vom System aus gesehen Zufall ist, wenn Variationen zu positiven bzw. negativen Selektionen führen, und daß es weiterhin Zufall ist, ob und wie diese Selektionen, die sich eigener Kriterien bedienen, im System stabilisiert werden können. Mit "Zufall" ist dann auch gesagt, daß das evoluierende System an diesen inneren Grenzen unkontrolliert umweltempfindlich ist. Hier können zufällig vorhandene, eventuell vorübergehende Umweltbedingungen einwirken, und auf diese Weise kann das System, ohne dies zu planen, Gelegenheiten nutzen, um Strukturänderungen kommunikativ plausibel durchführen zu können, die in anderen historischen Situationen unmöglich wären. So gibt die Einführung von Schrift der schon bestehenden Differenz von kompetenten und inkompetenten Rollen im Umgang mit heiligen Dingen neue Möglichkeiten und neue Probleme auf — etwa die der Festigung einer für heilig gehaltenen Tradition. So mag es für die Entwicklung des talmudischen Judentums und dessen Umgangs mit Problemen der Interpretation der heiligen Texte einen Unterschied gemacht haben, daß die politische Einheit des jüdischen Volkes zerstört worden war, also auch keine diskriminierende politische Unterstützung und Stabilisierung theologischer Kontroversen erwartet werden konnte wie im Falle des Islam und des Christentums. So produziert die regionale und politische Segmentierung Europas (also das Scheitern der Reichsidee am Widerstand der Kirche im 11./12. Jahrhundert) eine Fülle von differentiellen Fortschritten in einzelnen Regionen, die dann wie Experimente mit Fort-schritt wirken, mit denen oder gegen die andere Regionen ihren Weg in Richtung funktionale Differenzierung bestimmen können. So gibt es in Frankreich schon sehr früh einen Nationalstaat, aber eine kunsttheoretische Literatur entsteht erst nach der Einrichtung der Académie Royale de Peinture et Sculpture (1648) — und beides, die Literatur und die Akademie, nach italienischem Vorbild. Diese Überlegungen sprengen auch die klassische Theorienunterscheidung von endogen bzw. exogen induzierter Evolution, die sich systemtheoretisch ohnehin nicht halten läßt. Sie muß ersetzt werden durch eine komplexere Theorie, nämlich durch die Hypothese, daß ein evoluierendes System bei Differenzierung der evolutionären Funktionen mehr Außeneinflüsse aufnehmen, mehr auf historische Lagen reagieren und deshalb schneller (aber immer: rein intern) evoluieren wird.“


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37 Hier nur als eine von vielen Belegstellen zur Abgrenzung Luhmanns von der Darwinschen Selektionstheorie 1997: 445f – weiter unten zitiert (Endnote 61) – s. im Übrigen den ganzen Abschnitt in 1997, Kap. 3 - II. Systemtheoretische Grundlagen. 38 Auch Stichweh (1999: 10) sieht eine theoretische Konvergenz auf der Grundlage neuerer Entwicklungen in der biologischen Evolutionstheorie: „Ein erstes auffälliges Merkmal ist, daß hierarchische Komplexität als dominante Beschreibung biologischer Systeme Selektionsvorgänge zunehmend als systemintern erscheinen läßt . Insofern konvergieren Evolutionsbiologie und allgemeine Systemtheorie, in der sich parallel und aus Gründen, die wenig mit Evolutionsmodellen zu tun haben, eine Theorie operational geschlossener Systeme durchgesetzt hat. An allen neueren Selektionstheorien fällt auf, daß sie an die Stelle einer dramatischen und eliminativen Konfrontation des Systems mit seinen Umweltbedingungen Vorstellungen über einen System/UmweltKontakt gesetzt haben, der selektive Konsequenzen primär in der Form systeminterner Anschlußoperationen hat.“ Diese theoretische Konvergenz ist m.E. aber nicht durch eine verringerte Bedeutung der Umweltselektion zu erklären, sondern durch deren interne Reproduktion durch Binnendifferenzierung auf der Grundlage von Gruppenselektion. 39 An dieser Stelle ist mehr auszuführen (s. schon den kurzen Hinweis in der Einleitung oben), wie Luhmann zunehmende Ebenendifferenzierung mit zunehmender Differenzierung der evolutionären Mechanismen innerhalb der kulturellen Evolution verknüpft (Luhmann 1997, 454f): „Wir schlagen vor, die unterschiedlichen Komponenten der Evolution auf unterschiedliche Komponenten der Autopoiesis des Gesellschaftssystems zu beziehen, und zwar in folgender Weise: (1) Durch Variation werden die Elemente des Systems variiert, hier also die Kommunikationen. Variation besteht in einer abweichenden Reproduktion der Elemente durch die Elemente des Systems, mit anderen Worten: in unerwarteter, überraschender Kommunikation. (2) Die Selektion betrifft die Strukturen des Systems, hier also Kommunikation steuernde Erwartungen. Sie wählt an Hand abweichender Kommunikation solche Sinnbezüge aus, die Strukturaufbauwert versprechen, die sich für wiederholte Verwendung eignen, die erwartungsbildend und -kondensierend wirken können; und sie verwirft, indem sie die Abweichung der Situation zurechnet, sie dem Vergessen überläßt oder sie sogar explizit ablehnt, diejenigen Neuerungen, die sich nicht als Struktur, also nicht als Richtlinie für die weitere Kommunikation zu eignen scheinen. (3) Die Restabilisierung betrifft den Zustand des evoluierenden Systems nach einer erfolgten, sei es positiven, sei es negativen Selektion. Dabei wird es zunächst um das Gesellschaftssystem selbst im Verhältnis zu seiner Umwelt gehen. Man denke etwa an die Erstentwicklung von Landwirtschaft mit Konsequenzen, die im Sozialsystem der Gesellschaft "systemfähig" sein müssen. Oder an die Vermeidung einer Agrarisierung (aus ökologischen oder anderen Gründen), die dann zur Entstehung von "Nomadenvölkern" am Rande von bereits politisch entwickelten Bauerngesellschaften führt. Im weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Evolution verlagert die Restabilisierungsfunktion sich dann mehr und mehr auf Teilsysteme der Gesellschaft, die sich in der innergesellschaftlichen Umwelt zu bewähren haben. Dann geht es letztlich um das Problem der Haltbarkeit gesellschaftlicher Systemdifferenzierung. Elemente, Strukturen und Einheit des Reproduktionszusammenhanges sind notwendige Komponenten eines autopoietischen Systems. Es gibt keine Elemente ohne System, kein System ohne Elemente usw. Diese Bedingung gegeben, fragt sich, wie dann Evolution überhaupt möglich ist, wenn sie einen nach Variation, Selektion und Restabilisierung differenzierten Zugriff auf diese einzelnen Komponenten voraussetzt. Mit dieser Frage rekonstruieren wir zugleich die These der Unwahrscheinlichkeit aller Evo-

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lution und der unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit der durch sie erzeugten Systemformen.“ 40 So sieht sich Luhmann aufgrund seiner theoretischen Prämissen gezwungen, zwischen den auf Sinn beschränkten Operationen sozialer Systeme und kausalen Wirkungen zwischen System und Umwelt zu unterscheiden: „Die begriffliche Konfiguration von operativer Schließung, Selbstorganisation und Autopoiesis gewinnt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung. Wir erinnern daran: ein operativ geschlossenes System kann mit eigenen Operationen die Umwelt nicht erreichen. Es kann seine Umweltanpassung nicht über Kognition sicherstellen. Es kann nur im System, also nicht teils drinnen, teils draußen operieren. Alle Strukturen und alle Systemzustände, die als Bedingung der Möglichkeit weiteren Operierens fungieren, sind durch die eigenen Operationen des Systems produziert, das heißt: hervorgebracht.“ (Luhmann 1997, 129). Im Rahmen einer Theorie, die sich in ihrem Gegenstandsbereich auf Sinn d.h. auf Beobachtungsoperationen beschränkt, können Wechselwirkungen zwischen System und Umwelt nicht mehr beobachtet werden. Luhmann zieht daraus die (m.E. irreführende) Konsequenz (1997, 133): „Die Systemtheorie muß eine ihrer Lieblingsideen aufgeben, aus den kausalen Beziehungen zwischen System und Umwelt auf Anpassung des Systems an die Umwelt zu schließen. Auch die Evolutionstheorie wird auf diesen Gedanken verzichten müssen. Systeme erzeugen durch operative Schließung eigene Freiheitsgrade, die sie ausschöpfen können, solange es geht, das heißt: solange die Umwelt es toleriert. Es eignen sich dafür nur wenige, hinreichend strukturaufnahmefähige Formen der Autopoiesis, vor allem natürlich die äußerst robuste Biochemie des Lebens. Der Gesamteffekt aber ist, nach allem, was man sieht, nicht Anpassung, sondern Abweichungsverstärkung.“ Die Evolutionstheorie muß jedoch m.E. auf ihre Kausalitätsannahmen nicht verzichten, weil sie im Rahmen der Gruppenselektionstheorie längst den Umstand berücksichtigt hat, dass soziale Systeme durch operative Schließung eigene Freiheitsgrade erzeugen. 41 Hinweis auf neuere Ausführungen in der ANT bei Latour u.a. ... 42 In dieser Hinsicht fällt die Gemeinsamkeit zwischen ansonsten sehr verschiedenen Sozialtheorien auf in der Tendenz, sozialen Phänomenen Qualitäten zuzuschreiben, die herkömmlich nur lebendigen Individuen zugeschrieben wurden wie Eigendynamik, Eigeninteresse und Eigensteuerung – kurz: Subjektqualitäten. Das gilt für Luhmanns Konzept autopoietischer Sozialsysteme, die operativ geschlossen gegenüber lebendigen Individuen agieren, für Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, in der technische Dinge zu eigenständigen Akteuren werden, und für Dawkins Mem-Theorie, in der kulturelle Wissensgehalte sich selbst replizieren (in Analogie zum evolutionsbiologischen Konzept vom egoistischen Gen). In jeder dieser Theorien werden Faktoren, die zur Beschreibung kultureller Sozialsysteme gehören, animiert und dynamisiert durch Übertragung von Qualitäten der lebendigen Individuen. Es handelt sich gewissermaßen um methodologischen Animismus. Allen drei Ansätzen gemeinsam ist, dass sie das evolutionäre Zusammenwirken kausal unabhängiger Faktoren auf eine prima causa reduzieren: Luhmann auf sozialen Sinn, Latour auf hybride Netzwerke, Dawkins auf genäquivalente Meme. Latour zu Luhmanns Differenzierungstheorie: „Luhmanns großartiger Versuch, durch die Vorstellung autonomer Bereiche die Differenzen zu respektieren, wurde leider durch sein Beharren verdorben, alle Bereiche durch eine gemeinsame Metasprache zu beschreiben, die einer bestimmten Biologie entlehnt ist.“ (2007, 414 FN). Aber nicht Luhmanns (eher metaphorische) Anlehnung an die Sprache der Biologie scheint mir das Problem, sondern seine Beschränkung auf die Metaebene von Sinnkonstrukten. Während Luhmann Verstehensoperationen von lebendigen Menschen ablöst und sozialen Systemen zuschreibt, geht Latour noch einen Schritt weiter und schreibt sie der ganzen Welt zu: „Hermeneutik ist kein Privileg von Menschen, sondern sozusagen eine Eigenschaft der Welt selbst. Die Welt ist nicht ein solider Kontinent aus Fakten, durchsetzt von einigen Seen von Ungewißheiten,


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sondern ein riesiger Ozean von Ungewißheiten, durchbrochen von einigen Inseln kalibrierter und stabilisierter Formen.“ (2007, 420) Latour in diesem Vergleich besser rauslassen, weil das seiner Sozialtheorie nicht gerecht wird. Die technischen Artefakte werden von ihm ja nur als zusätzliche Faktoren eingeführt. Als Problem bleibt jedoch, dass er die Emergenz sozialer Systeme bestreitet, die für evolutionstheoretische Erklärungen unabdingbar ist. („Das Soziale hat nie irgend etwas erklärt, das Soziale muß statt dessen erklärt werden.“ 2007, 167). 43 Angesichts der offenkundigen Bedeutung materieller Objekte und Werkzeuge beim Bau des soziokulturellen Gehäuses ist es selbst als erklärungsbedüftiges Phänomen zu betrachten, dass es Theorien gibt, die den Gegenstand der Soziologie auf Sinnoperationen und -strukturen beschränken. (Über solche Abstraktionen müsste wohl jedes Kind lachen, das sich nicht von dem Anspruch soziologischer Supertheorie schon hat einschüchtern lassen.) Die Erklärung ist auch hier in den Konkurrenzkonflikten zu suchen, die zur auslösenden Ursache sozialer Differenzierung – hier der Differenzierung zwischen den Wissenschaftsdisziplinen - werden. Die Soziologie hat sich hier – beeindruckt von dem Ausbreitungserfolg der Naturwissenschaften – auf das Gebiet der „rein“ sozialen Tatsachen bzw. der Geisteswissenschaften zurückgezogen. (S. dagegen Latour 2007). 44 Die Umkehrung der Kausalannahmen zwischen System und Umwelt gegenüber der Darwinschen Theorietradition findet sich bei Luhmann bereits in dem frühen Aufsatz, in dem er den Begriff der Gesellschaft (im Rekurs auf Aristoteles und gegen die WeberTradition) verteidigt, um soziale Evolution zu erklären: „Vom Gesellschaftssystem aus gesehen dienen andere Sozialsysteme der Fortsetzung gesamtgesellschaftlicher Selektivität, nämlich der Selektivitätsverstärkung durch Wiederholung der Systembildung in bezug auf die ‚innere Umwelt‘ des Gesellschaftssystems. Dessen äußere Umwelt kann gesellschaftliche Ordnungsleistung nicht mehr voraussetzen und bleibt das unbestimmte Woraus sozialer Selektivität. Sie hat die hohe, offene Komplexität kontingenter Welt, die durch eine Mehrheit sinnhaft erleben¬der Subjekte konstituiert ist. Gesellschaft ist soziales System in bezug auf die Tatsache, die Parsons als doppelte Kontingenz bezeichnet, daß nämlich Menschen einander erleben als Subjekte, die anders erleben und handeln können. Diese Tatsache ist jedoch nicht eine unabhängig von der Gesellschaft erforschbare, ‚natürliche‘ Umwelt, sie wird vielmehr durch die Konstitution des Gesellschaftssystems als dessen Umwelt mitkonstituiert. Das folgt aus unserem in Welt und Umwelt doppelt verankerten Systembegriff und besagt, daß die Art, wie das Gesellschaftssystem selektiv strukturiert wird, den Unterschied von System und Umwelt in bezug auf das Gesellschaftssystem erst konstituiert.“ (Luhmann 1970, 144) Der organizistische bias der Systemtheorie verleitet dazu, den Selektionsdruck der natürlichen Umwelt, der überhaupt erst zu Systembildung führt, zu einem „unbestimmten Woraus sozialer Selektivität“ zu erklären und einen Gegensatz zwischen Naturgesetzen und Systembildungen zu behaupten. „Vor allem Spencer hatte versucht, Evolution auf einen Grundbegriff von „natural causation" zu reduzieren und damit als wissenschaftlich erforschbar auszuweisen. Heute kann man wissen, daß das Grundschema von Ursache und Wirkung dafür zu einfach ist. Evolution beruht nicht auf Naturgesetzen, sondern auf Systembildungen; sie wird nicht durch abstrakt-notwendige Beziehungen zwischen bestimmten Ursachen und bestimmten Wirkungen gesteuert, so daß die Kenntnis solcher Gesetze Erklärungen und Voraussage ermöglichte, sondern durch das Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt, das heißt durch Systemgrenzen und selektive Strukturen und Prozesse.“ (Luhmann 1970, 150) An dieser Stelle folgt dann auch bereits die Unterstellung von Eigendynamik für soziale Systeme (ohne lebendige Antriebskräfte auf der Mikroebene): „Diese Nichtidentität von Wirkungsreihen begründet die Wahrscheinlichkeit, daß die Welt aus sich heraus dynamisch wird, und diese Wahrscheinlichkeit kann zunehmen in dem Maße, als die Systemdifferenzierung und damit das Komple-

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xitätsgefälle zwischen Einzelsystem und Umwelt zunimmt.“ (Luhmann 1970, 150) 45 An der zitierten Stelle Luhmann weiter: „.... Diese Auffassung wird zwar oft, zum Beispiel von ALEXANDER (1979), vertreten. Sie erreicht aber in der sozialstrukturellen und in der kulturellen Analyse wenig Tiefenschärfe. Es handelt sich also nicht um die besonderen Lebensbedingungen eines späten Zweiges der allgemeinen organischen Evolution (obwohl dies für die organische Evolution der Spezies Mensch durchaus gelten mag), sondern soziokulturelle Evolution ist Evolution auf einer anderen Ebene der Realität. Soziokulturelle Evolution ist Evolution eines ganz andersartigen Typs von System. Es geht nicht um eine Fortsetzung der Evolution des Lebens, es geht überhaupt nicht um ein lebendes System. Nur unter dieser Voraussetzung ist es sinnvoll, nach der entsprechenden Besetzung der darwinschen Evolutionsfunktionen im Falle der soziokulturellen Evolution zu fragen.“ (Luhmann 1983:198). Der Vergleich mit früheren Beiträgen (1962 bis 1977) macht deutlich, dass Luhmann diese theoretische Beschränkung erst mit der Umstellung auf das Autopoiesis-Konzept vollzogen hat. Auch in den früheren Beiträgen verortet Luhmann die lebenden Individuen bereits in der Umwelt sozialer Systeme, schließt sie aber nicht als Variablen der Erklärung aus. Die in der Luhmann-Kritik häufig aufgeworfene Frage der Verortung von Menschen – als Teil des Systems oder seiner Umwelt – ist letztlich ein Artefakt der theoretischen Vorentscheidung, soziale Systeme ausschließlich als (autopoietische) Sinnsysteme aufzufassen. Luhmanns Idee einer allgemeinen Evolutionstheorie, deren Begriffe – ähnlich wie die der Systemtheorie mit Bezug auf Maschinen, Organismen, psychische und soziale Systeme – von ihren historischen Entstehungsbedingungen abstrahiert und auf verschiedene Gegenstandsbereiche appliziert werden kann, erspart sich nicht nur die Beschreibung von Zusammenhängen und Übergängen zwischen diesen Bereichen. Sie reproduziert unausgesprochen auch die traditionelle Vorstellung eines unauflösbaren Gegensatzes zwischen Natur und Kultur, die in Deutschland vor allem in der Philosophischen Anthropologie (die „Sonderstellung“ bei Scheler, Plessner, Gehlen) vertreten und ausdrücklich gegen die Kontinuitätsvorstellungen der modernen Evolutionstheorie gerichtet waren. 46 Die Kombination von Kommunikations- und Evolutionstheorie gehört vielleicht auch deshalb zu den fruchtbarsten Verbindungen im Luhmannschen Theorieangebot, weil sich Luhmanns Ausführungen in dieser Hinsicht (erfreulich) inkonsistent gegenüber den systemtheoretischen Vorentscheidungen verhalten. Mit Bezug auf historische Umbrüche in den Differenzierungsformen, die durch Veränderungen der Kommunikationsmittel ausgelöst werden, zeigt Luhmann (allerdings beschränkt auf interne Veränderungen), in welch hohem Maße die Rückwirkung materieller Entitäten (technische Artefakte) den Verlauf der kulturellen Evolution bestimmt. – So liefert Luhmann selbst Belege für die immer wieder betonte Nachgeordnetheit wissenschaftstheoretischer Reflexionsmittel: In der exzellenten Analyse historischer Entwicklungen der Kommunikations- und Differenzierungsformen auf der dafür weitgehend unbrauchbaren methodologischen Grundlage systemtheoretischer Prämissen. 47 Die extremen Kontingenzunterstellungen im Luhmannschen Theorem der doppelten Kontingenz sind das krasse Gegenmodell zu einer evolutionstheoretischen Rekonstruktion menschlicher Sozialsysteme. 48 ad 3 Biologische Evolutionstheorie und soziologische Differenzierungstheorie 49 Auch Stichweh (1990: 9) verweist auf die zunehmende Bedeutung von Mehrebenenselektion in der biologischen Evolutionstheorie, um damit die systemtheoretischen Prämissen der Luhmannschen Evolutionstheorie zu stützen: „Die Zahl der Ebenen, die unter Prämissen dieses Typs unterschieden werden müssen, kann groß sein. Massimo Piattelli-


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Palmarini kommt in seiner Detaillierung dessen, was er einen 'Zensus' von Ebenen nennt, auf zehn: einzelne DNS-Basen; einzelne Gene; ganze Familien von Genen; horizontal verknüpfte DNS-Sequenzen auf verschiedenen Chromosomen derselben Zelle; die Zelle selbst; das Genom einer Spezies als sich selbst stabilisierende und konsistente Struktur; das Individuum; inklusive Gruppen von Genen, die der Abstammung nach identisch sind und von verschiedenen Individuen getragen werden; die Gruppe; die sich tatsächlich miteinander paarende Population; die Spezies als eine sich der Möglichkeit nach miteinander paarende Population; eine Nische faktisch interagierender Spezies; schließlich ein Ökosystem . Eine der auffälligsten Folgen dieser Denkentwicklung ist, daß auch in der Biologie die Bedeutung des biologischen Individuums zurücktritt, das Individuum nur noch eine intermediäre Position in einer Hierarchie von Ebenen der Selektion einnimmt, die auch infra-, supra- und - vielleicht das interessanteste Problem - transorganismische Selektionsmechanismen vorsieht.“ Anders als Stichweh nahelegt, geht es in den hier referierten Theorien der Mehrebenenselektion aber keineswegs darum zu zeigen, dass die Ebene der Individuen „zurücktritt“ oder wie in der Theorie sozialer Systeme als erklärungsrelevante Ebene ganz ausgeklammert wird. 50 Hier kann natürlich nur in groben Umrissen angedeutet werden, wie eine Synthese aus Darwinscher Evolutionstheorie und soziologischer Differenzierungstheorie aus heutiger Sicht aussehen könnte. – In einer Passage seiner programmatischen Schrift zur „Einheit des Wissens“ hat E.O.Wilson die Vorzüge einer Naturund Kulturwissenschaften verbindenen Synthese für das Verständnis sozialer Systeme wiefolgt pointiert: „Nehmen wir einmal vier Disziplinen, die sukzessive immer breitere Skalen von Raum und Zeit einbeziehen. Von ihren jeweiligen Vertretern könnten sie folgendermaßen beschrieben werden: Der Soziologe sagt mit berechtigtem Stolz: »Wir interessieren uns für das Hier und Jetzt, für die exakte Analyse des Lebens in bestimmten komplexen Gesellschaften und die Ursachen und Wirkungen in der jüngsten Geschichte. Wir halten uns an präzise Details, von denen wir selbst oft ein Teil sind, das heißt, wir schwimmen buchstäblich in den Details. Aus unserer Perspektive scheinen die Variationen des menschlichen Verhaltens enorm und vielleicht sogar unendlich formbar zu sein.« Der Anthropologe antwortet: »Ja, das stimmt soweit. Aber treten wir ein Stück zurück und riskieren einen zweiten Blick. Man darf nicht vergessen, daß wir Anthropologen Tausende von Kulturen erforschen, viele von ihnen ungebildet und vorindustriell. Daher sind die von uns verzeichneten Variationen noch größer als solche, auf die Soziologen stoßen. Aber ich garantiere, daß sie alles andere als unendlich formbar sind. Wir haben ganz klare Grenzen und Muster entdeckt Die Informationen, die wir aus den zahlreichen separaten, sich über viele Jahrhunderte erstreckenden Experimenten der kulturellen Evolution erhalten, werden es uns letztlich ermöglichen, die Gesetze des sozialen Handelns zu formulieren.« Der Primatologe fällt ihm ungeduldig ins Wort: »Zugegeben, vergleichende Studien über einfach oder komplex strukturierte Gesellschaften sind das Rückgrat der Sozialwissenschaften. Dennoch müssen Ihre Konzeptionen in einen viel breiteren Zusammenhang gestellt werden, Sie müssen Ihre Perspektive erweitern. Die Variation im menschlichen Verhalten ist enorm, aber sie umfaßt noch nicht einmal ansatzweise all die sozialen Übereinkünfte, die wir bei Menschenaffen und anderen Primaten entdeckt haben und die sich nicht nur im Laufe von Jahrtausenden, sondern von 50 Millionen Jahren Evolution entwickelt haben. Genau dort, bei den über hundert Spezies, die der Menschheit genetisch am nächsten stehen, müssen wir nach den Prinzipien der sozialen Evolution suchen, wenn wir die Ursprünge von Kultur verstehen wollen.« Der Soziobiologe fügt hinzu: »Ja, der Schlüssel zu allem ist Perspektive. Warum sie also nicht wirklich erweitern? Meine Disziplin, die gemeinsam von Biologen und Sozialwissenschaftlern entwickelt wurde, untersucht die biologische Basis des Sozialverhal-

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tens aller Arten von Organismen. Ich weiß, daß allein schon die Vorstellung, menschliches Verhalten sei biologisch beeinflußt, zu heftigen Kontroversen geführt hat, besonders in der politischen Arena, aber bedenken Sie doch einmal: Der Mensch mag zwar hinsichtlich der Formbarkeit seines Verhaltens einzigartig sein, und er mag auch als einziger zu Sprache, Selbst-Bewußtsein und Voraussicht fähig sein, aber alle bekannten menschlichen Systeme zusammen bilden nur eine winzige Untermenge all derjenigen, die sich unter den Tausenden lebenden Arten von höchst sozialen Insekten und Wirbeltieren herausgebildet haben. Wenn wir eine echte Wissenschaft des Sozialverhaltens begründen wollen, werden wir die unterschiedliche Evolution all dieser Organismengruppen über einen Zeitraum von Hunderten von Jahrmillionen zurückverfolgen müssen. Außerdem wäre es sinnvoll, endlich anzuerkennen, daß sich das menschliche Sozialverhalten letztlich mit der biologischen Evolution entwickelt hat.« Jede sozialwissenschaftliche Disziplin kann bequem in der von ihr selbst gewählten Skala von Zeit und Raum bestehen, solange sie dabei mehr oder weniger blind für all die anderen bleibt. Aber ohne eine wirkliche Sozialtheorie wird es den Sozialwissenschaften nicht gelingen, mit den Naturwissenschaften zu kommunizieren noch können sie es ja nicht einmal untereinander. Wenn Sozialund Naturwissenschaften vernetzt werden sollen, müssen die Disziplinen beider Wissenschaften zuerst einmal anhand der Zeitund Raumskalen definiert werden, die sie jeweils abdecken, und nicht nur wie bisher allein durch ihren jeweiligen Forschungsgegenstand. Erst dann kann eine Vernetzung stattfinden. Tatsächlich hat eine gewisse Annäherung bereits begonnen, und zwar durch die rasche Ausweitung der naturwissenschaftlichen Forschungsbereiche in den letzten Jahrzehnten. Vier Brücken überspannen schon den Graben. Die erste ist die Hirnforschung oder kognitive Neurowissenschaft, ergänzt durch einige Elemente der Erkenntnispsychologie, die die physikalischen Grundlagen mentaler Aktivitäten analysiert und sich zum Ziel gesetzt hat, hinter das Geheimnis des Bewußtseins zu kommen. Die zweite ist die auf den Menschen bezogene Verhaltensgenetik, die nun damit beginnt, die erblichen Grundlagen dieses Prozesses herauszufinden. Das beinhaltet auch den Einfluß der Gene auf die geistige Entwicklung. Die dritte Brücke ist die Evolutionsbiologie - inklusive ihres hybriden Sprößlings, der Soziobiologie - welche die erbbedingten Ursprünge des Sozialverhaltens zu erklären versucht. Und die vierte schließlich ist die Umweltforschung, deren Zusammenhang mit Sozialtheorie auf den ersten Blick seltsam anmuten mag, es aber ganz und gar nicht ist. Denn die natürliche Umwelt ist der Schauplatz, auf dem sich die Spezies Mensch entwickelt hat und an den ihre Physiologie und Verhaltensweisen genauestens angepaßt sind. Weder die Humanbiologie noch die Sozialwissenschaften ergeben wirklich einen Sinn, solange ihre Weltanschauungen diesen unverrückbaren Rahmen nicht berücksichtigen.“ (Wilson 1998, 255-257) 51 Eine ganz andere Lesart der anfänglichen Differenz ist in der Sozialtheorie von G. Tarde zu finden: „Existieren heißt differieren, die Differenz ist gewissermaßen die substantielle Seite der Dinge, sie ist dasjenige, was sie gleichzeitig als eigenstes und als gemeinsamstes haben. Davon muß man ausgehen und sich davor hüten, sie zu erklären, vor allem durch die Identität, von der fälschlicherweise so oft ausgegangen wird. Denn Identität ist nur ein Minimum und folglich nur eine Art und eine unendlich rare Art von Differenz, ähnlich wie die Ruhe nur ein Sonderfall der Bewegung ist und der Kreis nur eine Sonderform der Ellipse. Von einer primordialen Identität auszugehen heißt, am Ursprung eine äußerst unwahrscheinliche Singularität anzunehmen, eine unmögliche Koinzidenz mehrerer Wesen, die gleichzeitig verschieden und ähnlich wären, oder aber das unerklärliche Mysterium eines einzigen sehr einfachen Wesens, das sich später teilen müßte, ohne daß man wüßte wieso.“ Tarde 1999 [1895], S.73) An anderer Stelle wird deutlich, dass für Tarde nicht Differenz (Binnendifferenzierung durch Organisation) den Ausgangspunkt bildet, sondern die in der natürlichen Evolution angelegte Aus-


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breitungstendenz: „Das soziale wie das lebendige Ding möchte sich hauptsächlich ausbreiten, nicht organisieren. Die Organisation ist nur ein Mittel, dessen Ziel die Ausbreitung und die Wiederholung durch Fortpflanzung oder Nachahmung darstellt. (Tarde 1890, 2009: 95) - Auch Luhmann verweist gelegentlich auf Tarde als einem frühen Differenztheoretiker, allerdings ohne sich ausführlich mit dessen Argumentation auseinanderzusetzen. (Luhmann 1997, FN S.603 ) Er übersieht, dass Tardes Ausgangspunkt nicht bei einer kognitiven Unterscheidung (Sein oder Nichtsein) sondern bei einer materialen Differenz (mehr oder weniger Haben) liegt. Zur Wiederentdeckung der Sozialtheorie von Tarde s. v.a. Latour 2007 (s. den Sammelband von Staeheli und meine Rezension in Soziol. Revue 2010) 52 Es wäre aber evolutionstheoretisch auch denkbar diesen Anfang bereits auf der Ebene der Moleküle – also noch vor (oder „unter“) der Emergenz natürlicher Lebewesen anzusetzen. S. Nowak 2011, 115ff. Nowak 2011, 274f.: “I have argued that evolution "needs" cooperation if she is to construct new levels of organization, driving genes to collaborate in chromosomes, chromosomes to collaborate in genomes, genomes to collaborate in cells, cells to collaborate in more complex cells, complex cells to collaborate in bodies, and bodies to collaborate in societies.” 53 In diesem Abschnitt ist mit Bezug auf neuere Entwicklungen in der Evolutionsbiologe zu begründen, warum ich - im Hinblick auf die von Luhmann verfolgte Verknüpfung von soziologischer Differenzierungstheorie mit Evolutionstheorie – von Luhmann abweichend an den naturalistischen Grundlagen der Evolutionstheorie festhalte: Erstens im Bezug auf die Anschlußmöglichkeiten, die sich durch die theoretische Rehabilitation von Gruppenselektion (Sober/Wilson 1998) eröffnen und zweitens durch die Verknüpfungsmöglichkeiten, die sich durch Theorien der doppelten Vererbung (Richerson/Boyd 2005) eröffnen. S. auch Kappelhoff 2011. 54 Zu der „Selfish-Genes“-Perspektive s. Dawkins ... im Anschluss an Hamilton 1964 u.a. – s. dagegen neben E.O. Wilson, ... auch schon E. Mayr, 1997 - weitere Literaturhinweise bei Sober/Wilson 1998. 55 Individuen werden darin selektionstheoretisch als „Vehikel“ ihrer Gene betrachtet. 56 Deren Betrachtung als Objekte der Selektion steht unter dem Verdacht eines politisch instrumentalisierten „Sozialdarwinismus“. Hier wäre aber erst einmal zu klären, was mit „Sozialdarwinismus“ eigentlich gemeint ist. Der legitimationsideologische Mißbrauch der Darwinschen Selektionstheorie durch den NSStaat war offenkundig nicht individualistisch sondern kollektivistisch motiviert. Der moderne Individualismus (wie er von Spencer und Durkheim interpretiert wird) muss vor diesem Hintergrund nicht als „survival of the fittest“ (durch natürliche oder künstliche Selektion), sondern kann auch als Verteidigung der kulturellen Wertsteigerung des Individuums gegen deren kollektivistische Bedrohung in der Konkurrenz durch staatlich-bürokratischen Superorganismen gelesen werden. An dieser Stelle wäre darauf hinzuweisen, dass kulturelle Sozialsysteme des Menschen nicht als „Superorganismen“ – also gewissermaßen Individuen höherer Art – wie Ameisen- oder Bienen„Staaten“ zu verstehen sind. Sie bilden zwar höheraggregierte Formen und sind deshalb auch der Selektion auf einer höheren Ebene ausgesetzt. Diese Formen sind aber nicht irreversibel, sondern jederzeit disaggregierbar. Vgl. Blute 2010: 182f. 57 Zur Geschichte der Kontroverse um Gruppenselektion in der Evolutionsbiologie zusammenfassend Sober/Wilson 1998, 50ff – dazu erneut Nowak 2011 83f: “Not so long ago what became known as "group selection" was denounced as a heresy by many evolutionary biologists. The idea was dismissed, trampled, and then swept under the carpet. Critics have said the "group selection fallacy" arises in "amateur misinterpretations of Darwinism" and sometimes even among "profes-

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sional biologists who should know better. Today, however, such dogmatic attitudes are softening.” “In that swinging decade, group selection became a pariah concept, taught primarily as an example of how not to think. One could speculate on whether the prevailing consensus of that day— that the good of the individual came above all else, even society— was influenced by the individualistic Zeitgeist of the 1960s.” (85) “Most evolutionary theorists insisted that all adaptations had to be explained in terms of individual self-interest. They argued that the genes that do the best job of surviving to live on in the next generation, whether by crafty cooperation or by single-minded selfishness, are the ones that will eventually flourish. By this view, genes cannot become more frequent unless they benefit the individuals who carry them. That was that. A century after Darwin had sketched out his embryonic ideas on the matter, the phrase "group selection" was taboo.”(86) “Although the subject of group selection has been highly controversial, I believe there is now a wide range of evidence, both experimental and theoretical, to show that it is a distinctive and fundamental process that permeates all of evolution, from the emergence of the first cells to the behavior of social creatures such as humans. Group selection makes no assumptions about whether individuals are cooperative or selfish, let alone whether genes themselves are truly selfish. Instead, it simply says that intense between-group competition will favor mechanisms that blur the distinction between group and individual welfare if they improve performance or fitness at the group level. … When we analyze the competition between neighboring tribes or between states, we need to consider both genetic and cultural forces if we are to understand why loyalty to a tribe, a church, or a neighborhood could override loyalty to the family, or naked self-interest. In other words, we need to model the ‘coevolution’ of culture and genes.” (93f.) 58 In Theorien der Mehrebenenselektion werden neben Genen, Individuen und Gruppen auch Arten (soweit sie in einer gegebenen Umwelt um dieselben Ressourcen konkurrieren) als Objekte der Selektion in Betracht gezogen. S. u.a. Wilson & Sober … Wilson & Wilson (s. auch Gould, wenngleich mit abweichender Terminologie). „Darwin’s original insight and the developments reviewed in this article enable us to offer the following one-foot summary of sociobiology’s new theoretical foundation: ‘Selfishness beats altruism within groups. Altruistic groups beat selfish groups. Everything else is commentary.’ (D. S. Wilson and E. O. Wilson ..., 44) Es geht um eine Re-Definition der units of selection i.S. von Einheiten, die sich so organisieren, dass between-group-selection anstelle der within-group-selection tritt (i.S. eines Vorrangs, ohne dass Letztere verschwinden muss) S. dazu Wilson & Sober 1989, 1994, Sober & Wilson 1998 Eine mathematisches Modell der Möglichkeit von Gruppenselektion ist neuerdings von Nowak 2011 geliefert worden: “We came up with the following simplified scenario, couched as ever in the language of cooperation and defection: When individuals interact with others in the same group, they get a payoff. The individuals can reproduce in proportion to payoff—so those who experience cooperation fare better than those who experience defection—and their offspring are added to the same group. Therefore cooperative groups grow faster. In the second component of our model, we assumed that groups can break up, rather like cells divide or rival factions in a society part company to go their separate ways. By this I mean that if a group becomes too large, it can split into two groups. Occasionally, splinter groups also become extinct because there is only a limited amount of space (a creature runs out of habitat) or other resources (companies go broke for want of credit, for example). Thus we added the limitation that when one group divides into two, another group dies in order to constrain the total number of groups. Run this model in a computer and you find that groups that con-


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tain fitter individuals reach the critical size faster and, therefore, split more often. What is satisfying is that this model leads to selection among groups, even though it is only the individuals that reproduce. The higher-level selection of groups emerges from reproduction at the lower level of the individual. Remarkably, the two levels of selection can even work against each other, when viewed in terms of cooperation and defection. Defectors can win within a group, but at the level of the group, groups of cooperators can triumph over groups of defectors. Thus, although cooperation might not always benefit cooperative individuals (whose efforts could be used and abused by cheats and free riders), we observed that groups in which cooperation emerges are more likely to stick around than those with exclusively selfish behavior. Playing with the math of our model, a simple and compelling result emerges. Group selection allows the evolution of cooperation, provided that one thing holds good: the ratio of the benefits to cost exceeds the value of one plus the ratio of group size to number of groups. Thus group selection works well if there are many small groups and not so well if there are a few large lumbering groups.” (Nowak 2011, 88f.) In dieser Darstellung der Evolution kooperativer Mechanismen wird aber m.E. zu wenig berücksichtigt, dass sie mit der Verlagerung von Konkurrenzkonflikten auf eine andere Ebene einhergeht – dass also der externe Konflikt zur Ursache interner Kooperation wird (und umgekehrt). Spieltheorien enthalten mit der Unterscheidung zwischen Kooperation und Defektion ein normatives Bias, das wegen der mathematischen Modellierung häufig gar nicht bemerkt wird. Je nach Spielanlage gewinnen entweder die Defektierenden oder die Kooperierenden. Die formale Beschreibung verbirgt die Vorentscheidung, dass Erstere die Bösen und Letztere die Guten sind, und dass es als suboptimal zu betrachten ist, wenn es nicht gut ausgeht. In einer werturteilsfreieren Perspektive wäre die Konstellation eines Gefangenendilemmas zunächst nur als Konflikt konkurrierender Individuen oder Systeme zu beschreiben, der auf verschiedene Weise (auf verschiedenen Ebenen) verarbeitet werden kann: Spieltheoretische defect cooperate Verhaltensalternative Evolutionstheoretische Verhaltensbedingungen

between-groupselection

within-groupselection

So wird auch erklärbar, warum das strikt eigennützige Verhaltensmodell der Rational Choice Theorien sich eher auf der Makroebene der Kollektivakteure empirisch nachweisen lässt als auf der Mikroebene der Interaktion unter Individuen. 59 Im Anschluß an die soziologische Theorietradition Turner und Maryanski, 2008, 78: “Social integration across larger groupings is not possible without unifying cultural symbols, often converted into totems and religious beliefs about the special power of the forces represented by totems. When populations become too large for everyone to interact directly, integration is achieved— as Emile Durkheim (1984 [1912]) forcefully argued—by individuals becoming oriented to common symbols that personify the group. Emotion-arousing rituals directed at these symbols generate a new basis of integration. Early hunting-and-gathering bands may have initiated this process, symbolizing not only the band but also the set of bands (or a community of bands), moving in a home range. This shift in the basis of integration was perhaps built upon the chimpanzee capacity to move about a home range and know who belongs and does not belong to the community. Early hominids may have possessed this same capacity to know who belongs to the community of several bands moving about a territory, and as the brain grew in size with new forms of organization, this capacity was subject to further selection. Selection could then work on the late hominin neuroanatomy to increase the propensity to symbolize stable relationships and engage in emotion-arousal rituals directed at these symbols. In this way, solidarity among the bands

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within a territory could increase without direct face-to-face contact with all other members sharing a territory. Moreover, once social relations could be symbolized and emotions marking group membership were aroused by rituals directed at these symbols, these processes could be applied to the local band already held together by affective bonds that had partially overcome the weaktie propensities of apes. For example, each band may have developed specific symbols and totems within a larger repertoire of symbols and totems circulating within the regional population of bands, thereby increasing the solidarity of both the local band and larger regional population. In fact, it is not completely unreasonable to hypothesize that the brain's growth may have been partially pushed by the fitnessenhancing effects of symbolizing both the band and the larger community in ways that promoted micro- and macro-level solidarity that would translate into bonds and obligations of reciprocity within and between bands, thus increasing reproductive fitness. Whether this basis of solidarity emerged early with Homo habilis or later with Homo erectus, and perhaps even later with fullblown Homo sapiens, is difficult to know. But building on cognitive capacities for a sense of community evident among the last common ancestors to chimpanzees and humans gave natural selection an opening to enhance this behavioral propensity, once hominids had sufficiently large brains to symbolize their groups and communities. Since group symbols and rituals directed at these symbols increase solidarity among present-day humans, it seems likely that they also did for late hominins who already carried the core cognitive ability to recognize (and defend) the larger community. 60 In einer neuen archäologischen Studie haben Mellars und French das Aussterben des Neandertaler-Menschen mit der geringeren Größenkapazität ihrer Sozialsysteme erklärt: „European Neandertals were replaced by modern human populations from Africa ~40,000 years ago. Archaeological evidence from the bestdocumented region of Europe shows that during this replacement human populations increased by one order of magnitude, suggesting that numerical supremacy alone may have been a critical factor in facilitating this replacement.” (Science 29 July 2011: Vol. 333 no. 6042 pp. 623-627) Zu den Größenverhältnissen von Stammesgesellschaften North et al. 2009, 14: “Estimates of the typical size grouping range as high as 150 people. Dunbar (1996), pp. 69-79, finds a strong relationship between the ratio of brain size relative to body size and the size of the animal groups. Animals living in bigger groups require larger brains to process social information. On the basis of the brain size to body size ratio and other factors, Dunbar argues that the basic human group was roughly 150 people. The modal size of hunter-gatherer groups reported in Kelly's survey (1995) is twenty-five, pp. 205-32. For our purposes, the key insight is that permanent groups larger than several hundred people did not appear until ten thousand years ago.” 61 Richerson und Boyd haben in ihren evolutionssoziologischen Arbeiten das Größenproblem evolutionsssoziologischen Arbeiten wiederholt zum Thema gemacht: „Human societies are a spectacular anomaly in the animal world. They are based on the cooperation of large, symbolically marked in-groups. Such groups have economies based on substantial division of labor and compete with similarly marked out-groups. This is obviously true of modern societies, in which enormous bureaucracies like the military, political parties, churches, and corporations manage complex tasks, and in which people depend on a vast array of resources produced in every corner of the globe. But it is also true of hunter-gatherers, who have extensive exchange networks and regularly share food and other important goods outside the family and the residential group. In most animal species, cooperation is either absent or limited to very small groups, and there is little division of labor. Among the few animals that cooperate in large groups are social insects such as bees, ants, and termites, and the naked mole rat, a subterranean African rodent. Multicellular plants and many forms of multicel-


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lular invertebrates can also be thought of as complex societies made up of individual cells. In each of these cases, how-ever, the cooperating individuals are genetically related. Typically, the cells in a multicellular organism are mem-bers of a genetically identical clone, and the individuals in insect and naked mole rat colonies are siblings. Thus we have another evolutionary puzzle. Our ancestors six million years ago in the Miocene presumably cooper-ated in small groups mainly made up of relatives, as contemporary nonhuman primates do. There was no trade, little division of labor, and coalitions were limited to a small number of individuals. As we will argue below, these patterns are consistent with our understanding of how natural selection shapes behavior. Sometime between then and now, something happened that caused humans to cooperate in large, complex, symbolically marked groups. What caused this radical divergence from the behavior of other social mammals? We think that gene-culture coevolution provides the most likely solution to this puzzle. There are two parts to this argument. First, cultural adaptation potentiates cultural evolution of cooperation and symbolic marking. Human culture allows rapid, cumulative evolution of complex adaptations and is particularly adaptive in variable envi-ronments. Such rapid adaptation has radically increased the amount of heritable cultural variation between human groups, which means that intergroup competition (always present) gives rise to the cumulative evolution of cultural traits that enhanced the success of groups. Since larger, more-cooperative, and more-coherent groups should outcompete smaller, less cooperative groups, group selection could give rise to culturally transmitted cooperative, group-oriented norms, and systems of re-wards and punishments to ensure that such norms are obeyed. Stable variation between groups can also lead to the evolution of symbolic markers that allow individuals to choose whom to imitate or whom to interact with. Second, culturally evolved social environments favor an innate psychology that is suited to such environments. In culturally evolved social environments in which prosocial norms are enforced by systems of sanction and reward, individual selection will favor psychological predisposi-tions that make individuals more likely to gain social rewards and avoid social sanctions. Similarly, in a world made up of coherent, culturally distinct, symbolically marked groups which demand loyalty from their members, individual selection will favor psychological adaptations that allow people to parse the groups that make up their social world, and identify with the appropriate ones. As a result, people are endowed with two sets of innate predispositions, or "social instincts." The first is a set of ancient instincts that we share with our primate ancestors. The ancient social instincts were shaped by the familiar evolutionary processes of kin selection and reciprocity, enabling humans to have a complex family life and frequently form strong bonds of friendship with others. The second is a set of "tribal" instincts that allow us to interact cooperatively with a larger, symbolically marked set of people, or tribe. The tribal social instincts result from the geneculture co-evolution of tribal-scale societies by the process described above. Consequently, humans are able to make common cause with a sizable, culturally defined set of distantly related individuals, a form of social organization that is absent in other primates. In the remainder of this chapter, we will describe and defend this hypothesis. First, we provide a brief primer on the theory of the evolution of cooperation. Our goal is to convince you that human sociality is indeed a puzzle, and provide necessary background for understanding our coevolutionary account and a competing hypothesis from evolutionary psychology. We then describe in more detail how gene-culture coevolution has given rise to tribal so-cial instincts. Next, we summarize data from psy-chological studies that suggest that such instincts actually exist. Then, we present ethnographic and historical evi-dence that suggests that the recent hunter-gatherer socie-ties exhibit tribal-scale social organization.

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Finally, we use the evolution of complex societies as a natural experiment to test the hypothesis.“ S. 230ff „The past ten thousand years have seen a race toward ever larger and more-complex societies. In favorable circumstances, foraging can support fairly large, sedentary, hierarchical societies, but in most environments the social complexity of foragers is limited. Foraging was probably the only option during the Pleistocene, because climates during that epoch were hos-tile to agriculture – dry, low in atmospheric C02, and extremely variable on quite short timescales. The warm, moist, stable climates of the last 11,500 years have made agriculture, and therefore larger, morecomplex societies, possible over much of the earth. Once they were possible, the race was on. Larger societies can usually marshal larger military units and defeat smaller societies in military competition. Size allows economies of scale, and division of labor generates greater economic productivity. These also contribute to political and military success, and attract imitators and immigrants. Nuer-Dinka style conquest-absorptions are evident from the beginning of the written historical record. The result was a steady increase in social scale and complexity that continues today. The increase in the size and complexity of human societies has probably not been accompanied by sig-nificant changes in our social instincts. While natural selection can sometimes lead to substantial genetic change in a few thousand years, most biologists think that important changes in complex characters take much longer to assemble. Our innate social psychology is probably that bequeathed to us by our Pleistocene ancestors. If we are correct, the institutions that foster hierarchy, strong leadership, inegalitarian social relations, and an extensive division of labor in modern societies are built on top of a social "grammar" originally adapted to life in tribal societies. To function, humans construct a social world that resembles the one in which our social instincts evolved. At the same time, a large-scale society cannot function unless people are able to behave in ways that are quite different from what they would be in small-scale tribal societies. Labor must be finely divided. Discipline is important, and leaders must have formal power to command obedience. Large societies require routine, peaceful interactions between unrelated strangers. These requirements necessarily conflict with ancient and tribal social instincts, and thus generate emotional conflict, social disruption, and inefficiency. Consequently, social innovations that make larger-scale society possible, but at the same time effectively simulate life in a tribalscale society, will tend to spread. If we assume that the social instincts have changed little if any since the beginning of the Holocene, then the evolutionary job of creating complex societies will have to have been done entirely by institutional "work-arounds" that have alternately taken advantage of and finessed our social instincts. People will prefer such arrangements and will adopt them given a choice. Societies with such institutions will suffer less internal conflict and will, all else being equal, be more effective in competition with other groups. To put the idea a little differently, to the extent possible, institutions buttressed by the ancient and tribal social instincts will be used as building blocks in the evolution of complex societies. However, these building blocks are not especially well suited to the task. For example, the command and control institutions necessary for large-scale cooperation inevitably generate inequality as those in high positions acquire a disproportionate share of society's rewards. Our social instincts do not prepare us to submit to command or tolerate inequality. As a result, our social institutions should resemble a well-broken-in pair of badly fitting boots. We can walk quite a ways in the institutions of complex societies, but at least some segments of society hurt for the effort.“ Richerson/Boyd 2005 S. 195ff. Zur Wiederentdeckung des Größenwachstumsproblems in der Evolutionssoziologie s. auch Turner & Maryanski 2008, 165: „Population as a force in human organization generates a range of selection pressures: More bodies must be supported, reproduced,


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coordinated, and controlled - thus increasing all other forces generating selection pressures.” Dazu mit Literaturhinweisen S. 172 (FN): “It is important to recognize that demographic pressures on the food supply can come about either by an actual increase in population or by a decrease in resources for a stable population. The ideas of Ester Boserup (1965) have been especially influential; she proposed that population growth is the prime mover in triggering technological innovations aimed at increasing agricultural productivity at any stage of human social evolution. Robert Carneiro (1967) has also shown that larger populations are associated with more complex organization.” S. 172ff: “In one sense, this acceleration of sociocultural evolution can be viewed as an increase in the adaptive capacity of society, as functional theorists once argued (e.g., Parsons, 1966). To be sure, there has been an adaptive upgrading as the complexity of societies increased. Yet, complexity also increased problems of regulation—or coordination and control of differentiated sociocultural systems—and there is never a guarantee that the responses to these pressures will be adequate. Indeed, as we will come to appreciate, the evolution of polity and law, along with religion, all worked to increase inequalities that, in turn, raised the potential for conflict and societal disintegration, while at the same time often encouraged warfare among populations—all of which have historically raised the disintegrative potential of human societies. Today, this disintegrative potential still accompanies high- technology societies engaged in both economic and geo-political conflict, and so, we should not assume that responses to selection pressures inevitably lead to better-adapted societies. Indeed, the history of societies on earth is, in a literal sense, the history of disintegration through internal tensions and conflicts, external wars, and ecological degradation and catastrophe.” Freilich sehen Turner und Maryanski hier nicht klar genug, dass Integration und Konflikt zwei Seiten desselben Mechanismus darstellen. 62 In diesem Sinne hat Wieser (im Anschluss an Smith & Szatmary 1995) eine Theorie der evolutionären Systemübergänge entworfen (2003, 207f): „Die Evolution der Evolutionstheorie hat im vergangenen Jahrzehnt zu einer neuen Sichtweise der biologischen Evolution geführt, die auch für die Evolution sozialer Systeme, inklusive der des Menschen, relevant ist. Jeder, der sich heutzutage über die grundsätzlichen Probleme der biologischen Evolution äußern will, hat zu berücksichtigen, daß für die wirklich großen Neuerungen im Verlauf dieses globalen Prozesses nicht bloß von der Umwelt selektierte zufällige Mutationen verantwortlich sind, sondern - auf einer höheren Ebene der Organisation - das Ereignis der Vereinigung biologischer Einheiten mit anderen Einheiten. Die neuen Systemeigenschaften, die als Folge solcher Vereinigungen entstehen sowie die Mechanismen, auf die diese Eigenschaften verweisen, lassen sich durch das Spannungsverhältnis zwischen Kooperation und Kontrolle charakterisieren. Der operative Wert dieser Unterscheidung ist allerdings begrenzt, da die Subtilität, mit der sich Kontrollfunktionen als kooperative Akte tarnen können, nicht leicht zu durchschauen ist. Um die großen Systemübergänge im Verlauf der biologi-schen Evolution beurteilen zu können, ist zunächst die Einsicht wichtig, daß komplexe Systeme - Zellen, Organismen, Gesellschaften, Computer, Autos und so weiter - modular aufgebaut sind. Sie setzen sich nicht wie ein Puzzle aus gleichwertigen Elementen zusammen, sondern aus Einheiten mit einer inneren Struktur, die sich mit anderen strukturierten Einheiten in einem dynamischen Prozeß zu größeren Gebilden verknüpfen, dennoch aber eine gewisse Selbständigkeit bewahren. Die Einsicht in den modularen Aufbau biologischer Systeme hilft uns, die biologische Evolution als eine Serie von Übergängen zu verstehen, bei denen sich jeweils autonome Einheiten mit anderen autonomen Einheiten zu komplexeren Systemen verbinden. In der Geschichte des Lebens auf der Erde haben eine Reihe derartiger Übergänge stattgefunden, von denen jeder den Eindruck einer Zäsur in der biologischen Evolution vermittelt. Für unsere gegen-

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wärtige Betrachtung am aufschlußreichsten dürften die folgenden vier sein: Vor rund zwei Milliarden Jahren vereinigten sich verschiedene Formen urtümlicher kern- und organellenloser (prokaryoter) Zellen zu einem neuen Zelltyp mit enorm erweiterter physiologischer Leistungsfähigkeit. Die Tei-lungsprodukte der so entstandenen eukaryoten Zelle bilden einen integrierten Klon, aus dem durch Differenzierung und Arbeitsteilung ein vielzelliger Organismus entsteht. Individuen einer Art formieren sich zu Gruppen, Familien und komplexeren sozialen Gebilden. Die Erfindung eines neuen Kommunikationsmediums, der Sprache, führte innerhalb der Stammeslinie der Primaten zu einer zweiten Evolution, die die biologische Welt der Art Homo sapiens auf grundsätzliche Weise von der anderer Primaten unterscheidet. Die Bedeutung der großen Übergänge läßt sich daran erkennen, daß diese stets von der Expression radikal neuer Eigenschaften in den evolvierten Systemen begleitet waren. Der Übergang von den kernlosen zu den kernhaltigen Zellen legte zum Beispiel den Grundstein für die Evolution der geschlechtlichen Fortpflanzung, The Masterpiece of Nature - so der Titel des Buches von Graham Bell. Das Zusammenfinden der Geschlechtspartner bedingte wiederum die Entwicklung von Erkennungssystemen, die sich in weiterer Folge als unentbehrlich für die Entfaltung der sozialen Lebensweise erwiesen. Der Übergang von Einzellern zu Vielzellern führte zur Perfektion des Prinzips der Arbeitsteilung in biologischen Systemen. Mit der Trennung eines sterblichen Körpers (dem Phänotyp) von einer im Prinzip unsterblichen Keimbahn (dem Genotyp) betrat der Tod die Bühne der Evolution. Die Erfindung der Sprache machte es möglich, die Wirklichkeit symbolhaft in einem neuen Medium zu repräsentieren.“ Die Voraussetzungen beschreibt Wieser resümierend in seinem Buch über Individualität als evolutionäre Errungenschaft (1998, 554f): „Die Evolution kooperativer Eigenschaften in biologischen Systemen muß von zwei Seiten gesehen werden. Zum einen von der Seite der Teile des Systems, also der Gene, Zellen oder Individuen, die bereit zu sein scheinen, ihre Autonomie einzuschränken, weil sie von der Einbindung in das System profitieren. Zum anderen von der Seite des Systems, das die zentrifugalen, systemzerstörenden Tendenzen der Teile unter Kontrolle halten muß. Das biologische System lebt also einerseits vom scheinbaren Autonomieverzicht der Teile (einem Mechanismus, den man auch als einen altruistischen Akt deuten kann), andererseits von der Ausübung massiver Zwänge zur Stärkung der Kohäsion des Systems. Hinter dieser Alternative verbirgt sich ein grundsätzliches evolutionäres Prinzip: Beim Übergang vom Teil zum System wechseln auch die Angriffspunkte der Selektion. Diese greift entweder am Teil oder am System oder mit unterschiedlicher Stärke an beiden an. Im Falle hochintegrierter Systeme, wie etwa des vielzelligen Organismus, fungiert das gesamte System als die dominierende Einheit der Selektion. Die Systemteile, die Zellen, haben ihre Autonomie weitgehend verloren - aber eben doch nicht vollständig, denn manchmal kehren sie in den Zustand zurück, in dem sie die Ressourcen des Systems ausschließlich zur Förderung ihrer eigenen Vermehrung zu nützen trachten. Im Falle „weniger effektiv integrierter Systeme“ - etwa der individualisierten Gemeinschaften von Säugetieren, greift die Selektion sowohl an den systemaren Zwängen wie an den Eigenschaften der Individuen an. Das kann sich derart ausdrücken, daß unter gewissen Bedingungen - etwa wenn viele ähnliche Gruppen um begrenzte Ressourcen konkurrieren - das Überleben einer Gruppe davon abhängt, inwieweit sie, im Vergleich mit den konkurrierenden Gruppen, ihren inneren Zusammenhalt und die Effizienz ihrer Arbeitsteilung zu stärken imstande ist. Unter anderen Bedingungen, etwa wenn es darum geht, in Katastrophenzeiten neue Ressourcen zu erschließen, könnte dagegen jene Gruppe im Vorteil sein, in der ein besonders führungsstarkes Individuum die Spitze der Dominanzhierarchie erklimmt. Die Erkenntnis, daß die Selektion entweder am Teil oder am System angreifen kann und daß das optimale Verhältnis zwischen


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diesen beiden Möglichkeiten von den jeweils herrschenden ökologischen und sozialen Bedingungen abhängt, ist der Schlüssel zum Verständnis der sozialen Evolution mit ihrer unstillbaren inneren Dynamik. Jene Phasen der Evolution, in denen die Angriffspunkte der Selektion allmählich von Teilen auf Systeme übergehen, können als „die großen Übergänge der Evolution" (The Major Transitions in Evolution, Maynard Smith und Szathmary 1995) bezeichnet werden. Für den heutigen Betrachter markieren diese Systemübergänge echte Stufen oder Zäsuren der biologischen Evolution, an denen meist grundsätzlich neue biologische Phänomene sichtbar werden. So war der Übergang von den kleinen prokaryoten zu den großen eukaryoten Zellen das Ergebnis der Evolution einer symbiontischen Beziehung zwischen Zellen und hatte unter anderem die Globalisierung des aeroben Stoffwechsels sowie die Erfindung der Sexualität (mit all ihren Begleiterscheinungen, wie Reduktionsteilung, genetischer Kombinatorik und interzellulären Erkennungssystemen) zur Folge. Der Übergang vom Einzeller zum vielzelligen Organismus brachte die Trennung von Keimbahn und Soma mit sich und bereitete den Auftritt des Todes auf der Bühne der Evolution vor. Während die kombinatorischen Mechanismen der sexuellen Fortpflanzungsweise die genotypische Einzig-artigkeit des eukaryoten Individuums begründeten, verantwortet die Trennung von Keimbahn und Soma dessen phänotypische Einzigartigkeit. Diese wurzelt in somatischen Veränderungen und epigenetischen Zwängen, die die Entwicklung des Individuums in spezifische Bahnen lenken. Vor allem aber verdankt der Phänotyp seine Einzigartigkeit der Spezifität, mit der Immunsystem und Gehirn sämtliche Einflüsse aus der Umwelt verarbeiten, so daß sogar genetisch identische Angehörige eines Klons den Charakter von Persönlichkeiten mit jeweils einzigartigen Lebensläufen ‚erwerben‘.“ 63 Auch für Marion Blute ist das zentrale Argument für zunehmende Komplexität innerhalb der natürlichen und der kulturellen Evolution die Vermeidung von Konkurrenzkonflikten: „…how can we reconcile the evidence from McShea and colleagues against cross-lineage trends towards increasing complexity with the argument that, because speciation is densitydependent, later-evolved species should tend to be bigger and probably more complex than earlier ones. The answer would seem to be that new species tend not to be competing with each other. If they did, perfectly, i.e. in all respects, according to the competitive exclusion principle, they could not coexist. There is a limit to the number of "me-too" drugs a market can support, for example. Instead, new species along with becoming reproductively isolated, normally diverge from each other in the way they act and the niche they occupy and that is the point of all three kinds of speciation. The allopatric do not compete for spatial reasons, the sympatric do not compete for ecological reasons, and the sexually selected do not compete for ecological reasons within one gender and social reasons within the other. (Blute 2010:187) … The single most important idea about the evolution of complexity introduced in the past decade or so was that of Maynard Smith and Szathmary (1995:3) who viewed the existence of complex individuals as a result of "major transitions in evolution". Such major transitions have in common that "entities capable of independent replication became able to do so only as part of a larger whole" (prokaryote cells incorporated into eukaryotes, protists in multicellular individuals, and solitary individuals in colonies with non-reproductive casts, for example). The components of new levels of organization and selection in their view could emerge by duplication, symbiosis or epigenesis. They thought that the advantage to individuals, similarity, a tendency to irreversibility, and many to suppress the selfish could commonly explain such transitions but often the advantages of a division of labour - "the efficiency of specialized organs" as well as the emergence of "new materials and mechanisms of heredity" (p. 12) were required as well. (Blute 2010: 189)

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64 Im Hinblick auf eine angemessene Beschreibung der Konfliktlinien, die in dieser Konstellation auf der Makroebene – vermittelt über religiöse Formen der Konfliktverarbeitung auf der Mikroebene - zur Wirkung kommen, wäre hier (bzw. im letzten Abschnitt) eine Passage einzufügen über demographische Entwicklungen, Bevölkerungspolitik und die Ursachen kriegerischer Konflikte in Folge eines Überschusses an jungen Männern (i.S. der von Huntington und Heinsohn aufgegriffenen Youth-BulgeHypothese von Bouthol). (S. schon m. Anm. zu Luhmanns Demographie-These im 1. Abschnitt). 65 Wenn die These richtig ist, dass die Verlagerung von Selektionsdruck vom Individuum auf das Sozialsystem keine Besonderheit der menschlichen Gattungsgeschichte ist, sondern als evolutionäre Errungenschaft weit in die Naturgeschichte der Arten zurückreicht, dann ist auch anzunehmen, dass die Entwicklung divergenter Verhaltensmuster für interne und externe Beziehungen bereits zum vormenschlichen Erbe der Menschheit gehört und ihre Geschichte von Anfang an begleitet hat.

Dies vorausgesetzt lässt sich die häufig diskutierte Frage, ob Werkzeug- oder Sprachgebrauch grundlegend für die Evolution der Menschheit entlang der Innen-Außen-Unterscheidung auflösen: Sprachgebrauch für die Binnenstabilität der Sozialsysteme und Werkzeuggebrauch für die aktive Einrichtung in der ökologischen Nische. Die Bedeutung des Werkzeuggebrauchs für die kulturelle Evolution wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass die meisten Werkzeuge auch als Waffen – und nicht nur zur Jagd, sondern auch zur kriegerischen Auseinandersetzung – geeignet waren. Diese Wirkung sollte jedoch nicht dahingehend interpretiert werden, dass auch der Sprachgebrauch nur noch als Derivat des Werkzeuggebrauchs erscheint. Alsbergs diesbezügliche Deutung erscheint nicht nur als Überdehnung der Analogie im Hinblick auf Techniken der Distanzgewinnung. Sie verkennt auch die grundlegende Bedeutung, die der Sprache für die Binnenstabilität sozialer Systeme (Konfliktvermeidung und Kooperationsbereitschaft) zukommt und die im Prozess der Hominisation zunächst in einer gesten- und mimikgesteuerten „Sprache der Emotionen“ (Turner/Maryanski 2008, 104ff.) zur Wirkung kommt. Erst im Fortgang der kulturellen Evolution – mit zunehmender Binnendifferenzierung der Sozialsysteme - ist dann auch ein Kreuzen der evolutionären Errungenschaften für den Innen- und Außengebrauch zu beobachten: Ein reflexiv-distanzierter Gebrauch der Sprache (vielfältig gesteigert mit den technisch erweiterten Kommunikationsmitteln) und ein symbolisch reflektierter (und dadurch technisch steigerbarer) Gebrauch von Werkzeugen.


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66 An dieser Stelle wäre noch zu prüfen, inwieweit auch Luhmanns strikte Abgrenzung von Soziobiologie noch als Folge der neodarwinistischen Reduktion auf Individuen (als Vehikel ihrer Gene) zu interpretieren ist. Jedenfalls sind die in der folgenden Passage von Luhmann reklamierten Freiheitsgrade sozialer Systeme auch im Rahmen der Darwinschen Theorie der Gruppenselektion denkbar: „Hiermit wird auf grundsätzliche Weise dem Forschungsprogramm der Soziobiologie widersprochen. Die genetische Determination des Lebens ist ein unbestrittener Ausgangspunkt. Aber daraus folgt gerade nicht, daß auch Sozialordnungen von da aus determiniert seien (wobei natürlich zu konzedieren ist, daß keine Sozialordnung Bestand haben kann, die verlangen würde, daß die Menschen ständig auf den Händen statt auf den Füssen laufen). Vielmehr wird die genetische Determination des Lebens kompensiert durch eine mit hohen (kann man sagen: höheren?) Freiheitsgraden ausgestattete gesellschaftliche Ordnung sozialer Systeme. Und diese entwickelt Strukturdeterminationen eigenen Typs.“ Luhmann 1997, 438f) 67 Hier evtl. noch eine Passage zum Differenzierungskonzept in der biologischen Evolutionstheorie: Neue Arten entstehen durch Differenzierung. Der Wirkungsmechanismus ist immer Selektion mit Abweichungen. Die Zahl der Mutanten in einer Population vermehrt sich - bis zum Punkt, wo eine neue Art entsteht - wenn diese besser an ihre Umwelt angepasst sind. Dies ist nicht so zu verstehen, als ob allein die Umwelt kausal wirksam wäre. Wenn sich eine Population so sehr vermehrt, dass die in ihrer Umwelt gegebenen Ressourcen nicht mehr zum Überleben ausreichen, dann hat sich nicht die Umwelt verändert, sondern die Population. Dies gilt auch für die Koexistenz verschiedener Arten unter gegebenen Umweltbedingungen. Die Erstbesiedlung eines natürlichen Raums erfolgt gewöhnlich durch sehr einfache Organismen, die die vorhandenen Ressourcen für sich allein nutzen. Jede neu hinzukommende Art muss einen komplizierteren Organismus aufweisen, um zu überleben. Sie hat vielleicht andere Verdauungsorgane als die erstbesiedelnde Art und kann sich deshalb andere Umweltressourcen erschließen. Sie kann überleben, weil sie in dieser Hinsicht mit der erstbesiedelnden Art gar nicht konkurriert. Man könnte also auch sagen, sie lebt in einer anderen Umwelt. Auch in der Evolution der Arten steht Differenzierung also im Dienst der Vermeidung von Konkurrenzkonflikten. S. dazu auch schon die an Darwin anschließenden Passagen in den o.a. Durkheim-Zitaten. Zur Weiterentwicklung des evolutionsbiologischen Differenzierungskonzepts s. E.Mayr, 2003, 216230. 68 Hier liegt der Anschlußpunkt für eine Theorie sozialer Systeme, die primär deren Eigenselektivität herausstellt. Luhmann hat dies nicht so gesehen, sondern eher auf einer grundsätzlichen Revision Darwinscher Theorieprämissen insitiert: „Solange man mit Dar-

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win von einer "natürlichen Selektion" durch die Umwelt ausging, lag darin zugleich eine Garantie für Stabilität. Nicht alle, aber die gut angepaßten Systeme galten deshalb als stabil, solange die Umwelt sich nicht ändert. Eine besondere Funktion der Restabilisierung kam nicht in Frage. Das wird anders, wenn man das Prinzip der natürlichen Selektion aufgibt und die Evolutionstheorie auf Co-Evolution strukturell gekoppelter, autopoietischer Systeme umstellt. Dann müssen diese Systeme selbst für ihre Stabilität sorgen, um weiterhin an Evolution teilnehmen zu können. Man braucht jetzt drei evolutionäre Funktionen oder Mechanismen, von denen Variation und Selektion Ereignisse bezeichnen, die Funktion der Restabilisierung dagegen die Selbstorganisation evoluierender Systeme als Voraussetzung dafür, daß Variation und Selektion überhaupt möglich sind.“ (Luhmann 1997, 426f) „Schon in der über Spencer und Darwin hinausgehenden Evolutionstheorie haben sich schwerwiegende Bedenken gegen die Annahme ergeben, über "natural selection" würden die bestangepaßten (oder doch: die am wenigsten schlecht angepaßten) Systeme zum Überleben ausgewählt. Irritiert hat ferner, daß offensichtlich manche Arten von Lebewesen über Jahrmillionen unverändert existieren können, während andere durch Anpassungsdruck evoluieren. Außerdem gibt es in sehr vielen Fällen — und diese Einsicht ist für die Evolutionstheorie erklärungswesentlich — Angepaßtsein schon vor dem Bedarf. So gab es schon vor der Erfindung des DDT daran angepaßte Insekten, die dann überleben konnten. Im allgemeinen beschränkt die biologische Kritik des älteren Adaptionismus sich auf die Feststellung, daß nicht alle Veränderungen der Phänotypik von Lebewesen als bessere Anpassung erklärt werden können. Erst die Theorie autopoietischer Systeme erzwingt eine begriffliche Revision. Für sie ist Angepaßtsein Voraussetzung, nicht Resultat von Evolution; und Resultat dann allenfalls in dem Sinne, daß die Evolution ihr Material zerstört, wenn sie Angepaßtsein nicht länger garantieren kann. Die Erklärungslast trägt jetzt der Begriff der "strukturellen Kopplung".“ (Luhmann 1997 445f.) Der Begriff der strukturellen Koppelung, mit dem sich Luhmann explizit gegen das in der Evolutionsbiologie verwendete Konzept der ökologischen Nische wendet (vgl. neuerdings Odling-Smee u.a. 2003) ist jedoch auffällig unterbestimmt geblieben. 69 Schon Simmel hat (u.a. in seinem Fragment über die Liebe 1923) darauf hingewiesen, dass unter dem Schutzschirm kultureller Sozialsysteme Emotionen, die der biologischen Fortpflanzung (oder auch dem Überleben) dienen, sich in selbständige Zwecke (oder Werte) verwandeln können. Diese Transformation hat jedoch nicht erst mit der Romanliteratur des 18. Jahrhunderts begonnen – wie Luhmanns häufig nachgeahmte These lautet – sondern ist einerseits ein grundlegender Bestandteil der kulturellen Evolution und andererseits – wie sich an dem krebsartigen Wachstum der Menschheit unter der Propaganda ihrer Liebesreligionen zeigt – doch nicht abkoppelbar von der Tragfähigkeit der ökologischen Nische. 70 In Sober & Wilson (1989; 6f.) werden mögliche Konflikte zwischen verschiedenen Ebenen der Selektion wiefolgt beschrieben: “i. A population is subdivided into a number of groups (see Uyenoyama & Feldman, 1980; Wilson, 1983; and Sober, 1984, for the technical definition of groups). ii. Groups vary in properties that affect the number of dispersing progeny (group fitness). iii. Variation in group fitness is caused by underlying genetic variation that is heritable, i.e. the average effects of the elements composing the groups (alleles and individuals) are not all equal to each other. iv. No differences exist in the fitness of individuals within groups. When these conditions are met, natural selection endows groups with the same properties of functional organization that we normally associate with individual organisms. Individuals can properly be viewed as genes/organs within a superorganism, and this interpretation is consistent with the fact that some types of individuals are more fit than others, averaged across all groups.


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Superorganisms therefore are fully compatible with modern evolutionary theory. It can be argued, however, that the conditions are so unrealistic that superorganisms do not exist in nature. Many populations are not structured into groups [condition (i)], and when they are the groups are sometimes so large that negligible genetic variation exists between them [condition (iii)]. By far the most fragile assumption, however, involves the lack of differences in the survival and reproduction of individuals within groups [condition (iv)]. Returning to the aquatic insect example, if we assume that detoxifying the water is energetically costly, then Atypes will have fewer offspring than a-types from the same group. The trait is disfavored by natural selection operating within groups, at the same time it is favored by natural selection operating between groups. We therefore have a conflict between levels of selection, and the outcome depends on their relative strengths. Notice that if within-group selection "wins", then the water simply remains polluted water and does not take on the functionally analogous properties of blood. We can generalize from this example as follows: natural selection can act both within a unit (favoring some elements of the unit over others) and between units (favoring some units over others). When within-unit selection overwhelms between-unit selection, the unit becomes a collection or organisms without itself having the properties of an organism, in the formal sense of the word. When between-unit selection overwhelms within-unit selection, the unit itself becomes an organism in the formal sense of the word. This framework, which equates "individual selection" with "within-group selection", avoids the logical contradiction mentioned above. In our opinion it has several important implications. First, it prevents the concept of superorganisms from being overly grandiose. Not all groups and communities are superorganisms, but only those that meet the specified (and often stringent) conditions. Second, it prevents the concept of individual selection from being overly grandiose. Not all adaptations evolve at the individual level; a trait does not count as an individual adaptation just because those possessing it are, on average, fitter than those that do not. Third, conflicts between levels of selection do not always result in one level "winning" and another "losing". Sometimes the results is a "compromise", and the unit must be regarded as partially a collection of organisms and partially a superorganism in its own right. Sex ratio evolution provides a superb example of conflicts among three levels of selection; the gene, the individual, and the group. For groups with an abundance of resources that persist for several generations, between-group selection by itself favors a highly female-biased sex ratio, which maximizes the productivity of the group (Williams, 1966; Colwell, 1981; Wilson & Colwell, 1981; Charnov, 1982; Frank, 1983, 1986). Within-group selection, however, favors an equal investment in sons and daughters, which maximizes the fitness of parents relative to others in the same group (Fisher, 1958; Williams, 1966). The sex ratio that actually evolves depends on the relative strengths of the two opposing levels of selection. Many species that are sub-divided into small multigenerational groups possess moderately female biased sex ratios, signifying that both within- and between-group selection have figured in the evolution of the trait (Aviles 1986; Charnov, 1982; Frank, 1983; Hamilton, 1967; Wilson & Colwell, 1981). At least as far as sex ratio is concerned, these groups are intermediate between superorganisms and mere collections of organisms. Attempts to explain the entire pattern as the maximization of individual fitness, "without invoking group selection" (e.g., Grafen, 1984; Nunney, 19856; Maynard Smith, 1987a,b), uniformly fall prey to the logical contradiction outlined above, by employing a definition of individual selection that averages the fitness of individuals across groups. Within-individual selection—the differential reproduction of genetic elements within single individuals—normally is suppressed by the rules of meiosis, which insure that the alleles on diploid

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chromosomes are equally represented in sperm and eggs. The rules of meiosis sometimes are broken, however, and in any case do not apply to genetic elements located in the cytoplasm (Cosmides & Tooby, 1981). Two such elements that affect sex ratio have been studied in a tiny parasitic wasp (Pteromalidae, Nasonia vitripennis). The first resides in the cytoplasm and is transmitted only through eggs, not sperm. Females bearing this element produce all daughters, which is adaptive for the cytoplasmic element but not for the chromosomal DNA in the same wasp (Skinner, 1982). The second element is transmitted only through sperm, but is not a part of the chromosomal DNA. Wasps have a haplo-diploid genetic system in which daughters and sons develop from fertilized and unfertilized eggs, respectively. Consider a male containing this second element that mates with a female. Sons develop from unfertilized eggs, and therefore will not contain the element. Daughters develop from fertilized eggs and will contain the element, but (being females) will not make sperm. How then is the element transmitted? It actually destroys the paternal chromosomes, converting the fertilized egg into a haploid that develops into a male (Werren et al., 1981; Werren et al., 1987). This is the ultimate in conflict between genetic elements within single individuals. Examples of within-individual selection are fascinating, because they show how much the concept of organism depends on functional organization, and how much functional organization depends on the level at which natural selection operates. The rules of meiosis usually allow between-individual selection to dominate within- individual selection, which endows individuals with the functional organization that we take for granted. In those cases where the rules of meiosis break down, however, it is the genetic elements that acquire the status of purposeful organisms. At least as far as sex ratio is concerned, the wasp is partially a mere collection of quarreling genes, without itself having the functional organization required by the formal definition of organism.” 71 Der hier verfolgte Bezug auf Konkurrenzkonflikte als Auslöser sozialer Differenzierung könnte das Missverständnis nahelegen, die menschliche Natur sei primär egoistisch. Aber auch der Altruismus ist schon ein Ausdruck evolutionärer Gruppenselektion und deshalb nicht weniger natürlich. Der Aufwand der getrieben wird, um zu beweisen, dass der Mensch „im Grunde“ doch egoistisch oder doch altruistisch sei, wäre selbst eine wissenschaftssoziologische Untersuchung wert. Im Hinblick auf Kooperation s. Tomasello 2010, Nowak 2011. Zu dem gesteigerten Selektionsdruck, der auf den Individuen in soziokulturellen Sozialsystemen lastet s. Turner/Maryanski 2008. 72 In diesem Sinne Luhmann 1977: „... internal differentiation fulfills one of the evolutionary functions since it provides the mechanism of stabilization. Systems within systems reproduce increasingly improbable behavior patterns and problem solutions and maintain evolutionary accomplishments (but also nonfunctional, or even dysfunctional, traits or survivals) within a zone of indifference against the fluctuations of outer and inner environments. If this is true, forms of internal differentiation can be supposed to affect evolution. Segmentation, stratification, and functional differentiation are not only different (but functionally equivalent) ways to retain and reproduce evolved traits. In doing this, they affect the interplay of the evolutionary mechanisms. For these mechanisms are not simply a list of requirements that have to be met additionally to bring about evolution; they are interdependent functions in the sense that the way in which one of these functions is fulfilled influences the span of possibilities of the others. Thus, functional differentiation increases and differentiates the horizon of possibilities for each subsystem. It stimulates variation and raises the requirements for selective operations to an extent that would be incompatible with any other form of retentive stabilization. It thereby accelerates evolution, and this again limits the range of possible innovations that can be retained. Under the condition of extreme functional differentation, structural changes


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begin to outrun each other without having enough time to settle down and to test their best possibilities; then, speed itself becomes the predominant factor of selection.“ Wenn Luhmann die Binnendifferenzierung sozialer Systeme in diesem Sinne als einen Mechanismus der Restabilisierung innerhalb der kulturellen Evolution bezeichnet, dann wirft dies in evolutionstheoretischer Perspektive aber die Frage auf, wie ein Mechanismus, der evolutionär so unwahrscheinliche, also riskante Formen hervorbringt, zugleich als Mechanismus der Stabilisierung bezeichnet werden kann. Dies ist nur denkbar, wenn man der kulturellen Evolution eine sehr weitgehende (in dieser Hinsicht risikolose) Unabhängigkeit von ihren natürlichen Voraussetzungen zuschreibt. 73 Die grundlagentheoretische Weichenstellung, die Luhmann mit der System-Umwelt-Unterscheidung getroffen hat, soll hier also verteidigt werden. Mit der Erneuerung der evolutionstheoretischen Grundlagen sozialer Systembildung ist allerdings eine Revision ihrer konstruktivistisch reduzierten Begründung verbunden. In diesem Sinne auch Stichweh: “From the migration of founder populations and the geographical spread of mankind over the whole earth new speciation events never arose, as one might have supposed from a biological, naturalistic point of view. Instead only an enormous cultural diversification of different regions of the world came about and this was the precondition for the later emergence of world society as based on the possibility of integrating the cultural diversity of the world into one human communication system.” (Stichweh 2007:6) Wenn kulturelle Differenzierung zum funktionalen Äquivalent für Artendifferenzierung wurde, dann ist dies zu erklären durch die unter dem sozialen Schutzschirm – der Gruppenselektion - ermöglichte Subsitution von Anpassung der Organismen durch Anpassung ihrer Sozialsysteme. 74 Wenn die Darwinsche Begrifflichkeit nicht nur metaphorisch oder analogisch auf kulturelle Phänomene übertragen werden soll, wenn vielmehr diese Phänomene eingebettet in die Naturevolution betrachtet werden sollen, dann muss der erste Schritt der Darstellung darin bestehen, verschiedene Ebenen innerhalb der natürlichen Evolution zu unterscheiden. Phänomene der kulturellen Evolution sind nicht mit Phänomenen der Evolution auf der Ebene der Individuen innerhalb einer Population zu vergleichen, sondern mit Phänomenen der Evolution auf der Ebene von Gruppen und Populationen innerhalb einer ökologischen Nische. Kulturelle Evolution ist als Sonderfall von Gruppenevolution zu betrachten. (Sober/Wilson 1998, Nowak 2011) Im Blick auf die Evolution natürlicher Arten ist (mit Darwin in der Lesart von E.Mayr, 1979) davon auszugehen, dass die natürliche Selektion primär in der Konkurrenz der Individuen um knappe Umweltressourcen und ihre Fortpflanzungschancen einsetzt. Eine solche Betrachtung schließt Effekte auf höheraggregierter Ebene – also Gruppenselektion – nicht aus. Die in der Evolutionsbiologie vertretene Tendenz, den Zugriffspunkt der Selektion auf die Ebene der Gene zu reduzieren (Williams, 1966; Dawkins, 1976) führt dagegen zu einer Konfusion der kausal unabhängigen Mechanismen der Replikation und der Selektion. Die basalen Replikationseinheiten sind jedoch nicht in der Lage, selbständig mit der Umwelt der Individuen zu interagieren. Sie fungieren als passive Medien der Umweltselektion („book-keepers“ – Gould, 2002). Es gibt gute Gründe, Wirkungen der Selektion auf der molekulargenetischen Ebene in evolutionstheoretische Erklärungen einzubeziehen. Es gibt aber auch gute Gründe, die Angriffspunkte der natürlichen Selektion auf Ebenen oberhalb der Individuen zu beobachten. Die Evolution des Menschen in seiner soziokulturellen Nische ist als Sonderfall dieser hierarchisch aufgestuften und natürlich eingebetteten Selektion zu verstehen. Hier ist zu erkennen, dass Gruppenevolution die organismische Adaptation ersetzen kann. Im Hinblick auf die Besonderheiten der kulturellen Evolution ist also eine zweifache Verlagerung zu beschreiben: Zum Einen verlagert sich der Selektionsdruck von der natürlichen Umwelt in die soziale Umwelt der Gruppe oder Population – zum Anderen ver-

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lagert sich der Angriffspunkt der Selektion von den Individuen zu den internalisierten handlungsleitenden Erwartungen der Individuen. Sofern es sich dabei nur um die Erwartungen Einzelner handelt, bleibt auch der Angriffspunkt der kulturellen Selektion auf Individuen (ihre Lebenschancen, Karrieren) fixiert. Die für die Soziologie interessanteren Phänomene sind jedoch dort zu beobachten, wo es sich um die Konkurrenz der geteilten Erwartungen Vieler oder die dominanten Erwartungsstrukturen ganzer Populationen handelt. Damit greift die kulturelle Umweltselektion auf die Wissensstrukturen großer sozialer Einheiten zu. Sie eliminiert unpassende Teile und ermöglicht die Restabilisierung des Wissensvorrats in veränderter Form. 75 Ich zitiere eine längere Passage von Parsons (Appendix zu Family, Socialization and Interaction Process, 1955, 395-399) an der ich bemerkenswert finde, dass Parsons im Bezug auf die biologische Evolutionstheorie zwar zunächst vorsichtig nur von Analogien spricht – und dabei mit der Analogie zur organischen Entwicklung beginnt (vgl. die Kritik von Blute 1979) - dann aber auf die zentralen Ebenunterscheidungen in der Evolutionsbiologie rekurriert und sich am Ende doch zu einem naturalistischen Monismus bekennt. “The material which has been reviewed in the last three main chapters of this volume will have suggested to a reader familiar with biological theory that there were a number of rather striking analogies between the type of theoretical constructs we have developed here and certain ideas which are current in biological thinking. Our argument for our theoretical constructs in the sociopsychological field does not rest either logically or empirically on these analogies; it stands on its own feet. But the biological analogies have had some suggestive influence on their development. In any case they are of considerable interest and may possibly turn out to be important. It has hence seemed worth while to call the reader's attention to them in this appended note. The first of the analogies will probably have struck many readers independently. This is that involving the conception we presented in Chapter II of the process of personality development as first establishing a single internalized object-motive system, which then underwent a process of differentiation and integration by binary fission. The biological model which corresponds to this is of course the conception that the first step in development is fertilization, only then to be followed by division of the fertilized ovum, a process which then follows the binary pattern. One may speak of the two elements which correspond analogically to the female and the male germ cells (ovum and spermatozoon) respectively as the "organism" of the neonate on the one hand, the set of cultural norms or values on the other hand. Only when a certain organization, combining as we have put it motivational elements and cultural elements, has been set up, does the process of development in our sense get under way. Then again in both cases this development goes by relatively discontinuous stages as in the case of the earliest embryological stages; a two-cell, four-cell, eightcell etc. stage. This of course comprises only the very early embryological stages of complex organisms but the similarity of pattern is unmistakable. It seems to us probable that this pattern of binary fission is of very general significance in the world of nature. Recent developments in linguistics (Wallon, Jacobsen, Levi-Strauss) have laid great stress on it. Similarly, it is well known that a similar pattern, in the form of the concept of the "bit," plays a central part in the theory of communication in the physical-engineering sense. It is suggested that with respect to any system, binary division presents the most "economical" way of taking any given step from relative simplicity to a higher level of complexity. We suggest that a similar idea is likely to be fruitful in the analysis of evolution of social structures. The second suggestive analogy is that between the role of the gene, as the unit of heredity in biological systems, and the units of cultural inheritance through internalization and institutionalization. In a very broad way of course this has been a commonplace,


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theorists of culture having often spoken of the "social heritage." But the kind of analysis we have given of the process of internalization of social object systems makes it possible to carry the analogy considerably farther than has been customary in the field. The cultural aspect of an internalized object is what we have called a "symbol-meaning" complex. Culture from this point of view, in its impact on the developing personality, is not continuous, but is "fed in" in relatively discrete organized units, which in turn are parts of more extensive systems, especially through what, in Chapter IV we have called the mechanisms of "induction" and "identification." Is not, possibly, such a unit fairly closely analogous to a gene? It also is now held by biologists that the gene is not a "monolithic" entity but is a boundary-maintaining system, which under certain circumstances undergoes processes of change. Furthermore, there are not genes on just one microscopicmacroscopic level, but on many such levels; the choice of unit, that is to say, may be relative to the problem in hand. Clearly all these properties are shared by the cultural element of the internalized object as an organized subsystem of the culture which can be transmitted with minimal change from one personality to another, and in an analogous way from one social system to another. The whole view of socialization we have presented in this volume gives substance to the idea that we have here a complex of mechanisms of transmission which are essential to the stability and development of socio- cultural systems. The third analogy we have in mind is that between sexual reproduction as a biological process, and the transmission of culture through families the composition of which is regulated by exogamy and incest taboos. This is essentially an extension of the analogy between gene and cultural symbol-complex. Through sexual reproduction, which of course is universal among the higher organisms, it is insured that the hereditary constitutions of all new organisms will derive from two relatively independent reservoirs of genes, not just from one. The great biological importance of this apparently has largely to do with variation; it is a mechanism which continually produces new combinations. On the other hand the fact that distinct species do not interbreed sets a limit to this variation which has something to do with preventing its becoming too drastically disorganizing. It is, therefore, a controlled variation. Though change in the germ plasm is slow, the presumption is that without the variation introduced by sexual reproduction it would be far slower, and hence the process of evolution greatly inhibited. It is further emphasized on biological grounds that the functional advantage of sexual reproduction cannot possibly rest in its superior efficiency as a reproductive mechanism. Its functional significance is to the species as a system, not to the immediate parent-offspring continuity. The action-theory analogy is a sociological one. The incest taboo insures that no newly socialized child receives his cultural heritage from only one line of descent. His parents have been socialized in two independent nuclear families and the internalized culture of his own personality will, with respect to the foundations laid down in his family of orientation, be a resultant of combining these two partially independent heritages. There is, in such a situation, far greater potentiality of cultural variation than there would be if the mixing of the cultures of families were not forced by the incest taboo. But at the same time the fact that the individual is socialized in a family which has its own imperatives of integration as a system, insures that there will in the interest of stability be limits set to the variation. If the marriage pair—and wider kinship groups in which they are integrated — do not have sufficient common culture to constitute a stable family type, they will not contribute greatly to the future culture of the society. Furthermore there is reason to believe that a poorly integrated family tends to produce more than its share of psychopathologically burdened offspring, who are not, relatively speaking socio- culturally viable; they are less likely to leave cultural descendants than others.

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Again, similarly to the biological case, it does not seem possible to explain the incest taboo on grounds of its functional utility to the particular nuclear family. In going societies it is built into the family structure so that incest would in general be disorganizing to individual families as we know them, but this is probably a resultant phenomenon. The taboo roots in the importance of transcending the nuclear family by a wider social organization. There is still a fourth suggestive field of analogy. Throughout our discussions a certain feature of the conception of systems of action with which we have been working stands out. This is the separation of the "latency cell" of our tables out from the other three. It is in this aspect or part of the system that we put the internalized or institutionalized "pattern-system." It is held to be relatively stable compared to the rest of the system, and not in the same sense involved in direct input-output interchanges over the boundaries of the system; in this sense it is "inside" the system, "surrounded" by the other parts or subsystems. Its relative stability is also related to the processes of transmission of culture; it changes mostly in the "radical" learning processes of which socialization is a prototype. It is not a very drastic leap to see in this an analogy with the biological structure of the cell, the division between nucleus and cytoplasm. Biologically it is clear that the genes are carried in the nucleus. Only in the processes of cell division presumably do radical changes in the nucleus take place; it is certainly less involved than the cytoplasm in the ordinary physiological interchanges with the environment of the cell; it is relatively insulated from them. Similar analogies can certainly be seen with differentiation of the complex organism; the sensory and motor systems, the respiratory and alimentary systems are directly involved in adjustments to the environment; the skeleton, the main structure of the central nervous system etc. are insulated from such influences. But we will not attempt to push the analogies farther here. The simpler nucleus-cytoplasm case is probably more apposite. A fifth analogy may, even more tentatively, be finally suggested. This is between the family in a highly differentiated society and the germ plasm of the higher organisms. If our suggestions about the analogy between gene and cultural symbol-complex have anything in them, it is quite clear sociologically that the family is universally in all societies the primary organ for the transmission of the fundamentals of the patterns of culture. In very primitive societies the whole social structure is organized about kinship— though never the nuclear family alone. But in highly differentiated societies like those of the modern Western world, the family has become a rather "specialized" agency and participates as such little in the macroscopic structures of the society—though of course its members do so in non-familial roles. It, and, in other for present purposes less fundamental respects, agencies of formal education, have similar functions. But with biological evolution the perpetuation of the genetic basis of the species ceases to be a function of the organism as a whole and comes to be specialized in a particular, rather specially protected, part of it. Is not this also a trend which accompanies the differentiation of social systems? We do not wish on this occasion to attempt to assess the possible significance of these analogies. Only one suggestion will be made. By and large the biological and socio-psychological points of view from which they are suggested are relatively recent. It seems possible that the conflict between the two fields which marked what might be called the "war of independence" of the sciences of action to emancipate themselves from the biological sciences of fifty years ago, was bound to a particular stage in the development of both fields. It seems altogether possible that as both reach higher levels it will become increasingly clear that a common conceptual scheme underlies theory in both of them. This is logical if we assume, as I think we must, that human personality and society are best conceived as in the broadest sense "in nature" as not as set "over against" nature. Biology is our nearest neighbor in the community of sciences and such substan-


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tive relationships should be expected. We are both part of the same larger "community" of human knowledge.” 76 In dem programmatischen Aufsatz über „Interaktion, Organisation, Gesellschaft“ von 1975 finden sich bei Luhmann noch deutliche Hinweise darauf, dass ältere Gesellschaftsformen stark anfällig für Konflikte waren, sie also unterdrücken mussten, während die Moderne (durch Differenzierung) die Konflikttoleranz gesteigert hat. In späteren Beiträgen reduziert sich Luhmanns Konflikttheorie dann auf die – nur aus moderner Sicht zu rechtfertigende – ahistorische Aussage, dass Konflikte selbst stark integrierte Systeme seien. (Diese Auffassung allerdings bereits in der Formenlehre von Simmel.) [Diese Entwicklung der Luhmannschen Konflikttheorie hier noch an Texten zu belegen.] Luhmann führt in einem Kapitel seiner allgemeinen Theorie sozialer Systeme zwar „Widerspruch und Konflikt“ kommunikationstheoretisch ein – verknüpft diese Beschreibung jedoch nicht mit der Beschreibung der Selektivität durch Regulierung von Konkurrenzkonflikten in der Evolution kultureller Sozialsysteme. Er beschreibt Konflikt als eine „parasitär“ abweichende Form von Systembildung und nicht als Bestandteil oder Voraussetzung des Selektionsmechanismus der kulturellen Evolution. An anderer Stelle (1991, 185f) führt Luhmann Konflikte (neben dem endogenen Variationspotential der Sprache) allerdings als Moment des Variationsmechanismus ein. Das ist in einem fundamentalen Sinne richtig, wenn man bedenkt, dass einfache Sozialsysteme prinzipiell darauf angelegt sind, Variation zu vermeiden (d.h. ihre Strukturen gewissermaßen fehlerfrei zu reproduzieren). Insofern ist jede Abweichung konfliktiv. Es erscheint dann jedoch als Bruch in der Theoriearchitektur, wenn „Institutionen der Konfliktkontrolle“ im Hinblick auf Variation den technisch erweiterten Kommunikationsmitteln gleichgesetzt werden. Als Selektionsmechanismus führt Luhman allgemein den „kommunikativen Erfolg“ (oder Mißerfolg) ein, der durch symbolisch generalisierten Mediencodes der Funktionssysteme ermöglicht wird. Diese Bezeichnung des kulturellen Selektionsmechanismus stellt jedoch m.E. eine Übergeneralisierung von (kommunikationstechnisch verselbständigten) Phänomenen dar, die so nur in der modernen Gesellschaft, also unter Bedingungen funktionaler Differenzierung zu beobachten sind. Dabei wird vorschnell abstrahiert von der Konkurrenz der Akteure und den AkteursPublikums-Beziehungen, in denen die Konkurrenz stattfindet, über die die innergesellschaftliche Selektion sich vollzieht. In seiner früheren Ausarbeitung zur politischen Soziologie hatte Luhmann noch die Publikumsbeziehungen und nicht das Medium Macht in den Mittelpunkt gestellt. Zur Funktion der OrganisationPublikumsbeziehungen als Selektionsmechanismus s. auch Beetz, 2010b, 191ff mit der Gegenüberstellung von Organisation und Öffentlichkeit, zum Publikum als Träger von Differenzierungsprozessen - s. auch Kern 2011 Luhmann sieht den Selektionsmechanismus der kulturellen Evolution für die Moderne realisiert durch die symbolisch generalisierten Medien der Funktionssysteme. Aufgrund der Prämissen des Autopoiesis-Konzepts ergibt sich dann jedoch das selbsterzeugte Problem, dass es für einige Funktionssysteme gar keinen Selektionsmechanismus gäbe. So muss Luhmann darauf hinweisen, „daß symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien nur für Funktionsbereiche geeignet sind, in denen das Problem und der angestrebte Erfolg in der Kommunikation selbst liegen. Ihre Funktion ist erfüllt, wenn die Selektion einer Kommunikation weiteren Kommunikationen als Prämisse zugrunde gelegt wird. Sie eignen sich deshalb nicht für Kommunikationsbereiche, deren Funktion in einer Änderung der Umwelt liegt — sei dies eine Änderung der physisch-chemisch-biologischen Umstände, sei es eine Änderung menschlicher Körper, sei es eine Änderung von Bewußtsseinsstrukturen. Es gibt deshalb keine symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien für Technologie, für Krankenbehandlung und für Erziehung.“ (Luhmann 1997, 407) Die Wirkungsweise des Selektionsmechanismus erscheint bei Luhmann auch deshalb eher unterbelichtet, weil er für kulturelle

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Sozialsysteme von struktureller Unterdetermination (Kontingenz) ausgeht, die dann Selektivität wie von selbst erzeugt. (Luhmann 1975b, 156; 1984, 150) Wenn aber jede Operation Anschlußselektion schon quasi-automatisch erzeugt, dann ist kein Bedarf mehr für die Beschreibung von anspruchsvolleren Formen sozialer Binnenselektivität (Fragen der kulturellen Regulierung von Konkurrenz). Luhmanns grundlegende Ausführungen zu Konflikt in Soziale Systeme (1984: 488-550). Zusammenfassend Bonacker 2008. S. insbes. die gegen die Theorietradition gerichtete Behauptung, dass Konflikte hochintegrierte Sozialsysteme darstellen. Da Luhmanns Beschreibung von Sozialsystemen aber auf sinnhafte Kommmunikation reduziert, kann das in der Theorietradition bedeutsame Element der Gewalt darin nicht mehr angemessen zum Ausdruck kommen. Die Verharmlung des evolutionären Konfliktpotenzials liegt gerade darin, dass Konflikt selbst als System beschrieben wird. Denn damit ist Konflikt nicht mehr treibender Faktor – also Moment des Variationsmechanismus – sondern Bestandteil der Systemdifferenzierung – also Moment des Restabilisierungsmechanismus! Diese evolutionstheoretische Fehlplatzierung wird m.E. auch nicht dadurch behoben, dass Konflikte – mit einer uneingestanden normativen Konnotation – als parasitäre Sozialsysteme bezeichnet werden. (s. Schneider ...u.a.) Luhmanns Konflikttheorie ist aber auch in dieser Hinsicht nicht konsistent. S. dagegen noch zu Konflikt als Bestandteil des Variationsmechanismus 1997, 466ff Dazu noch aus Bonacker 2006, 284: „Zweitens hat die Gesellschaft mit Protestbewegungen eine Form gefun¬den, wie sie gegen sich selbst kommunizieren kann. Luhmann zufolge gibt es keine Kommunikation außerhalb der Gesellschaft, denn Kommunikation ist Gesellschaft. Protestbewegungen imaginieren ein Außen in der Gesellschaft, das es der Gesellschaft erlaubt, sich mit sich selbst zu vergleichen und sich an eigenen Maßstäben zu kritisieren. Proteste für Frieden, Gleichheit oder für eine ethnisch homogene Gesellschaft tun zwar so, als ob sie von außen an die Gesellschaft adressiert sind. Aus Sicht der Systemtheorie ist dies aber eine gesellschaftliche Fiktion, mit der die Gesellschaft auf ihre Folgen reagieren kann.“ . Evtl. in Abschnitt 5 oder 6 einbauen! Die Frage einer Unterbelichtung der Konfliktdimension bei Luhmann nochmal überprüfen vor dem Hintergrund der folgenden Passage, die der grundlegenden Bedeutung von Konflikten für soziale Systembildung nahekommt, wo es um einfache Sozialsysteme geht. Die Darstellung geht aber m.E. zu schnell zur Konfliktverarbeitung durch funktionale Differenzierung und formale Organisation über. Luhmann (1975a, 16-18): „Die Bedeutung der zunehmenden Differenzierung von Systemebenen und Systemtypen läßt sich an einem Sonderproblem besonders gut vorführen, nämlich am Problem des Konflikts. Von Konflikt wollen wir immer dann sprechen, wenn ein Teilnehmer an Interaktionen es ablehnt, Selektionsvorschläge zu übernehmen und diese Ablehnung mitteilt. Es ist für den Begriff gleichgültig, ob die Annahmezumutung auf Wahrheit, Liebe, auf rechtliche oder moralische Normen oder auf Übermacht gestützt wird; entscheidend ist die Benutzung des Negationspotentials zur Ablehnung der zugemuteten Selektion. Weder die bloße Existenz von Standes- oder Klassenunterschieden noch die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems sind als solche schon Konflikte, aber sie können als konfliktsträchtige Lagen beschrieben werden, und es interessiert dann, unter welchen zusätzlichen Bedingungen sie zum Ausbruch von Konflikten führen. Wir analysieren zunächst auf der Ebene der Interaktion unter Anwesenden. Die Rückkommunikation der Weigerung, einer Selektionszumutung nachzukommen, stößt hier auf besondere Schwierigkeiten. Sie ist deshalb problematisch, weil diese Systeme unter der Bedingung thematischer Konzentration operieren, also jeweils nur ein Leitthema traktieren können. Wird der Konflikt durch Weigerung zum Thema gemacht, strukturiert das Gesamtsystem sich entsprechend um. Man reagiert auf dieses neue Thema und es entsteht eine Kontroverse, wenn nicht ein Streit, der mehr oder


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weniger limitiert, was dann im System noch möglich ist. Interaktionssysteme können offene Konflikte schlecht nebenherlaufen lassen, dazu sind sie nicht komplex genug. Sie haben nur die Wahl, Konflikte zu vermeiden oder Konflikte zu sein. Interaktionsnah strukturierte archaische Gesellschaftssysteme finden sich den entsprechenden Beschränkungen ausgesetzt. Sie stehen beständig vor der Alternative der Konfliktunterdrückung oder des offenen und gewaltnahen Streites. Darauf sind ihre pressionsreichen Schlichtungsverfahren eingestellt. Sie können deshalb nur primitive Formen gesellschaftlicher Differenzierung entwickeln, die einerseits in der Konfliktunterdrückung effektiv sind und andererseits gegen Gewaltakte und Sezessionen relativ immun. Das leisten Formen segmentärer Differenzierung nach Häusern, Geschlechtern, Wohngemeinschaften, Siedlungen. Alle weitere Entwicklung setzt eine Steigerung des Konfliktspotentials auf der Ebene der Gesellschaft voraus, und dies in zweifacher Hinsicht: als Möglichkeit, Konflikte durch Rückkommunikation von Verweigerungen zu erzeugen, und als Möglichkeit, Konflikte als laufende Angelegenheit zu ertragen und in kritischen Fällen zu entscheiden. Mit zunehmender Komplexität steigt die Differenzierung der Interessen und Perspektiven, nehmen die Anlässe und die strukturellen Möglichkeiten für Negationen zu. Die Sozialordnung muß jetzt vorsehen, daß Rechtsnormen geändert, daß Tauschofferten ohne Kränkung zurückgewiesen, daß behauptete Wahrheiten bezweifelt werden; daß man dem religiösen Zeremoniell fernbleibt, ohne dadurch die Gefühle anderer zu verletzen oder gar aus Religionsgemeinschaften austritt. An der Steigerung der Negationspotentiale hängt die Möglichkeit, jeweils andere Spezialinteressen konsistent zu verfolgen. Außerdem beruht darauf die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung, die Möglichkeit, Gegebenes zu variieren. Schließlich setzt der gesamte Organisationsmechanismus gesteigerte Mobilität mit Möglichkeiten zum Abbrechen und Neueingehen sozialer Beziehungen voraus. Differenzierung, Innovation und Organisation hängen damit ab von einer Normalisierung des Konfliktverhaltens. Die Lösung dieses Problems liegt in einer stärkeren Differenzierung von Interaktionssystemen und Gesellschaftssystem. Ein solches Auseinanderziehen von Interaktion und Gesellschaft hat die Folge, daß die Gesellschaft vom Konfliktsmodus ihrer Interaktionssysteme unabhängig wird. Sie kann, ohne ihre eigene Kontinuität zu gefährden, in weitem Umfange den Abbruch von Interaktion als Modus der Konfliktlösung zulassen. Sie kann, vor allem im Rahmen ihres Rechtssystems, besondere Interaktionssysteme zulassen, die auf die Behandlung von Streitfällen spezialisiert sind. Und sie kann allgemein die Konflikttoleranz erhöhen, indem sie die Expansion der Konflikte einschränkt. Die Konkurrenz auf dem Markt, die große ideologische Kontroverse, die konterkarrierenden Schachzüge in der Mikropolitik der Organisationen schließen es nicht aus, daß man gemeinsam zum Essen eingeladen wird oder auf Empfängen nebeneinandersteht. Daß man nicht mehr auf konkret-gemeinsames Zusammenleben angewiesen ist, erleichtert sowohl das Abbrechen als auch das Fortsetzen sozialer Beziehungen im Konfliktsfalle. Andererseits heißt dies, daß eine Transposition von Konflikten auf die Ebene des Gesellschaftssystems eine mehr oder weniger künstliche, politische Aggregation von Interessen erfordert. Ihre Klassenlage muß den Betroffenen bewußt gemacht, wenn nicht eingehämmert werden als Voraussetzung einer Politisierung des unterstellten Klassenkonflikts. Hier könnte eine Theorie sozialer Massenbewegungen anschließen. Solche Bewegungen kommen unter den angegebenen Bedingungen als historische Prozesse selektiver Selbststeigerung zustande. Sie bauen ihre eigenen Voraussetzungen phasenweise auf, gewinnen ihre Dynamik und Entwicklungsrichtung also aus ihrer eigenen Geschichte. Die Heftigkeit von Interaktionskonflikten, in die sie ausmünden können, ergibt sich aus der Künstlichkeit der Interessenaggregation und aus der Eliminierung anderer Möglichkeiten im historischen Prozeß. Im Verhältnis zum gesamten Interaktionsvolumen werden gesamtgesellschaftliche Konflikte in komplexen Gesellschaften seltener und gefährlicher.

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Dies Bild rundet sich ab, wenn man das Konflikthandeln in Organisationen mit in Betracht zieht. Organisationssysteme unterwerfen alle Mitglieder einem Modus hierarchischer Konfliktsbehandlung und -entscheidung, dessen Anerkennung sie zur Mitgliedschaftspflicht machen. Zugleich differenzieren sie interne und externe Konflikte und unterbrechen deren Zusammenhang mit sonstigen Konflikten ihrer Mitglieder. Man darf sich im Dienst nicht an seinen Privatfeinden rächen, darf den Kindern des politischen Gegners keine schlechteren Zensuren erteilen oder umgekehrt dem Lehrer die Auszahlung eines Bankkredits verweigern, weil er schlechte Zensuren erteilt hatte. Entsprechend ist es eine für Organisationen typische Mitgliederpflicht, intern bestehende Konflikte — etwa Meinungsverschiedenheiten des Kollegiums in der Versetzungskonferenz — nach außen zu verbergen. In welchem Umfange diese Gebote faktisch realisiert werden können, ist eine empirische Frage. Keine Frage ist jedoch, daß mit Hilfe dieses neuen Systemtyps Organisation Konflikte in einem Umfange ermöglicht und reguliert werden können, wie es auf der Basis von Interaktion und Gesellschaft allein nicht möglich wäre.“ An anderer Stelle sieht Luhmann im Konkurrenzdruck durchaus eine Ursache evolutionärer Errungenschaften allerdings ohne die Variations- und Selektionseffekte unter Konfliktaspekten zu thematisieren (Luhmann 1997, 511): „Oft entspringen wichtige Verbesserungen des Komplexitätsarrangements in Systemen der Notwendigkeit, in einer veränderten Umwelt zurechtzukommen. Im Falle des Alphabets war es anscheinend das Bemühen und eine Verbesserung der Mnemotechnik für wirtschaftliche Leistungen und dann aber auch für orale Texte, vielleicht unter dem Druck der Konkurrenz einer Vielzahl von Sängern und Poeten, das eine Verschriftlichung des gesamten Kulturgutes einleitete.“ Indem Luhmann die theorietraditionelle Perspektive auf Konflikt als Bedrohung sozialer Ordnung einfach umkehrt und Konflikt als einen besonderen Fall sozialer Integration behandelt, verengt sich seine Betrachtung – ähnlich wie schon bei Durkheim - auf die Innenseite sozialer Systeme und der Mechanismus der Externalisierung auf die Ebene der Konkurrenz ganzer Systeme kommt nicht mehr in den Blick. 77 Mit der in diesem Beitrag immer wieder verwendeten Rede von „Konkurrenzkonflikten“ soll nicht gesagt werden, dass es um eine besondere Art von Konflikten geht. In evolutionstheoretischer Perspektive ist leicht zu erkennen, dass in allen sozialen Konflikten eine Konkurrenz um knappe (wenn auch keineswegs immer nur materiell sondern auch symbolisch verknappte) Ressourcen ausgetragen wird. Mit der um den Konkurrenzaspekt erweiterten Bezeichnung soll also an die evolutionären Voraussetzungen erinnert werden, die nicht nur in der soziologischen Differenzierungstheorie, sondern auch in der Tradition soziologischer Konflikttheorie (vgl. Bonacker 2008) in Vergessenheit geraten sind. 78 Einen auch differenzierungstheoretisch interessanten Einwand gegenüber methodologisch individualistischen Konflikttheorien formulieren aus evolutionsbiologischer Perspektive Meyer/v.d.Dennen (2008, 498): „Angesichts der allgemeinen Bedeutung sozialer Macht für Konflikte und politische Prozesse liegen zahlreiche Begriffsbestimmungen vor, von denen jedoch Max Webers Definition zweifelsohne die einflussreichste ist. Wenn Weber Macht als die „Chance" bestimmt, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen" (Weber 1964:38), so hebt er auf die Tatsache ab, dass Individuen in irgendeiner Situation in unterschiedlichem Maße über Machtmittel verfügen. Wie Weber weiter ausführt, kann Macht auf der Verfügung über sehr unterschiedliche Ressourcen beruhen, doch kommt es ihm vor allem auf die Fähigkeit des Einzelnen zur Durchsetzung seiner Interessen auch gegen „Widerstreben" an. Was aber, wenn unter vergesellschafteten Individuen kein Widerstreben zu verzeichnen ist, da sie Macht als Fokus gemeinsamen Wollens begrüßen, um so die synergetischen Vorteile von Kooperation genießen zu können? Wenngleich diese Formulierung den Grad der Übereinstimmung überzeichnen mag, so kann doch auf Institutionen wie Reziprozität und Ostrakismus,


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aber auch auf die von Milgram aufgezeigte Bereitschaft zum Gehorsam gegenüber Autoritäten und schließlich den Ethnozentrismus verwiesen werden, deren Ubiquität dafür spricht, dass sie auf evolutionären Verhaltensdispositionen aufbauen, die zusammengenommen die Basis für die Akzeptanz von Macht bilden. ... Zunächst ... gilt es vom evolutionären Standpunkt nochmals zu betonen, dass angesichts der selektiven Vorteile von Kooperation eine grundlegende Bereitschaft begünstigt wurde, den Zusammenhalt des jeweiligen Kollektivs durch Unterordnung unter Regeln und damit auch unter soziale Macht zu sichern, so dass ihr von Weber hervorgehobener Zwangscharakter zumindest in den Frühformen gesellschaftlicher Entwicklung nicht notwendig gewesen sein dürfte. Im Blick auf den Weberschen Zwang erscheint demnach die These plausibel, dass sich dieser de facto erst mit der Entwicklung sozialer Differenzierung einstellte, als Macht zunehmend an den privilegierten Zugang zu knappen Ressourcen gebunden war.“ 79 So entwickelt Edgar Morin in seinem Grundlagenwerk über Methode einen die Gegenstände der Natur- und Geisteswissenschaften übergreifenden Begriff von Organisation (Morin 2010, 129f.) „Die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, ist die fundamentale Eigenschaft der Physis, überraschend und offensichtlich. Gleichwohl ist sie die große Abwesende in der Physik. Das Problem der Organisation ist auf dieselbe Weise unterdrückt und verdeckt worden wie das Problem des Systems (offenbar, weil beide die zwei Sei¬ten desselben Problems sind). Die Wissenschaften stießen darauf, behandelten es immer unter dem besonderen Gesichtspunkt der Disziplinen. Einige von ihnen behandelten es auf armselige Weise, unter dem Begriff der Struktur. Die moderne Physik schreitet auf das Problem der Organisation zu, wenn sie das Naturgesetz in Interaktionen transformiert (gravitative, elektromagnetische, nukleare, schwach und stark), aber sie hat noch nicht den Übergang begriffen, die Transformation gewisser Interaktionen relationalen Charakters in die Organisation. Wie es oft geschieht, emergiert der Gegenstand vor dem Begriff, der darauf wartet, daß sich seine Nische bildet, bevor er sie besetzen kann. Aber von nun an ist der Gedanke, daß es ein allgemeines Problem mit der Organisation gibt, »in der Luft«. »Was immer die Ebenen sein mögen, die Objekte der Analyse (der Wissenschaft) sind immer Organisationen, Systeme« (Jacob, 1970, p. 34455); und Chomsky: »Die wissenschaftliche Methode ... ist am Gegebenen interessiert, nicht an diesem selbst, sondern als Zeuge der Orga-nisationsgesetze.« (Chomsky, 1967) Für die Idee der Entität, die eigentümlich organisatorisch ist, wird mit dem Holon gesorgt (Koestler, 1968), oder mit dem org (Gerard, 1958) oder lntegron (Jacob, 1971). Es ist Henri Atlan, der schließlich wirklich den Begriff als Begriff freilegt. (Atlan, 1968, 1974) ... Es gibt in der Natur kein Gesetz sui generis der Organisation oder Organtropie, das, wie ein deus ex machina, die Vereinigung der Elemente bewirken würde, die das System konstituieren sollen. Es gibt kein systemisches Gesetz, das den Interaktionen zwischen Elementen vorangeht oder äußerlich ist. Auf der anderen Seite gibt es physikalische Bedingungen der Bildung, in welcher gewisse Phänomene der Interaktion, welche die Form der Wechselbe¬ziehung annehmen, organisatorisch werden. Wenn es ein organisierendes Prin¬zip gibt, so ist es aus zufälligen Zusammentreffen geboren, in der Kopulation von Unordnung und Ordnung inmitten der und durch die Katastrophe (Thom, 1972), nämlich im Wechsel der Form. Das morphogenetische Wunderwerk ist genau dieses: das Auftauchen der Wechselbeziehung, der Organisation, des Systems, dreier Aspekte desselben Phänomens. ... Was ist Organisation? Als erste Definition: Organisation ist das Arrange¬ment der Relationen zwischen Komponenten oder Individuen, das eine kom¬plexe Einheit oder ein System produziert, ausgestattet mit unbekannten Qua¬litäten auf der Ebene der Komponenten oder Individuen. Organisation bindet auf wechselbeziehende Weise verschiedene Elemente, Ereignisse oder Indivi¬duen aneinander, die künftig zu Komponenten eines Ganzen werden.

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Sie sichert diesen Bindungen relative Solidarität und Festigkeit und dem System dadurch eine gewisse Möglichkeit der Überdauerung, trotz zufälliger Störun¬gen. Organisation deshalb: transformiert, produziert, bindet, unterhält.“ 80 Zur Organismus-Metapher beim Individuum s. HWPh Organismus (auszugsweise): „Die Gleichsetzung oder metaphorische Parallelisierung des Universums mit dem (menschlichen) O. geht auf PLATON [1] zurück. Terminologisch wird sie allerdings in der gesamten einschlägigen Tradition unter das Begriffspaar <Mikrokosmos/Makrokosmos> gebracht. Erst zu Beginn des 19. Jh. wird der Begriff <O.> ausdrücklich auf das Weltall oder auf die Erde angewendet, ohne jedoch die <Mikrokosmos/Makrokosmos>-Terminologie völlig zu verdrängen.“ „2. Auch die Analogie zwischen O. und Staat oder Gesellschaft geht auf die Antike zurück und ist wenigstens in der platonischen oder vom Platonismus beeinflußten Tradition als Spezialfall der O.-Kosmos-Analogie zu werten. Vergleiche zwischen dem menschlichen Körper, einschließlich der Seele in ihrer Beziehung zum Körper, und staatlichen oder anderen sozialen Gebilden gehören mit wenigen Ausnahmen zum festen Bestand der antiken und mittelalterlichen Sozialphilosophie. In der klassischen griechischen Philosophie werden O.-Analogien benutzt, um das Verhältnis zwischen dem Stadtstaat und seinen Bürgern zu verdeutlichen. In seiner Utopie eines vollkommenen Staates vergleicht PLATON den Staat mit einem Menschen, bei dem «die gesamte, sich über den Leib bis zur Seele als zu einer Zusammenordnung des in ihr Herrschenden sich erstreckende Gemeinschaft» mit einem schmerzenden Gliede zu fühlen pflegt, und verwendet diesen Vergleich zur Rechtfertigung der von ihm geforderten Frauen- und Kinderge-meinschaft [1]. An anderer Stelle operiert Platon mit einem fortan beliebten Topos, nämlich der Anwendung der Begriffe <Gesundheit> und (Krankheit) auf das in Analogie zu einem Menschen vorgestellte Staatswesen [2]. Insgesamt betont Platon die Unterordnung der Bürger unter den Stadtstaat und die Notwendigkeit rationaler Gesamtplanung des staatlichen Aufbaus anstelle par-tieller Reformen durch Änderung einzelner Gesetze. ARISTOTELES pflegt den natürlichen Vorrang des Ganzen vor seinen Teilen am O. nachzuweisen, und in dieser Absicht vergleicht er den Staat mit dem O.: «Der Staat ist von Natur und ursprünglicher als der Einzelne», wer nicht in der Gemeinschaft lebt, ist «wildes Tier oder Gott» [3]. Anders als Platon betont Aristoteles jedoch die Ungleichartigkeit der Teile (Bürger), welche die als O. aufgefaßte staatliche Gemeinschaft konstituieren [4]; im Vordergrund seines Interesses steht die gesellschaftliche Arbeitsteilung und das Zusammenwirken der Staatsbür-ger. Mit der Herrschaft der Seele über den Körper stellt Aristoteles einen vor allem im Mittelalter weidlich ausge-beuteten Topos des O.Staat-Vergleichs bei; er selbst benutzt ihn allerdings nicht zur Rechtfertigung der mon-archischen Staatsform, sondern zur Verdeutlichung des Verhältnisses zwischen Herr und Sklave in der Ordnung des 'Hauses' [5], d.h. der Familie, die er von der staatlichen Ordnung scharf unterscheidet [6]. Im Zeitalter des Hellenismus gewinnt die politische Theorie eine neue Dimension: Anstelle der bedeutungslos gewordenen griechischen Stadtstaaten steht die menschliche Gemeinschaft überhaupt im Vordergrund des Interesses. Der O.-Staat-Vergleich wird jetzt um Bil-der bereichert, mit deren Hilfe das Zusammenfallen des individuellen Nutzens mit dem Nutzen für die Gemein-schaft demonstriert werden soll [7]. Auch die bei LIVIUS überlieferte Fabel vom Bauch und den Gliedern, mit deren Hilfe Menenius Agrippa die Sezession der Plebejer beendet [8], ist hellenistischen Ursprungs und gehört in diesen Kontext. Durch den Apostel PAULUS werden die gängigen O.-Metaphern im Bilde der christlichen Gemeinde als «Leib Christi» zusammengefaßt: «Denn gleich wie ein Leib ist, und hat doch viele Glieder, alle Glieder aber eines Leibes ... also auch Christus ... Es kann das Auge nicht sagen zu der Hand: Ich bedarf deiner nicht ...


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Und so ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit... Ihr aber seid der Leib Christi» [9]. Hierin ist einesteils ein egalitäres Moment enthalten - nach Paulus sind gerade die unscheinbarsten Glieder die nötigsten [10] -, zum anderen aber auch in der Vorstellung von Christus als dem Haupt der Gemeinde ein hierarchisches Moment [11]. In der Antike werden die Worte des Apostels in ihrem ursprünglichen Sinn, als Aufruf zur Eintracht, aufgefaßt und dergestalt noch von AUGUSTINUS benutzt, der das harmonische Zu-sammenleben im «Gottesstaat» mit O.-Metaphern verdeutlicht [12], während er in bezug auf den weltlichen Staat eine mechanistische, auf dem Vertragsdenken auf-bauende Soziologie vertritt [13], Im Mittelalter wird das 'organismische' Modell, das Augustinus nur für den «Gottesstaat» akzeptiert hatte, auf die gesamte, «wegen der Ähnlichkeit zu dem natürlichen menschlichen Körper» [14] als «corpus mysticum» verstandene Menschheit ausgedehnt. Gleichzeitig wird der augustinische Dualismus von «civitas terrena» und «civitas dei» in die Vorstellung zweier universaler Staaten oder «Reiche», des weltlichen und des kirchlichen, mit jeweils gleicher Struktur transformiert. Die Rezeption des Aristoteles führt - etwa bei THOMAS VON AQUIN -dazu, daß O. und Staat gleichermaßen als durch eine zentrale Instanz gelenkte [15], in sich hierarchisch geordnete [16] und auf einen spirituellen Zweck ausgerichtete [17] Gebilde betrachtet werden. Das politische Denken des Mittelalters wird ausnahmslos von der O.-Metapher bestimmt; Meinungsverschiedenheiten werden nicht auf dem Wege der Bejahung oder Verneinung der 'organismischen' Staatsidee ausgetragen, sondern durch die verschiedene Ausgestaltung oder Deutung der O.-Metapher. Zwar werden die Definitionsmerkmale des O. bei Thomas von Aquin und anderen Vertretern der päpstlichen Partei zur Rechtfertigung der Monarchie [18], der ständischen Gliederung der Gesellschaft und des päpstlichen Herr-schaftsanspruchs herangezogen, das O.-Modell kann jedoch auch im Sinne weltlicher Herrschaftsansprüche oder einer Gleichberechtigung der weltlichen und geistlichen Gewalt gedeutet werden. Dabei treten zum Teil neue Gedanken auf. So wird z.B. aus der funktionalen Äquivalenz der Organe auf die wechselseitige Vertretbarkeit staatlicher und kirchlicher Herrschaftsfunktionen geschlossen [19], oder das Zentralorgan wird dem Gesamt-O. untergeordnet, was zur theoretischen Rechtfertigung der Wahl-Monarchie und gelegentlich sogar der Republik verwendet wird [20]. In Gestalt solcher Lehren trug das mittelalterliche O.-Modell des Staates den Keim seines Zerfalls in sich, denn sie stellen ihn bereits als Resultat «freiwilliger Überein-kunft» [21] dar und bereiten der neuzeitlichen, auf den Ideen des Gesellschaftsvertrages und der im Herrscher repräsentierten Volkssouveränität beruhenden Konzeption den Boden. Das für die Renaissance typische Mißtrauen gegenüber dem O.-Modell läßt sich am besten an SHAKESPEARES <Coriolanus> belegen: die Handlung des Stücks ist eine einzige Absage an die erzählte Fabel des Menenius Agrippa [22]. Fortan werden O.-Analogien für längere Zeit nur noch als Teil des humanistischen Bil-dungsgepäcks mitgeführt [23]. Die Wiederentdeckung der O.-Konzeption von Staat und Gesellschaft erfolgt im Zuge der Kritik an der Ge-sellschaftsvertragKonzeption ROUSSEAUS und ihrer Rea-lisierung durch die französische Revolution. Die Priorität gehört hier J. G. FICHTE: «In dem organischen Körper erhält jeder Teil immerfort das Ganze, und wird indem er es erhält, dadurch selbst erhalten: ebenso verhält sich der Bürger zum Staat» [24]. Die Staats- und Gesellschaftsphilosophie der deutschen Romantik operiert fortwäh-rend mit dem Begriff des O., der jetzt auch terminologisch endgültig an die Stelle älterer Ausdrücke wie (organisierter) oder (organischer Körper) tritt; sie bezieht ihren O.-Begriff allerdings nicht von Fichte, sondern von F. W. J. SCHELLING. Und zwar bildet Schellings Natur-philosophie den Ausgangspunkt für die sozialphilosophischen O.-Theorien der Romantiker; Schelling selbst ist anfangs in der Anwendung des O.-Begriffes auf den Staat eher

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zurückhaltend und bezweifelt an einer Stelle ausdrücklich, daß Staaten jemals «organische Ganze» werden könnten [25]; er stellt andererseits in der Rede vom Staat als «objektivem O. der Freiheit» [26] seinem damaligen Anhänger J. J. WAGNER den Grundbeg-riff einer Lehre vom Staat zur Verfügung [27]. Wesentlich einflußreicher als Wagners Staatsphilosophie sind A. MÜLLERS (Elemente der Staatskunst), in denen konstatiert wird: «Die alten Römer haben den Vergleich des Staates mit dem menschlichen Körper verstanden; sollte er jetzt nicht mehr passen ...? Dieser Körper, dessen innige, gewaltige Verbindung wir in jedem Lebens-Moment am unmittelbarsten fühlen, bleibt das nächste und schönste Muster aller Vereinigungen und Körperschaften, zu denen uns unsere ganze Lage unaufhörlich hin drängt» [28]. Die klassische Reminiszenz fällt Müller nicht von ungefähr ein, denn das Ganze, an das sich der Einzelne (wie bei den Römern) hingeben soll, ist «das Nationale, die Menschheit». Damit spricht er jenes Konzept an, in dem sich die staatlichen Vorstellungen der Romantiker von denjenigen des Mittelalters unterschei-den: die als 'Volkstum' aufgefaßte Nation. Im übrigen gelangen die Romantiker mittels der O.-Analogie zu den-selben Schlußfolgerungen wie das Mittelalter: Der Staat ist kein bloßer Nutzverband, sondern hat einen transzen-denten Zweck; seine optimale Organisation ist der Stän-destaat. Die von den meisten Romantikern geäußerte Präferenz für eine 'gemischte' Staatsform [29] hat ihr Vorbild bei Aristoteles [30]. Aus der kaum übersehbaren Fülle 'organischer Staatstheorien' der Romantik sei die unsystematisch vorgetragene, aber einflußreiche Theorie F. VON BAADERS als Bei-spiel herangezogen: «Ohne soziale, organische Hierar-chie, ohne Macht, Autorität und Untertänigkeit unter dieselbe besteht ... kein vollständiger O.; und weil kein Mensch von sich selbst das Recht haben kann seinesgleichen zu befehlen und keiner die Pflicht, seinesgleichen zu gehorchen, so vermochten auch die Menschen nicht von selbst sich zur Gesellschaft zu konstituieren, und nur ihre Gesellschaft mit Gott konnte und kann jene unter oder mit sich begründen» [31]. Das wesentliche Moment des O. verdeutlicht Baader im Bilde des «circulus vitae», den er sich aus dem Wirken einer «organisierenden Liebe» hervorgegangen denkt. Der O. ist durch einen Dualismus zwischen Zentrum (Urmitte) und Peripherie gekennzeichnet; eine Gemeinschaft ist dann organisch, wenn die peripheren Glieder über das Zentrum miteinander kommunizieren, während ein unmittelbarer Verkehr der Glieder untereinander eine mechanische Gemeinschaft darstellt [32]. Die Glieder sollen zwar mit dem Zentrum in lebendiger Verbindung stehen; fällt jedoch die Aktion des letzteren (der «obersten Macht») unmittelbar auf das Individuum, dann wirkt sie «notwendig erdrückend und despotisch ..., nicht aber, wenn dieses Individuum dieselbe Aktion als Glied eines Standes oder einer Korporation, somit vermittelt, erfährt» [33], Während der Restaurationsperiode setzt auch in Frankreich Kritik am liberalistischen Staatsverständnis ein. Sie wird anhand des Begriffs <sozialer O.> vorgetra-gen und steht bei der Geburt der Soziologie als selbstän-diger Wissenschaft Pate; A. COMTE bedient sich ausgiebig jenes Begriffs. Aus der Biologie entnimmt Comte das Prinzip, daß mit der fortschreitenden Entwicklung die Spezialisierung und gleichzeitig das Zusammenwirken der Organe zunehmen. Diese Tendenz wird im sozialen O. fortgesetzt, der in bezug auf die «Vereinbarkeit der Arbeitsteilung mit der Kooperation» dem individuellen O. und auch der Familie überlegen ist [34]. Das weitere 'Schicksal' des Begriffs (sozialer O.> zeigt, daß die Rede von der Gesellschaft als O. nicht notwendi-gerweise mit ganzheitlichem und teleologischem Denken einhergeht. Sie wird nämlich von H. SPENCER adoptiert, der ein extremer Vertreter des Wirtschaftsliberalismus ist und eine im wesentlichen mechanistische, evolutions-theoretische Soziologie vertritt. Es ist gerade die Über-zeugung von der Allgemeingültigkeit des Evolutionsprozesses, welche Spencer dazu drängt, die Gesellschaft als O. zu analysieren [35], Die wesentlichste Gemeinsamkeit zwischen bio-


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logischem und sozialem O. besteht bei Spencer, wie bei Comte, in der fortschreitenden Spezialisierung der Funktionen. Spencers eigener Beitrag zur Idee des sozialen O. besteht in der Ableitung dieses Vorgangs aus dem «fortwährenden Wachstum» - dem haupt-sächlichen Grund, welcher für die Beurteilung der Gesellschaft als O. spricht [36]. Insofern das Zusammenwirken durch eine (staatliche) Organisation gefördert wird, ist sie notwendige Voraussetzung für das soziale Wachstum; eine einmal bestehende Organisation hemmt jedoch das weitere Wachstum [37] - ein Grundsatz, aus dem heraus Spencer eine «weitgehende Einschränkung des Wirkungskreises staatlicher Einrichtungen» fordert, die er übrigens im «ausgebildeten industriellen [Gesellschafts-]Typ» bereits für realisiert hält [38]. Die von Spencer begründete evolutionstheoretische Parallelisierung von O. und Gesellschaft tritt in zwei Va-rianten auf: einer biologistischen und einer psychologistischen. Die biologistische Variante wird vor allem in Deutschland ausgebildet. Seit R. VIRCHOW die Zusammensetzung des Tierindividuums als «einen O. sozialer Art» [39], d. h. eine 'Zellenrepublik' bezeichnet hatte, fließen in das Denken der Biologen immer wieder aus dem Gesellschaftsleben entnommene Modellvorstellungen ein, die dann umgekehrt, nachdem sie in der Biologie gleichsam eine höhere wissen-schaftliche Weihe erhalten haben, wieder auf Gesellschaft und Staat zurückbezogen werden. Das entsprechende Argumentationsmuster wird zunächst auf darwinistischer Basis entfaltet - so bei W. Roux, der seine Theorie vom «Kampf der Theile im O.» aus dem Bilde des «Wetteifers der Staatsbürger» bezieht [40] -, sie bleibt jedoch auch bei lamarckistisch ausgerichteten Autoren erhalten. Bei ihnen-z.B. bei O. HERTWIG - tritt an die Stelle des «Kampfs ums Dasein» die «soziale Hilfe» als «lebendige Kraft» innerhalb der menschlichen Gemeinschaft [41], und während noch Roux die «Zentralisation zum Ganzen» im O. als keineswegs vollkommen bezeichnet hatte, wird jetzt als «Gesetz der physiologischen Integration» die «immer größere Abhängigkeit von den anderen Teilen und vom Ganzen» als notwendige Folgeerscheinung der biologischen und sozialen Funktionsdifferenzierung deklariert [42]. Obwohl Hertwig die inhumanen Konsequenzen (z.B. die Rechtfertigung des Krieges) des «ethischen, politischen und sozialen Darwinismus» kritisiert [42a], verstärkt sich bei ihm noch die bereits im Darwinismus festzustellende Tendenz, antidemokratische Einstellungen biologisch zu 'begründen' [43]; sie führt Hertwig bereits zur Forderung nach Errichtung eines «Berufsstaats» [44], Weitere Kon-stanten der biologistischen 'organischen Staatstheorien' sind die Parallelisierung zwischen sozialen und biologi-schen Teilsystemen (nach Hertwig entspricht die Gesell-schaft dem «Gewebe», der Staat dagegen ist ein O. [45]) und die Anwendung medizinischer Termini (Pathologie, Therapie usw.) auf soziale Gegebenheiten. Gegen Ende des 19. Jh. ist steigende Skepsis gegenüber der biologistischen Variante der Konzeptionen des sozia-len O. zu verzeichnen. A. SCHÄFFLE bedient sich zwar ausgiebig biologischer Parallelen, will sie aber nur als «Veranschaulichung für Zwecke systematischer Zerglie-derung und praktisch teleologischen Denkens» gelten las-sen; jedoch müsse sich «die Sozialwissenschaft bewußt bleiben, daß die sozialen Verbindungen geistiger Art sind» [45]. Nachdem in der Folge jene geistigen Verbindungen als Nachahmung, Suggestion usw. näher expli-ziert wurden [46], kann J. M. BALDWIN um 1900 konsta-tieren: «Vom sozialen O. zu sprechen, wie der Biologe von den O. spricht, mit denen er zu tun hat, ist im höch-sten Grade irreführend. Die Organisation, die im sozialen Leben durchgeführt wird, ist in allen ihren Formen eine psychologische Organisation» [47]. Auch P. BARTH stellt fest, «daß jede menschliche Gesellschaft der mecha-nischen und physiologischen Kausalität entrückt ist und einer anderen, eben der Kausalität des Willens, ge-horcht»; er bezeichnet sie daher im Hinblick auf ihre Anfänge als Willens-O. und im Hinblick auf die «Tendenz des sozialen Lebens auf immer strengere Beherrschung durch den Geist» als geistigen O. [48].

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Auf dem Hintergrund einer psychologistischen Konzeption der Gesellschaft ist die Beibehaltung der Rede vom sozialen O. nur dann sinnvoll, wenn die psychischen Prozesse, welche die Gesellschaft konstituieren sollen, ihrerseits mit 'organischen' Kategorien wie Ganzheitlichkeit und Teleologie erfaßt werden. Das Fehlen entsprechender Ansätze im angelsächsischen Bereich dürfte dafür verantwortlich sein, daß sich dort im 20. Jh. die O.GesellschaftAnalogie nicht mehr nachweisen läßt. Dagegen ist sie im deutschen Sprachraum auch in der ersten Hälfte unseres Jh. noch weit ver-breitet. Daß die O.-Analogie in Deutschland wesentlich länger beibehalten wurde als anderswo, liegt vor allem daran, daß sie von F. TÖNNIES zur Formulierung eines Gegen-satzpaares herangezogen wurde, an dem die deutsche So-ziologie lange Zeit geradezu dogmatisch festhielt: «Ge-meinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares. Und dem ist es gemäß, daß Gemeinschaft selber als ein lebendiger O., Gesellschaft als ein mechanisches Aggre-gat und Artefact verstanden werden soll» [49]. Die vor-gebliche Dichotomie zwischen (organischer) Gemein-schaft und (mechanischer) Gesellschaft durchzieht wie ein roter Faden die 'deutsche Ideologie' der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts; in besonders aggressiver Form tritt sie dort auf, wo sie mit psychologischen Grundannahmen kombiniert wird, die auch in bezug auf die individuelle Psyche am O.-Begriff orientiert sind [50]. Die Gemeinschafts-Ideologie dient der ressentiment-geladenen Abgrenzung der deutschen 'Innerlichkeit' gegen den Begriff von Öffentlichkeit, wie er im westlichen Demokratieverständnis vorausgesetzt ist, entbehrt aber positiver politischer Zielvorstellungen. Anders steht es mit denjenigen Konzeptionen, in denen das O.-Modell auf die Gesellschaft als Ganze angewendet wird. Zu nennen ist hier der 'Universalismus' O. SPANNS, der als Alternative zu Liberalismus und Marxismus den Ständestaat propagiert. Als gemeinsame Eigenschaften von O. und Gesellschaft bezeichnet Spann die «planmäßige Un-gleichheit der Teile» bei «Gleichwertigkeit aller Organe» im Hinblick auf die Erfüllung von Leistungen. Die Ge-sellschaft ist jedoch nicht nur ein «Gebäude von Leistun-gen», sondern jedem ihrer Glieder kommt Geistigkeit und damit «innere Werteigenschaft» zu. «In dieser Wert-eigenschaft ist jeder Bestandteil der Gesellschaft un-gleichwichtig ... Die Wertungleichheit ergibt die Schichtbarkeit der Gesellschaft nach Werten und mit dem Zwang zur Wertung auch den Zwang zur Wertschichtung der gesellschaftlichen Elemente.» Die Gesellschaft erweist sich damit als ein «Über-O.» [51] oder auch als «geistiger O.». Spanns Lehre von der Gesellschaft als geistigem O. ist eine in objektiven Idealismus transformierte Fortsetzung der psychologistischen O.-Konzeptionen; ihrem politi-schen Gehalt nach ist sie weitgehend identisch mit den Staatsvorstellungen der deutschen Romantik. Obwohl Spann sich als Wegbereiter der völkischen Bewegung verstand [52], wurde er nach der Annexion Österreichs durch den Nationalsozialismus verfolgt. Der 'Weltanschauung' des Nationalsozialismus entspricht in der Tat weit eher als die idealistische O.-Konzeption ihre biologistische Variante. Hier wäre etwa P. KRANNHALS ZU nennen, der die O.-Analogie biologisch auffaßt und mit der Vorstellung eines rassisch homogenen «Volkskerns» verknüpft: «Wir nennen eine rassisch gemischte Menschengruppe solange ein Volk mit bestimmtem Volkscharakter, als ihr ursprünglicher, aus artgleichen Individuen bestehender Kern ... noch die Richtung der Kultur der ganzen Gruppe bestimmt. Dieses Volk ist so weit O., als es in den Formen des Zusammenlebens die Gesetze des natürlichen O. zum Ausdruck bringt» [53]. Die «Lebensgesetze» des natürlichen O. entnimmt KRANNHALS im wesentlichen den Ausführungen O. HERTWIGS über Arbeitsteilung und daraus folgende Über- und Unterordnung, überhöht sie aber mit Hilfe der Blut-und-BodenIdeologie: «Die eigentlich staatliche, in der organisierten Arbeitsteilung zum Ausdruck kommende Entwicklung wird ... dadurch


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ausgelöst, daß die Blutsgemeinschaft eine organische Verbindung mit ihrem Lebensraum eingeht» [54]. Nach 1945 läßt sich auch in Deutschland die O.-Kon-zeption der Gesellschaft nur noch selten nachweisen. Wenn überhaupt, dann findet sie sich bei Autoren, die ihrer ideologisch-politischen Verwertung ferngestanden hatten. So diskutiert W. HELLPACH 1951 die Anwendbar-keit des Begriffs <Sozial-O.>, mit dem Resultat, daß sie nur bei Vorliegen «organischer Determinationen» (Biogonie, d.h. Erbübertragung; Biochronie, d.h. lebenszeitliche Bestimmtheit; Biotopie, d.h. lebensräumliche Bestimmtheit) berechtigt ist. Nach diesen Kriterien erweist sich nur die «Naturfamilie» als der «einzige echte Sozial-O.» [55]. Umfassendere soziale Gebilde enthalten zwar «sozialorganische Elemente», sind aber als «Sozialorganisation» Ausfluß des gemein-schaftsbildenden Willens oder als «Sozialaggregat» Resultate zufälligen Zusammentreffens. Andererseits ist das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einem Sozial-O. (Familie) als «virtueller Sozial-O.» eine «gemeinschafts-existentielle Grundtatsache». Der Begriff der Rasse fällt nicht unter die sozial-organismische Kategorie, wie Hellpach überhaupt empfiehlt, mit der Charakteristik «organisch» gegenüber sozialen Tatsachen «recht sparsam und überlegt umzugehen» [56]. Die heutige deutsche Soziologie und Sozialpsychologie ist diesem Ratschlag fast ausnahmslos gefolgt..“ 81 Deshalb ist es auch möglich, das Zusammenwirken der Zellen eines lebendigen Organismus als eine Form der Gruppenselektion zu beschreiben: “… an individual person could be considered a group consisting of a vast number of cooperative cells. Now the survival of the fittest individual boils down to the survival of the fittest cooperative of cells. By the same token, group selection works at the level of cells, and even at the molecular level. Individual cells that combine themselves into colonies or groups are analogous to replicating molecules that combine themselves into replicating cellular compartments. Fascinating experiments have shown how compartments can compete. Harvard colleague Jack Szostak, a recent Nobel laureate, has suggested that at the origins of life survival of the fittest might have played out as a simple duel between fatty bubbles—early cells—stuffed with genetic material. Genetic material that replicated quickly may have been all that one particular primordial bubble needed to edge out its competitors and begin evolving into more sophisticated cells, according to experiments he conducted with Irene Chen and Richard Roberts of the California Institute of Technology.” (Nowak 2011, 91f.) 82 Beetz hat herausgearbeitet, dass die Metaphern des Organismus und des Mechanismus in der soziologischen Theorietradition als konkurrierende Paradigmen betrachtet werden können (Beetz 2010, 125-137). In der Darwinschen Theorietradition werden beide Aspekte – die mechanische Erklärung im Bezug auf das Zusammentreffen von kausal unabhängigen Ereignissen – und die holistische Erklärung mit Bezug auf die Eigendynamik von Systemen – in naturalistischer Einstellung miteinander verknüpft. 83 In dieser Hinsicht wäre aber (im Anschluss an Blute 2010: 182ff) zu unterscheiden zwischen dem, was Soziobiologen als Superorganismen bezeichnen und menschlichen Sozialsystemen, die zwar hochorganisiert sind, deren Binnendifferenzierung aber nicht irrversibel festgelegt ist, wie bei Ameisengesellschaften. 84 Während die Organismus-Metapher herangezogen wird, um funktionale Differenzierung zu erklären, ist für Phänomene der Ebenendifferenzierung eher die Haus-Metapher zuständig. Die Organismus-Metapher ist focussiert auf die Innenseite sozialer Systeme: die Koordination ungleicher Teile – die Haus-Metapher eher auf die Außenseite: den Schutz vor dem Selektionsdruck der Umwelt. Die Rede vom soziokulturellen Gehäuse hat aber noch einen weiteren Aspekt: das Haus kann mehrere Stockwerke haben und damit auch internen Selektionsdruck verringern. Ich komme darauf im letzten Abschnitt zurück. 85 Dazu im Rekurs auf Spencer Rüschemeyer (1984, 165f): „Spencer übernimmt von der deutschen Naturphilosophie — von Wolff, Goethe und besonders von K. E. von Baer — die Idee der

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Differenzierung, des Wandels von einfachen zu komplexen Strukturen, der sich sowohl in der Ent¬wicklung von Samen und Ei zum Baum und erwachsenen Tier findet wie auch in der als Entwicklung interpretierten Nebeneinanderstellung von „höheren" und „niederen" Lebewesen, „We propose to show," sagt Spencer in seinem pro¬grammatischen Essay Progress: Its Law and Cause (1857/1972: 40), that this law of organic progress is the law of all progress. Whether it be in the development of the Earth, in the development of Life upon its sur¬face, in the development of Society, of Government, of Manufactures, of Commerce, of Language, Literature, Science, Art, this same evolution of the simple into the complex, through successive differentiations, holds throughout. From the earliest traceable cosmical changes down to the latest results of civilisation, we shall find that the transformation of the homogeneous into the heterogeneous, is that in which Progress essentially consists. Spencer führt hier den Begriff der Differenzierung in das soziologische und psychologische Denken ein, der dann Ausgangspunkt vielfältiger und fruchtbarer Entwicklungen wurde. Das Konzept der Differenzierung steht für Spencer im Zentrum einer grandiosen Einheitsvision der gesamten Realität, die er bis an sein Lebensende nicht aufgab. Über fast vier Jahrzehnte hält er an dieser Konzeption fest und detailliert die Idee der Differenzierung als einheitstiftenden Prinzips in den Bänden seines System of Synthetic Philosophy: von den First Principles (1862) über die Principles of Biology (1864 und 1867) und die Principles of Psychology (21870 und 21872) bis zu den Principles of Sociology (1876, 1879, 1882, 1885,und 1897) und den Principles of Ethics (1893). Diese Einheitskonzeption gibt die Grundlage für analogische Übertragungen von Einsichten und Analyseprinzipien von einer Disziplin auf die andere. Das bedeutete keineswegs nur, daß biologische (und ebenso — das sei besonders hervorgehoben — physikalisch-mechanische) Metaphern in die Soziologie eingeführt werden wie etwa in Spencers Organismus-Gesellschaft-Analogien oder in der Konzeption des Gleichgewichts. Übertragungen aus der Gesellschaftstheorie waren ebenso wichtig, wie etwa der bedeutende Transfer von Theoremen der Bevölkerungswissenschaft und von Wettbewerbsvorstellungen aus der politischen Ökonomie auf die Entwicklungsproblematik in der Biologie zeigt. Jener ausgedehnten Polemik gegen Organismusanalogien in den Sozialwissenschaften, die uns allen vertraut ist und die Spencers Vorgehen im allgemeinen simplifizierend mißversteht und seine umsichtigen Qualifikationen schlicht übersieht — dieser Polemik zum Trotz muß man wohl zunächst einmal anerkennen, daß die Sozialtheorie aus dieser Denkstrategie Spencers, die er in seiner vergleichend orientierten Soziologie auf immer neuen Problemebenen wiederholt, einen ungeheuren Gewinn an Abstraktionskraft und Generalisierungsfähigkeit gezogen hat.“ 86 So ist der Vorwurf der verdeckten Orientierung am OrganismusModell i.S. einer Entwicklungslogik von Marion Blute (2007) auch gegenüber der Luhmannschen Systemtheorie vorgebracht worden. 87 S. die Distanzierung von der Organismus-Analogie bei Luhmann 1981, 187f. Zur Verknüpfung soziologischer Organisationstheorien mit dem Organismus-Begriff s. Luhmann in einem Beitrag für das HWPh Bd. 6, S. 1326-1328 „Bis weit ins 19. Jh. hinein bleibt der O. Begriff eng mit dem des Organismus verbunden. Allerdings klingt in der Begriffsbildung <organisateur>, die aus den Tagen der Französischen Revolution datiert, auch etwas von einer Machbarkeit von O. an, im Unterschied zum Wachsen von Organismen. Die weitere Entwicklung setzt eine schärfere Trennung von rationalen und naturalen Prozessen voraus, als dies bis dahin üblich gewesen war. Als C. H. DE SAINT SIMON 1814 erklärte. «La philosophie du siecle dernier a ete revolutionnaire. celle du XIXe siecle doit etre organisatrice» [6], als er diese Pro-grammatik 1819 in den Versuch umsetzte. mittels seiner Zeitschrift <L'organisateur> ein neues gesellschaftliches System auf wissenschaftlicher Grundlage zu «organisieren», und als ferner A. COMTE 1822 dieser Idee in seinem


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<Plan des travaux scientifiques necessaires pour reorganiser la société> [7] folgte, da war der O. Begriff zwar immer noch wie auch der Begriff des sozialen Organismus allein auf die Gesamtgesellschaft bezogen, aber er war nun gemeint als ein im Kern rationaler Begriff und nicht mehr als ein naturaler. Damit konnte er auch die Funktion übernehmen, Erfahrungen mit formal organisierten Sozialsystemen, mit Vereinen und Bürokratien in Staat und Wirtschaft, zu sammeln und entsprechende Forschungen zu betreuen. Solche Erfahrungen hatte K.MARX noch unter dem Titel <Kooperation> abgehandelt [8]; doch schon H. SPENCER hatte betont: »But cooperation implies organization», weil die wirkungsvolle Verbindung verschiedener Handlungen miteinander eine temporale, eine quantitative und eine qualitative Abstimmung aufeinander erfordere in diesem Sinne ist dann O. ein Merkmal von Gesellschaft überhaupt [9]. Die aufkommende Kritik der Analogie von Organismus und sozialer Ordnung nimmt dieser Assoziation ihre Selbstverständlichkeit. Erst die Durchsetzung der Unterscheidung vom Begriff des Organismus gibt dem der O. forschungssteuernde Bedeutung mit der Möglichkeit. Forschungsresultate und Theorieentscheidungen zu speichern. Er wird damit ein disziplin und schließlich theorieabhängiger Begriff, der nicht mehr durch allgemein aner-kannte definitorische Merkmale bestimmt werden kann, dafür aber zum Bereichstitel für sehr umfangreiche Forschungen avanciert. Es entstehen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. neben Ansätzen zu einer <Allgemeinen O. Lehre> [10], die rasch stecken bleiben, vor allem in der Betriebswirtschaftslehre Bemühungen um rationale O., die den kategorialen Bezugsrahmen Ganzes/Teil und Zweck/Mittel beibehalten, ihn aber auf Betriebsziele spezifizieren. Im Unterschied zum Organismusbegriff wird die Präzision fremddienlicher Zwecke und die Optimierung der Zweck/MittelRelation als Erfordernis der Erhaltung des Ganzen betont. Parallel dazu entwickelt M. WEBER unter dem Titel <Bürokratie> ein soziologisches Modell rationaler O., das die später empirisch forschende O. Soziologie stark beeinflußt hat [11]. Gegenüber dieser «klassischen O. Lehre» hat sich heute eine kritische Auffassung durchgesetzt. Die Betriebswirtschaftslehre hat ihre Erwartungen an faktisch rationales Entscheiden in O.en abgeschwächt und dafür das Verhältnis von O. und (möglichst rationalem) Entscheiden ins Zentrum ihres Interesses gerückt. Die Soziologie hatte zunächst der dem Betriebszweck entsprechenden «formalen» O. eine «informale» O. im Sinne von emotional bedingten Gruppenbeziehungen entgegengesetzt [12]. Sie arbeitet heute an einer beides übergreifenden allgemeinen O. Soziologie, die das faktische soziale Verhalten in formal strukturierten O. Systemen jeder Art erforscht. Daneben wird von Biologen, Kybernetikern und Systemanalytikern verschiedener Herkunft an einer 'Allgemeinen Systemtheorie' gearbeitet, die auf Maschinen, Organismen, Persönlichkeiten und zunehmend auch auf Sozialsysteme anwendbar ist.“ 88 Elemente einer solchen am Modell der ontogenetischen Entwicklung orientierten Theorie der kulturellen Evolution sind bei Habermas zu finden (s. auch die wiederkehrenden Hinweise auf Ebenendifferenzierung im folgenden Textauszug von 1976): „Für jedes wohlumschriebene Gesellschaftssystem, sofern es nur in seiner inneren Struktur und in seinen Austauschrelationen zur Umwelt hinreichend erfaßt und analysiert werden kann, lassen sich Mengen unlösbarer Steue¬rungsprobleme angeben. Solche Steuerungsprobleme können un¬ter Umständen zu einer evolutionären Erweiterung der strukturell beschränkten Steuerungskapazität herausfordern. Diese wiederum kann man unter die bekannten funktionalistischen Gesichtspunkte bringen und als Differenzierung und Vereinigung funktional spe¬zifizierter Teilsysteme auf jeweils höherer Ebene begreifen. Differenzierungsprozesse dürfen freilich nicht mit Evolutionsprozessen gleichgesetzt werden. Differenzierungsprozesse können Anzei¬chen von Evolutionsprozessen sein, aber ebensosehr Ursachen für ein Festrennen in evolutionären Sackgassen (wie die Beispiele von Termitenstämmen oder von despotischen Bürokratien

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in asiatischen Hochkulturen zeigen). Ein Soziologe, der soziale Entwick¬lung mit Komplexitätssteigerung gleichsetzt, verhält sich wie ein Biologe, der die natürliche Evolution in Begriffen morphologi¬scher Differenzierung beschreibt. Eine Erklärung der Evolution muß jedoch auf die Verhaltensrepertoirs der Arten und auf den Mutationsmechanismus zurückgehen. Entsprechend sollten wir auf der Ebene der sozialen Evolution zwischen der Lösung von Steuerungsproblemen und den zugrunde liegenden Lernmecha¬nismen unterscheiden. Mit Hilfe der Lernmechanismen können wir erklären, warum einige Systeme für ihre Steuerungsprobleme Lösungen finden, die evolutionär weiterführen, während andere vor evolutionären Herausforderungen versagen. Eine auf die Ontogenese bezogene Theorie der Entwicklung ko¬gnitiver, sprachlicher und interaktiver Kompetenzen scheint sich heute, als Ergebnis einer Verbindung verschiedener Theorietradi¬tionen abzuzeichnen. Sie stützt sich auf Piagets Konzept der Ent-wicklungslogik und erfaßt: • analytisch trennscharfe Entwicklungsdimensionen (kognitiv, sprachlich, interaktiv); • Lernmechanismen (Akkomodation/Assimilation; Identifika¬tion mit Bezugspersonen, Internalisierung von Beziehungsmu¬stern; reflektierende Abstraktion); • universale Klassen von handlungsbezogenen Prob-lemen (techni¬sche Verfügung über vergegenständlichte Wirklichkeit; konsen¬suelle Regelung von Handlungskonflikten); • Dimensionen, in denen sich die Problemlösungen kumulieren (Autonomie gegenüber äußerer und innerer Natur); • Stufen der kognitiven, sprachlichen und interaktiven Entwick¬lung, d. h. Lernniveaus (für die kognitive Kompetenz: sensu-motorisch / präoperational / konkret-operational / formalope¬rational); • Stufen des Systems der Ich-Abgrenzungen (symbio-tisch/ ego¬zentrisch / objektivistisch - soziozentrisch / universa¬listisch). Diese allgemeinen Kompetenzen werden gewiß nur unter Rand¬bedingungen realisiert. Umgekehrt können aber individuelle Lernkapazitäten, wenn sie sich in Weltbildstrukturen niederschla¬gen und dadurch überlieferungsfähig und institutionalisierbar werden, gesellschaftlich genutzt und in reifere Formen der sozialen Integration oder in gesteigerte Produktivkräfte umgesetzt werden. In diesen Dimensionen lassen sich hierarchisch geordnete Strukturen nachweisen, für die die Entwicklungspsychologie schon gut analysierte Modelle anbietet. So ergibt sich beispielsweise für die moralische Institutionalisierung von Verhaltenserwartungen und für die entsprechenden Formen konsensueller Konfliktre-gelung (des Rechts) eine entwicklungslogisch nachkonstru¬ierbare Reihe: Vorhochkulturelle Gesellschaften: a) die Ebenendifferenzierung zwischen Handlungen und Normen tritt noch nicht ins Bewußtsein, Deutungssysteme sind aus dem Handlungssystem noch nicht ausdifferenziert, b) Konfliktregelung unter Gesichtspunk¬ten eines moralischen Realismus: Bewertung des Verstoßes nach dem Gewicht der Handlungsfolgen, Idee der Wiederherstellung des status quo ante, d. h. einer Kompensation des entstandenen Schadens. Archaische Hochkulturen: a) explizite Ebenendifferenzierung zwischen Handlungen und sozialen Rollen bzw. Normen, Aus-differenzierung eines Weltbildes, das Legitimationsfunktionen für Inhaber von Herrschaftspositionen übernehmen kann, b) Konfliktregelung unter Gesichtspunkten einer bezugsperso¬nengebundenen konventionellen Moral: Bewertung nach Hand¬lungsintentionen, Strafe statt Vergeltung, Individual- statt Soli¬darhaftung. Entwickelte Hochkulturen: a) vollständige Ausdifferenzierung der Ebenen von Handlung, Normensystem und weitgehend argumentativ durchstrukturiertem Weltbild; Abstraktion des Herrschaftssystems von den Inhabern der Herrschaftspositio¬nen.


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b) Konfliktregelung unter Gesichtspunkten einer entwik- kelten konventionellen Moral: System der Rechtsprechung, Be¬strafung der Abweichung vom traditionalistisch gerechtfertigten Normensystem. Frühe Moderne: a) Ausdifferenzierung der Ebenen von Hand¬lungen, Normensystemen und rechtfertigenden Prinzipien; das moderne Recht ist positiv gesetzt, abstrakt allgemein und als legalistisches Zwangsrecht moralfrei, obgleich insgesamt auf Legi¬timation (durch Naturrecht) angewiesen. Gleichzeitige Bürokratisierung und Moralisierung der Ausübung politischer Macht, b) Konfliktregelung unter Gesichtspunkten rational-naturrechtlich begründeten Formalrechts und einer prinzipalistisch begründeten Privatmoral. Ich möchte meine These dahingehend zusammenfassen, daß sich der evolutionäre Lernprozeß der Menschengattung im Rahmen ei¬ner Theorie begreifen läßt, die die evolutionären Errungenschaften von Gesellschaftssystemen durch eine Verknüpfung von zwei Fra¬gestellungen erklärt: a) welche Steuerungsprobleme sind innovativ gelöst worden? b) durch welche Lernkompetenzen sind solche Innovationen möglich geworden? Der Theorie liegt die Annahme zugrunde, daß ontogenetische Lernprozesse den gesellschaftlichen Evolutionsschüben gleichsam vorauseilen, so daß gesellschaftliche Systeme, sobald ihre strukturell beschränkte Steuerungskapazität durch unausweichliche Probleme überfordert wird, unter Um¬ständen auf überschießende individuelle, über die Weltbilder auch kollektiv zugängliche Lernkapazitäten zurückgreifen können, um diese für die Institutionalisierung neuer Lernniveaus auszuschöp¬fen. Ich habe die Unterscheidung zwischen »archaischen« Gesell¬schaften, Hochkulturen und modernen Gesellschaften unter der Hand eingeführt. Solche Epocheneinteilungen verlieren ihre Will¬kürlichkeit erst, wenn es gelingt, eine evolutionäre Folge von Ge¬sell-schaftsformationen (nicht von konkreten Gesellschafts-syste¬men) einzuführen. Ich möchte die Gesellschaftsformationen nach ihren Organisations¬prinzipien unterscheiden. Dabei verstehe ich unter Organisations-prinzipien diejenigen sozialstrukturellen In¬novationen, die durch entwicklungslogisch nachkonstruierbare Lernschritte möglich werden und die unter Ausschöpfung der in¬dividuellen Lernkapazitäten ein neues Lernniveau der Gesellschaft institutionalisieren; sie legen Möglichkeitsspielräume fest und be¬stimmen: innerhalb welcher Strukturen Wandlungen des Institu¬tionensystems möglich sind; in welchem Umfang vorhandene Produktivkräfte ausgenutzt bzw. die Entwicklung neuer Produk¬tivkräfte stimuliert werden kann; und damit auch: wie weit Steuerungsleistungen gesteigert werden können. Organisationsprinzipien erklären mithin die Mechanismen, über die Gesellschaften ihre strukturell begrenzte Steuerungskapazität erweitern.“ Habermas 1976, 133-136. 89 In Luhmanns Evolutionstheorie erscheinen jedoch die Bedingungverhältnisse umgekehrt: hier stellen nicht die sozialen Systeme Schutzschirme für die lebendigen Individuen dar, sondern menschliches Bewußtsein schützende Filter für die sozialen Systeme: „Daß Kommunikationssysteme in einer direkten Weise nur an Bewußtseinssysteme gekoppelt sind und so von deren Selektivität profitieren, ohne durch sie spezifiziert zu sein, wirkt wie ein Panzer, der im großen und ganzen verhindert, daß die Gesamtrealität der Welt auf die Kommunikation einwirkt. Kein System wäre komplex genug, um dies aushalten und seine eigene Autopoiesis dagegen durchhalten zu können. Nur dank dieses Schutzes konnte sich ein System entwickeln, dessen Realität im Prozessieren bloßer "Zeichen" besteht.“ (Luhmann 1997, 114f.) Diese Umkehrung der Perspektive könnte auch erklären, warum Luhmann es vorzieht, die Darwinsche Evolutionstheorie als Sonderfall einer allgemeinen Theorie der Evolution zu behandeln und nicht die kulturelle Evolution (theoretisch und praktisch eingebettet) als Sonderfall der natürlichen Evolution. „Mit der Unterscheidung von Variation, Selektion und (autopoietischer) Stabilisierung

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der Reproduktion ist der Ausgangspunkt einer allgemeinen Evolutionstheorie formuliert, die noch ganz davon absieht, welche Arten von Systemen eine Trennung dieser evolutionären Funktionen durchführen können. Es kann sich sowohl um lebende Systeme als auch um Gesellschaften handeln.“ In einer Fußnote dazu, die Analogieschlüsse ausschließen soll, heißt es: „... daraus, daß es eine Evolution lebender Systeme gibt, kann man nicht schließen, daß es auch eine Evolution gesellschaftlicher Systeme geben müsse. Ein solcher Schluß konnte allenfalls in Theorien vertreten werden, die meinten, die Gesellschaft bestehe aus Lebewesen.“ (Luhmann 1997, 452) In einer früheren Formulierung lässt Luhmann noch erkennen, dass die Entstehung sozialer Systeme mit der Lösung realer Konflikte (durch Domestikation) zu tun hat, zugleich wird diese Beschreibung aber auch schon durch Reduktion auf kognitive Probleme entschärft (1972a: 133.): „Gesellschaft ist dasjenige Sozialsystem, dessen Struktur letzte grundlegende Reduktionen regelt, an die andere Sozialsysteme anknüpfen können. ... Die Gesellschaft garantiert den übrigen Systemen ... eine gleichsam domestizierte Umwelt von geringerer Komplexität, eine Um¬welt, in der die Beliebigkeit des Möglichen schon ausgeschlossen ist und die daher geringere Anforderungen an System¬strukturen stellt. Die Struktur der Gesellschaft hat insofern eine Funktion der Entlastung für die in der Gesellschaft gebildeten Sozialsysteme.“ Was Luhmann hier nicht sagt: Die Gesellschaft sorgt für Entlastung auch und gerade für die lebendigen Individuen! Das Beispiel zeigt noch einmal (wie schon das Theorem der doppelten Kontingenz), dass Luhmann das Problem sozialer Ordnung (Konflikt) in ein kognitives Problem (Komplexität) uminterpretiert. 90 Zur Verwendung des Organismus-Begriffs in der Theorie der Mehrebenenselektionstheorie s. Wilson & Sober 1989: “The term "individual" and "organism" have a variety of meanings in evolutionary biology, and before proceeding it is important to clarify our own usage. Hull (1980) defines individuals as "spatio-temporally localized entities that have reasonably sharp beginnings and endings in time". Notice that this definition makes no reference to functional organization; an atom, a gene, a single creature (such as an insect) and an entire species all are examples of individuals. By contrast, an organism can be defined as "a form of life composed of mutually dependent parts that maintain various vital processes" (Random House dictionary, unabridged edition). Thus, the hallmark of an organism is functional organization. An atom is not an organism, genes (and the organs they code for) are only parts of an organism, and species are frequently only collections of organisms. Because single creatures are, in most respects, both individuals and organisms, biologists informally use the two words interchangeably. The term "individual selection", for example, refers to single creatures, and not to the idea encompassed by Hull's broader definition. We will abide by the colloquial synonymy and refer to single creatures as both individuals and organisms. When more formal definitions are required, we will be careful to identify them as such. We define a superorganism as a collection of single creatures that together possess the functional organization implicit in the formal definition of organism. Just as genes and organs do not qualify as organisms, the single creatures that make up a superorganism also may not qualify as organisms in the formal sense of the word. We will continue to refer to them as individual organisms, however, to conform to colloquial usage.” S. dagegen Blute 2010: 182ff. 91 Die Bezeichnung „Symbole“ für die elementaren Replikationseinheiten in der kulturellen Evolution verwende ich hier eher vorläufig, weil die von mir an anderer Stelle schon verwendete Bezeichnung „Institutionen“ (angesichts des lockeren Umgangs mit diesem Begriff in den Sozialwissenschaften) missverständlich ist. Der Begriff des Symbols hat gegenüber dem besser eingeführten, aber sozialisationstheoretisch unterbestimmten Begriff Meme (s. Dawkins, Blackmore, Dennett) immerhin den Vorteil, jene operative Geschlossenheit gegenüber beliebigen Handlungsintentionen


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(und Reflexionen) anzudeuten, die in der Durkheim-Tradition auch mit dem Begriff der Institution verbunden ist. Auch bei Luhmann sind keine genaueren Angaben zu den Replikationseinheiten der kulturellen Evolution zu finden. Sein Hinweis auf Kommunikation als basale Operation ist in evolutionstheoretischer Hinsicht ebenfalls unterbestimmt (Luhmann 1997, 59). Im Hinblick auf den Replikationsmechanismus der kulturellen Evolution unterstellt Luhmann Theorien der doppelten Vererbung (wie z.B. Richerson/Boyd 1987, 2005) das Festhalten an obsoleten Denkfiguren (Luhmann 1997, 486f). Tatsächlich zielen diese Theorien aber gerade auf eine Überwindung des Geist-MaterieDualismus. 92 Gäbe es nur Systemdifferenzierung, dann könnte man Ebenendifferenzierung einfach als Inklusionshierarchie konzipieren. So Stichweh 1991 mit Hinweis auf Parsons. Während Parsons von einer kybernetischen Hierarchie ausgeht, in der zunehmende Steuerungskapazität durch symbolische Operationen mit abnehmendem Ressourcenverbrauch auf den höheren Ebenen einhergeht, werden bei Luhmann Sozialsysteme auf allen Ebenen durch die Verwendung symbolischer Ressourcen definiert. Diese theoretische Konstruktion sei auch insofern der von Parsons überlegen, als sie deutlich macht, dass die Steuerung durch Sinn keineswegs nur „von oben“ erfolgt, sondern sich in jedem sozialen Ereignis (Element und zugleich Teil des sozialen Wissensvorrats) reproduziert. Die ausschließliche Definition sozialer Systeme über Sinnoperationen hat jedoch zugleich den Nachteil, dass sie die Eingebettetheit der kulturellen Evolution in ihre natürlichen Bedingungen nicht mehr angemessen (nur noch als Sinnkonstrukt) zum Ausdruck bringt und ihr damit sowohl die Quellen der Variation (die Individuen) wie auch die äußeren Bedingungen der Stabilisierung (die natürliche Umwelt) aus dem Blickfeld geraten. Wenn die ältere Theorietradition von „Sinnordnungen“ (Weber) oder von „Kultursystemen“ (Dilthey) gesprochen hat (dazu Tyrell 1998) dann war damit immer nur die Metaebene gemeint. 93 Und nicht, wie es die Luhmannsche Systemtheorie suggeriert, nur eine Möglichkeit: die der Systembildung im System. 94 An dieser Stelle wäre aufzunehmen (oder auf entsprechende Ausf. in der Luhmann-Literatur zu verweisen), dass es aus heutiger Sicht zumindest mißverständlich und deshalb revisionsbedürftig erscheint, dass der Begriff der Interaktion bei Luhmann für Systeme der Interaktion unter Anwesenden reserviert wird. Für eine Analyse der modernen Gesellschaft ist von hoher Relevanz, dass sich unsere natürliche Einstellung zur Interaktivität mit technischen Mitteln über den Kreis der Anwesenden erweitern lässt. (Vgl. evtl. dazu die Verwendung des Goffmanschen Konzepts der „interaction chains“ bei Collins.) In evolutionstheoretischer Perspektive muss natürlich daran festgehalten werden, dass Interaktion unter Anwesenden zu den prägenden Merkmalen menschlicher Wahrnehmung gehört. Andererseits ist auch in dieser Hinsicht zu fragen, ob es ausreicht, als grenzziehendes Merkmal die wechselseitige Wahrnehmung als anwesend zu bezeichnen. Hinter der Zurechnung auf Blickkontakte als konstitutivem Merkmal einfacher Sozialsysteme verbirgt sich die Fortpflanzungskonkurrenz. Sehr zu Recht betont Luhmann: „Es gibt schon auf der ursprünglichsten Ebene elementarer Interaktion von Angesicht zu Angesicht keine Sozialsysteme mit gleichverteilten Chancen.“ Aber bei der inneren Ordnung dieser Systeme geht es nicht nur darum, ob die Beteiligten ihre „Beiträge auf das jeweils aktuelle Thema beschränken, oder ... versuchen, eine Themenänderung durchzusetzen.“ (1975a, 11) Die Unterdrückung von langanhaltenden Blicken („was guckst Du?“) hat mit Inzestverboten und Rangordnungen zu tun. (Vgl. den Beitrag von Meyer über die Wolof in diesem Band) 95 Bei Luhmann findet sich hierfür bekanntlich die von Spencer Brown bezogene reentry-Formel. So heisst es n der Gesellschaftstheorie (1997, 597f): „Systemdifferenzierung ist somit nichts anderes als eine rekursive Systembildung, die Anwendung von Systembildung auf ihr eigenes

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Resultat. Dabei wird das System, in dem weitere Systeme entstehen, rekonstruiert durch eine weitere Unterscheidung von Teilsystem und Umwelt. Vom Teilsystem aus gesehen, ist der Rest des umfassenden Systems jetzt Umwelt. Das Gesamtsystem erscheint für das Teilsystem dann als Einheit der Differenz von Teilsystem und Teilsystemumwelt. Die Systemdifferenzierung generiert, mit anderen Worten, systeminterne Umwelten. Es handelt sich also, um einen schon oft benutzten Begriff wiederzuverwenden, um ein "re-entry" der Unterscheidung von System und Umwelt in das durch sie Unterschiedene, in das System.“ Wenn beide Seiten der System-Umwelt-Unterscheidung wieder in das System eintreten können, dann folgt daraus logisch, dass mit jedem Teilsystem der Gesellschaft auch eine teilsystemspezifische Umwelt erzeugt wird. Und diese Umwelt besteht nicht nur aus anderen Sozialsystemen, sondern eben auch aus den Publikumsbeziehungen von Organisationen. In empirischer Hinsicht hat Luhmann dies allerdings nur für Märkte als innere Umwelten der Wirtschaft ausgeführt. . S. dazu auch schon Luhmann 1981 (in dem in Anm zum nächsten Abschnitt verwendeten Zitat) zu historischen Differenzierungsformen, die sich unterscheiden „durch das für die Primärstrukturierung benutzte Differenzierungsprinzip und sodann durch die Komplexität gesellschaftsinterner und –externer Umwelten, die ermöglicht und mit Systembildung kompatibel gemacht wird.“ (1981, 187) 96 Wenn ich hier mit Bezug auf den Begriff der Gesellschaft (im Unterschied zu der Makroebene der Organisationen) von einer Metaebene symbolischer Generalisierungen spreche, plädiere ich in methodologischer Hinsicht für einen „schwachen“ Gesellschaftsbegriff i.S. von Greve 2008. 97 Hinweis auf Theorien des Dritten s. Lindemann, Fischer im Anschluss an Simmel ... 98 Luhmann und daran anschließend Stichweh u.a. haben die Anwendung evolutionstheoretischer Begriffe auf die menschliche Kultur nur als theoretische Analogie (im Rahmen einer von konkreten Objekten abstrahierenden allgemeinen Evolutionstheorie) verstanden. Die Luhmannsche Evolutionstheorie enthält deshalb auch keine Aussagen über die fehlenden Verbindungsstücke (missing links) zwischen natürlicher und kultureller Evolution (embeddedness, disembedding). 99 In dieser Hinsicht wird häufig von dual inheritance gesprochen s. nur Richerson and Boyd 2005. 100 Das Netzwerk der menschlichen Gesellschaft ist gewebt aus Verbindungen zwischen materialen und symbolischen Entitäten. Manche Autoren bezeichnen dies auch als Hybridität. Das ist zutreffend, wenn damit darauf hingewiesen werden soll, dass das Netzwerk aus verschieden Substanzen besteht, die je gesondert vorkommen. Das Netzwerk bildet aber selbst eine (emergente) substantielle Einheit, ohne die das gesonderte Vorkommen der materiellen und symbolischen Komponenten nicht mehr angemessen beschrieben werden könnte. 101 Wenn Luhmann nicht menschliche Handlungen sondern Kommunikation als basale Operation der menschlichen Sozialität beschreibt, dann ist dem auch in evolutionstheoretischer Perspektive nur zuzustimmen. Die Divergenz im hier skizzierten Schema setzt schon eine Stufe tiefer an: alle Kommunikation ist schon ein „hybrides“ Phänomen, das aus symbolisch-sinnhaften und aus physisch-materialhaften Komponenten (Information und Mitteilung) besteht. In einer Fussnote zu entsprechenden Einwänden schreibt Luhmann (1997, 92): „Wil Martens, Die Autopoiesis sozialer Systeme, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 43 (1991), S. 625-646, meint, sie [Faktoren der natürlichen Umwelt - kg] könnten immerhin die Komponenten der Elemente sozialer Systeme (also zur Kommunikation Information, Mitteilung und Verstehen) beisteuern. Aber selbst das ist nicht möglich. Natürlich gibt es, kausal gesehen, einen solchen Fremdursprung. Aber diese Herkunft kann nicht mitkommuniziert werden. Sie geht nicht in den Sinn der Kommunikation ein, sondern bleibt im Zuge der


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Emergenz des sozialen Systems in der Umwelt zurück. Das ist nur eine andere Formulierung für das Prinzip, daß der autopoietische Prozeß zwangsläufig Systemgrenzen zieht.“ Es geht aber gar nicht darum, dass die materiellen Faktoren „mitkommuniziert“ werden – das geht natürlich nur dadurch, dass sie zu sinnhaften Objekten gemacht werden – sondern darum, dass sie evoluierte und in jeder Kommunikation reproduzierte Voraussetzungen kommunikativer Operationen sind. Diese Voraussetzungen werden von Luhmann jedoch auf eine „Formdifferenz“ reduziert (1997, 97): „Kommunikation kommt aber nur dadurch zustande, daß zwischen Mitteilung und Information unterschieden und der Unterschied verstanden wird. Alle weitere Kommunikation kann sich dann entweder auf die Mitteilung oder auf die Information beziehen; aber dies nur durch eine Anschlußkommunikation, die ihrerseits wieder die Differenz von Mitteilung und Information reproduziert. Im operativen Vollzug (dadurch daß sie geschieht) reproduziert die Kommunikation die Geschlossenheit des Systems. Durch die Art ihrer Beobachtungsweise (dadurch wie sie geschieht, nämlich durch die Unterscheidung von Mitteilung und Information) reproduziert sie die Differenz von Geschlossenheit und Offenheit. Und so entsteht ein System, daß auf Grund seiner Geschlossenheit umweltoffen operiert, weil seine basale Operation auf Beobachtung eingestellt ist. Die Formdifferenz von Mitteilung und Information ist mithin für das System eine unvermeidbare Bedingung autopoietischer Reproduktion. Im anderen Falle gäbe es nur das Nicht-mehr-Kommunizieren, das Beenden der Operationen des Systems.“ Diese „Formdifferenz“ ist aber nicht nur als ein Konstrukt der Beobachtung aufzufassen, sondern als Ausdruck einer realen Differenz, die vom Beobachter nachvollzogen wird: der Differenz zwischen dem materialen Vollzug der Mitteilung und dem symbolischen Gehalt der Information. 102 Dagegen argumentiert Stichweh (2004: 7f.) „Das hartnäckigste 'obstacle epistémique' ist nach wie vor die Vorstellung, daß Individuen Elemente in Sozialsystemen seien und insofern auch in irgendeiner Hinsicht als Einheiten der Selektion gedacht werden müßten. Boyd/Richerson belegen dies auf illustrative Weise. Clifford Geertz zitierend plädieren sie gegen eine 'stratigraphische' Auffassung der verschiedenen Aspekte der menschlichen Existenz, so als sei menschliche Existenz das übergreifende Problem, das sich als Einheitsformel für Biologie und Sozialwissenschaften eignet. Für Boyd/Richerson folgt ein unmittelbares Ineinandergreifen von biologischer und kultureller Evolution, das durch Individuen als Verbindungsglied zwischen den beiden Evolutionen gewährleistet wird. Als Begründung führen sie an: "Human beings are both biological and cultural organisms." Eine Klärung, was der Sinn der Aussage, ein menschliches Wesen sei ein ‚kultureller Organismus', sein könnte, findet sich nicht. Auffällig ist in Überlegungen dieses Typs zum Verhältnis von Biologie und Sozialwissenschaften immer auch, daß je nach disziplinärer Bindung des Autors entweder die Psychologie oder die Soziologie nicht ernsthaft als eigenständiges Erkenntnissystem ins Kalkül gezogen wird. Demgegenüber ist die Luhmannsche Konzeption einer je eigenen Autopoiesis des Lebens, des Bewußtseins und der Kommunikation vorzuziehen.“ Boyd/Richersons Theorie der doppelten Vererbung zwingt m.E. in keiner Weise dazu, die Eigenständigkeit von Psychologie und Soziologie in Frage zu stellen. Aber die methodologische Eigenständigkeit der Disziplinen zwingt auch nicht dazu, ihre Gegenstände als eigenständig zu betrachten, wie Stichweh dies im Anschluss an Luhmanns Autopoisiesis-Konzept postuliert. In evolutionstheoretischer Perspektive ist eher das Gegenteil gefordert. 103 Die Unterscheidung zwischen materialen und symbolischen Faktoren in der horizontalen Dimension kann auch i.S. der DualInheritance-Theorie von Richerson/Boyd (2005) interpretiert werden. S. dazu auch die Ausf. zur differenzierungstheoretischen Tradition in Kap. IV bei Beetz (insbes. FN 37, 43, 46). S. auch die Gegenüberstellung von Organisation und Öffentlichkeit in Kap.VI. bei Beetz. Kulturelle Selektion i.S. des o.a. Schemas

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vollzieht sich durch Konkurrenz der Organisationen in den funktionsspezifischen Publikumssphären. In der Theorie funktionaler Differenzierung fehlen m.E. Ausführungen zu dem Umstand, dass das, was in Funktionssystemen jenseits von formalen Organisationen passiert, nicht nur irgendwelche nichtorganisierten Formen funktionssystemischer Kommunikation sind, sondern vor allem – und komplementär zur Form der Organisation – Formen der Öffentlichkeit, funktionssystemspezifische Kommunikation in Publikumsrollen. Gerade hier – nicht primär in den Operationen von Organisationen sondern in denen der Öffentlichkeit mit ihren technisch erweiterten Gedächtnisspeichern – sind Entstehung, Wandel und Vergehen operativ geschlossener Sinneinheiten zu beobachten. In diesem Sinne wären dann auch die für Organisation und Öffentlichkeit prinzipiell divergenten Formen von Inklusion und Exklusion anzuführen (die Luhmann allgemeiner auf die Differenz zwischen Organisations- und Funktionssystem bezieht – s. u.a 1997, 844). Prototypische Formen der Öffentlichkeit sind bereits in der Figur des Dritten zu erkennen, der aus den Varianten sozialen Handelns, die sich in der Interaktion zwischen Ego und Alter abspielen, erwartbare Strukturen macht, indem er sein handlungsentlastetes Erleben zur Grundlage von Wahlentscheidungen macht. - S. das Schema oben. 104 Also i.S. einer Vierfeldertafel, wie sie von Luhmann bei Parsons wiederholt verspottet worden ist. S. z.B. (1975c: 197): „Rechts/Links-Spiele und Oben/Unten-Spiele sind vermutlich bei Soziologen deshalb so beliebt, weil sie so einfach sind“. Luhmann fordert stattdessen ein kombinatorisches Vorgehen. Man kann das hier skizzierte Schema auch i.S. der berühmten „Badewanne“ Colemans lesen. Allerdings müssen bottom-up und top down-Erklärungen in evolutionstheoretischer Perspektive als komplementär betrachtet werden. Hier macht es keinen Sinn, einer bottom-up-Perspektive irgendeinen ontologisch fundierten Vorrang einzuräumen, da die Ebenen sich wechselseitig voraussetzen, aber nicht aufeinander reduzierbar sind. Stanislaw Lem hat mit Bezug auf die beim Ausbau des soziokulturellen Gehäuses zum Zuge kommenden Technologien darauf hingewiesen: „Es gibt reichlich Unterschiede zwischen der Biotechnologie und unserer Technologie (in allen Spielarten). Der wichtigste ist, verkürzt gesagt, der, daß wir in der Regel nach der Methode Top-down handeln, die Biotechnologie aber nach der Methode Bottom-up. ... Zuerst »lernte« sie, das heißt trainierte sie, die primitiven Anfänge des genetischen Codes in den drei Milliarden Jahre nach der Erstarrung der damals letzten protoplanetaren Oberfläche der Erde. Und erst nachdem sie den Erbcode durch die Trillionen »Versuche und Irrtümer« mit einer größeren Universalität ausgestattet hatte, entwickelte sie daraus einfache Zellverbände, dann etwas größere, die zu einem replikativen Leben im Wasser fähig waren, dann auf dem Land und am Schluß in der Luft.“ (Lem 2000, 151) M.E. ist aber der Unterschied der Perspektiven zwischen natürlicher und kultureller Evolution praktisch nicht so groß, wenn man bedenkt, wie sehr die Technik als Variationsmechanismus in der kulturellen Evolution von trial-and-error-Methoden bestimmt ist. Worauf Lems Behauptung einer top down-Perspektive sich stützt, ist der Selektionsmechanismus, dessen Kriterien sich aus den symbolischen Ordnungen der Metaebene ableiten. 105 Dieses eher spekulative Schema - inklusive Erläuterungen in dem Absatz davor und danach - in der Version für ZfS evtl. weglassen. 106 In einer andereren Form der Darstellung (nicht am Vier-FelderSchema mit 2 x 2 Unterscheidungen orientiert) ließen sich die Ebenenunterscheidungen für natürliche und kulturelle Evolution auch als modifizierte Hierarchie darstellen. In dieser Form des Schemas lässt sich vielleicht besser zeigen, dass die Objekte indirekter Selektion – also Gene und Arten, Symbole und Gesellschaften – nicht nur auf verschiedenen Ebenen liegen, sondern indirekt, nämlich vermittelt über ihre organischen Träger, mit Veränderungen auf der Mikroebene variieren. Um Verwechslungen auszuschließen, führe ich hier nicht nur die Unterscheidung zwi-


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schen Makro- und Metaebene, sondern auch zwischen Mikro- und Nano-Ebene ein, um zu verdeutlichen., welche Einheiten direkt und welche nur indirekt der Variation und Selektion ausgesetzt sind. Natürliche Evolution Arten

MakroEbene Selektion direkt MikroEbene

Populationen Organismen

Selektion indirekt – operativ geschlossen

Gene

Kulturelle Evolution Metaebene

Gesellschaften (Differenzierung)

Makroebene

Gruppen (Organisation)

Selektion direkt

Mikroebene

Individuen (Interaktion)

Nanoebene

Symbole (Markierung)

Selektion indirekt –

operativ geschlossen

107 Anders als im hier skizzierten Schema wird in vielen Beiträgen aus der Soziologie die binäre Unterscheidung zwischen Mikround Makroebene durch Einführung einer Mesoebene relativiert, der dann Organisationen zugeordnet werden. Eine solche eindimensional-hierarchische Triade (die der Luhmannschen I-O-GUnterscheidung näher steht) hat jedoch m.E. den Nachteil, nicht mehr deutlich zu machen, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen Interaktions- und Organisationsphänomenen primär um (evoluierte) Größenunterschiede handelt, während es sich bei Gesellschaften (wie schon der Arten) um rein symbolische Phänomene handelt, die von vornherein die quantitative Dimension der Mikro-Makro-Unterscheidung unterlaufen. 108 Zur Verwendung der Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroebene in der Evolutionsbiologie s. u.a. E.Mayr 1994: „((33)) Man kann zwischen Mikro- und Makroevolution unterscheiden. Bei der Mikroevolution handelt es sich um all das, was in Populationen und bei der Artbildung stattfindet. Makroevolution ist das, was zu den höheren Kategorien führt, was das Entstehen neuer "Typen" betrifft: das Erfinden von strukturellen ("Flügel"), physiologischen und verhaltensmäßigen Neuigkeiten. Seit Darwin hat man sich gestritten, wieweit das, was man beim Studium von Populationen und Arten gelernt hat, zum Erklären der Makroevolution benützen kann. Inzwischen ist es völlig klar geworden, daß alles, was bei der Makroevolution neu auftritt, zuerst in einem Individuum einer Art auftritt. Makroevolution muß also mit Hilfe der Mikroevolution erklärt werden. ((34)) Und nun zur Besprechung einiger besonders umstrittener Probleme der Makroevolution.- Zum Beispiel haben Autoren mit einer Ideologischen Grundeinstellung gefragt, warum haben wir noch Bakterien und niedere Pflanzen und Tiere, wenn die Welt des Lebendigen durch Auslese auf immer höhere Stufen geführt wird? Die Antwort ist natürlich, daß jede Artbildung eine Einnischung ist und die neu erworbene Nische keineswegs immer zur Verdrängung der Besitzer schon bestehender Nischen führen muß. Die Bakterien zum Beispiel füllen Nischen, die mit höheren Lebewesen nicht konkurrieren. Damit will ich keineswegs bestreiten, daß es auch Konkurrenz zwischen höheren Gruppen gibt. Die geradezu explosive Entwicklung der Säugetiere im Paleozän und Eozän steht sicher im Zusammenhang mit dem Aussterben der Dinosaurier Ende der Kreidezeit, die Nischen besetzt hatten, die später von Säugern erobert wurden. ((35)) Immer wieder wird von Gegnern des Darwinismus behauptet, es gäbe gewisse Neubildungen in der Evolution, die man

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"unmöglich" durch allmähliche Darwinsche Evolution erklären könnte. Severtsov, Rensch, Simpson und ich haben sich mit diesem Problem beschäftigt. Nachdem die alte Theorie von den Großmutationen endgültig widerlegt worden ist, bleiben noch zwei Erklärungsmöglichkeiten: Wie Severtsov sagte, entweder durch die Intensivierung einer Funktion oder durch Funktionswechsel. Die Spezialisierung der normalen Gliedmaßen der Säuger zu Grabschaufeln (Maulwurf), Flossen (Wale) oder Flügeln (Fledermäuse) erfolgte durch Intensivierung. Das erklärt auch den Ursprung von Augen, denn man hat jedes Zwischenstadium zwischen einem einfachen lichtempfindlichen Fleck auf der Haut und den hervorragenden Augen der Tintenfische und Wirbeltiere. Hier hat die Darwinsche Erklärung einer allmählichen Evolution keinerlei Schwierigkeiten. Das gilt ebenso für den Ursprung neuer Organe durch Funktionswechsel (Dohrn, Severtsov, Mayr). Beispiele sind die Mittelohrknöchelchen der Säugetiere, die Schwimmblase der Fische, die Ruder-Antennen von Daphnia, die Schilddrüse, die elektrischen Organe von Fischen und vieles mehr. Um die neue Funktion übernehmen zu können, muß die alte Struktur in der Lage sein, in der Übergangszeit zwei Funktionen ausführen zu können. Und man wird in solchen Fällen viele Fälle von Polymorphismus in den betreffenden Populationen finden. ((36)) Die Typologen stellen sich immer vor, ein neuer Typ in ausgeglichener Vollkommenheit würde durch eine Großmutation (Typogenese) entstehen. In Wirklichkeit entsteht ein neuer Typus immer durch Mosaikevolution. Archaeopteryx zeigt das besonders schön. In einigen Charakteren ist er bereits ein richtiger Vogel (Federn, Flügel), in anderen noch ein Reptil (Zähne, Schwanz) und in wieder anderen auf irgend einer Zwischenstufe.“ 109 In der biologischen Evolutionstheorie wird unterschieden zwischen Selektion auf der Ebene der Individuen und der der Populationen (von weiteren Ebenen der Selektion hier abgesehen). Diese Ebenen sind nicht aufeinander reduzierbar. Mechanismen der Selektion wirken auf beiden Ebenen kausal unabhängig voneinander, können sich gegenseitig verstärken, neutralisieren oder abschwächen (s. Ausf. bei Sober/Wilson). Die Unterscheidung zwischen Individual- und Gruppenselektion ist als Prämisse sozialwissenschaftlicher Ebenenunterscheidungen zu betrachten. Im Blick auf die kulturelle Evolution des Menschen interessiert dann v.a. die abschwächende Wirkung, die sich aus der Wirkung von Gruppenselektion im Hinblick auf den Selektionsdruck der natürlichen Umwelt ergibt, der auf den Einzelnen lastet. 110 Zu der für das Schema verwendeten Unterscheidung zwischen Einheiten, die direkt oder indirekt der Selektion ausgesetzt sind s. ausführlich E.Mayr 1997 „The Gene. The proposal by Williams (7) to adopt the gene as the object of selection not only conformed to the prevailing reductionist spirit of the time but also fitted into the thinking of many geneticists who in the mathematical analyses of population genetics had adopted the gene as the principal entity of evolutionary change. Williams’s proposal was strongly endorsed by Dawkins (9). This idea of the gene as the target of selection was at first widely accepted, for instance by Lewontin (10). But eventually it was severely criticized (11, 12), and even its original supporters have now moderated their claims. The critics pointed out that ‘‘naked genes,’’ ‘‘not being independent objects’’ (9), are not ‘‘visible’’ to selection and therefore can never serve as the target. Furthermore, the same gene, for instance the human sickle cell gene, may be beneficial in heterozygous condition (in Plasmodium falciparum areas) but deleterious and often lethal in the homozygous state. Many genes have different fitness values when placed into different genotypes. Genic selectionism is also invalidated by the pleiotropy of many genes and the interaction of genes controlling polygenic components of the phenotype. On one occasion Dawkins (ref. 13, point 7) himself admits that the gene is not an object of selection: ‘‘. . . genetic replicators are selected not directly, but by proxy . . . [by] their phenotypic effects.’’ Precisely! Nor are


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combinations of genes, as for instance chromosomes, independent objects of selection; only their carriers are. … The Individual Organism. From Darwin to the present day most evolutionists (1) have considered the individual organism to be the principal object of selection. Actually, it is the phenotype which is the part of the individual that is ‘‘visible’’ to selection (14). Every genotype, interacting with the environment, produces a range of phenotypes, called by Woltereck (15) the ‘‘norm of reaction.’’ Therefore, when an evolutionist says that the ‘‘genome is a program that directs development,’’ it would be wrong to think of it in a deterministic way. The development of the phenotype involves many stochastic processes which preclude a one-to-one relation between genotype and phenotype. This is, of course, precisely the reason why we must accept the phenotype as the object of selection rather than the genotype. Different phenotypic expressions of the same genotype may differ considerably in their fitness value. What is visible to selection is the phenotype which ‘‘screens off’’ the underlying genotype (2). The term phenotype refers not only to structural characteristics but also to behavioral ones and to the products of such behavior such as bird nests and spider webs. Dawkins (13) refers to these as the extended phenotype. However, such species-specific behaviors are programmed in the neural system of these individuals and thus do not differ in principle from the morphological aspects of the phenotype. In this account, when I refer to the term individual, I always mean what the word individual means in the daily language, that is, the individual organism. Philosophers have also applied the term to ‘‘particulars,’’ like the species. I have avoided this designation because it is apt to create confusion. Group Selection. There has been a long and bitter controversy as to whether groups as cohesive wholes can serve as targets of selection. The answer is ‘‘it depends.’’ There are different kinds of assemblages of individuals (‘‘groups’’), some of which do and others which do not qualify as targets of selection. At one time I classified groups on the basis of size and geographical relationship (16), but this did not turn out to be a productive approach. However, there is another approach which usually produces clear-cut results. It is obvious that a group, the selective value of which is simply the arithmetic mean of the fitness values of the composing individuals (when in isolation), is not a target of selection. If such a group is particularly successful, it is due to the superior fitness of the composing individuals. This idea has often been included in theories of group selection. However, this false or soft group selection is not group selection at all. In contrast, if, owing to the interaction of the composing individuals or owing to a division of labor and other social actions, the fitness of the group is higher or lower than the arithmetic mean of the fitness values of the composing individuals, then the group as a whole can serve as an object of selection. I call this hard group selection. Interestingly, this was already appreciated by Darwin in a discussion of groups of primitive humans (4). Such hard group selection, a prerequisite for the explanation of human ethics, is still controversial. It is sometimes difficult to decide whether the success of a particular group is due to soft or hard group selection. However, when a group of ground squirrels is particularly successful, because it has an efficient system of sentinels warning the group of approaching predators, it is clearly hard group selection. This is also the case when a pride of lionesses splits up to block the escape route of an intended victim. The success of surprise attacks by chimpanzees on members of neighboring troupes depends on the well organized strategy of the attackers. In all such cases the successful group acts as a unit and is as a whole the entity favored by selection. Selection at Higher Levels. There has been much argument about whether there is, or is not, such a phenomenon as species selection. In the early postDarwinian period when thinking about selection was rather con-

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fused, it was often said that such and such a character had evolved because it was ‘‘good for the species.’’ This is quite misleading. The selected character had originated because it benefited certain individuals of a species and had gradually spread to all others. The species as an entity does not answer to selection. There is, of course, no question that one species can cause the extinction of another species. The introduction of the Nile perch into Lake Victoria in Africa has resulted in the extinction of several hundred endemic species of cichlid fishes. The parasitic cowbird almost exterminated the Kirtland’s warbler in northern Michigan until drastic cowbird eradication procedures in the breeding range of Kirtland’s warbler were adopted. Darwin (3) described in 1859 the extermination of many native New Zealand species of animals and plants by the introduction of competing species from England. The competitors were by no means always close relatives. In spite of all these examples I hesitate to use the term species selection and prefer to call such events species turnover or species replacement because the actual selection takes place at the level of competing individuals of the two species. It is individual selection discriminating against the individuals of the losing species that causes the extinction. Some authors have also attempted to recognize even higher levels such as family selection or clade selection, but in no case are these entities as such the object of selection. Selection in these cases always takes place at the level of individuals.“ 111 Es geht hier also um die Präsenz des körperlichen Organismus als unabdingbare Voraussetzung und Merkmal der Operationen, die das Sozialsystem – sowohl auf der Mikroebene der Interaktion der Individuen wie auch in den aggregierten Formen der Population - ausmachen. Der Selektionsdruck der Umwelt greift hier – wie sehr auch immer in kulturellen Sozialsystemen modifiziert durch symbolische Orientierungen – direkt an der körperlichen Existenz an. 112 Auch für Luhmann bilden Interaktionen in diesem materialen Sinne keine operativ geschlossenen Systeme: „ ... jede Interaktion hat ein für sie problematisches Verhältnis zur Gesellschaft, weil sie als Interaktion keine Autarkie im Sinne einer vollständigen Geschlossenheit des Kommunikationskreislaufs erreichen kann.“ Luhmann 1984, 552. Andererseits ist Luhmann aufgrund seiner Autopoiesis-Prämisse gezwungen, alle Formen von Sozialsystemen im Medium von Sinn als operativ geschlossene Einheiten aufzufassen. Organisationen bestehen demnach nur aus der Entscheidungen (1997, 826ff). Damit wird es schwierig zu erklären, wie es möglich ist, dass Organisationen Kriege führen und Krankheiten heilen, Menschen und Tiere töten oder am Leben lassen können. 113 Auch bei Luhmann gibt es die Unterscheidung zwischen einer Ebene der basalen Operationen sozialer Systeme (die ich mir zumindest nicht nur als symbolisch konstituiert vorstellen kann) und einer Ebene der Steuerungsoperationen, die auf das kulturelle Gedächtnis (den Genpool der kulturellen Evolution) zurückgreifen: „Das Gedächtnis ist nicht das System, denn das System muß schon am Laufen sein, um etwas erinnern zu können; und folglich ist auch die erinnerte Vergangenheit nicht die Vergangenheit des Systems. Ein externer Beobachter kann immer eine andere Vergangenheit hinzukonstruieren oder auch die im System erinnerte Vergangenheit als Fiktion behandeln. Logiker und Linguisten werden (als externe Beobachter) versucht sein, hier "Ebenen" zu unterscheiden und ein Nichtverwechslungsgebot aufzustellen; und das hat, mehr als sonst, gerade hier eine gewisse Plausibilität, da das Gedächtnis selbst durch seine Leistung des Vergessens von der Ebene der Systemoperationen abhebt.“ Luhmann 1997, 583. 114 Luhmann verspottet hier die Unterscheidung von Mikro- und Makrophänomenen als Erfindung von „theoretisch unbegabten Amerikanern“ und gibt der Unterscheidung von Selbstorganisation und Mikrodiversität den Vorzug, weil sie (in dieser Hinsicht wie die moderne Evolutionstheorie): „nicht dazu zwingt, den Ausgangspunkt soziologischer Analysen auf der einen oder der anderen Seite zu verankern. Es geht nicht darum, zu begründen,


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wie man von einer Makroebene herunter kommt zu Mikroanalysen oder umgekehrt (was viel schwieriger zu sein scheint) auf der Mikroebene Makrophänomene sichtbar machen und dann zu de¬ren Analyse übergehen kann (hierzu z.B. Coulter 1996). Es geht also nicht um das Postulat eines irgendwie ontologisch begründeten Vorrangs der einen oder der anderen Betrachtungsweise. Mit der Unterscheidung von Selbstorganisation und Mikrodiversität ist vielmehr eine Differenz bezeichnet, die als Differenz wirkt. Selbstorganisation kommt nur auf der Grundlage von Mikrodiversität zustande, so wie umgekehrt ein spezifischer Bereich von Mikrodiversität nur abgegrenzt werden kann, wenn er Anlaß gibt zur Entstehung von Selbstorganisation.“ In Soziale Systeme (1984, 43) hatte sich Luhmann aber noch zur Bevorzugung von Top-Down-Erklärungen bekannt: „Theoretisch umstritten scheint zu sein, ob die Einheit eines Elements als Emergenz »von unten« oder durch Konstitution »von oben« zu erklären sei. Wir optieren entschieden für die zuletzt genannte Auffassung. Elemente sind Elemente nur für die Systeme, die sie als Einheit verwenden, und sie sind es nur durch diese Systeme.“ Eben das sei mit dem Konzept der Autopoiesis und im Grunde schon bei Parsons so gemeint: „Die Funktionsorientierung behält mithin den ‚holistischen‘ Zug älterer Systemtheorien bei“. (S.48) In dem Beitrag von 1997 verspricht Luhmann, mit der Ebenunterscheidung von Selbstorganisation und Mikrodiversität die Beschränkungen des methodologischen Individualismus zu vermeiden: „Das Individuum ist für uns keine elementare Kausalkategorie, die aus sich selbst heraus Wirkungen erzeugt. Vielmehr wird es Individuum nur durch die Differenz zu anderen Individuen, und eben das heißt: Mikrodiversität. Die Unterscheidung Selbstorganisation / Mikrodiversität folgt also dem methodologischen Postulat des Differenzdenkens, vor allem der Annahme, daß nur Differenzen (und nicht etwa Elemente oder ,Kräfte') Wirkun¬gen haben können.“ (33). An dieser Stelle bleibt jedoch unklar, worauf sich die Behauptung gründet, dass nur Differenzen wirksam seien. In evolutionstheoretischer Perspektive muss m.E. daran festgehalten werden, dass auf beiden Ebenen kausal voneinander unabhängige Mechanismen wirksam werden: Auf der Ebene der Selbstorganisation sozialer Systeme Selektion – auf der Ebene der Mikrodiversität der Individuen Variation. 115 Size matters! Dies auch gegen die generellen Einwände von Latour 2007, 286ff 116 Zum Populationskonzept in der Darwinschen Theorietradition vgl. Mayr 2003. Zur Verwendung des Populationsbegriffs mit Bezug auf moderne Organisationen vgl. Hannan/Freeman .... 117 Luhmann hat in dieser Hinsicht anders optiert: „Nur Gesellschaftssysteme sind mögliche Träger evolutionärer Prozesse“ heißt es in dem IOG-Aufsatz von 1975 S.12. Dementsprechend heisst es dann im Grundriß der allgemeinen Theorie (1984, 575): „Nur auf der Ebene des Gesellschaftssystems und seiner Subsysteme ist Evolution möglich, das heißt eine Änderung von Strukturen durch Variation, Selektion und Restabilisierung.“ Hier räumt Luhmann aber ein, dass Interaktionssysteme zur gesellschaftlichen Evolution beitragen „wenn sie Strukturbildungen anbahnen, die sich im Gesellschaftssystem bewähren.“ Ist das nicht aber schon die Wirkung von Variation? Und muss es dann nicht auch für Organisationsysteme gelten? Luhmann hat seinen Begriff der Gesellschaft als „das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen“ bekanntlich vor allem gegenüber normativen Konzepten abgegrenzt: „Im Vergleich zu diesem weiten Gesellschaftsbegriff hatte die alteuropäische Tradition den Begriff der Gesellschaft enger gefaßt als politisch-rechtlich konstituiertes System, als societas civilis. Auch heute halten viele Soziologen, vor allem Talcott Parsons, an einem normativen Gesellschaftsbegriff fest. Danach wird die Einheit der Gesellschaft auf die gemeinsame Anerkennung eines Mindestbestandes an Normen bzw. Werten konstituiert. Dabei wird jedoch der strukturell erforderliche eben-

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so wie der faktisch bestehende Konsens überschätzt. “ Luhmann 1975a, 11. In evolutionstheoretischer Perspektive geht es aber gar nicht um normative (kontrafaktische Konsensunterstellungen) oder deskriptive Begrifflichkeit, sondern um den Unterschied zwischen sich selbststeuernden, handlungsfähigen Einheiten, die als solche der Selektion ausgesetzt sind, und latent vorausgesetzten und emergenten Einheiten, die sich direkten Umwelteinflüssen entziehen. 118 Seit der Synthese der Darwinschen Evolutionstheorie mit der Mendelschen Genetik werden auch natürliche Organismen als Informationen prozessierende Einheiten beschrieben. Die zugespitzte Formulierung vom Genom als „bookkeeper“, also eher passivem Medium der Buchhaltung, ist von S.J.Gould gegen die irreführenden Selbststeuerungsannahmen in Dawkins Theorie der „egoistischen“ Gene gerichtet worden. 119 Im Sinne der neodarwinistischen Terminologie kann man von einer „evolutionär stabilen Strategie“ (ESS) sprechen s. MaynardSmith, Axelrod u.a. – Luhmann selbst hat dafür im Anschluss an Campbell den Begriff der reproduktiven Stabilisierung bzw. als Terminus für einen – erst in der kulturellen Evolution ausdifferenzierten – Mechanismus den Begriff der Restabilisierung eingeführt (s. u.a. Luhmann 1997, 485ff). 120 Luhmann hat theoretische Prämissen für die Untersuchung historischer Differenzierungsformen aus seiner Kritik an der älteren funktionalistischen Differenzierungstheorie abgeleitet: „Die klassische Theorie besagt: Gesellschaftliche Evolution ist zunehmende Differenzierung des Gesellschaftssystems. Differenzierung wird dabei nach dem im 18. und 19. Jahrhundert entwickelten Modell der Arbeitsteilung gedacht. Die Verlegenheit, in die dieses Modell führt, sind bekannt genug, um es zu diskreditieren. Ich nenne nur drei Probleme: [1] Da es offensichtlich Grenzen sinnvoller Arbeitsteilung gibt, muß dieses Modell ein Ende, ein non plus ultra der gesellschaftlichen Entwicklung postulieren, und dieses Ende scheint in der sogenannten postindustriellen Gesellschaft bereits erreicht zu sein. [2] Differenzierung wird als kompensierbar angesehen durch Integration und durch Generalisierung gemeinsamer Orientierungen (so wie Arbeitsteilung durch Koordination). Das wird jedoch dem Gesamtkomplex problematischer Nebenfolgen weit getriebener Differenzierung kaum gerecht. Und [3] ist dieses Konzept nicht in der Lage, Probleme und Fakten der sozialen Schichtung adäquat zu behandeln. Das wird ihm politisch als Ideologie der herrschenden Klasse angelastet. Diese Schwierigkeiten sind seit langem bekannt. Der erste Ausweg war, den Begriff der Arbeitsteilung zu generalisieren und ganz allgemein von „struktureller Differenzierung" zu sprechen. Dieser Begriff übergreift jedoch zu viel und erklärt zu wenig. Vor allem für eine Kombination mit evolutionstheoretischen Analysen reicht er nicht aus, da Evolution offensichtlich Strukturen nicht nur differenziert, sondern auch generalisiert und vereinfacht. Wenn wir nun diesen Zusammenhang von Evolution und Gesellschaftsdifferenzierung mit systemtheoretischen Mitteln rekonstruieren, wird die Theorie sofort sehr viel komplexer. Die Systemdifferenzierung betrifft nämlich nicht nur die Systeme selbst, sondern auch ihre Umwelten und auch die Beziehungen zwischen System und Umwelt. Es gibt dann bei zunehmender Differenzierung nicht nur mehr verschiedenartige Einheiten, sondern auch für jede Einheit eine jeweils andere Umweltkonstellation in einer für alle gemeinsamen Gesellschaft; und schließlich entsprechend verschiedene Techniken, mit dieser Differenz von System und Umwelt fertig zu werden. Das heißt, um es auf eine Formel zu bringen, die die selbstreferentielle Struktur des Arguments deutlich macht: Differenziert werden die Differenzen zwischen Systemen und Umwelten. Eine derart relationistisch ansetzende Theorie ist abschreckend unanschaulich, wenn man sie mit den Schuster-undSchneider-Theorien der Arbeitsteilung vergleicht. Aber sie hat das größere Konstruktionsvermögen. Man kann zunächst einmal drei Typen der Innendifferenzierung des Gesellschaftssystems unterscheiden, nämlich [1] segmentäre Differenzierung auf der Basis


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der Gleichheit von Systemen und Umwelten; [2] schichtungsmäßige Differenzierung auf der Basis rangmäßiger Gleichheit im System und Ungleichheit im Bezug zur Umwelt; und [3] funktionale Differenzierung auf der Basis funktionaler Gleichheit im System und funktionale Ungleichheit im Bezug zur Umwelt. Diese Prinzipien der Differenzierung sind in sehr verschiedener, aber nicht in beliebiger Weise kombinierbar. Die Komplexität der Gesellschaft hängt davon ab, welches Prinzip für die primäre Differenzierung gewählt wird; denn diese Option steuert die Typik von System/Umwelt-Beziehungen innerhalb des Gesellschaftssystems. Im großen und ganzen kann man sagen: archaische Gesellschaften sind in ihrer Primärstruktur segmentär differenziert, Hochkulturen schichtungsmäßig differenziert, die moderne Gesellschaft dagegen funktional differenziert. Dies zuletzt genannte Prinzip ermöglicht die größte Systemkomplexität, weil es auf sekundäre Stufen der Differenzierung auch Schichtung und auch segmentäre Differenzierung zuläßt. Es ist demnach nicht einfach die immer größere Differenzierung, sondern die Wahl des Prinzips der Differenzierung, die die bisherige gesellschaftliche Evolution auszeichnet; und das besagt, daß überholte Differenzierungen aufgelöst werden müssen, wenn ein voraussetzungsreicheres Prinzip der Differenzierung realisiert wird.“ (Luhmann 1975c, 197f) 121 ad 4: Formen sozialer Differenzierung als Medien der Konfliktverarbeitung Diesen Abschnitt evtl. in 3 Unterabschnitte zu den historischen Formationen sozialer Differenzierung und mit exemplarischen Konfliktkonstellationen aufteilen. Passagen zu Öffentlichkeit im Haupttext evtl. wieder reduzieren! 122 An dieser Stelle könnte man einwenden, dass Luhmanns Formulierung eine Entwicklungslogik nicht prinzipiell ausschließt, sondern es aus differenzierungstheoretischen Gründen nur für „unnötig“ hält, davon zu sprechen. S. dazu die Hinweise von Tyrell 2001, 519 auf offen teleologische Formulierungen beim frühen Luhmann. S. dazu aber auch meine Hinweise im vorigen Abschnitt zu Verwendungen der Organismus-Analogie, die mit der Darwinschen Evolutionstheorie durchaus vereinbar sind. – Zur evolutionstheoretischen Auflösung des Streits über funktionalistsichen Fehlschluss bzw. versteckte Teleologien in funktionalistischen Erklärungen Blute (2010: 142): „In a biological context, we say the function of the heart is to circulate blood but what we really mean is that once upon a time in a population of organisms there were individuals with hearts that did, and those with hearts that did not, circulate blood (or more realistically, which circulated it with varying degrees of efficiency). Those organisms with hearts that circu¬lated blood efficiently survived and reproduced at higher rates than did those with hearts that did not, and because of the principle of heredity, that offspring resemble their parents, members of the relevant popula¬tion today have hearts that efficiently circulate blood. The point is relevant as well of course to the long history of debates over functional explanations in anthropology and sociology. Functional statements about institutions such as political, economic or educational institutions, for example, would make sense only in the context of an implied selection process. To say that the function of political institutions is to reconcile conflicting interests would only make sense, whether or not they are true, in the context of claims about competing societies which differed in viability because of the presence or absence of political systems which performed in this way.“ 123 Hier ist (über das folgende Zitat von 1981 hinaus) auf Ausführungen Luhmanns zu historischen Umbrüchen in den Differenzierungsformen infolge von Innovationen im Gebrauch der Kommunikationsmittel hinzuweisen S. 1997, Kap. 4. 124 Die Bezeichnung der im Übergang zur modernen Gesellschaft evoluierten Formen sozialer Differenzierung als „funktional“ trägt noch den normativen Bias der funktionalistischen Modernisierungstheorie. Diese Bezeichnung ist mißverständlich, weil seg-

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mentäre und hierarchische Differenzierungsformen natürlich ebenso funktional für die Stabilisierung der Gesellschaften sind, in denen sie sich herausgebildet haben. Tatsächlich können die neuen Formen in erster Näherung als Kombination aus segmentären und hierarchischen Formen sozialer Differenzierung verstanden werden: Einerseits kehrt die Moderne mit ihren symbolisch generalisierten Teilsystemen auf der Metaebene zu einer horizontalen Form der Differenzierung zurück – nur dass die Segmente dieser Form jetzt ungleich und nicht substutiv sind. Andererseits wird in der Moderne die vertikale Differenzierung zwischen der Ebene der Interaktion unter Anwesenden und der Ebene der Gesellschaft in historisch nie gekannter Weise gesteigert durch die Ausbreitung formaler Organisationen und Öffentlichkeiten. Die Bezeichnung funktionale Differenzierung trägt auch der Verlagerung der internen Selektionsmacht von den Funktions- und Leistungsträgerrollen zu den technisch erweiterten Publikumsrollen zuwenig Rechnung. Die Bedeutung der Publikumsrollen in den wettbewerbsmäßig organisierten Formen von Öffentlichkeit für die Binnendifferenzierung der modernen Gesellschaft ist immer noch zu wenig untersucht. 125 Hier fehlt noch der ausdrückliche Hinweis auf Luhmanns Weiterentwicklung der Differenzierungstheorie gegenüber Durkheim (mit Bezug auf die Differenzierungsformen traditionellhochkultureller Gesellschaften) und Parsons. S. dazu Tyrell 2001 und mit Bezug auf die erste Ausformulierung bei Luhmann 1977. Ich zitiere aus einer langen Fussnote von Tyrell 2001, 521: „Explizit geht Luhmann hier auf Distanz zu Durkheim: „Durkheim hatte, motiviert wohl durch das Abstandsbewusstsein der Moderne gegenüber älteren Gesellschaften und durch die Dichotomisierungsgewohnheiten des 19. Jahrhunderts, nur zwei Typen gebildet: Segmentierung und Differenzierung. [...] Man muss mindestens eine weitere Form der Differenzierung, Stratifikation, dazwischenschieben" (ebd., S. 243). Es ist nicht uninteressant, dass Luhmann das an dieser Stelle, nicht aber in dem Vorwort sagt, das er (zuerst ebenfalls 1977) zu der deutschen Übersetzung von Durkheims Arbeitsteilungsbuch beigesteuert hat. Auch gegenüber Parsons wird der Abstand nun größer; bei diesem lagen die Differenzierungsdinge, hält man sich an The Evolution of Societies, a.a.O., wie folgt: 1.) Differenzierung bleibt in der Vier-Felder-Welt des AGILSchemas evolutionär prominent. Nah an Spencer heißt es hier grundsätzlich: „Socio-cultural, like organic evolution, has proceeded by differentiation from simple to progressively more complex forms" (ebd., S. 24). Es geht damit um „increasing differentiation", allerdings im AGIL Rahmen — also einerseits auf dem „general action level", damit u. a. zwischen Gesellschaft und kulturellem System (ebd., S. 5, 71 ff.), andererseits "within societies", also zwi¬schen den Subsystemen der Gesellschaft, beides aber miteinander „parallelisiert" (ebd., S. 5 f.). Parsons kann entsprechend von undifferenzierten Anfängen ausge¬hen und tut es ganz explizit: „the undifferentiatedness of Australian society" (S. 37 f.). 2.) Parsons unterscheidet hinsichtlich der „evolution ol societies" drei Typen und „stages: primitive, intermediate, and modern" (ebd., S. 25). Die „intermediären Gesellschaften" werden aber nicht zu einem Typ komprimiert, vielmehr werden einzelne Hochkulturen, auf drei Gruppen verteilt, gesondert porträtiert, wobei die wachsende "Differenzierung von Kultur und Sozialsystem den Leitgesichtspunkt abgibt. Im Sinne der Autonomie des Kulturellen ist dann das Verfügen über Schrift, „literacy" (in der Kultur einer Oberschicht) das entscheidende Merkmal der „intermediären Gesellschaften" (ebd., S. 12, 51 ff., 69 f.). 3.) Die Differenzierungsformen als Strukturformen im Luhmannschcn Sinne spielen, weil alles von AGIL her angelegt ist, bei Parsons keine dominante Rolle. So ist „seg¬mentation" nicht das bestimmende Kennzeichen der primitiven Sozialstruktur, auch wenn sie vorkommt (ebd., S. 37f.). Allerdings: für die Überwindung der primitiven Sozialstruktur kommt es entscheidend auf Stratifikation an: das „seamless web of kinship relations" wird in „stratified socie-


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ties" aufgetrennt (ebd., S. 41 ff ). Und an einer Stelle konfrontiert Parsons ganz explizit - auf „Solidarität" hin - „Stratifikation" mit „Segmentierung" (ebd., S. 25). Im übrigen ist es dann der Legitimationsbedarf von/für Stratifikation, der die (oberschichtbestimmte) Kultur in die Autonomie nötigt (ebd., S. 51 ff.).“ Später kommt dann mit Bezug auf frühe Hochkulturen noch die Zentrum-Periphierie-Unterscheidung als vierte Differenzierungsform hinzu (Luhmann, 1984, 261; 1997, 663ff). Die Quelle ist vor allem Eisenstadt, worauf Tyrell (2001, 526) hinweist. Dazu Tyrell (2001, 526f.): „Die Zentrum/PeripherieDifferenzierung besagt - von Stadtbildung her - zunächst eine Ungleichheit ‚in der Raumordnung‘. Auf die Differenz ‚von städtischem Zentrum und Peripherie‘, räumlich, dann aber auch sozial-strukturell, kommt es Luhmann an, weniger dagegen auf die Art der sozialen Beziehung beider (Herrschaft, Ausbeutung, Handel, kulturelle Austrahlung, Mission u. a.). Diese Differenz ist „gesetzt" durch die „Ausdifferenzierung" des städtischen Zentrums mit seiner abweichenden Sozialstruktur, ‚mit seinen‘, wie Luhmann sagt, ‚Errungenschaften und Differenzierungen‘. Qualifiziert aber das schon zu einer eigenständigen Differenzierungsform? Wenn man da Bedenken hat, dann bleibt die bei Luhmann auch offerierte Möglichkeit, die Zentrum/PeripherieDifferenzierung als Kombinations- und Koexistenz¬fall verschiedener Differenzierungsformen zu nehmen. Luhmann sagt einerseits: ‚Die Peripherie behält die segmentäre Differenzierung von Familienhaushalten bei und könnte [...] auch ohne Zentrum überleben.‘ Von welcher anderen Differenzierungsart ist dann andererseits aber die (interne) Sozialstruktur der städtischen Zentren? Stratifikation kommt dafür explizit in Frage, und von der Stratifizierung der Zentren geht Luhmann für einige Fälle von Großreichbildung durchaus aus. Aber auch ‚funktionale Differenzierung‘ kommt hier - an sich - in Betracht, zumal als Rollendifferenzierung; die Tenbrucksche Typisierung der Hochkultur hatte das mit Verweis auf den Ausbau spezialisierter Positionen und Rollen einerseits und die Vermehrung ‚indirekter Abhängigkeiten und Beziehungen‘ andererseits besonders schön gezeigt.“ 126 Das ist ja in den Fachdisziplinen der Geschichte und der Ethnologie ganz überwiegend nicht der Fall. 127 Evtl. noch nachlesen, warum Luhmann in dieser Hinsicht vom mainstream abweicht. 128 In seinen Ausführungen zu historischen Umbrüchen, die durch Veränderungen der Kommunikationsmittel ausgelöst werden, hat Luhmann gezeigt, in welch hohem Maße die Rückwirkung materieller Entitäten den Verlauf der kulturellen Evolution bestimmt. Allerdings zeigen sich auch hier die Nachteile der Vorentscheidung zur Reduktion auf Sinnkonstrukte und zur Ausklammerung materieller Entitäten. Mit der Abkoppelung der Kommunikation von lebendigen Individuen geht seiner Evolutionstheorie die endogene Quelle der Variation verloren. Auch Luhmanns überscharfe Grenzziehung zwischen Bewußtsein und Kommunikation basiert auf dieser Abkoppelung. Der Unterschied in der Operationsweise ist nicht zu bestreiten, aber in evolutionstheoretischer Hinsicht doch dahingehend zu relativieren, dass Bewußtsein nicht ohne die Materialität des lebendigen Organismus und Kommunikation nicht ohne die Materalität der Kommunikationsmittel existieren kann. Das Leben lebt nicht – und die Kommunikation kommuniziert nicht – es vermittelt sich immer über lebende und kommunizierende Individuen. (Sie sind kausal unabhängig wirkende „Mittler“ i.S. Latours.) Einwänden dieser Art setzt Luhmann die (m.E. nur schwer nachvollziehbare) Unterscheidung zwischen operativer Geschlossenheit und kausaler (z.B. auch energetischer) Abhängigkeit entgegen – so u.a. in seinen Ausführungen über Technik als evolutionäre Errungenschaft: „Technik ermöglicht also (immer unter dem Vorbehalt, daß sie funktioniert) eine Kopplung völlig heterogener Elemente. Ein physikalisch ausgelöstes Signal mag Kommunikation auslösen. Eine Kommunikation mag ein Gehirn dazu bringen, die Betätigung von Schalthebeln zu veranlassen. Und all dies geschieht in (fast) zuverlässig wiederholbarer Weise. Technik wirkt mithin or-

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thogonal zur operativen Schließung autopoietischer Systeme. Das mag erklären, daß die gesellschaftliche Evolution auf Technik rekurriert, um Kopplungen zwischen dem Gesellschaftssystem und seiner Umwelt sicherzustellen, an die dann interne Prozesse der Informationsverarbeitung und die soziale Technisierung anschließen können. Darin liegt kein Widerspruch zu den Theoremen der Theorie autopoietischer Systeme, denn auch Technik läßt sich nur beobachten und nur einrichten, wenn ein System bestimmt, welche der unzähligen Elemente zu koppeln sind. Technik ist nach all dem ein guter Beleg für unsere Ausgangsthese, daß operative Schließung keineswegs kausale Isolierung bedeutet, wohl aber die Möglichkeit gewährt, systemintern durch Disposition über eigene Elemente Kopplungen mit der Umwelt zu realisieren. Und darin liegt zugleich auch die Möglichkeit, die eigene Empfindlichkeit gegenüber Störquellen aus der Umwelt zu dirigieren mit dem Risiko, daß Wichtiges unbeachtet bleibt.“ (Luhmann 1997, 526.) Die methodologische Konsequenz: „Im evolutionstheoretischen Kontext entspricht diesem Technikverständnis ein Verzicht auf adaptionistische Konzepte. Technik ermöglicht keine immer bessere Anpassung der Gesellschaft an ihre Umwelt, wie sie ist. Sie dient mit der Vermehrung von Optionsmöglichkeiten der Entfaltung der Eigendynamik des Gesellschaftssystems.“ (Luhmann 1997, 535) Dass die Technisierung zwar der Eigendynamik der Systeme, aber nicht der (Erzeugung von Varianten für) Adaptation dient, erscheint jedoch nur zwingend, wenn man Luhmanns theoretischer Vorentscheidung zur Reduktion auf Sinnkonstrukte folgt. 129 Erst der Selektionsdruck der Konkurrenz macht technische Innovationen zu einem Angebot, das man nicht ablehnen kann. – In scharfem Kontrast zur Exkommunikation der Technik in der Luhmannschen Systemtheorie suggeriert die Akteur-NetzwerkTheorie von Latour, dass die Stabilität der Gesellschaft direkt aus ihrer Verbindung mit technischen Artefakten stamme. Dies ist m.E. eine ebenso gravierende Verkürzung des evolutionären Zusammenhangs, in dem zunächst – und paradoxer Weise – Technisierung als Variationsmechanismus zu bestimmen ist, dessen Wirkung überhaupt erst durch die selektiven Wirkungen der Konkurrenz und die konkurrenzbeschränkenden Wirkungen sozialer Differenzierung zum Vorschein kommt. 130 So heisst es in Luhmanns früher Politischer Soziologie (2010, 55): „Es scheint, daß die einfachsten archaischen Sozialordnungen von gesellschaftsartigem, alle Bedürfnisse des Menschen umfassendem Charakter, auf die wir zurückblicken können, Familien und Stämme (im Sinne von Abstammungsgemeinschaften) sind. Für sie gilt nicht die Identifikation von Gesellschaft und Politik, durch die eine spätere Epoche sich selbst charakterisierte, sondern dem vorausliegend eine Identifikation von Gesellschaft und Stammesgemeinschaft. Der Stamm ist aus allgemeinen anthropologischen Gründen das unentbehrliche soziale System schlechthin, das in seiner Urform die Übermacht der Umwelt für sämtliche menschlichen Bedürfnisse auf erlebbaren, handlungsbezogenen Sinn bringt. Der Stamm ist damit, der Funktion nach, die Gesellschaft. Mit diesem Befund ist allerdings der systemtheoretische Typus des einfachen Systems strenggenommen nicht verifiziert. Bereits Familien weisen schon wegen der ihnen inhärenten Altersunterschiede und ihrer Aufzuchts- und Versorgungsprobleme eine differenzierte Rollenstruktur und eine entsprechende normative Ordnung (Inzesttabu, Hilfspflichten etc.) auf. Es ist von der Struktur der Familie her nicht prinzipiell gleichgültig, wer was tut. Als System hat die Familie denn auch mehr Potential für Komplexität, als einzelne ihrer Mitglieder, insbesondere die Kinder, die Alten und vielleicht auch die Frauen, für sich allein haben könnten. Diese Art Rollendifferenzierung läßt es jedoch nicht zu, religiöse, politische, wirtschaftliche und kulturelle Funktionen rollenmäßig zu trennen.“ Der Rollenbegriff wird von Luhmann später nur noch im Kontext funktionaler Differenzierung verwendet. 131 In evolutionstheoretischer Perspektive genügt es nicht, auf die Ähnlichkeit der Ein- und Aussschlussformen in älteren Formen erweiterter Sozialität zu verweisen wie in dem schon eingangs zi-


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tierten programmatischen Aufsatz Luhmanns zur Ebenendifferenzierung: „Man kann die soziokulturelle Evolution beschreiben als zunehmende Differenzierung der Ebenen, auf denen sich Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme bilden. Betrachten wir zunächst die Anfangs- und Endpunkte dieser Entwicklung: In den einfachsten archaischen Gesellschaftsformationen sind Interaktion, Organisation und Gesellschaft nahezu identisch. Die Stammesgesellschaft besteht aus dem Umkreis absehbarer, für den einzelnen zugänglicher Interaktionen. Sie stößt wie eine Organisation Personen, die sich nicht fügen, aus und nimmt, vor allem durch Heirat, Personen auf. Interaktion, Organisation und Gesellschaft sind strukturell ineinander verschränkt und limitieren sich wechselseitig.“ (1975: 13) Was den Unterschied in der zivilisatorischen Form moderner Organisationen ausmacht: Man stirbt normalerweise nicht an den Folgen der Exklusion! [Auch dazu ausführlicher der Beitrag von Kühl in diesem Band] 132 S. dazu Mauss 1978. Seine Kulturtheorie der Gabe zeigt bereits für die Stammesgesellschaften drei Arten der Konfliktverarbeitung durch Externalisierung, die (in anderen Formen) in allen traditionellen Formen der menschlichen Sozialität praktiziert werden: 1. die Vermeidung von Fortpflanzungskonkurrenz in der eigenen Gruppe (duch Frauentausch), 2. die Vermeidung von Gruppenkonkurrenz durch Ausdehnung der Reziprozität (durch Gabentausch) und 3. die Verlagerung der Sanktionsgewalt zur Vermeidung von Konkurrenzkonflikten auf die Metaebene (durch Opfergaben an überirdische Mächte). Ein normativer Kurzschluss der Gabentheorie zeigt sich allerdings, wenn das aus der Literatur über segmentär differenzierte Gesellschaften destillierte Konfliktverarbeitungsmuster zur Lösung von Ordnungsproblemen der modernen Gesellschaft empfohlen wird. Damit wird verkannt, dass die Bindungswirkung des Gabentauschs zu einer Gesellschaft gehört, die primär auf Kleingruppenidentät basiert. Sobald die Ausdehnung der Gesellschaft auf eigenen (technischen und symbolischen) Grundlagen steht, tritt an die Stelle des sozialverbindlichen Gabentauschs der nutzenmaximierende Tauschhandel, und das dominante Konfliktverarbeitungsmuster wird auf Binnendifferenzierung umgestellt. 133 Im Sinne des mainstreams der sozialhistorischen Literatur wäre hier aber nicht nur auf schriftliche Überlieferung, sondern auch auf staatliche Organisation abzustellen. Luhmann reserviert die Bezeichnung Staat für eine Reflexionsform des politischen Systems der modernen Gesellschaft, (1997, 681f.) während in den meisten historischen Darstellungen die staatliche Organisation von Gesellschaften bereits vor zehntausend Jahren angesetzt wird (s. nur North et al. 2009). 134 Die Rede von sozialer Ungleichheit (häufig als wichtigster Unterschied zwischen segmentär und stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften vermerkt) erscheint nur aus der zeitbedingten Rückschau moderner Beobachter als deren vorrangige Bedeutung. Es ist eher irreführend, wenn soziale Ungleichheit (bzw. ihre Legitimation durch religiöse Überhöhung) als kausal wirksames Motiv der stratifikatorischen Differenzierung angeführt wird (so z.B. bei Turner/Maryanski 2008, 239f.) Alle Formen der Binnendifferenzierung sind primär auf die Vermeidung von Konkurrenzkonflikten ausgerichtet. Dem dient auch die Separation der Schichten. Mehr Gleichheit bedeutet immer auch: mehr Konkurrenz um knappe Ressourcen. Zu den für stratifikatorische Gesellschaften typischen Beschränkungen der Konkurrenz Weber 1922, 638f.: „Als Wirkung ständischer Gliederung läßt sich demgemäß ganz allgemein nur ein allerdings sehr wichtiges Moment feststellen: die Hemmung der freien Marktcntwicklung. Zunächst für diejenigen Güter, welche die Stände durch Monopolisierung dem freien Verkehr direkt entziehen, es sei rechtlich oder konventionell, wie z. B. das ererbte Gut in vielen hellenischen Städten der spezifisch ständischen Epoche und (wie die alte Entmündigungsformel für Verschwender zeigt) ursprünglich auch in Rom, ebenso die Rittergüter, Bauerngüter, Priestergüter und vor allem die Kundschaft

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eines zünftigen Gewerbes oder Gildehandels. Der Markt wird eingeschränkt, die Macht des nackten Besitzes rein als solchen, welche der „Klassenbildung" den Stempel aufdrückt, zurückgedrängt. Die Wirkungen davon können die allerverschiedensten sein und liegen natürlich keineswegs etwa notwendig in der Richtung einer Abschwächung der Kontraste der ökonomischen Situation; oft im Gegenteil. Jedenfalls aber ist von wirklich freier Marktkonkurrenz im heutigen Sinn überall da keine Rede, wo ständische Gliederungen eine Gemeinschaft so stark durchziehen, wie dies in allen politischen Gemeinschaften der Antike und des Mittelalters der Fall war. Aber eher noch weittragender als diese direkte Aussperrung gewisser Güter vom Markt ist der aus der erwähnten Gegensätzlichkeit der ständischen gegen die rein ökonomische Ordnung folgende Umstand, daß der ständische Ehrbegriff in den meisten Fällen gerade das Spezifische des Markts: das Feilschen, überhaupt perhorresziert, sowohl unter Standesgenossen, wie zuweilen für Mitglieder eines Standes überhaupt, und daß es daher überall Stände, Klasse, Stand, Parteien, und zwar meist die einflußreichsten, gibt, für welche fast jede Art von offener Beteiligung am Erwerb schlechthin als ein Makel gilt.“ 135 Die Bildung sozialer Systeme ist als eine Form der Internalisierung des äußeren Selektionsdrucks zu beschreiben: i.S. der Ausdifferenzierung einer inneren Umwelt, die die einzelnen Organismen ein Stück weit vom Selektionsdruck der äußeren Umwelt entlastet, sich damit zugleich aber die Verlagerung des Drucks nach Innen einhandelt. Soweit damit eine Vergrößerung des internen Variationspotentials verbunden ist, wird die Anpassungsfähigkeit der Population an wechselnde Umweltbedingungen insgesamt erhöht. Die Vergrößerung des internen Variationspotentials wird jedoch beschränkt durch die Steigerung des internen Selektionsdrucks in mehr oder weniger rigiden Formen der sozialen Kontrolle und der Konkurrenz um sozialen Auf- und Abstieg. Der Selektionsdruck im Inneren der Sozialsysteme wächst mit ihrer Ausdehnung. Dieser Druck kann wiederum erhöht, neutralisiert oder abgeschwächt werden durch eine Wiederholung der Systembildung (i.S.der Abschließung) im Inneren. Große Sozialsysteme können den Selektionsdruck, der auf den einzelnen Individuen i.S. der Konkurrenz um beschränkte Ressourcen lastet, durch Binnendifferenzierung verringern. In dieser Hinsicht sind segmentäre, hierarchische, räumliche und funktionale Formen der Differenzierung zu unterscheiden. 136 Dies wird besonders deutlich, wenn man die Formen menschlicher Gesellschaften mit den Formen von Ameisengesellschaften vergleicht. Im Anschluss E.O.Wilson stellt Nowak heraus, dass die an Ameisengesellschaften beobachtete Eusozialität ihren evolutionären Ausgangspunkt (Wendepunkt) an der körperlichen Differenzierung hat: “As societies grow larger and more complex, however, competition between colonies grows fiercer, and as a consequence, group selection begins to act, spurring the emergence of a worker caste selected from genetic mutations within a group. This origin of an anatomically distinct worker caste appears to mark what Wilson calls the "point of no return" in evolution, at which eusocial life becomes irreversible. It is at this stage that insect societies made the transition to superorganisms. Eusociality, like multicellularity, is an important invention in evolution, one that shows the incredible power of cooperation.” (Nowak 2011, 166) Dies ist offenkundig in menschlichen Gesellschaften anders. Wenn die körperliche Differenz der teilnehmenden Akteure zur Definition von Superorganismen – Eusozialität - gehört, dann kann die menschliche Gesellschaft gerade nicht als solche bezeichnet werden. Hier wird der Gebrauch von Technik - inkl. sprachlicher Zeichentechnik – zum Mittel, körperliche Differenzierung zu ersparen (s. in diesem Sinne die Argumentation bei Alsberg). Die Umstellung von körperlicher Differenz auf symbolische – genetisch nicht vererbliche – Differenzen wird allerdings erst in der Binnendifferenzierung der modernen Gesellschaft zum durchgängigen Prinzip. Unter den Bedingungen stratifikatorischer Differenzierung werden die menschlichen Teilnehmer immer


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noch als Ganze voneinander unterschieden, und in segmentär differenzierten Gesellschaften werden die Unterschiede auch noch körperlich („an Haut und Haaren“) markiert. 137 Diagnosen des latenten Konfliktcharakters kultureller Sozialsysteme (Girard 1988, 1994, Burkert 1997, 1998, Wade 2009) werden heute eher mit den Mitteln der Religionssoziologie als mit den Mitteln der soziologischen Differenzierungstheorie formuliert, die sich von ihren evolutionstheoretischen Wurzeln entfernt hat. In vielen Untersuchungen zeigt sich die Tendenz, der einen oder anderen Religion (oder auch den monotheistischen im Vergleich mit polytheistischen Religionen) ein besonders hohes Gewaltpotential zu attestieren. Solchen Zuschreibungen liegt m.E. eine Überschätzung der Eigenbedeutung von Religionen zugrunde. Dagegen ist hier in der Tradition der Durkheimschen Theorie daran festzuhalten, dass es sich stets um das Gewaltpotential der Gesellschaft handelt, das in den Religionen gebunden oder freigesetzt wird. Wenn durch Binnendifferenzierung der Gesellschaft die Schwellen zur offenen Austragung von Konkurrenzkonflikten höher geworden sind, bedarf es zweifellos auch „höherer“ Anstrengungen, um das Gewaltpotential gegen intern Abweichende oder konkurrierende Gesellschaften zu remobilisieren. Hier zeigen sich zweifellos Unterschiede. Es ist jedoch irreführend, hieraus auf ein höheres Gewaltpotential bestimmter Religionen zu schließen. Ohne auf ihre Bedeutung als Konfliktverarbeitungsmechanismus einzugehen hatte Luhmann die religiöse Form der Externalisierung noch i.S. Durkheims beschrieben: „Ein Gott, der alles miterlebt und kommunikativ erreichbar ist, aber nicht der Gesellschaft angehört, ... ist eine genaue Copie der rekursiven Totalität des Gesellschaftssystems selbst, eine Duplikation, die die Welt religiös erfahrbar macht.“ Luhmann 1984, 556 In der soziologischen Theorietradition (s. insbes. Simmel und M.Weber) gibt es eine gewisse Scheu, Religion als soziales Phänomen zu definieren. Das hat vermutlich damit zu tun, dass die ultimate Funktion der Religion unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung nicht mehr zu erkennen ist, während andererseits die spirituellen Bedürfnisse (die als proximate Faktoren in den Einstellungen der Individuen verankert sind) keineswegs verschwinden. Es wäre also zu prüfen, ob Religion in der modernen Gesellschaft eine so diffuse Gestalt annimmt, weil weil sie sich zwar auf gattungsgeschichtlich verankerte Dispositionen stützt, für die es aber keinen funktional spezifizierbaren Bedarf mehr gibt. Im Anschluß an Durkheim wäre dagegen zu zeigen, dass die primordiale Bindungskraft der Religion im Prozess der Binnenund Ebenendifferenzierung der Gesellschaft nicht verschwindet und sich auch nicht einfach in ein anderes säkulares Teilsystem verwandelt (zB. in das Erziehungssystem i.S. basaler und erweiterter Sozialisation – wie Luckmann es nahelegt) sondern unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung zu einem latenten Bestandteil aller Teilsysteme der Gesellschaft wird. Die Kontingenzformeln der Teilsysteme (politische Macht, wissenschaftliche Wahrheit, ökonomischer Wert etc.) sind die ausdifferenzierten Heilsgüter der Moderne (Beetz 2010, 164). Der in der Moderne gelegentlich von Funktionsträgern tradierter Religionsgemeinschaften zu hörende Appell, die Religion solle sich aus den multiplen Alltagsgeschäften heraushalten und auf ihr Kerngeschäft – die Pflege ritueller Praktiken und mythischer Erzählungen – beschränken, erweist sich als untaugliches Mittel, den säkularen Prozess der Ausdifferenzierung religiöser Heteronomie aufzuhalten. Religion geht nur insofern nicht vollständig in funktionaler Differenzierung auf, als auch ältere Formen sozialer Differenzierung (stratifikatorisch, segmentär) kontinuieren und jederzeit Rückfallpositionen der Zivilisation (und entsprechendes Konfliktpotential) bereithalten. 138 Hier evtl. darauf einzugehen, dass ältere ethnologische Studien zu einer romantischen Verklärung der Friedlichkeit von Stammesgesellschaften neigten. Dagegen schon die treffende Formel von der Gruppe als dem „kleinen Leviathan“, Claessens 1980.

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139 Zu deren Verankerung in allen Religionen s. Wilson 2004 ... „... central thesis is that religions are largely (although by no means entirely) group-level adaptations. In their explicit behavioral prescriptions, theological beliefs, and social practices, most religions are impressively designed to provide a set of instructions for how to behave, to promote cooperation among group members, and to prevent passive freeloading and active exploitation within the group. The features of religion that appear most irrational and which have always made religion such a puzzle to explain from a scientific perspective can be largely understood as part of the "social physiology" (to use a term employed by social insect biologists) that enables the religious group to function adaptively.“ Mit Bezug auf den Übergang von archaischen zu Hochkulturen Luhmann 1997, 480: „Das archaische Willkürverhalten sakraler Mächte wird eingeschränkt und diszipliniert — so wie Ackerbau und Stadtbildung die Gesellschaft disziplinieren. Die Götter Mesopotamiens handeln nach beschlossenen Plänen, sie akzeptieren, auch für sich selbst, Herrschaftsstrukturen und Familienordnungen. Über Religion setzt die Gesellschaft sich selbst unter Anpassungsdruck und entwickelt geheiligte Selektionskriterien, mit denen sie wilde Variationen abfangen und sortieren kann. Eventuell genügt für die Erfüllung dieser Funktion ein einziger Gott, dem die Fähigkeit zugeschrieben wird, alles zu beobachten und zu beurteilen, so daß es nicht falsch sein kann, sich an seinen Kriterien zu orientieren. Diesem Bedarf nach Neuordnung der Selektion verdanken wir die heute noch praktizierten Weltreligionen. Sie sind, jede für sich, Religionen für jedermann, für alle Menschen. Sie steigern die moralischen Ansprüche an Gott und an die Menschen, so als ob es gelte, die Einheit des Selektionszusammenhanges einer Kultur jetzt erst recht festzuhalten und mit Hilfe "kanonischer" Texte zu fixieren. Die Moral gibt Spielraum für Interpretationen und für eine Rechtskasuistik. Die Religion selbst findet Formen von überbietender Radikalität und kann damit sowohl im Verhältnis zur Herrschaftsbürokratie als auch im Verhältnis zur sozialen Schichtung auf Distanz gehen.“ 140 Hinweis auf die Doppelfunktion der technischen Kommunikationsmittel in dieser Hinsicht: räumliche Ausdehnung und zeitliche Verdichtung durch schnellere Mitteilungstechnik (Handlungskonstellationen, Interaktivität)– zeitliche Ausdehnung und räumliche Verdichtung durch erweiterte Speichertechnik (Erlebenskonstellationen, „Interpassivität“). 141 Luhmann hat die historische Formation der Moderne zur Grundlage seines allgemeinen Begriffs der Gesellschaft gemacht: „Gesellschaft ist danach das umfassende Sozialsystem, das alles Soziale in sich einschließt, und infolgedessen keine soziale Umwelt kennt. Wenn etwas Soziales hinzukommt, wenn neuartige Kommunikationspartner [Feinde eingeschlossen! kg] oder Kommunikationsthemen auftauchen, wächst die Gesellschaft mit ihnen. Sie wachsen der Gesellschaft an. Sie können nicht externalisiert , nicht als Sache der Umwelt behandelt werden, denn alles, was Kommunikation ist, ist Gesellschaft.“ (Luhmann 1984, 555 u.a.). Diese allgemeine Definition steht jedoch in einem partiell ungeklärten Verhältnis zu der Erklärung der Weltgesellschaft (Luhmann 1984, 557) und der Ebenendifferenz von Gesellschaft und Interaktion (Luhmann 1984, 576ff.) als Ergebnis von Evolution – Zu Luhmanns Gesellschaftsbegriff s. auch den Beitrag von Schwinn. Das Ende traditioneller Konfliktexternalisierungsmechanismen in der Moderne ist von Luhmann aber schon diagnostiziert worden: „Solange Solidarität benötigt wird und gefragt ist, orientiert man sich an absoluten Kriterien, deren soziale Bedingtheit nicht thematisiert wird. Das sind Kriterien mit religiösem, moralischem oder tribalem (ethnischen) Gehalt. Auch sie wirken sozial diskriminierend, aber so, daß nach konform und abweichend unterschieden wird und Abweichende als ungläubig, als Barbaren, als Heiden, als "saraceni" oder später dann als unvernünftig ausgeschlossen und ausgestoßen werden können. Ihnen gegenüber gibt es weder Solidarität noch moralische Verpflichtungen. Die Umstellung auf Risikoperspektiven ändert


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diese Form der Diskriminierung radikal. Jetzt liegen die Perspektivendivergenzen in der Gesellschaft. Sie spalten im Hinblick auf die Zukunft die Gesellschaft mit jeweils wechselnden Besetzungen in Entscheider und Betroffene; und was für die einen rational ist, ist für die anderen ein überzeugender Grund für Protest und Widerstand. Auch jetzt gibt es noch neu sich bildende Solidaritäten, aber sie nehmen fundamentalistische Züge an. Sie entstehen im Bewußtsein des eigenen religiösen oder ethnischen Anderssein; aber dies in einer Weltgesellschaft, von der man sich, was Kommunikation, Versorgung und eben auch Technik angeht, abhängig weiß.“ Luhmann 1997, 534. 142 In einem umfangreichen Beitrag zur Wiederherstellung der evolutionstheoretischen Tradition in der Soziologie hat Wortmann (2010) vorgeschlagen, die Theorie funktionaler Differenzierung in Darwinschen Begriffen nach dem Muster der Artenbildung durch isolative Mechanismen zu reformulieren. An diesen Vorschlag wird hier nicht angeschlossen, weil es gerade als Besonderheit der modernen Gesellschaft zu betrachten ist, dass die kulturell tradierten Mechanismen der reproduktiven Isolierung unter den Bedingungen der globalen Ausdehnung und internen Verdichtung des Netzwerks der Gesellschaft nicht mehr funktionieren. Denkbar wäre es jedoch, den Vorschlag aufzunehmen i.S. der Luhmannschen Hypothese zur Fortsetzung der kulturellen Evolution auf der Ebene gesellschaftlicher Teilsysteme. Dann müsste allerdings der Bruch stärker herausgearbeitet werden, der in der Umstellung von den traditionellen Mechanismen der reproduktiven Isolierung kultureller Sozialsysteme (Inklusion/Exklusion) zu den modernen Mechanismen der Isolierung durch symbolisch generalisierte Medien etc. liegt. 143 Hier wäre evtl. der Frage nachzugehen, ob Luhmann ähnliche Probleme schon mitgemeint hat, wenn er mit Bezug auf die Moderne von „Schwierigkeiten“ gesprochen hat, die Differenzierung der evolutionären Mechanismen aufrechtzuerhalten: „Die Differenzierungsformen selbst sind evolutionäre Errungenschaften. Andererseits wirken sie auf die Evolution selbst zurück, indem sie jeweils spezifische Schwierigkeiten haben, eine Trennung der evolutionären Mechanismen einzurichten.“ (Luhmann 1997, 498 s. schon das diesbez. Eingangszitat und den Hinweis auf Entdifferenzierungstendenzen in Luhmann 1965, 24) Eine eher allgemeine Lesart von Differenzierungsproblemen in der kulturellen Evolution, die sich dann aber doch eher auf Phänomene der Moderne bezieht, findet sich in einem Aufsatz von 1983,202f: „Wenn mithin auf der Ebene der soziokulturellen Evolution alle evolutionären Mechanismen unter Sinnzwang operieren müssen, heißt dies, daß ihre Trennung durch mehr oder weniger künstliche Zäsuren erfolgen muß, die doch übergreifende Inbezugnahmen nicht verhindern können. In der organischen Evolution können die für Evolution nötigen Differenzierungen auf unterschiedliche Systemarten verteilt werden (Zellen, Organismen, Populationen), die voneinander nichts wissen können. Die Trennung wird dadurch zementiert. In der soziokulturellen Evolution lassen sich Verweisungen von Variation auf Selektion und von Selektion auf Restabilisierung kaum unterbinden: Man negiert, wenn man schon weiß, was »statt dessen« seligiert werden sollte, und man seligiert im Hinblick auf Stabilitätschancen. Wenn das verhindert werden soll, ist hohe strukturelle Komplexität (Undurchsichtigkeit) und eine höchst artifizielle Semantik erforderlich. Beispiele dafür sind schon erwähnt worden: »amour passion« und die Profitsucht oder Pleonexie, die durch keine Absoluta gedeckte Wahrheit und die Staatsräson; und man sieht hier besonders gut, wie die heimtückische Kraft der Moral unentwegt daran arbeitet, solche Errungenschaften wieder einzuebnen. Die soziokulturelle Evolution kann kollabieren, weil die für sie nötigen Differenzierungen ständig durch übergreifende Sinnverweisungen gefährdet sind.“ Weitere Anschlußstellen für die Diagnose von Problemen der Moderne bei Luhmann im Zusammenhang mit der Beschreibung des Restabilisierungsmechanismus:

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„Auch die Funktion der evolutionären Restabilisierung unterliegt mithin wie die Bildung der Populationen von Lebewesen, einer historischen Spezifikation. Sie bedient sich, wenngleich mit beachtlichen Restproblemen, der Systemdifferenzierung und entwickelt unterschiedliche Lösungen je nach der vorherrschenden Differenzierungsform. Während die kumulative Ablagerung immer weiterer Strukturen und die Wiederholung von Systembildungen in Systemen zu einer zunehmenden Formbindung führt, kann durch Wechsel der Formen der Systemdifferenzierung, also durch evolutionären Übergang von segmentärer Differenzierung zu Zentrum/Peripherie-Differenzierung, zu Stratifikation und schließlich zu funktionaler Differenzierung, ein neuer Spielraum des Auflösens und Rekombinierens solcher Formen entstehen mit Chancen für neue, komplexitätsgünstigere Strukturen. Man kann dies auch an den parallellaufenden Formveränderungen der Religion (religio=Bindung) nachvollziehen. Externalisierungen können natürlich nie endgültige Problemlösungen sein. Die Probleme kehren in veränderter Form in die Beziehungen zwischen System und Umwelt zurück. Man kann dies an den ökologischen Problemen studieren, in die die moderne Gesellschaft geraten ist, aber auch an innergesellschaftlichen Problemen, zum Beispiel an der Diskussion über die fragwürdig gewordene "Externalisierung von Kosten" durch die Geldwirtschaft. “ (Luhmann 1997, 489f.) 144 ad 5: Ebenendifferenzierung als zivilisatorische Errungenschaft Ein Revisionspunkt: Hier habe ich mich etwas vorschnell Formulierungen von Luhmann angeschlossen, wonach Ebenendifferenzierungen als Freiheitsgewinn zu interpretieren sind. [Deshalb habe ich jetzt in diesem Abschnitte eingangs eine diesbezügl. Passage eingefügt – s. auch die folgende Endnote] Dies kann so wohl nur für die moderne Gesellschaft behauptet werden – wäre also primär auf die Form der Binnendifferenzierung in der Moderne zurückzuführen. In evolutionärer Perspektive muß Ebenendifferenzierung primär als Form der Konfliktverarbeitung interpretiert werden. Ebenendifferenzierung ist eine evolutionäre Form der Konfliktverarbeitung, die als Folge von Gruppenselektion zu erklären ist: Der Angriffspunkt der Selektion verlagert sich von der Ebene der Individuen auf die Ebene ihrer (intern konfliktreduzierten) Sozialsysteme. 145 In den Formulierungen, mit denen Luhmann Ebenendifferenzierung als Freiheitsgewinn interpretiert, ist nicht klar zu erkennen, ob es sich um eine gegen die Modernisierungstheorie gerichtete Provokation oder einfach nur um eine Übergeneralisierung von Beobachtungen handelt, die an der modernen Gesellschaft gemacht wurden. 146 Für eine kurze und prägnante Darstellung des Zusammenhangs sozialer Differenzierungsformen mit historischen Epochen der Menschheitsentwicklung verweise ich auf Tenbruck 1972. Er folgt allerdings Durkheims Engführung der Differenzierungstheorie auf interne Arbeitsteilung und kappt damit den evolutionstheoretischen Bezug auf die zugrundeliegende System-UmweltDifferenz. Hier wäre dann auch auf Kritik an der typologisch vergröberten Epocheneinteilung i.S. einer teleologischen Dreistufenlehre einzugehen. Dazu Formulierungen bei Luhmann (1997), in denen diesem Einwand bereits Rechnung getragen wird: „Wir können gleichwohl die Frage stellen, ob es so etwas gibt wie "epochemachende" Errungenschaften und was sie, wenn es sie gibt, auszeichnet. Faßt man hierfür die Überlegungen des vorausgegangenen Kapitels über Kommunikationsmedien und des folgenden Kapitels über die Differenzierung der Gesellschaft zusammen, so zeigen sie, daß es in der Tat Strukturen gibt, deren Änderung sehr weitreichende, "katastrophale" Auswirkungen auf die Komplexität des Gesellschaftssystems hat. Es sind dies die Verbreitungsmedien der Kommunikation (erweitert durch Schrift, dann die Druckpresse und heute Telekom-


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munikation und elektronische Datenverarbeitung) und die Formen der Systemdifferenzierung (Segmentierung, Zentrum/Peripherie-Differenzierung, Stratifikation, funktionale Differenzierung). Für sich allein genommen, ergeben diese Unterscheidungen noch keine Epochenstruktur der Weltgeschichte. Zwar kann man unumkehrbare Sequenzen erkennen (keine Druckpresse vor der Erfindung von Schriften, kein Direktübergang von Segmentierung zu funktionaler Differenzierung), aber die Unterscheidungen allein erzwingen keinen bestimmten Prozeßverlauf. Es kann aber durchaus evolutionäre Errungenschaften geben, die dramatische Formveränderungen auslösen — so wenn in eine Gesellschaft, die schon Rangunterschiede kennt, die Vorstellung der Ebenbürtigkeit von Familien eingeführt und damit die Abschließung des Adels eingeleitet wird mit all den Vorteilen zentralisierter Interdependenz. Auf diese Weise entstehen dann, wenn wir so paradox formulieren dürfen, bisher unmögliche Möglichkeiten, deren Nutzung die Gesellschaft nach und nach auf eine Stufe höherer Komplexität bringt. Wenn also evolutionäre Errungenschaften in diese fundamentalen Strukturen, sei es der Verbreitungsmedien der Kommunikation, sei es der Systemdifferenzierung, eingreifen und den Übergang von der einen zu einer anderen ermöglichen, entsteht für den Beobachter der Eindruck bestimmter Gesellschaftsformationen, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Mit sehr groben Vereinfachungen kann er dann schriftlose und literarische Kulturen unterscheiden oder deutlich stratifizierte Gesellschaften von segmentären Gesellschaften oder von der modernen Gesellschaft, die auf einer operativen Schließung von Funktionssystemen beruht. Da es aber zwei Bereiche solcher Unterscheidungen gibt, Kommunikationsmedien und Differenzierungsformen, kommt auch dann keine eindeutige Epochenabgrenzung zustande. Man kann sagen, die moderne Gesellschaft beginne im 15. Jahrhundert mit dem Übergang von den spätmittelalterlichen durchorganisierten Großwerkstätten der Manuskriptproduktion zu einer Anfertigung von Texten mit Hilfe der Druckpresse. Oder man kann sagen, die moderne Gesellschaft beginne im 18. Jahrhundert mit der Beobachtung des Zusammenbruchs der Stratifikation und der Neuformierung operativ geschlossener Funktionssysteme. Der Sachverhalt gibt keine eindeutigeren Zäsuren her.“ Luhmann 1997, 515f. Noch einmal zum Begriff der Differenzierungsformen Luhmann 1997, 609f: „Der geschichtliche Reichtum und die empirische Verschiedenartigkeit vormoderner Gesellschaften läßt jede Klassifikation und damit erst recht jeden Versuch einer Epochenbildung scheitern. Und doch gibt es unbestreitbar so etwas wie Typenunterschiede und ganz ohne Zweifel Entwicklungssequenzen, die auf vorherigen Errungenschaften aufbauen und in der modernen Gesellschaft — wie immer man das verstehen will — noch einmal überboten werden. Der Begriff der Systemdifferenzierung, ... soll uns den Zugang zu diesem schwierigen Terrain erschließen. Deshalb haben wir den Struktur- und Perspektivenreichtum des Konzepts und seine Aufgeschlossenheit für evolutionäre Veränderungen besonders betont. ... Die Bedeutung von Differenzierungsformen für die Evolution von Gesellschaft geht auf zwei miteinander zusammenhängende Bedingungen zurück. Die erste besagt, daß es innerhalb vorherrschender Differenzierungsformen begrenzte Entwicklungsmöglichkeiten gibt. So können in segmentären Gesellschaften größere, wiederum segmentäre Einheiten gebildet werden, etwa Stämme oberhalb von Haushalten und Familien; oder in stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften innerhalb der Grunddifferenz von Adel und gemeinem Volk weitere Ranghierarchien. Solche Wachstumsmöglichkeiten finden jedoch, fast ist man versucht zu sagen: organische Schranken. Weitere Evolution ist dann unmöglich, oder sie erfordert den Übergang zu einer anderen Differenzierungsform. Es kommt nicht vor, daß ein Teilsystem innerhalb einer Differenzierungsform durch ein Teilsystem aus einer anderen Differenzierungsform ersetzt wird; denn das würde die Form, das heißt: die Markierung der Differenz, zerstören.“ Damit schließt Luhmann aber die Koexistenz meh-

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rer Differenzierungsformen (in der Vergangenheit auch mit unklarem Primat) nicht aus. 147 Unter den Bedingungen stratifikatorischer Differenzierung erscheint Ebenendifferenzierung evident in der Form sozial ungleicher Lebenswelten und Rollenhierarchien. Dies steht jedoch nicht im Widerspruch zu der Auffassung, dass Differenzierung der Vermeidung von Konkurrenz dient. Die hier vertretene Auffassung, dass es sich bei allen Formen sozialer Binnendifferenzierung – einschließlich traditioneller und moderner Formen der sozialen Schichtung – um Formen der Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten handelt, ist ohne weiteres kompatibel mit der bei Luhmann gegen die in der Soziologie üblichen Theorien sozialer Ungleichheit gerichtete Beobachtung, dass es sich auch bei stratifikatorischer Differenzierung um eine Form der Herstellung von Gleichheit handelt. „Vielleicht interessiert besonders, welche Konsequenzen dieser Theorieansatz für die Auffassung der sozialen Schichtung hat. Er betont in einer Weise, die den Normalsoziologen irritieren wird, daß auch im Falle der Schichtung Systembildung durch Gleichheit vorliegt. Schichtung ermöglicht und erleichtert Kommunikation unter Gleichen in einer gesellschaftlichen Entwicklungslage, in der Ungleichheit schon vorherrscht und, gäbe es keine Schichtung, als normal erwartbar wäre. Schichtung ist gegen Ungleichheit durchgesetzte Gleichheit — eben schichtspezifische Gleichheit. Dadurch wird erreicht, daß Ungleichheit, obwohl dominierendes Differenzierungsprinzip, marginalisiert und als bloße Umwelt der eigenen Schicht behandelt werden kann. Durch die übliche Präokkupation mit den Problemen der Asymmetrie in der Verteilung von Chancen, mit Herrschaft und mit Ausbeutung, hat sowohl die empirische Forschung als auch die Kritik der Schichtung diese eigentliche Funktion schichtmäßiger Differenzierung aus den Augen verloren und ist deshalb auch nicht in der Lage, die sehr problematischen Beziehungen zwischen schichtmäßiger und funktionaler Differenzierung adäquat zu behandeln. Eine Soziologie, die sich darauf beschränkt, Ungleichheiten bloßzustellen, stellt aber nur ihre eigenen Vorurteile bloß und bedarf selbst soziologischer Kritik.“ (Luhmann 1975c, 198) 148 Die Bezeichnung der im Übergang zur modernen Gesellschaft evoluierten Formen sozialer Differenzierung als „funktional“ trägt noch den normativen Bias der funktionalistischen Modernisierungstheorie. Diese Bezeichnung ist mißverständlich, weil segmentäre und hierarchische Differenzierungsformen natürlich ebenso funktional für die Stabilisierung der Gesellschaften sind, in denen sie sich herausgebildet haben. Tatsächlich können die neuen Formen in erster Näherung als Kombination aus segmentären und hierarchischen Formen sozialer Differenzierung verstanden werden: Einerseits kehrt die Moderne mit ihren symbolisch generalisierten Teilsystemen auf der Metaebene zu einer horizontalen Form der Differenzierung zurück – nur dass die Segmente dieser Form jetzt ungleich und nicht substutiv sind. Andererseits wird in der Moderne die vertikale Differenzierung zwischen der Ebene der Interaktion unter Anwesenden und der Ebene der Gesellschaft in historisch nie gekannter Weise gesteigert durch die Ausbreitung formaler Organisationen und Öffentlichkeiten. Die Bezeichnung funktionale Differenzierung trägt auch der Verlagerung der internen Selektionsmacht von den Funktions- und Leistungsträgerrollen zu den technisch erweiterten Publikumsrollen zuwenig Rechnung. Die Bedeutung der Publikumsrollen in den wettbewerbsmäßig organisierten Formen von Öffentlichkeit für die Binnendifferenzierung der modernen Gesellschaft ist immer noch zu wenig untersucht. 149 Vielleicht kann man die historischen Formen der Ebenendifferenzierung auch so beschreiben, dass es sich in einem abnehmenden Maße um Differenzierung i.S. von Hierarchiebildung handelt. Bei segmentärer Differenzierung ist Hierarchie offensichtlich i.S. der übergeordneten Regeln des Austauschs und ihrer Verkörperung in bestimmten sozialen Rollen. In stratifikatorischen Gesellschaften ist das Moment hierarchischer Über- und Unterordnung zwar noch gut erkennbar, es dominiert aber schon das Auseinan-


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derziehen der sozialen Lebenswelten, die jeweils intern Gleichheit erzeugen. In der Moderne wird Hierarchiebildung zu einem Sondermerkmal des dominanten Systemtyps auf der Makroebene während sie auf Meta- und Mikroebene tendenziell verschwindet. An dieser Stelle wäre auch noch darauf hinzuweisen, dass Luhmann – abweichend vom mainstream der sozialwissenschaftlichen Literatur, in der zwischen staatlichen und vorstaatlichen Gesellschaften unterschieden wird – den Begriff des Staates an die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems der Politik und damit an die moderne Gesellschaft bindet. Theoretisch wäre es ja auch denkbar gewesen, vormoderne Formen des Staates in Verbindung mit vormodernen Formen (Protostrukturen) funktionaler Differenzierung zu bringen. Stattdessen stellt Luhmann aber für diese Formen politischer Herrschaft den Primat einer anderen Differenzierungsform – Zentrum/Peripherie – heraus. (Luhmann 1997, 668 FN 135). 150 Abweichend von der üblichen Darstellung i.S. einer historischen Entwicklungsfolge liesse sich – im Rekurs auf Ebenenunterschiede – eine allgemeine (historisch übergreifende) Beschreibung sozialer Differenzierungsformen anfertigen. So wie es in der natürlichen Evolution der Lebewesen – trotz der Vielfalt der Arten – nicht beliebig viele Formen der Anatomie gibt, gibt es auch in der Evolution kultureller Sozialsysteme – trotz der Vielfalt ihrer historischen Erscheinungsformen – nicht beliebig viele Formen der Binnendifferenzierung. In diesem Sinne Luhmann (1977, 32): „It is important for the evolution itself, as well as for the theoretical analysis of societal systems, that only a very limited number of forms of differentiation have been developed. [...] This limitation results from the fact that system differentiation requires a combination of two dichotomies, both of which are asymmetric: system/environment and equality/ inequality.“ Hier evtl. den ganzen Abschnitt II des Beitrags von 1977 mit Bezug auf segmentäre, stratifikatorische und funktionale Differenzierung zitieren und im Anschluss an das von Luhmann hervorgehobene Prinzip der internen Gleichheit der Teilsysteme Differenzierung auf Konfliktvermeidung durch Externalisierung zurückführen. Luhmann deutet hier die Möglichkeit einer typologischen Reduktion durch Kombination von zwei Unterscheidungen – gleich/ungleich und System/Umwelt – an. In diesem Sinne ließe sich ein Schema der evoluierten Differenzierungsformen darstellen. Interne Interne Differenzierungsform Systeme Umwelten segmentär gleich gleich stratifikatorisch ungleich ungleich funktional

ungleich

gleich

Die interne System-Umwelt-Unterscheidung könnte auch als Ebenen-Unterscheidung interpretiert werden. Dann liesse sich in diesem Schema auch die (im Beitrag von 1977 von Luhmann noch nicht erwähnte) vierte Differenzierungsform einordnen:

gleiche Ebene ungleiche Ebene

gleiche Einheiten segmentär zentral-peripher

ungleiche Einheiten funktional stratifikatorisch

Zur historischen Respezifierung einer solchen Typologie sind nicht nur resistierende Formen segmentärer und stratifikatorischer Differenzierung in der modernen Gesellschaft, sondern z.B. auch prototypische Formen hierarchischer und funktionaler Differenzierung in Stammesgesellschaften zu identifizieren. (S. nur mit Bezug auf funktionale Differenzierung im europäischen Mittelalter Tyrell 2001, 531.) In diesem Sinne Luhmann (1972 a 141): „...selbst in den höchstentwickelten Industriegesellschaften gibt es viele Funktionsbereiche, in denen sich segmentäre Differenzierung als sinnvoll erweist

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- gibt es mehrere Familien, Parteien, Krankenhäuser, Verwaltungsbezirke usw." (Hinweis aus Tyrell 2001) Vor diesem Hintergrund erscheint dann auch Luhmanns (bereits in der Debatte mit Habermas verwendete) Formulierung in einem anderen Licht: »Gesellschaft ist diejenige Ebene der Systembildung, von der ab es funktionale Differenzierungen gibt« (Luhmann 1971,15). Demnach verfügen auch Stammesgesellschaften und traditionale Gesellschaften schon über funktionale Differenzierung oder sie verfügen gar nicht über die symbolisch generalsierte Systemebene der Gesellschaft. Dazu Tyrell: „Die Frage etwa, inwieweit „unter dem Dach" funktionaler Differenzierung auch Raum für segmentäre oder stratifikatorische Strukturen ist, ist zwar gerade von Luhmann durchaus aufgeworfen (und angeregt) worden, sie ist aber bis jetzt kaum irgendwo systematisch angegangen worden.“ und folgert: „der privilegierte Status von funktionaler Differenzierung in dem, was seit gut drei Jahrzehnten und zumal unter systemtheoretischen Vorzeichen Differenzierungstheorie heißt, hat eine Tendenz zur Einseitigkeit und scheint ergänzungs- und korrekturbedürftig.“ (2001, 513f. ) „Damit wird differenzierungstheoretisch ein doppeltes Desiderat erkennbar: Einerseits gilt es, die Limitierungen und Inkompatibilitäten im Verhältnis der verschiedenen Differenzierungsformen genauer auszuleuchten und damit die Primatsannahme(n) zu präzisieren; andererseits aber gilt es, der „Kombinatorik" und der Frage der strukturellen Kompossibilität der verschiedenen Differenzierungsformen energischer nachzugehen.“ (2001, 516). Diesen Aspekt – unter Verweis auf Tyrell 2001 bez. der Koexistenz der Differenzierungsformen – evtl. in den Haupttext aufnehmen und i.S. der These vom Konflikt der Differenzierungsformen in der Moderne ausbauen. 151 Die für die funktionalistische Theorietradition maßgeblichen Beobachtungen stammen aus der Ethnologie. Zur Ausdehnung der Verwandtschaftsgruppe durch Inzestverbote und Exogamieregeln s. Mauss 1978, Elwert 1991 u.a. Die grundlegende Veränderung der Geschlechtsrollen in der Moderne wird häufig auf eine technische Innovation zurückgeführt, die neue Konkurrenzkonflikte ausgelöst hat: die sogenannte Antibabypille. 152„Die Großformen der gesellschaftlichen Teilsysteme schwimmen auf einem Meer ständig neu gebildeter und wieder aufgelöster Kleinsysteme. Keine gesellschaftliche Teilsystembildung, keine Form gesellschaftlicher Systemdifferenzierung kann alle Bildung sozialer Systeme so dominieren, daß sie ausschließlich innerhalb der Primärsysteme des Gesellschaftssystems stattfindet.“ So Luhmann einleitend zu den Abschnitten über Interaktion und Organisation in dem Differenzierungskapitel der Gesellschaftstheorie (1997, 813). Diese Aussage, die die Flüchtigkeit und die Freiheitsgrade der Kleinsysteme herausstellt, ist offenkundig auf die moderne Gesellschaft bezogen. (So heisst es kurz darauf: „Die moderne Gesellschaft zeigt ihre Modernität auch auf dieser Ebene, etwa durch Befreiung vom Gemeinschaftsterror des dörflichen Zusammenlebens oder durch Ausarbeitung der Eigenlogik von Intimität.“ Etwas später aber missverständlich: „In dieser Abstraktionslage sind Aussagen über das Verhältnis von Interaktion und Gesellschaft unhistorisch formuliert. Sie nehmen auf die Unterschiede der Gesellschaftsformationen noch keine Rücksicht. Es versteht sich aber von selbst, daß eine evolutionäre Änderung der Gesellschaftsstrukturen sich auf das Verhältnis von Interaktion und Gesellschaft auswirkt, und wir können vermuten, daß als historisch diversifizierende, Einschnitte bildende Faktoren hauptsächlich die Entwicklung von interaktionsfrei benutzbaren Kommunikationstechniken (Schrift, Buchdruck) und die Änderung der Differenzierungsformen des Gesellschaftssystems in Betracht kommen.“ - 1997, S.819) Die oben zitierte Aussage über Flüchtigkeit und Freiheitsgrade der Interaktion lässt sich nicht in gleicher Weise auf stratifikatorische Gesellschaften oder gar Stammesgesellschaften anwenden – ob-


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wohl auch für Diese gesagt werden kann, dass die Binnendifferenzierung der Interaktion gewisse Freiheitsgrade verschafft. Mit der funktionalen Differenzierung hat die moderne Gesellschaft einer Form der Binnendifferenzierung die Vorrangstellung verschafft, die sich in gesteigertem Maße zugleich als Ebenendifferenzierung auswirkt. Diese Form muss als eine evolutionär besonders unwahrscheinliche (riskante) Errungenschaft betrachtet werden, weil sie – auf den ersten Blick - gegenläufige Tendenzen miteinander koppelt, indem sie diese auf verschiedenen Ebenen auseinanderzieht und daraus zugleich Variations- und Stabilitätspotential bezieht: Zunehmende soziale Kontrolle auf der Ebene gesellschaftlicher Organisationen (Gruppen) und zunehmende Freisetzung gattungsgeschichtlich ererbter individueller Antriebe auf der Ebene der Interaktionen (Individuen). 153 Hier wäre evtl. noch die Frage zu verfolgen, wie Luhmanns Ebenenunterscheidung zu der in der Moderne aufkommenden Unterscheidung der Sphären von Privatheit und Öffentlichkeit steht. Es fällt ja auf, dass Phänomene der Interaktion und der Gesellschaft sich der Unterscheidung privat/öffentlich relativ einfach zuordnen lassen, während Organisationen in beiden Sphären vorkommen: als private Akteure (die als solche vor Beobachtung geschützt sind) und als öffentliche Akteure (die fortlaufend der Beobachtung durch die entsprechende Publika ausgesetzt sind). Ebenen

Sphären

Gesellschaft Öffentlichkeit Organisation Privatheit Interaktion Zur Verankerung der Konkurrenz in Formen und Medien der Öffentlichkeit vgl. auch Werron 2011 mit der These, dass „öffentliche Kommunikationsprozesse ,im Horizont des Publikums', ...zu Konstrukteuren und Taktgebern der Konkurrenz [werden], die den Rhythmus, das Gedächtnis, die Komplexität und die Universalisierungs- und Globalisierungsdynamik moderner Konkurrenzen bestimmen.“ Werron beansprucht damit, dem „ökonomischliberalen Modell" und dem „sozialwissenschaftlichdarwinistischen Modell" ein genuin soziologisches Modell der Konkurrenz zur Seite zu stellen. 154 Die vollständige Passage zum Verhältnis von Freisetzung und Bindung (Luhmann 1984: 569f) enhält Formulierungen, die Anklänge an Durkheim erkennen lassen: „Was die Sozialdimension betrifft, so ergibt sich aus der Gesellschaft für die Interaktion ein Arrangement von Freiheiten und Bindungen, das die Interaktion selbst nicht begründen könnte. Jeder Teilnehmer findet sich außerhalb des Interaktionssystems andersarteigen Erwartungen ausgesetzt, und jeder muß Verständnis dafür aufbringen, daß es jedem so geht. Zugleich führen diese Außenbindungen, wenn sie in der Interaktion transparent sind, auch zur Selbstkontrolle jedes einzelnen Teilnehmers; denn ihm wird zugemutet, daß auch er selbst Rollenkonsistenz wahrt. ... Mit ihren anderen Bindungen und anderen Rollenverpflichtungen sind die Teilnehmer gewissermaßen auch andere Personen, weil sich mit ihrer persönlichen Identität anderswo eine andere Geschichte und andere Erwartungen verbinden. Für den Einzelmenschen liegt hierin ein Grund, sich selbst als Individuum und als Bezugspunkt eine eigenen Person- und Rollenmanagements zu begreifen. Für das Interaktionssystem liegt hierin die Grundbedingung von Freiheit der Teilnehmer und damit die Grundbedingung für doppelte Kontingenz. Die Differenz von Gesellschaft und Interaktion transformiert Bindung in Freiheit.“

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So treffend diese Beschreibung für die moderne Gesellschaft erscheint, so sehr abstrahiert sie doch von den Konflikten und Konfliktverarbeitungsmechanismen in der historischen Entwicklung von Sozialsystemen. S. die knappen Hinweise auf Tausch und Konflikt a.a.O. 573 und in dem vorhergehenden Kap. 9. 155 s. Axelrods berühmte Studie. 156 Statt mit Luhmann den individualistischen Handlungsbegriff nur als eine simplifizierende Konvention zu behandeln, müsste man ihn demnach auch als adäquaten Ausdruck der tatsächlichen Verselbständigung des individuellens Handelns und der organisierten Handlungsketten gegenüber dem Netzwerk der Kommunikation betrachten. 157 In einem Beitrag (für die Delmenhorster Tagung über Gründungsszenen der soziologischen Theorie Jan. 2012) hat Fischer die Simmelsche Triade (explizit auch gegenüber dem Luhmannschen Kontingenztheorem) als grundlegendes Moment ins Spiel gebracht: „Hat man verstanden, dass Simmel sozialtheoretisch eine Schlüsselfunktion der Figur des Dritten beim Aufbau komplexer Vergesellschaftung einräumt, dann kann man nachvollziehen, wie er aus dieser triadischen Grundfiguration der Vergesellschaftung gesellschaftstheoretisch - also in seiner Diagnostik der Moderne - das zeitgenössische Konflikt- und Integrationspotential der modernen Gesellschaft ableitet bzw. - vorsichtiger gesagt - dieses sozialtheoretische Instrumentarium der komplexen Figur des Dritten bei der Aufschlüsselung moderner Entwicklungen einsetzt: die Logik der Zuwanderung im Phänomen des „Fremden" (der Fremde als hinzutretender Dritter in einer bereits bestehenden Vertrautheitsfiguration), die Logik des Marktes (der Konsument als begünstigter Dritter in der Konkurrenz der Produzenten), die Logik des Rechtsstaates (der Vermittler bzw. die Autonomie des Schiedsrichters), die Logik demokratischer Herrschaft (Koalitionen und Parteibildungen und deren Verhinderung), die Logik der Differenzierung (die Bildung von Schichtung (Mittelschichten zwischen Adel und Arbeiter oder Bauern) ... Die Entdeckung in der Kategorie des Dritten ist, dass jede Relation der Intersubjektivität bereits observiert ist, dass sie nur arbeitet und funktioniert als eine weltimmanent observierte Beziehung, durch die Beobachtung von einer immanenten dritten Position aus - die nicht die eines transzendenten Gottes ist (wie in der Theologie).“ Die Präsentation der Triade als grundlegendes Moment menschlicher Sozialität ist eine beeindruckende Alternative für meine These vom Konkurrenzkonflikt. Ich möchte daher zeigen, dass die Funktion des Dritten in einer evolutionären Differenzierungstheorie bereits enthalten ist. Der Dritte ist hier der „Schiedsrichter“, der Konkurrenzkonflikte schlichten kann – auf die Moderne bezogen: die funktionssystemspezifische Öffentlichkeit, die Konkurrenzkonflikte zwischen Organisationen in Formen des Wettbewerbs einhegen kann. In der Beschreibung der Funktion des Dritten geht es immer um den Distanzgewinn in der Beobachterrolle. Die Formel vom (hinzukommenden) Dritten vernachlässigt aber, dass dieser Gewinn nur um den Preis des (Inter-)Aktionsverzichts zu haben ist. Es handelt sich um den Prototyp der auf Erleben reduzierten Publikumsrolle, deren selektive Funktion für das Zustandekommen sozialer Strukturen für die Moderne in den funktionsspezifischen Öffentlichkeiten zu erkennen ist. 158 Luhmann nimmt das für die symbolische Konstitution von Funktionssystemen grundlegende Moment der Öffentlichkeit auf mit dem Begriff der Beobachtung zweiter Ordnung: „Wohl alle Funktionssysteme beobachten ihre eigenen Operationen auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. In der Wirtschaft beobachten Beobachter einander mit Hilfe des Marktes und der dort sich bildenden Preise. In der Politik inszeniert man alle Aktivitäten vor dem Spiegel der öffentlichen Meinung im Hinblick auf Resultate der politischen Wahlen. Auch in der Wissenschaft beobachten Forscher einander nicht mehr direkt bei der Arbeit, sondern an Hand von Publikationen, die rezensiert, diskutiert oder auch ignoriert werden, so daß man sich daran orientieren kann,


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wie Beobachter die entsprechenden Aussagen beobachten. Ähnliches gilt für die Kunst, sobald Künstler sich darauf einstellen, daß ihre Werke nicht nur als Objekte, sondern im Hinblick auf die Mittel beobachtet werden, mit denen ihre Effekte erzeugt werden. Das heißt: Die Funktionssysteme müssen entsprechende Formen und Gelegenheiten für Selbstbeobachtung einrichten und können nur auf diese Weise Realität konstruieren.“ (1997, 766f.) Der Wirkungsmechanismus der Beobachtung zweiter Ordnung im Medium moderner Massenkommunikation wird aus gutem Grund mit den Formen sozialer Kontrolle verglichen, die bereits in einfachen (segmentär differenzierten) Gesellschaften mit den Mitteln des „Klatschens“ betrieben werden (s. u.a. Schneider 2011). Bei diesem Vergleich fällt natürlich ins Gewicht, dass in der Moderne trotz der technisch erweiterten Mittel der Massenkommunikation normalerweise keine vollständige soziale Kontrolle über die moralischen Orientierungen erlangt wird. Dennoch ist hier (gegen die Annahme eines überwiegend moralfreien Opiererens der Massenmedien) festzuhalten, dass auch unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung die diversen Publikumsorgane noch wesentlich mit dem Mittel der moralischen Skandalisierung operieren – und damit (neben dem staatlichen Gewaltmonopol und seiner Ausdifferenzierung in Exekutive, Legislative und Jurisdiktion) auch für die Moderne ein wesentliches (und relativ kostengünstiges) Mittel sozialer Kontrolle bilden. 159 Genauer gesagt: Öffentlichkeit wird zur Grundlage einer Selektion zweiter Ordnung, in der die Konkurrenz der Akteure nach funktionsspezifischen Kriterien reguliert (in die zivilisierte Form von Wettbewerben transformiert) und differenziert wird. Durch diese Differenzierung werden Konkurrenzkonflikte beschränkt und soziale Ordnung restabilisiert. Daher bezeichnet Luhmann Differenzierung als Mechanismus der Restabilisierung. Für die Bezeichnung des Mechanismus der Selektion (erster Ordnung) greift die gelegentlich verwendete Bezeichnung von Konkurrenz zu kurz. Selektiv wirkt hier ja nicht die operative Austragung von Konkurrenz, sondern es wirken die in der innergesellschaftlichen Umwelt (öffentlich) verankerten Anschlussbeschränkungen der Kommunikation. Daher kann Luhmann für die Moderne auf die Medien-Codes der Funktionssysteme verweisen. Allerdings wird dabei vernachlässigt, dass der Selektionsdruck durch die Konkurrenz der Akteure selbst aufgebaut wird. 160 Dieser Effekt lässt sich gut am Entstehen globaler Formen der Öffentlichkeit unter Verwendung neuer digitaler Vernetzungsmedien demonstrieren. In diesem Sinne Heintz (2007, 348): „Interaktionen lassen sich dann als global bezeichnen, wenn sich selbst aus der Perspektive eines globalen Publikums beobachten, unabhängig davon, ob sie geheim stattfinden oder unter massenmedialer Beobachtung stehen. Die Abwesenden, deren Erwartungen die Interaktion in Rechnung stellt, sind in diesem Fall nicht partikulare Personen, sondern die (weltweiten) Publika der einzelnen Funktionssysteme - Kunstinteressierte, die Weltöffentlichkeit, wissenschaftliche Gemeinschaften, das Sportpublikum - oder auch die »Weltgemeinschaft« als eine Art »generalized other«.“ Dazu schon Walter Lippmann: „Das demokratische Ideal hat nie die Funktion der Öffentlichkeit definiert. Es hat die Öffentlichkeit als eine unreife, schattenhafte Exekutive aller Dinge betrachtet. Die Konfusion ist tief verwurzelt in einem mystischen Gesellschaftsbegriff“ (Lippmann [1993 (1927)], The Phantom Public, S.137) Siehe ferner John Dewey (2001), Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Zum Stellenwert des Publikums als Träger von Differenzierungsprozessen aus netzwerktheoretischer Perspektive Kern 2011 mit dem zeitdiagnostisch relevanten Hinweis, dass die Grenzen zwischen Leistungs- und Publikumsrollen immer leichter überschritten werden können. Dieser wachsende Spielraum auf der Mikroebene darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, als ob die Grenzen zwischen Leistungs- und Publikumsrollen sich auflösen würden. Unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung ist das Gegenteil der Fall. Diesbezügliche Auflösungserscheinungen sind der Regression auf andere Differenzierungsformen zuzuschreiben.

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161 Im Zuge der globalen Ausdehnung und inneren Verdichtung der menschlichen Sozialität in der Moderne ist auch eine Umstellung des Konfliktexternalisierungsmechanismus von der räumlichen Dimension (in der es keine anderen Sozialsysteme mehr jenseits der Grenzen gibt) auf die zeitliche Dimension zu beobachten. Ein erheblicher Teil politischer Problemlösungen in Konkurrenzkonflikten um beschränkte Ressourcen (Verteilung) wird verarbeitet durch Verlagerung in die Zukunft (in staatliche Schulden, die von künftigen Generationen zurückgezahlt werden müssen). Aber auch diese Möglichkeit der Konfliktexternalisierung ist durch die globale Ausdehnung (die Internationalisierung der Finanzmärkte) inzwischen geschlossen. Deshalb ist auch die zeitliche Form der Konfliktexternalisierung inzwischen zum virulenten (ganze Staaten und Staatengemeinschaften gefährdenden) Problem geworden. Interessanterweise stoßen hier die moralischen Nachhaltigkeitsappelle und die amoralischen Rating-Agenturen in das gleiche Horn. (Mündliche Anregung von A. Treml, August 2011) 162 Hier oder an anderer Stelle wäre evtl. noch darauf hinzuweisen, dass alle Formen der politischen Regulierung von Konkurrenz darauf zielen, selbstdestruktive Effekte nach dem Muster des erweiterten Gefangenendilemmas („Allmende“-Problem) zu vermeiden. S. dazu Nowak 2011, 199ff. Konkurrenzkonflikte als Auslöser von Differenzierungsprozessen zu betrachten, ist ein Weg um die Evolution menschlicher Sozialsysteme zu verstehen. Es wäre jedoch verkehrt, Phänomene der Konkurrenz ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung des sozialen Zusammenhalts zu betrachten. Es muß auch gesehen werden, dass es sich um ein Phänomen handelt, von dem ein hohes Maß an Faszination ausgeht – sowohl für Teilnehmer, wie auch aus der Publikumsperspektive. Dieses stimulierende und attrahierende Moment der Konkurrenz ist es ja, das in den geregelten Formen des Wettbewerbs, die es nicht erst in der modernen Gesellschaft gibt, vielfältig genutzt und genossen worden ist. Die tief in der menschlichen Antriebsstruktur verankerte Attraktivität der Konkurrenz, wäre gar nicht erklärbar, wenn es nicht schon vor jeder politischen und gemeinschaftlichen Regulierung Formen der Konkurrenz gegeben hätte (und sich auf Gruppenebene als erfolgreich erwiesen hätten), die nicht zwangsläufig auf einen gewaltsamen und/oder den sozialen Zusammenhalt gefährdenden Konflikt hinauslaufen. Das evolutionäre Grundmuster einer solchen Konkurrenz ist bereits in der Tierwelt zu beobachten: in der Konkurrenz um Fortpflanzungschancen, soweit hier nicht männliche Dominanz sondern weibliche Wahl regiert. S. Miller 2000. Zur Ähnlichkeit der Verhaltensmuster in modernen Formen des Wettbewerbs mit denen der sexuellen Selektion auch Blute 2010, 101f: „As economists Coase (1937) and Williamson (1995) also made clear, however, markets have transaction costs which is in part what sexual competition is (although it would be helpful if the economics of transaction costs and the economics of conflict were more integrated with each other). When organisms turn from competing ecologically to competing sexually, they turn from optimizing in the narrow sense, i.e. ecologically, to playing social games. In a perfectly competitive market, we should expect these transaction costs or costs of antagonistic game playing to erode profits from specialization to zero. And that is exactly what we normally see in meiotic sex. The fact that only half of one's genes are placed in a sexual gamete as opposed to all of them in an asexual spore (there is a two-fold cost of sex) but that cost is normally exactly compensated for presumably by the advantages of ecological speciali¬zation so that meiosis is a two-division process from which four rather than two descendants emerge (i.e. there is equally a two-fold benefit). In some cases profits from the specialization and exchange above and beyond transaction and conflict costs remain - meiosis is followed immediately by one or more post-meiotic mitoses. In rare cases profits appear to be eroded below that - some eukaryotic protists have only a singledivision meiosis - which not surprisingly is rare and it is unclear whether it is derived (as spite) or primitive. In other cases as in


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female animals, while meiosis is a two-division process, the divisions are unequal and two small "polar bodies" are abandoned presumably a secondary derivation as an adaptation to the survival of rather than the numbers of grand-offspring.“ 163 Neben vielen anderen Indikatoren kann dafür der gesteigerte Körperkult angeführt werden. 164 Hier evtl. den schon wiederholt verwendeten Hinweis auf Dual Inheritance Theorien – Richerson & Boyd 2005 – mehr ausführen. 165 Dieser Freisetzungsprozess ist von C. Wouters (1999) im Anschluss an Elias Zivilisationstheorie als „Informalisierung“ beschrieben worden. Die Freisetzungsthese in Bezug auf die Interaktionsebene muss allerdings noch einmal überprüft und relativiert werden vor dem Hintergrund von Argumenten hinsichtlich einer eher zunehmenden Bedeutung von (technisch vermittelter) Interaktion in globalen Netzwerken – vgl. Heintz 2007 – Hinweise auch bei Schwinn. Eine Möglichkeit bestünde darin, den Organisationsbegriff um solche Netzwerke zu erweitern, evtl. komplementär zu den interaktionsfrei hergestellten Beziehungen auf Märkten. 166 Aber auch moderne Organisationen bieten mehr Freiheitsgrade als traditionelle Sozialsysteme. In diesem Sinne Turner und Maryanski 2008, 180f. “There is, … a major difference between a complex organization and a kinship system built from a descent rule: There is no escape from a kinship system. Max Weber used the phrase that has been variously translated as "iron cage," "steel cage," or "steel enclosure" to denote the capacity of rational-legal bureaucracies to control individuals and to limit their expression of emotions. But Weber's portrayal of bureaucracies looks quite tame, in several ways, compared to a unilineal descent system. First, in a rational-legal bureaucracy, people have some choice in a labor market over which organizations they will join. Second, they are also able to leave the organization at the end of the day. Third, emotions are supposed to be neutral to avoid conflict. Fourth, while the authority system is hierarchical, it is not generally coextensive with kin authority. Fifth, individuals can move up the bureaucracy on the basis of performance and skill rather than their place or order of birth in the kinship system. Compared to a bureaucracylike structure built around kinship, a bureaucracy looks like a much better place for a hominid to be. Individuals have some freedom to choose which organization they will join, and they have the option to leave one organization for another; in a unilineal descent system, there is little freedom to choose or leave. Moreover, an individual must live day and night around kin, must be subject to the authority of senior kin, must be subject to control by in-laws, must perform most labor with kin or inlaws, and otherwise be wholly immersed in a dense network of kindred. Emotions run high in such a system because it is a much more constraining cage than any bureaucracy, and since hominins were rewired for enhanced emotionality, the cage of kinship can be highly stressful. A complex range of negative emotions can be aroused when someone is caged among relatives, and so societies with unilineal descent systems are often filled with conflict, feuds, and other acts of violence. A cage of kinship is indeed a very unnatural unit of organization for a member of the hominoid family.” 167 Hierzu der – evtl. in einer Passage zur Entdeckung ökologischer Probleme in der Moderne auszuführende - Hinweis, dass es auch als eine Nebenfolge der globalen Ausdehnung betrachtet werden muss, daß ökologische Themen, die lange Zeit durch Konkurrenzkonflikte auf der Makroebene der Sozialsysteme verdrängt wurden, wieder Vorrang erhalten. Die selbstverständliche Unterscheidung zwischen Natur- und Technikkatastrophen gerät dabei immer mehr in Schwierigkeiten. Auch Luhmann hat wiederholt darauf hingewiesen s. u.a. 1997, 490. – Möglicherweise kann das Problem der Diffusion von Feindbildern in der gobalisierten Gesellschaft zunehmend durch Projektion auf Bakterienstämme und andere nichtmenschliche Konkurrenten gelöst werden.

168 In einem Beitrag zur Rekonstruktion des Spannungsverhältnisses zwischen Differenzierungs- und Ungleichheits-

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theorie bei Parsons macht Greve darauf aufmerksam, dass Luhmann demgegenüber eine vergleichsweise einfache Lösung bereithalte: Er begreife Integration als „negative Integration“ (2011, 364f - in: Schwinn et al. 2011: Soziale Differenzierung) und zitiert als Beleg aus Luhmanns früher Religionssoziologie (1982)

„Den Integrationsbegriff wollen wir negativ definieren als Vermeidung des Umstandes, daß die Operationen eines Teilsystems in einem anderen Teilsystem zu unlösbaren Problemen führen." (Luhmann 1982: 242) Zwar hat Luhmann die Bezeichnung „negative Integration“ später (1997, Abschnitt III Inklusion / Exklusion) in einem ganz anderen Sinne, nämlich als funktionssystemübergreifende Exklusion an den Rändern der Gesellschaft verwendet. Der Sache nach aber hat Luhmann auch in seiner späteren Gesellschaftstheorie an dem in der Religionssoziologie eingeschlagenen Weg einer negativen Definition von Integration festgehalten: „Die Umstellung vom Schema Ganzes/Teil auf das Schema System/Umwelt verändert schließlich die Stellung des Begriffs der "Integration". In der alteuropäischen Denkweise gab es dafür keinen besonderen Begriff, denn die Integration der Teile war in der Ganzheitlichkeit des Ganzen als ordinata concordia mitvorgesehen und wurde an den Einzelphänomenen dann als ihre Natur oder ihr Wesen zum Ausdruck gebracht. Die klassische Soziologie reformuliert das Problem als eine quasi gesetzmäßig Beziehung zwischen Differenzierung und Integration. Die Differenzierung könne nicht ins Extrem völliger Indifferenz getrieben werden. "Quelques rapports de parenté", meint Durkheim , folgten allein aus dem Umstand, daß es sich um die Differenzierung eines Systems handele. Und Parsons macht daraus: "Since these differences are conceived to have emerged by a process of change in a system.... the presumption is that the differentiated parts are comparable in the sense of being systematically related to each other, both because they still belong within the same system and, through their interrelations, to their antecedents." Dabei bleibt der Begriff der Integration zumeist jedoch undefiniert und wird, wie man kritisch angemerkt hat, mehrdeutig verwendet. Häufig fließen in ihren empirischen Bedingungen nicht weiter reflektierte Konsensprämissen ein. Das hatte zur Konsequenz, daß der Begriff der Integration nach wie vor benutzt wird, um Einheitsperspektiven oder sogar Solidaritätserwartungen zu formulieren und entsprechende Einstellungen anzumahnen, — im alteuropäischen Stil! Der Geschichtsprozeß wird wie ein Vorgang der Emanation beschrieben: Aus Homogenität wird Heterogenität, wobei die Heterogenität die Homogenität dadurch ersetzt, daß sie Differenzierung und Integration zugleich erfordert. Unter solchen Umständen, wird oft gesagt, kommt der Mobilität die Funktion der Integration zu, und "Mobilisierung" galt deshalb als eines der entscheidenden Rezepte einer Modernisierungspolitik für Entwicklungsländer (solange die chaotischen Folgen der Wanderungsbewegungen und Verstädterungen nicht eines besseren belehrten). Ein normativer, Integration fordernder oder doch gutheißender Begriff muß jedoch in Gesellschaften, die komplexer werden, auf zunehmenden Widerstand stoßen. Wenn man ihn beibehält, sieht man sich zu paradoxen oder tautologischen, selbstimplikativen Formulierungen gezwungen. Die Kommunikation des Gebots (und wie anders sollte es Realität werden?) wird mehr "Neins" als "Jas" auslösen, so daß die Hoffnung auf Integration schließlich zu einer Ablehnung der Gesellschaft führt, in der man lebt. Und dann? Um solche Überdeutungen zu vermeiden, wollen wir unter Integration nichts anderes verstehen als die Reduktion der Freiheitsgrade von Teilsystemen, die diese den Außengrenzen des Gesellschaftssystems und der damit abgegrenzten internen Umwelt dieses Systems verdanken. Jede Ausdifferenzierung autopoietischer Systeme erzeugt ja interne Unbestimmtheiten, die durch Struk-


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turentwicklungen noch ausgeweitet, aber auch eingeschränkt werden können. Integration ist nach diesem Begriffsvorschlag also ein Aspekt des Umgangs mit, oder der Nutzung von, internen Unbestimmtheiten auf der Ebene des Gesamtsystems wie auf der Ebene seiner Teilsysteme. ... Im Unterschied zum Gesellschaftssystem gibt es für dessen Teilsysteme ja zwei Umwelten: die gesellschaftsexterne und die gesellschaftsinterne. Integration ist, so verstanden, kein wertgeladener Begriff und ist auch nicht "besser" als Desintegration. Sie bezieht sich auch nicht auf die "Einheit" des differenzierten Systems (was rein begriffslogisch schon darauf folgt, daß es zwar mehr oder weniger Integration, aber nicht mehr oder weniger Einheit geben kann). Integration ist also nicht Bindung an eine Einheitsperspektive und schon gar nicht eine Sache des "Gehorsams" der Teilsysteme im Verhältnis zu Zentralinstanzen. Sie liegt nicht in der Beziehung der "Teile" zum "Ganzen", sondern in der beweglichen, auch historisch beweglichen Justierung der Teilsysteme im Verhältnis zueinander. Die Einschränkung der Freiheitsgrade kann in Bedingungen der Kooperation liegen, sie findet sich aber noch viel stärker im Konflikt. Der Begriff meint also gerade nicht die Differenz von Kooperation und Konflikt, sondern ist dieser Unterscheidung übergeordnet. Das Problem des Konflikts ist die zu starke Integration der Teilsysteme, die immer mehr Ressourcen für den Streit mobilisieren und sonstiger Verfügung entziehen müssen, und das Problem einer komplexen Gesellschaft ist es dann, für hinreichende Desintegration zu sorgen.“ (Kap. 4 Differenzierung Abschnitt I Systemdifferenzierung)

Auf den ersten Blick erscheint es so, als ob es sich hier um eine kühle Umkehrung („Abklärung“) der normativen Integrationspostulate der Theorietradition handelt. Tatsächlich handelt es sich aber eher um eine Absage an die starke Betonung der Integration über geteilte Werte bei Parsons (die Luhmann auch Durkheim unterstellt, ohne dessen evolutionstheoretische Begründung zu sehen). Wenn Luhmann es als Problem der Gesellschaft betrachtet, für „hinreichende Desintegration“ zu sorgen, dann wird deutlich, dass er eigentlich soziale Differenzierung (i.S. des Auseinanderziehens der Konfliktanlässe in verschiedene Teilsysteme, die nicht mehr miteinander konkurrieren) meint. Er übernimmt also die im mainstream der Soziologie üblich gewordene Gegenüberstellung von Differenzierung und Integration, statt auf eine evolutionstheoretische Erklärung von Integration durch Differenzierung zu bauen. Nimmt man die noch deutlich an die Darwinsche Theorie angelehnten Formulierungen Durkheims ernst, dann bilden Differenzierung und Integration überhaupt keinen Gegensatz (Gegenpole) sondern sind Bestandteile eines kausalen Erklärungsansatzes: Integration durch Differenzierung. Allerdings ist dieser evolutionstheoretische Erklärungsansatz bei Luhmann nicht mehr zu erkennen, weil es in seiner Version von Evolutionstheorie Selektion nur noch im System gibt. 169 „Kriege finden heute immer weniger zwischen Staaten und deren Armeen oder in Staaten zwischen Regierungstruppen und bewaffneter Opposition statt, als vielmehr in Regionen, die ethnisch, religiös, ideologisch oder tribal definiert werden und nationalstaatliche Grenzen über- bzw. unterschreiten.“ Zit. von Take (in Bonacker/Weller 2006, 103). Zu neuen Kriegen s. Münkler. Zu den Ursachen s. aber auch Youth-Bulge-Hypothese (bei Huntington, Heinsohn u.a. ). – Es ist gelegentlich behauptet worden, dass die gewaltsame Austragung von Konkurrenzkonflikten der Verminderung von Bevölkerungsüberschüssen diene, dass also im Konkurrenzkampf eine evolutionäre Regulierungsfunktion zum Ausgleich der in allen Lebensformen eingebauten Wachstumstendenzen liege. Diese Behauptung beruht auf einer naturali-

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sierenden Rückprojektion demographischer Probleme der Moderne und ist evolutionstheoretisch nicht aufrechtzuerhalten. Denn seit der „Erfindung der Individualität“ (Wieser 1998) gibt es ein in allen Individuen eingebautes Programm zur Beendigung des Lebens. Menschen mussen sich nicht gegenseitig umbringen, sie können „in Frieden sterben“. Wenn es hier ein Problem der Begrenzung gibt, dann liegt es nicht in der Beendigung des Lebens sondern in den Formen der Erzeugung des Lebens, die stets nicht nur von den Bedürfnissen der Individuen sondern auch vom jeweiligen Sozialsystem beeinflusst werden. Hier handelt es sich um ein Problem, das in einfachen Sozialsystemen noch durch Teilung und Wanderung bei Knappheit natürlicher Ressourcen geregelt wurde. In größeren und komplizierteren Sozialsystemen verlagert sich die Steuerung zunehmend auf die Ebene der Sozialsysteme (in der frühen Neuzeit dann durch Abtreibungsverbote etc.). Der Geburtenüberschuss – insbesondere hinsichtlich der männlichen Bevölkerung im kriegsfähigen Alter – wird zu einem Mittel der Politik in der Konkurrenz mit anderen Sozialsystemen. Das Problem wird in der modernen Gesellschaft virulent – kehrt ins Innere der Gesellschaft (zB. als Klage über sinkende Geburtenzahlen bei der eigenen Herkunftsgruppe trotz globaler Überschüsse) zurück – weil es keine Außenbeziehungen mehr gibt und weil das Wachstum der Weltbevölkerung insgesamt wieder auf die natürliche Beschränktheit der Ressourcen stößt. 170 Fundamentalistische Tendenzen hatte T. Parsons bereits 1947 als Reaktion auf den Rationalisierungsprozess der Moderne interpretiert: „Das Berufssystem der westlichen Industriegesellschaften stellt wahrscheinlich den wichtigsten institutionellen »Niederschlag« eines Das Berufssystem der westlichen Industriegesellschaften stellt wahrscheinlich den wichtigsten institutionellen »Niederschlag« eines dynamischen Grundprozesses dar, den Max Weber als »Rationalisierungsprozeß« bezeichnet hat. Dieser Prozeß hat sowohl über das Berufssystem, wie durch andere Kanäle einen grundlegenden Einfluß auf die Strukturierung der Einstellungen in der westlichen Welt ausgeübt; er ist also für das Problem der Aggressivität relevant und soll hier kurz besprochen werden. Kern und grundsätzlicher Prototyp des Rationalisierungsprozesses ist der Fortschritt der Wissenschaft und der ihr verwandten Elemente des rationalen Denkens. Die Wissenschaft ist ihrem Wesen nach dynamisch: wird sie nicht durch äußere Einflüsse gehindert, so wird sie sich ständig weiterentwickeln. Wird sie ferner nicht hermetisch von dem übrigen sozialen Leben abgeschlossen - was offensichtlich unmöglich ist -, so muß sich dieser dynamische Prozeß des Wandels in benachbarte Bereiche des Denkens, wie zum Beispiel das philosophische und das religiöse, ausdehnen und auf praktische Anwendung drängen, wo immer rationale Normen das Handeln bestimmen. So wird durch diesen dynamischen Faktor ein fortgesetzter Prozeß des Wandels eingeleitet, der sowohl die primären, das Leben einer Gesellschaft integrierenden Symbolsysteme, als auch die Struktur der Situationen betrifft, in denen ein großer Teil der Bevölkerung seine Tätigkeiten ausüben muß. Die Bedeutsamkeit dieses Sachverhalts ergibt sich in erster Linie aus der Tatsache, daß die Sicherheit des Individuums - in dem für diese Analyse relevanten Sinne - in hohem Maße eine Funktion der Stabilität bestimmter Elemente in der sozio-kulturellen Situation zu sein scheint. Dies hängt vor allem damit zusammen, daß bestimmte Aspekte in den Situationen, denen sich die Menschen gegenübergestellt sehen, mit der tatsächlichen und, wie sie meinen, zu gewärtigenden Erfüllung ihrer »berechtigten Erwartungen« zu tun haben. Diese Erwartungen sind, selbst wenn man von allen neurotischen Verzerrungen einmal absieht, meist sehr konkret; daher führt jeder Wandel, auch wenn er an sich nicht einmal ungünstig ist, im allgemeinen zu Störungen und Angstreaktionen. In diesem Zusammenhang ist vor allem festzuhalten, daß der technologische Wandel unvermeidlich die informellen Beziehungen der Mitglieder von Arbeitsgruppen zerreißt - und es ist gezeigt worden, daß diese Beziehungen für die emotionale Stabilität und die Arbeitsleistung von großer Wichtigkeit sind. Der mit die-


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sem Wandel gleichzeitig einhergehende Prozeß des Wandels auf der Ebene der Vorstellungen und Symbole hat andererseits die Tendenz, bestehende Symbolsysteme aufzulösen, die für die Sicherheit der Menschen und für die Stabilisierung ihrer Orientierung von größter Bedeutung sind. Alles bisher vorliegende Material scheint zu zeigen, daß sich selbst sehr gut integrierte Persönlichkeiten nur einem recht begrenzten Maß des Wandels anpassen können, ohne das reibungslose Funktionieren der Persönlichkeit zu gefährden; und je größer die neurotische Unsicherheit des Individuums ist, um so stärker ist auch das zwanghafte Bedürfnis nach Stabilität in dieser Hinsicht. Die Fähigkeit, sich den beiden oben genannten Formen des Wandels anzupassen, ist eine Funktion der »emotionalen Reife«, und die vorliegende Analyse hat gezeigt, daß die meisten Menschen in der westlichen Gesellschaft nur ein sehr begrenztes Niveau emotionaler Reife erreichen können. Es läßt sich daher kaum in Zweifel stellen, daß der durch den Rationalisierungsprozeß ständig genährte, dynamische Wandel eine der Hauptquellen für die Unsicherheit darstellt, durch die unsere Gesellschaft gekennzeichnet ist. Damit muß er aber auch einer der Hauptfaktoren sein, die zu jenem großen Reservoir an aggressiven Impulsen beitragen; und es ist ein Faktor, der so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt ist, daß man in der vorhersehbaren Zukunft mit seinem ständigen und sehr starken Fortwirken rechnen muß. Nur tiefgreifende Änderungen in der gesamten gesellschaftlichen Situation, die den größeren Teil dieser Analyse ungültig machen würden, könnten eine Situation hervorbringen, in der dies nicht gelten würde. Es ist jedoch weniger die Bedeutung des Rationalisierungsprozesses für die quantitative Zunahme der Aggressivität, als vielmehr die Art und Weise, wie er die Richtung des aktuellen und des potentiellen Ausdrucks der Aggressivität strukturiert, die ihn so wichtig macht. Er ist einer der Hauptfaktoren in der Polarisierung der Einstellungen, vor allem indem er zu einer Verteilung der Einstellungen auf die verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft beiträgt, durch die Angst und Aggressivität auf eine einzige strukturierte Spannungslinie gerichtet werden. Man muß sich in diesem Zusammenhang ins Gedächtnis rufen, daß die verschiedenen Elemente in der Sozialstruktur von dem Rationalisierungsprozeß auf höchst unterschiedliche Weise betroffen werden. In bezug auf traditionsgebundene Werte, Symbole und Situationsstrukturen gibt es auf jeder Ebene immer verhältnismäßig »emanzipierte« und verhältnismäßig traditionelle Gesellschaftsgruppen und -Sektoren. Einige der emanzipierten Gruppen, beispielsweise die besten akademischen Berufe, sind verhältnismäßig gut institutionalisiert worden; für sie ist daher der dynamische Prozeß, zu dessen Trägern sie gehören, keine größere Störungsquelle. Doch enthalten sie immer zumindest einen Randbezirk, wenn nicht mehr, wo sich die Unsicherheit in einem zwanghaft verzerrten Muster extremer Emanzipierung ausdrückt. Diese stellt eine starke Provokation für die traditionelleren Elemente in der Gesellschaft dar, und in dem Maße, als beide Gruppen zwanghaft motiviert sind, ist ein circulus vitiosus unvermeidlich. Der Rationalisierungsprozeß dehnt sich jedoch der Tendenz nach auch in die verhältnismäßig traditionsgebundenen Bereiche der Gesellschaft aus und bedroht die Sicherheit jener Bevölkerungselemente, deren Abhängigkeit von traditionellen Mustern am größten ist. Zum Teil sind diese Elemente bereits vorher starker Unsicherheit ausgesetzt, und die Abhängigkeit von traditionellen Mustern hat zwanghaften Charakter; zum Teil ist es der Wandel, der neue Unsicherheit mit sich bringt. In beiden Fällen ergibt sich daraus eine Verstärkung dessen, was an anderer Stelle als »fundamentalistische Reaktion« bezeichnet worden ist; eine zwanghaft verzerrte Übersteigerung der traditionellen Werte und anderer, damit verbundenen Muster. Dies gilt vor allem für diejenigen Elemente in Kultur und Gesellschaft, die nicht mit der gleichen Leichtigkeit und im gleichen Sinne der Rationalisierung zugänglich sind wie die Bereiche der Wissenschaft, Technik und Verwaltung - nämlich Religion, Familie, Klasseneinstellungen,

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informelle Traditionen der Volkskultur und ähnliche Bereiche, in denen nicht-logische Symbolsysteme eine große Rolle spielen. Mit der übertriebenen Verfechtung dieser traditionellen Muster geht umgekehrt eine aggressive Bekämpfung jener Symbole Hand in Hand, die sie zu bedrohen scheinen: der Wissenschaft als solcher, des Atheismus und anderer anti-religiöser Aspekte des liberalen Rationalismus, der Lockerung der traditionellen Geschlechtsmoral - vor allem in den großen Städten und in den »Bohemienskreisen« -, des politischen und wirtschaftlichen Radikalismus usw. Auf der anderen Seite neigen die zwanghaften Vertreter der emanzipierten Werte dazu, alle traditionellen Werte als »dumm«, reaktionär und unaufgeklärt zu brandmarken, und es wird so nur allzu leicht ein circulus vitiosus von wachsendem Antagonismus in Gang gesetzt. Die Tatsache, daß diese Polarisierung eine grobe Entsprechung in der Differenzieung der Gesellschaftsstruktur hat - mit latenten, bzw. mehr oder wenigen aktuellen Interessenkonflikten zwischen Land und Stadt, Kapital und Arbeit, Ober- und Unterklassen u. ä. m. - gießt weiteres Öl in die Flammen. Von größter Wichtigkeit ist jedoch, daß das Muster der fundamentalistischen Reaktion sich überwiegend um jene Werte aufbaut, die für die Begründung und Symbolisierung der informellen Gruppensolidarität von besonderer Bedeutung sind - beispielsweise im Bereich der Familie, der sozialen Klasse, der sozio-religiösen Gruppen, der ethnischen Gruppen und der Nationen. Viele dieser Solidaritäten stehen in ernstem Konflikt mit den expliziten Werten der westlichen Welt, die weitgehend auf die rationalistischen Traditionen der Aufklärung zurückgehen. Sie lassen sich daher besonders schwer gegen rationalistische Angriffe verteidigen. Nichtsdestoweniger werden sie öfter »verteidigt« und behauptet denn fallengelassen, da sie von grundlegender emotionaler Bedeutung sind. Gerade der Umstand, daß durch die tatsächliche Anerkennung rationaler Werte die rationale Verteidigung dieser Solidaritäten so schwierig wird, macht sie zu einem so günstigen Feld für die Mobilisierung verdrängter Aggressivität; denn eben in einem Zustand der Verwirrung reagieren die Menschen am ehesten mit »unvernünftiger« Aggressivität. Dieser Sachverhalt scheint vieles zur Erklärung der erstaunlichen Tatsache beizutragen, daß die Aggressivität in der westlichen Welt so stark dazu neigt, sich als Antagonismus zwischen solidarischen Gruppen zu manifestieren. Einige dieser antagonistischen Gruppen sind zweifellos aus der formalen und utilitaristischen Struktur der modernen Gesellschaft hervorgegangen, wie etwa der Konflikt zwischen Unternehmern und Gewerkschaften. Doch von größerer Wichtigkeit sind wahrscheinlich die Konflikte die quer durch diese Gruppen hindurchgehen, insbesondere die Konflikte zwischen religiösen und ethnischen Gruppen innerhalb der Nationen, sowie vor allem die Konflikte zwischen Nationen. Der Gruppenkonflikt scheint in zweifacher Hinsicht besonders bedeutsam zu sein: einerseits stellt die Solidarität mit einer informellen Gruppe, deren Anziehungskraft auf »infrarationalen« Gefühlen beruht, ein ausgesprochen wirksames Mittel zur Beschwichtigung der üblichen Formen neurotischer Angst dar; andererseits ist die antagonistische Gruppe ein besonders geeignetes Objekt für die Übertragung all jener emotionaler Reaktionen, die innerhalb der eigenen Gruppe nicht offen zum Ausdruck gebracht werden dürfen, wenn ihre Solidarität nicht bedroht werden soll. In diesem Zusammenhang läßt sich daher wohl kaum etwas Geeigneteres vorstellen als das Vorhandensein von Gruppen, denen gegenüber die ambivalente Gefühlsstruktur hinsichtlich der zwei, weiter oben besprochenen Hauptthemen zum Ausdruck gebracht werden kann. Die »Fremdgruppe« sollte also so beschaffen sein, daß die Eigengruppe ihr gegenüber einerseits ein angenehm selbstgerechtes Gefühl der Überlegenheit haben kann und andererseits gleichzeitig in der Lage ist, die anderen glaubhaft einer unberechtigten Überlegenheitsanmaßung zu beschuldigen. Weiter sollte die Fremdgruppe auch einen hohen ethischen Stand für sich beanspruchen, der sich jedoch dann glaubhaft als bloßer Schein und subtile Täuschung ausdeuten lassen muß. In all diesen Punkten


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haben die Juden einen nahezu idealen Sündenbock für die gesamte westliche Welt abgegeben. Die latente Aggressivität ist also in der gesamten westlichen Welt in interne Gruppenkonflikte der verschiedensten Art kanalisiert worden: bei uns finden sie sich als anti-semitische, anti- gewerkschaftliche, anti-Neger-, anti-katholische und anti-AusländerEinstellungen. Der hauptsächliche und ernsteste Brennpunkt dieser Tendenzen ist jedoch der Nationalismus, und dafür gibt es sehr gewichtige Gründe. Der erste Grund ist seine reale Grundlage: daß unsere Zivilisation in Nationalstaaten organisiert ist, die die beherrschenden Machteinheiten in ihr darstellen, ist seit langem eine entscheidende, reale Tatsache der Situation. Vor allem ist - bei der chronischen Tendenz, in Krisensituationen seine Zuflucht zum Krieg zu nehmen - die Loyalität zu der eigenen Regierung in gewissem Sinne zur höchsten Residual-Loyalität geworden, die jedes, auch das höchste Opfer verlangen kann, wenn dies notwendig erscheint. Gleichzeitig ist es auch höchst bedeutsam, daß die nationalistische Loyalität als solche zwischen den beiden Polen der modernen Einstellungsstruktur, dem fundamentalistischen und dem emanzipierten, eine weitgehend neutrale Stellung einnimmt. Sie stellt allerdings einen besonders geeigneten Sammelpunkt für die fundamentalistischen Gefühle dar und gibt diesen Gelegenheit, ihre Gegner einer nur scheinbaren Aufrichtigkeit zu bezichtigen, da diese Loyalität ihrer Tendenz nach eine äußerste Prüfung des Altruismus und der Aufrichtigkeit ist. Darüber hinaus steht der »Fremde« außerhalb des eigenen und unmittelbaren Systems gesetzlicher Ordnung; Aggressivität gegen ihn ist daher nicht mit dem gleichen Makel der Schimpflichkeit oder mit der unmittelbaren Vergeltungsgefahr belastet wie die Aggressivität gegen die eigenen »Mitbürger«. In der Feindschaft gegen den Fremden steht damit ein Mittel zur Verfügung, die hauptsächlichen, unmittelbar drohenden Gruppenkonflikte zu überwinden und »Einigkeit« zu erzielen - jedoch nur auf Kosten einer zwar weniger direkten, dafür aber weit gefährlicheren Bedrohung der Sicherheit, da die Nationalstaaten heute über so zerstörerische Waffen verfügen, daß der Krieg zwischen ihnen dem Selbstmord nahekommt. Das ungeheure Aggressivitätsreservoir in der westlichen Welt ist also auf das schärfste gehemmt, direkten Ausdruck in jenen kleineren Gruppen zu finden, in denen es in erster Linie erzeugt worden ist. Die Gesellschaftsstruktur, die diese Aggressivität hervorbringt, prädisponiert ihre Kanalisierung in Gruppenantagonismen. Die Bedeutung der Nationalstaaten führt jedoch dazu, daß ein starker Druck in Richtung auf deren innere Einigkeit ausgeübt und damit eine Tendenz geschaffen wird, die Aggressivität auf die potentiellen Konflikte zwischen nationalstaatlichen Einheiten zu konzentrieren. Nun gibt es aber nicht nur eine Vielzahl solcher Einheiten, deren jede ein potentielles Ziel für die konzentrierte Aggressivität aller anderen darstellt, sondern die Situation wird auch dadurch noch unstabiler gemacht, daß diese Einheiten eine endemische Tendenz haben, ihre Beziehungen in einer dem Aufbau einer wirklich solidarischen, internationalen Ordnung am wenigsten gemäßen Weise zu bestimmen. Denn jeder einzelne Staat ist in der Frage der Über- oder Unterlegenheit stark ambivalent. Jeder hat die Tendenz, einen tiefwurzelnden Anspruch auf seine eigene Überlegenheit zu erheben, und jeder begegnet einem entsprechenden Anspruch des anderen mit Widerstand. Gleichzeitig hat jeder die Tendenz, sich als in der Vergangenheit ungerecht behandelt zu fühlen, und jeder nimmt daher bei der kleinsten Herausforderung bereitwillig an, daß die anderen sich zu neuen Ausschreitungen für die unmittelbare Zukunft rüsten. Jeder hat die Tendenz, ohne jedes Bedenken von der Rechtmäßigkeit der eigenen Politik überzeugt zu sein, während man gleichzeitig nur allzu bereitwillig die Motive aller anderen verdächtigt. Kurz, die »Dschungelphilosophie« - die einem größeren Teil in uns allen wirklichen Gefühle entspricht, als wir, sogar uns selbst gegenüber, offen eingestehen können - wird der Tendenz nach gerade an dem Punkt auf die Beziehungen der Nationalstaaten projiziert, wo sie angesichts der techni- schen und organisatorischen Situati-

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on in der modernen Welt den größten Schaden anrichten kann.“ (Parsons 1964, 245-252.) Zu Fundamentalismen in der Weltgesellschaft s. auch Stichweh ... 171 An dieser Stelle wäre Anschauungsmaterial für virulente Konkurrenzkonflikte der Differenzierungsformen nachzutragen: Die Korruption funktional differenzierter Strukturen auf der Makroebene (failed states, mafiotische Netzwerke in Organisationen etc.) ethnisch motivierte Bürgerkriege, religiöser Fundamentalismus und Xenophobie, Kampf gegen Individualismus, sexuelle Freiheiten etc. auf der Mikroebene. „Kriege finden heute immer weniger zwischen Staaten und deren Armeen oder in Staaten zwischen Regierungstruppen und bewaffneter Opposition statt, als vielmehr in Regionen, die ethnisch, religiös, ideologisch oder tribal definiert werden und nationalstaatliche Grenzen über- bzw. unterschreiten.“ Zit. von Take (in Bonacker/Weller 2006, 103). Auch Vieles von dem, was Wolfgang L. Schneider im Anschluss an Luhmann (und Serres) mit dem Konzept der parasitären Sozialsysteme zu fassen versucht, würde ich hier einordnen. Dazu Luhmann (1997, 661 - mit Bezug auf die Auflösung einer Ordnung, die strikt an den Gleichheitsprinzipien segmentärer Differenzierung orientiert ist, aber übertragbar auf alle Formen): „Jede Ordnung beruht auf Ausschließungen, eine symmetrische Ordnung auf der Ausschließung von Asymmetrien. Das bietet eine Chance, die ohne distinkte Ausschließungen gar nicht gegeben sein könnte, nämlich die Möglichkeit, im Ausgeschlossenen Ordnungsvorteile zu entdecken und zu nutzen. Gerade gut strukturierte Ordnungen machen das Gegenteil sichtbar — nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit — und bieten, wenn auf die Probe gestellt, die Chancen einer Bifurkation, also die Chancen eines anderen Wegs, der, wenn begangen, dann seinerseits irriversible Geschichte macht. So können sich, ganz im Sinne von Michel Serres, Parasiten bilden, die solche Möglichkeiten ergreifen. Es entsteht eine parasitäre Ordnung, die nahezu unbemerkt vom Zustand der Ausnahme oder der Abweichung in die Position der Primärordnung übergleitet — nur um dann ihrerseits wieder parasitierbar zu sein. ‚Die Evolution bringt den Parasiten hervor, der wiederum die Evolution hervorbringt.‘ “ Dasselbe Argument verwendet Luhmann auch bezüglich des Umbruchs von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung (1997, 683). Von Luhmann auf den Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung gemünzte Formulierungen lassen sich aber auch auf die gegenwärtige Konkurrenz der Differenzierungsformen beziehen und zur Beschreibung der parasitären Auflösung von funktionaler Differenzierung umkehren: „So kommt es mit Hilfe zentraler Patronage zum Aufbau lokaler Klientensysteme, die deren Patron im Dienst der Zentrale verwendet — oder auch nicht. Unter heutigen Kriterien würde dieses System als "Korruption" beschrieben werden; aber es hatte auch den für die weitere Entwicklung wichtigen Vorteil, mit den Interessen an politischer Selektion zugleich herkunftsunabhängige Aufstiegsmöglichkeiten zu schaffen. Obwohl an hierarchische Ordnungsvorstellungen gebunden, untergraben die ständig erneuerungsbedürftigen Patron/KlientVerhältnisse bereits die stratifikatorische Gesellschaftsdifferenzierung.“ (1997, 716f.) Die in jüngster Zeit deutliche Ausweitung desssen, was unter Korruption verstanden wird – vom Verhalten staatlicher Amtspersonen auf das Verhalten in Leistungsträgerrollen in allen Funktionssystemen - ist als ein starker Indikator für die Ausbreitung der impliziten Normen funktionaler Differenzierung zu verstehen. Zur Erweiterung des Korruptionsbegriffs jenseits persönlicher Vorteilsnahme (s. Transparancy International u.a.) 172 Hier evtl. – im Anschluss an Formulierungen bei Luhmann („Die Antwort kann nur in dieser Gesellschaft selbst gefunden werden, zum Beispiel in ihrer Fähigkeit, Tempo auszuhalten, für Ausfälle Ersatz zu finden, Reserven für Unvorhergesehenes zu kapitalisieren und vor allem: mit diesen Erfordernissen sozialisierend zu wirken und die Bewußtseinssysteme der Menschen mit diesen Gegebenheiten vertraut zu machen.“ 1997, 497 zit. schon oben) – eine


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Passage oder einen Exkurs einfügen über typische Sozialisationsverläufe, die zur Stabilisierung von Gruppenidentäten führen, wie sie alle vormodernen Gesellschaftsformen bevorzugen, im Vergleich mit typischen Sozialisationsverläufen, die zu individualisierten Selbstbeschreibungen führen, wie sie die moderne Gesellschaft bevorzugt. Letztere sind risikoreicher im Verlauf aber im Effekt an die Bedingungen funktionaler Differenzierung angepasst; Erstere sind im Verlauf stabiler, aber im Effekt höchst unangepasst und mit kollektivem Scheitern belegt. Typisch für kollektivistische Sozialisation ist hohe Abhängigkeit der Individuen von andauernder Bestätigung durch die Bezugsgruppe und die Verletzlichkeit gegenüber fehlender Anerkennung („Ehre“, „Respekt“ etc.) in den funktional differenzierten Sozialsystemen der Moderne. Typisch für individualistische Sozialisation ist der Erwerb von Selbstbelohnungsmechanismen im Rekurs auf sachlich verselbständigte Leistungsanforderungen. Die Koexistenz kollektivistischer und individualistischer Sozialisationsmuster wird selbst zum Konfliktpunkt in den Bildungsorganisationen (und darüberhinaus in Formen der Konfliktverarbeitung, die auf gruppenspezifische Identitätsmuster zurückfallen). 173 Zur Verteidigung des modernen Individualismus ein Zitat von Rose Laub Coser (1991, In Defense of Modernity – aus Turner/Maryanski 2008, 249): “Individualism thrives under conditions of role-set complexity. . . . In a society in which institutions are so differentiated that people can even differentiate their behavior from their internal dispositions, they can develop to its utmost that unique human ability of reflecting about themselves, about their own behavior, and about their thoughts. The better they are able to articulate their consciousness, to weep about and especially to laugh at themselves, the more they will be distinct from the animal world, to which, paradoxically, they continue to belong.” Eine Paradoxie, die evolutionstheoretisch aufzulösen wäre. Zur Entdramatisierung bei Turner/Maryanski 2008, 278: „Humans have always been reflexive; this is, after all, an important feature of being human. From the data on socialization, individuals tend to acquire a core self-conception by early adolescence, with this conception directing perceptions and behaviors. What has changed with markets and differentiation is that the web of weak-tie affiliations and roles people play has increased, and the data show that individuals tend to have situational identities for each of the principal roles that they play in diverse corporate units. But these more situational identities tend to be integrated into people's more enduring self-conceptions, thus creating a self that is more complex but nonetheless integrated for most persons. This complex of role identities layered around a core selfconception gives most individuals' self-perceptions stability, coherence, control, and predictability in contrast to the assumptions of postmodernists.” 174 Aufgrund ideengeschichtlicher Entwicklungen kann es so erscheinen, als ob die Postulierung negativer (auf Abwehr staatlicher Übergriffe gerichteter) Freiheitsrechte nur am Anfang der modernen Gesellschaft gestanden hätte und der reale Fortschritt sich dann in der Einführung sozialer Anspruchsrechte (auf Sicherheit und Teilhabe) gezeigt habe. Mit evolutionstheoretischem Abstand kann man aber eine andere Reihenfolge erkennen. Soziale Sicherheit und Einbindung waren immer schon Bestandteile aller Sozialsysteme in ihrer Konkurrenz mit anderen Sozialsystemen. Die Entfaltung individueller Freiheitsrechte ist dagegen die eigentliche Innovation der Moderne. Daher sind auch die Tendenzen zur Verbreitung und Stabilisierung dieser Individualrechte, die irreführend als Neoliberalismus etikettiert werden, nicht etwa als Rückfall in archaische Verhältnisse zu betrachten, sondern als Ausdruck einer fortgeschrittenen Differenzierungsform der Moderne. 175 Mit einer teleologieverdächtigen Formulierung könnte man die moderne Form der Individualisierung auch als das letzte Stadium sozialer Differenzierung bezeichnen. Unbehagenstheoretiker könnten das dann als Verfallsstadium bewerten.

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176 In evolutionstheoretischer Perspektive kann natürlich nicht behauptet werden, dass es sich hierbei schon um eine Erfolg garantierende („evolutionär stabile“) Strategie handelt. Vielmehr kann die Ausdehnung des soziokulturellen Gehäuses der Menschheit zur modernen Weltgesellschaft auf der Ebene der Artenkonkurrenz nur als Selektion einer Variante aufgefasst werden, deren Stabilität von der Tragfähigkeit der natürlichen Umweltbedingungen auf dem Planeten abhängt. 177 ad 6: Konkurrenz der Differenzierungsformen in der Weltgesellschaft 178 Zu der – wegen der konstruktivistischen Implikationen des Welt-Begriffs – nicht unproblematischen Verwendung des Begriffs in der Soziologie s. Tyrell 2006, Heintz 2007. Soweit hier historisch-empirisch argumtiert wird, müsste ja eher von einer „Erdgesellschaft“ gesprochen werden. Die zweideutige Redeweise mit Weltbezug ist aber älter als ihre Verwendung in der Soziologie. Literaturhinweise bei Tyrell (1998 u.a.) mit Bezug auf Sozialtheorien des 18. Jh.s – u.a. Raynal 1783, Condorcet, Kant. In evolutionstheoretischer Perspektive ist hier eher an Luhmanns historisierende Definition anzuschließen: „Gesellschaft ist, das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen. In der heutigen Zeit ist die Gesellschaft Weltgesellschaft. Es gibt nur noch ein einziges Gesellschaftssystem. In früheren Zeiten war dies jedoch anders. Wir brauchen deshalb einen Begriff, der sowohl die Einzigkeit als auch eine Mehrheit von Gesellschaftssystemen bezeichnen kann.“ (Luhmann 1975a, 11). „Modern society is, therefore, a world society in a double sense. It provides one world for one system; and it integrates all world horizons as horizons of one communicative system" (Luhmann 1982b: 298) In seiner frühen Rechtssoziologie spricht Luhmann noch in einem ganz realistischen Sinne von einem „über den Erdball laufenden Interaktionszusammenhang“ (1972b, 333f.): „Daß eine Weltgesellschaft in vielen wichtigen Hinsichten bereits konstituiert ist, ja daß man heute eigentlich nicht mehr von einer Mehrheit von Gesellschaften sprechen kann, wird auch unter Soziologen im allgemeinen übersehen, weil der Blick durch die klassische Prägung des Gesellschaftsbegriffs auf das politische System fixiert bleibt und eine politische Integration der Gesellschaft für unentbehrlich gehalten wird. Gleichwohl ist der Tatbestand eines über den Erdball laufenden Interaktionszusammenhanges evident. Faktisch sind die universelle Kommunikationsmöglichkeit und, mit periodischen und regionalen Ausnahmen, der universelle Weltfriede hergestellt. Eine zusammenhängende Weltgeschichte entsteht. Ein gemeinsamer Tod aller Menschen ist möglich geworden. Wirtschaftlicher Verkehr verbindet alle Teile des Erd-balls, weltweite Vergleichsmöglichkeiten gehören zur wirtschaftlichen Kalkulation, und die entsprechenden Interdependenzen übertragen Störungen und Krisen. Politische und andere Neuigkeiten werden universell reportiert und beurteilt, und es ist für die daran arbeitenden Organisationen abschätzbar, welche Themen wo Aufmerksamkeit und Resonanz finden. Zumindest in den Städten und auf den Verkehrswegen der Erde formen sich typisch erwartbare Regeln des Verhaltens gegenüber unbekannten Fremden. Und allem voran finden Wissenschaft und Technik mit ihren Möglichkeitshorizonten, Implikationen und faktischen Leistungen überall erwartbare Anerkennung und, nach Möglichkeit, Verwendung.“ Typisch für spätere Formulierungen ist dann aber die Aufspaltung des Weltgesellschaftsbegriffs in konstruktivistische und realistische Aspekte (Luhmann 1997, 156): „Einerseits heißt dies, daß es auf dem Erdball und sogar in der gesamten kommunikativ erreichbaren Welt nur eine Gesellschaft geben kann. Das ist die strukturelle und die operative Seite des Begriffs. Zugleich soll der Ausdruck Weltgesellschaft aber auch sagen, daß jede Gesellschaft (und im Rückblick gesehen: auch die Gesellschaften der Tradition) eine Welt konstruiert und das Paradox des Weltbeobachters dadurch auflöst. Die dafür in Frage kommende Semantik muß plausibel sein und zu den Strukturen des Gesellschaftssys-


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tems passen. Die Weltsemantik variiert mit der strukturellen Evolution des Gesellschaftssystems; aber: das zu sehen und das zu sagen, gehört zur Welt unserer Gesellschaft, ist ihre Theorie und ihre Geschichtskonstruktion. Und nur wir können beobachten, daß die alten Gesellschaften sich selbst und ihre Welt so nicht beobachten konnten.“ In einer Fussnote an dieser Stelle bei Luhmann der schöne Fund aus der frühen Neuzeit: “Die Überlegung, daß man aus der Individualität des Menschen auf Weltgesellschaft schließen müsse, findet sich bereits bei John Locke, Two Treatises of Civil Government II § 128, zit. nach der Ausgabe der Everyman's Library, London 1953, S. 181: ‘... he and all the rest of mankind are one community, make up one society distinct from all other creatures, and were it not for the corruption and viciousness of degenerate men, there would be no need of any other, no necessity that men should separate from this great and natural community and associate into lesser combinations.’ “ S. dann die diversen Erweiterungen und Spezifikationen bei Stichweh, Heintz u.a. – s. abweichend auch Hirschauer im Anschluss an Knorr-Cetina. 179 Insbesondere in den Politikwissenschaften wird der Begriff der Gesellschaft noch überwiegend in Anlehnung an die Form des Nationalstaats – also nicht mit Bezug auf die Reichweite des Sozialen sondern mit Bezug auf die Reichweite von rechtlicher Solidaritätsverpflichtungen – und deshalb in der Mehrzahl verwendet. 180 Luhmann argumentiert in dieser Hinsicht ähnlich wie LeviStrauss, der schon in seinem frühen Essay über die Traurigen Tropen und zuletzt in 1986 in Japan gehaltenen Vorträgen (Paris 2011) in der Globalisierung das Verschwinden eines kulturellen Reservoirs für alternative Problemlösungen gesehen hat. Auch in seiner Gesellschaftstheorie hat Luhmann die Frage, wie unter den Bedingungen eines einzigen Gesellschaftssystems Evolution noch denkbar ist, wiederholt aufgeworfen: „Die Evolution hat zwar nie die in ihrem basalen Substrat liegenden Möglichkeiten ausgeschöpft. Das gilt für Proteine, für Photosynthese, für Sinn und für Sprache. Das Resultat ist immer Diversifikation strukturdeterminierter Systeme gewesen. Die Fülle des Seins findet sich in der Vielzahl realisierter Möglichkeiten. Die gesellschaftliche Evolution hat unzählige tribale Gesellschaften hervorgebracht. Hochkulturen findet man, je nach Zählung, noch in zwanzig bis dreißig Exemplaren. Eine funktional differenzierte Gesellschaft gibt es dagegen nur noch in einem einzigen Fall. Also Evolution in nur einem Fall? Das scheint auf einen Verzicht auf alle Redundanzen und alle Ausweichsicherheiten hinauszulaufen. Wenn es diese Gesellschaft nicht mehr gibt, gibt es keine andere — es sei denn, daß neue Formen aus ihr selbst heraus entstehen. Wir werden die Möglichkeiten innergesellschaftlicher Evolutionen zu untersuchen haben, aber offensichtlich ist das allein keine angemessene Antwort auf die hier gestellte Frage. Die Antwort kann nur in dieser Gesellschaft selbst gefunden werden, zum Beispiel in ihrer Fähigkeit, Tempo auszuhalten, für Ausfälle Ersatz zu finden, Reserven für Unvorhergesehenes zu kapitalisieren und vor allem: mit diesen Erfordernissen sozialisierend zu wirken und die Bewußtseinssysteme der Menschen mit diesen Gegebenheiten vertraut zu machen. Denn es ist nur allzu verständlich, wenn Menschen, die in langer Kultur anderes gewohnt waren, unter solchen Bedingungen nervös werden.“ (Luhmann 1997, 497) Luhmann hat diese Frage dann hypothetisch beantwortet unter Bezug auf eine Fortsetzung der kulturellen Evolution auf der Ebene der funktional ausdifferenzierten Teilsysteme der Gesellschaft (1997, 557ff.) Das Problem existiert so jedoch nur aufgrund der theoretischen Prämisse operativ geschlossener Sinnsysteme, wonach Selektion nur im System selbst erzeugt und vollzogen werden kann. Dagegen lässt Luhmanns Beschreibung der modernen Gesellschaft selbst erkennen, dass eine Funktion der Teilsysteme gerade darin besteht, auf den Selektionsdruck der natürlichen Umwelt zu reagieren und die Abhängigkeit der Gesellschaft von natürlichen Ressourcen (Menschen, Nahrungsmitteln,

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technisch bearbeitbaren Umweltbedingungen etc.) differenziert (und zwar stärker differenziert als in älteren Formationen) zu regulieren. 181 In diesem Sinne hat Ernst Jünger (1960, 180) den modernen Weltstaat als eine Rückkehr zu den insulären Organisationsformen der Sozialität in der Frühgeschichte der Menschheit projiziert: „Die Form des menschlichen Staates wird durch die Tatsache bestimmt, daß es andere Staaten gibt. Sie wird durch den Pluralismus bestimmt. Das ist nicht immer der Fall gewesen und wird es, hoffentlich, nicht immer sein. Als der Staat auf der Erde eine Ausnahme, als er insular oder im Sinne des Ursprungs einzigartig war, waren Kriegsheere unnötig, ja, lagen außerhalb der Vorstellung. Dasselbe muß dort eintreten, wo der Staat im finalen Sinne einzigartig wird. Dann könnte der menschliche Organismus als das eigentlich Humane, vom Zwang der Organisation befreit, reiner hervortreten.“ Bemerkenswert an diesem Aufsatz Jüngers ist auch, wie er seine Prognose der Herausbildung eines Superstaats mit der der Angleichung der Geschlechter auf den globalisierten Arbeitsmärkten verbindet (Jünger 1960, 174f.) 182 Abweichend von dem hier skizzierten Konzept der Ebenendifferenzierung wird in soziologischen Beschreibungen die Unterscheidung zwischen einer horizontalen und einer vertikalen Dimension sozialer Differenzierung häufig i.S. inkompatibler Perspektiven zwischen Differenzierungstheorien und Ungleichheitstheorien ausgelegt. ( Schimank 2000, 9-14, und Schwinn 2011). Ausgehend von einer Betrachtung sozialer Differenzierung als kultureller Form der Verarbeitung von Konkurrenzkonflikten sind die Motive und Formen sozialer Ungleichheit aber im Rahmen der Differenzierungstheorie selbst zu beschreiben. Solange sich Differenzierung als Mittel der Vermeidung von Konkurrenzkonflikten bewährt, kann es sie nur unter Gleichgestellten geben. Die Beobachtung (und moralische Problematisierung) von Ungleichheit verweist also immer auf die historische Kontingenz (bzw. eine Destabilisierung) von Differenzierungsformen. 183 Hier noch eine Passage von Luhmann, in der er der empirischen Beobachtung, dass der historische Primat funktionaler Differenzierung sich unter den Bedingungen der Globalisierung nicht gleichmäßig durchsetzt, mit dem Begriff der Konditionierung Rechnung zu tragen versucht: „Trotz dieser ziemlich deutlichen Indikatoren folgt daraus nicht, daß regionale Unterschiede keine Bedeutung mehr hätten. Im Gegenteil: gerade das dominante Muster funktionaler Differenzierung scheint ihnen den Ansatzpunkt für ein Bewirken von Unterschieden zu bieten. Um dies zu erklären, können wir den Begriff der Konditionierung benutzen. Der Ausgangspunkt liegt in der evolutionären Unwahrscheinlichkeit funktionaler Differenzierung. Regionale Besonderheiten können dann sowohl fördernd als auch verhindernd eingreifen. Sie können zum Beispiel in der Form familialer oder familienähnlicher Loyalitäten eine Differenzierung von Wirtschaft und Politik fördern, nicht zuletzt auch in der Form von grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen, die politisch dann nur noch behindert oder destruiert werden können. Sie können aber auch die autopoietische Autonomie von Funktionssystemen, besonders typisch: des Rechtssystems, verhindern. Sie können Bedingungen vorgeben, die eine Selbstkorrumpierung des politischen Systems ermöglichen, etwa in der Form des Kaufs von Wählerstimmen in Thailand, der trotz offiziell geheimer Wahl auf Grund besonderer lokaler Bedingungen in ländlichen Gebieten und in Slums funktioniert. Sie können die organisatorische Infrastruktur der Funktionssysteme (von den Universitäten und Krankenhäusern bis zu den Ämtern der öffentlichen Verwaltung) soweit funktionsunfähig machen, daß es rational wird, sich statt dessen auf flexible Netzwerke persönlicher Beziehungen zu verlassen, die sich trotz eines ständigen Austausches der Personen durch Benutzung regenerieren. Es kann sich bei diesen lokalen Sonderbedingungen um strukturelle Kopplungen handeln, die einen Modernisierungsschub in Richtung funktionale Differenzierung fördern. Im eher typischen


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Falle wird jedoch die autopoietische Autonomie der Funktionssysteme blockiert oder auf Teilbereiche ihrer operativen Möglichkeiten eingeschränkt. Es wäre jedenfalls ganz unrealistisch, den Primat funktionaler Differenzierung als eine durch das Prinzip gesicherte Selbstrealisation zu begreifen. Auch eine Deutung nach dem Muster hierarchischer Dominanz würde den Verhältnissen nicht gerecht werden, so als ob es um mehr oder weniger erfolgreiche Formen gesellschaftlicher Selbststeuerung ginge. Eher dürfte die Annahme zutreffen, daß die auf der Ebene der Weltgesellschaft durchgesetzte funktionale Differenzierung die Strukturen vorzeichnet, welche die Bedingungen für regionale Konditionierungen vorgeben. Es geht, anders gesagt, um eine komplexe und labile Konditionierung von Konditionierungen , um Inhibierungen und Desinhibierungen, um eine von zahllosen weiteren Bedingungen abhängige Kombination von Beschränkungen und Gelegenheiten. Funktionale Differenzierung ist, so gesehen, nicht die Bedingung der Möglichkeit von Systemoperationen, sondern eher die Möglichkeit ihrer Konditionierung. Daraus ergibt sich zugleich eine Systemdynamik, die zu extrem ungleichen Entwicklungen innerhalb der Weltgesellschaft führt. Die Regionen finden sich selbst deshalb fernab von einem gesamtgesellschaftlichen Gleichgewicht und haben gerade darin die Chancen eines eigenen Schicksals, das nicht als eine Art Mikroausgabe des Formprinzips funktionaler Differenzierung gesehen werden kann. Nur: wenn es den Primat dieses Prinzips auf weltgesellschaftlicher Ebene nicht gäbe, wäre alles anders, und diesem Gesetz kann sich keine Region entziehen. (Luhmann 1997, 810-812.) 184 An Luhmanns Fragestellung anschließend Stichweh (2007:…): “From the point of view of an evolutionary theorist one will immediately regis¬ter that the non-existence of other societies besides world society can be a sig¬nificant problem. In such a situation there are not only no possibilities of com¬paring society to other societies and to the institutional alternatives realized in other societies. There is furthermore no risk diversification. If something goes wrong in world society these failures can not be compensated or corrected by things going right in other and competing societies. And then there is the evolutionary catastrophe embodied by world society. This is a unified social system coupled to a single species on earth which irreversibly changes the conditions of life of most other species and which thereby reduces diversity. To a certain extent life on earth then becomes intelligent design, and as it always is the case one can with good reason doubt the intelligence of this designer.” Eine gewitzte Interpretation der antidarwinistischen Theorie des “intelligent design”. 185 Dazu auch Münch 2012: 143f.: „Unsere Analyse hat gezeigt, dass die funktionale Ausdifferenzierung der Weltwirtschaft aus dem segmentär differenzierten System der Nationalstaaten nicht adäquat als Herauslösung der Ökonomie aus jeglicher Art der normativen Strukturierung zu begreifen und zu erklären ist. Eine Erklärung dieses Vorgangs verlangt vielmehr die Erfassung des sich vollziehenden fundamentalen Strukturwandels von Solidarität und Gerechtigkeit, der die Aufhebung des Dualismus von innerer Brüderlichkeit und äußerer Unbrüderlichkeit, Binnen- und Außenmoral impliziert. Die Weltgesellschaft bil-det sich auf dem Boden der Welthandelsordnung als oberste Ebene in dem Mehrebenensystem von lokaler Gemeinde, subnationalen Regionen, Nationalstaat, supranationalen Zusammenschlüssen und globaler Vergesellschaftung heraus. Der Sinn der globalen Ordnung findet maßgeblich in den Prinzipien der Reziprozität und Meistbegünstigung seinen Ausdruck. Der von ihrer Herausbildung entfachte Konflikt zwischen globaler und nationaler Integration kann am ehesten zur weltweiten Respektierung einer legitimen Ordnung führen, wenn er im Rahmen der Welthandelsordnung, insbesondere im Rahmen des Streitbeilegungsverfahrens der WTO ausgetragen wird. Als Lösung des Konflikts zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern um die Teilhabe am Weltwohlstand zeichnet sich die konsequente Umsetzung der Prinzipien der Welthandelsordnung zusammen mit dem Platz schaffenden wirt-

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schaftlichen Strukturwandel der Indus-trieländer im Zuge ihrer Öffnung für landwirtschaftliche und arbeitsintensive Produkte aus den Entwicklungsländern ab. Von den Industrieländern verlangt diese internationale Konfliktbewältigung die innere Umstellung von der desaktivierenden auf eine aktivierende Sozialpolitik. Auf diesem Wege gleichen sich innere und äußere Solidarität und Gerechtigkeit in der transnationalen Netzwerksolidarität sowie in den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und Fairness einander an. Die Ungleichheit zwischen den in die Weltgesellschaft inkludierten Nationen nimmt ab, während sie innerhalb der Nationen zunimmt. Die Marginalisierung der Geringqualifizierten wird zu einem zentralen Problem der Industrieländer. Der beschriebene Wandel ist als Paradigmenwechsel zu begreifen, bei dem Prozesse der funktionalen Anpassung der normativen Strukturierung des wirtschaftlichen Handelns an die globale Vergesellschaftung und Machtverschiebungen im diskursiven Feld der Wirtschafts- und Sozialpolitik zusammenwirken.“ 186 In diesem Sinne hat Abrutyn (2009, 458) die institutionelle Einbindung von Konflikten als Grundlage der funktionalen Autonomie von Teilsystemen der modernen Gesellschaft bezeichnet: “Stability and institutional continuity depend on conflict being institutionalized in terms of legitimate rules of engagement and appropriate channels for conflict resolution. Institutions are arenas of conflict because they organize and (unevenly) distribute valued resources, including positions that have access to these resources, thus autonomy is a function of the degree to which conflict can be institutionalized within the institutional core. Formal channels for grievances must exist, status conflicts and political maneuvering are delimited means that can be employed in these struggles, and even efforts to change the core or usurp the privilege of the dominant groups in the core do not seek to destroy the structure of the institutional core, but gain control of it. The third proposition states that the more conflict is institutionalized into competition among actors within an institutional domain, the greater is the level of institutional autonomy.” 187 Zur Kritik an der Vorstellung von der Weltgesellschaft als einem politisch organisierten Superorganismus s. schon C. Schmitt (1932) mit polemischer Frontstellung gegen den modernen Menschenrechtsuniversalismus. Es scheint mir nicht unplausibel, dass Luhmann, der sich in seinen Beiträgen zur Weltgesellschaft ebenfalls von der kantischen Idee einer Weltregierung distanziert, diesbezüglich C.Schmitt gelesen hat. Jedenfalls bezieht er sich in der „Politik der Gesellschaft“ einmal auf Schmitts Verfassungslehre von 1928, in der bereits vom Ende der Staatlichkeit die Rede ist. Luhmann deutet dies dann jedoch nicht i.S. eines Verfalls des politischen Primats sondern i.S. funktionaler Differenzierung. Ich zitiere Schmitt, 2009, 50-52: „Aus dem Begriffsmerkmal des Politischen folgt der Pluralismus der Staatenwelt. Die politische Einheit setzt die reale Möglichkeit des Feindes und damit eine andere, koexistierende, politische Einheit voraus. Es gibt deshalb auf der Erde, solange es überhaupt einen Staat gibt, immer mehrere Staaten und kann keinen die ganze Erde und ganze Menschheit umfassenden Welt„staat" geben. Die politische Welt ist ein Pluriversum, kein Universum. Insofern ist jede Staatstheorie pluralistisch, wenn auch in einem anderen Sinne als dem der oben (unter 4) besprochenen innerstaatlich-pluralistischen Theorie. Die politische Einheit kann ihrem Wesen nach nicht universal in dem Sinne einer die ganze Menschheit und die ganze Erde umfassenden Einheit sein. Sind die verschiedenen Völker, Religionen, Klassen und andere Menschengruppen der Erde sämtlich so geeint, daß ein Kampf zwischen ihnen unmöglich und undenkbar wird, kommt auch innerhalb eines die ganze Erde umfassenden Imperiums ein Bürgerkrieg selbst der Möglichkeit nach für alle Zeiten tatsächlich nie wieder in Betracht, hört also die Unterscheidung von Freund und Feind auch der bloßen Eventualität nach auf, so gibt es nur noch politikreine Weltanschauung, Kultur, Zivilisation, Wirtschaft, Moral, Recht, Kunst, Unterhaltung usw., aber weder Politik noch Staat. Ob und wann dieser Zustand der Erde und der Menschheit eintreten wird, weiß ich nicht. Vorläufig ist er nicht


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da. Es wäre eine unehrliche Fiktion, ihn als vorhanden anzunehmen und eine schnell sich erledigende Verwechslung zu meinen, weil heute ein Krieg zwischen Großmächten leicht zu einem „Weltkrieg" wird, müßte die Beendigung dieses Krieges infolgedessen den „Weltfrieden" und damit jenen idyllischen Endzustand der restlosen und endgültigen Entpolitisierung darstellen. Die Menschheit als solche kann keinen Krieg führen, denn sie hat keinen Feind, wenigstens nicht auf diesem Planeten. Der Begriff der Menschheit schließt den Begriff des Feindes aus, weil auch der Feind nicht aufhört, Mensch zu sein und darin keine spezifische Unterscheidung liegt. Daß Kriege im Namen der Menschheit geführt werden, ist keine Widerlegung dieser einfachen Wahrheit, sondern hat nur einen besonders intensiven politischen Sinn. Wenn ein Staat im Namen der Menschheit seinen politischen Feind bekämpft, so ist das kein Krieg der Menschheit, sondern ein Krieg, für den ein bestimmter Staat gegenüber seinem Kriegsgegner einen universalen Begriff zu okkupieren sucht, um sich (auf Kosten des Gegners) damit zu identifizieren, ähnlich wie man Frieden, Gerechtigkeit, Fortschritt, Zivilisation mißbrauchen kann, um sie für sich zu vindizieren und dem Feinde abzusprechen. „Menschheit" ist ein besonders brauchbares ideologisches Instrument imperialistischer Expansionen und in ihrer ethischhumanitären Form ein spezifisches Vehikel des ökonomischen Imperialismus. Hierfür gilt, mit einer naheliegenden Modifikation, ein von Proudhon geprägtes Wort: Wer Menschheit sagt, will betrügen. Die Führung des Namens „Menschheit", die Berufung auf die Menschheit, die Beschlagnahme dieses Wortes, alles das könnte, weil man nun einmal solche erhabenen Namen nicht ohne gewisse Konsequenzen führen kann, nur den schrecklichen Anspruch manifestieren, daß dem Feind die Qualität des Menschen abgesprochen, daß er hors-la-loi und hors l'humanite erklärt und dadurch der Krieg zur äußersten Unmenschlichkeit getrieben werden soll. Aber abgesehen von dieser hochpolitischen Verwertbarkeit des unpolitischen Namens der Menschheit gibt es keine Kriege der Menschheit als solcher. Menschheit ist kein politischer Begriff, ihm entspricht auch keine politische Einheit oder Gemeinschaft und kein Status. Der humanitäre Menschheitsbegriff des 18. Jahrhunderts war eine polemische Verneinung der damals bestehenden aristokratischfeudalen oder ständischen Ordnung und ihrer Privilegien. Die Menschheit der naturrechtlichen und liberalindividualistischen Doktrinen ist eine universale, d. h. alle Menschen der Erde umfassende soziale Idealkonstruktion, ein System von Beziehungen zwischen einzelnen Menschen, das erst dann wirklich vorhanden ist, wenn die reale Möglichkeit des Kampfes ausgeschlossen und jede Freund- und Feindgruppierung unmöglich geworden ist. In dieser universalen Gesellschaft wird es dann keine Völker als politische Einheiten, aber auch keine kämpfenden Klassen und keine feindlichen Gruppen mehr geben.“ Aus Wikipedia-Artikel, April 2011: „Schmitt diagnostiziert ein Ende der Staatlichkeit (‚Die Epoche der Staatlichkeit geht zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren‘). Das Verschwinden der Ordnung souveräner Staatlichkeit sieht er in folgenden Faktoren: Erstens lösen sich die Staaten auf, es entstehen neuartige Subjekte internationalen Rechts; zweitens ist der Krieg ubiquitär – also allgegenwärtig und allverfügbar – geworden und hat damit seinen konventionellen und gehegten Charakter verloren. ... Es geht, betont Schmitt, in den neuen Kriegen, die von der absoluten Feindschaft der Partisanen geprägt sind, nicht mehr darum, neue Gebiete zu erobern, sondern eine Existenzform wegen ihrer angeblichen Unwertigkeit zu vernichten.“ Zu Schmitt mit Bezug auf neuen Kriege s. auch Münkler. 188 In diesem Sinne sehen Turner/Maryanski (2008, 314f.) in den Strukturen der modernen Gesellschaft mehr Kompatibilität mit der genetischen Erbschaft der menschlichen Natur als in allen vorhergehenden Formen („social cages“) der Sozialität: “As both Max Weber (1966 [1922]) and George Simmel (1978 [1907]) recognized long ago, once free markets are in place, they transform the orientations of individuals and make possible the elaboration of many new kinds of structures. At the individual

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level, markets using a generalized medium of exchange (money) allowed for the realization of preferences without having to find a trading partner who had the goods or services that a person sought and who was also willing to take in trade the goods or services that the individual possessed. This individualization of demand gives people new freedoms that an evolved ape would naturally find preferable to the traditional relationships in the cage of the manorial estate, patrimonial family, or markets limited to nonmonetary exchanges. So, it should not be surprising that humans would gravitate to market towns, fairs, and urban areas where they could procure resources tailored to their individual tastes. As more and more individuals exercised this option, markets and the new kinds of organizational units feeding and servicing these markets could expand. At the more macrostructural level, markets generate more liquid forms of income, wealth, and capital that can be invested in economic activity in an effort to create even more wealth. Once markets using money and credit became widespread, capitalism gained a foothold and transformed not only the economy, but all other social structures as well. Liquid capital could also be taxed, even though many political regimes failed to fully recognize such capital as a tax base. Yet, over time, the ability to tax money and use money to hire bureaucrats and soldiers, to finance projects from infrastructure to warfare, and of course, to pay for patronage and elite privilege changed the nature of government. Governments could bureaucratize and become more rational, and they increasingly had a vested interest in controlling the coinage of money and its viability in markets generating the wealth needed to finance government and elite privilege. Over time, this emerging capitalist system changed people's cognitive orientations and beliefs, leading them to believe that it was their right to pursue, as individuals, the opportunities generated by markets. A capitalist system, despite its horrific early abuses— especially as capitalism was coupled with machines in urban factories under truly degrading conditions (so graphically described by Friedrich Engles (1958 [1845])—was nonetheless, as it matured over time, preferable to an evolved ape than subordination to elites on landed estates, to clergy bent on controlling the masses for their own power and privilege, to the heads of patrimonial families, and to control by other corporate units in the feudal system. For all of the filth, disease, abuse, poverty, and death generated by early industrial capitalism, it offered new opportunities. And while much of the migration of peasants to urban areas was a consequence of landed estates turning to capitalist modes of production and abandoning their older feudal obligations to peasants, a significant amount of migration was self-directed, as individuals sought to be mobile and exercise at least some limited capacity for individualism. Moreover, as markets expanded and new kinds of manufacturing and service corporations proliferated, individuals could now have more choices about where and how they worked, thus allowing them additional options and allowing them to be mobile, if only from cage to cage. As markets grew and as more individuals in a society became part of the market system as consumers, wage earners, or capitalists (large and small), pressures on polity for new democratic forms increased. For, once individuals have choices in new arenas within the economy, they begin to seek choices in political leaders; in so doing, they begin to exercise resistance to the cage of power. People do not seek to eliminate governance and the hierarchy of power built into all political systems; rather, they attempt to have some influence on who will govern them. The concentration of power is necessary under selection pressures from regulation, but humans have a desire to determine who their leaders will be and to have some ability to limit the power of these leaders. If modern-day human hominoids must accommodate hierarchy, they will seek to determine the arenas of their social life where they must submit to authority, and just who will have authority over them. There is, of course, no going back to the hunting-and- gathering


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band, where people could pick up and leave, or to the regional community of apes, where individuals could leave foraging groups at will. But political democracy accompanied by dynamic markets offering choices about where to live and work are far more compatible with human nature, as outlined above, than any other societal formations since hunting and gathering.” 189 Zu Entdifferenzierung auch Stichweh (1994:37): Wenn man die Soziologie, wofür heute manches spricht, auf differenztheoretischen Grundlagen aufbaut, heißt dies möglicherweise auch für die Differenzierungstheorie, die theoriegeschichtlich in anderen Kontexten entstand, daß ihr eine Generalität zuwächst, die nicht ohne weiteres ersichtlich war. Vielleicht sollte man an dieser Stelle hinzufügen, daß eine so gebaute Theorie keine prinzipielle Präferenz für die Entstehung immer neuer Unterscheidungen hat, daß sie also auch die Auflösung von Unterscheidungen, das heißt Entdifferenzierung, mit denselben Begriffsmitteln analysieren kann.“ 190 Die Luhmannsche These vom historischen Primat bestimmter Differenzierungsformen schließt die Koexistenz der jeweils anderen Differenzierungsformen ausdrücklich ein. So erscheinen Familien und Nationalstaaten in der Moderne segmentär, Organisationen aller Art hierarchisch differenziert, und ZentrumPeripherie-Unterschiede typisch gerade auch für die globalisierte Gesellschaft. Dazu Ausführungen bei Luhmann 1997, 760f: „Immer wiederholt die weitere Differenzierung das Systembildungsschema, sie wiederholt das Einsetzen und reproduzieren einer Differenz zwischen System und Umwelt. Dabei stehen im Prinzip wieder alle Formen der Systemdifferenzierung zur Verfügung, sowohl Segmentierung als auch Zentrum/Peripherie-Differenzierung, Hierarchiebildung ebenso wie weitere funktionale Differenzierung. Im einzelnen unterscheiden sich die Funktionssysteme erheblich, die Komplexitätssteigerung nach innen folgt keinem gemeinsamen Muster. Im allgemeinen scheint jedoch eine Art segmentäre Differenzierung vorzuherrschen, die Momente einer funktionalen Differenzierung in sich aufnimmt. Das weltpolitische System ist segmentär in Territorialstaaten differenziert, bringt dabei aber zugleich eine Art Zentrum/Peripherie-Differenzierung zustande. Das Weltwirtschaftssystem kann man am besten als eine Differenzierung von Märkten begreifen, die als Umwelt für Organisationsbildungen (Unternehmen) dienen, die sich ihrerseits durch Blick auf ihren Markt als Konkurrenten wahrnehmen. Dabei entsteht keineswegs eine strikte Gleichheit der Segmente, man denke nur an die Sonderstellung der Finanzmärkte und der Banken, oder auch an die sehr unterschiedliche Empfindlichkeit von Arbeits-, Rohstoff- und Produktmärkten für Außeneinwirkungen. Auch das Wissenschaftssystem ist primär segmentär in Disziplinen gegliedert, die sich ebenfalls nicht durch Gleichheit, sondern gerade durch Ungleichheit der Forschungsgegenstände auszeichnen, aber in bezug auf unterschiedliche Forschungsgegenstände die gleiche Funktion erfüllen. Innerhalb der einzelnen Funktionssysteme scheint sich mithin das zu wiederholen, was wir auch für die Gesellschaft im ganzen ausmachen konnten: daß die eindeutige Festlegung auf den Primat einer bestimmten Differenzierungsform eher die Ausnahme als die Regel ist und daß dies, wenn es gelingt, das System evolutionären Änderungsschüben aussetzen kann, absehbar etwa für den Fall einer zu krassen Zentrum/Peripherie-Differenzierung des Wirtschaftssystems.“ Und noch einmal – aber immer unter Betonung des unerschütterlichen Primats funktionaler Differenzierung - S. 776: „Selbstverständlich führt ein Primat funktionaler Differenzierungen nicht dazu, daß segmentäre Differenzierungen oder Schichtenbildung dadurch abgelöst werden. Im Gegenteil: die Chancen für Segmentierungen (etwa auf Organisationsbasis) und für sich selbst verstärkende Ungleichheiten (etwa zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern) nehmen mit der Komplexität des Gesellschaftssystems zu; und sie ergeben sich gerade daraus, daß Funktionssysteme wie das Wirtschaftssystem oder das Erziehungssystem Gleicheiten bzw. Ungleichheiten als Moment der Rationalität ihrer eigenen Operationen nutzen und damit steigern.“ 191 Mit der autopoietischen Wende in „Soziale Systeme“ betrachtet Luhmann Konkurrenzkonflikte nicht mehr (wie in der Hobbesia-

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nischen Theorietradition) als grundlegendes Phänomen der menschlichen Sozialität, sondern als eine Begleiterscheinung funktionaler Differenzierung i.S. einer „sozialen Immunologie“ (520ff.). Die moderne Gesellschaft bediene sich einer „Semantik der Konkurrenz“ (521), um unter den Bedingungen ihrer gesteigerten Komplexität (und operativen Geschlossenheit) „Empfindlichkeit für Störungen“ (525) in ihrer sozialen Umwelt zu steigern. Mit diesem Konzept will Luhmann ausdrücklich die Annahme revidieren, Konkurrenz „sei ein Strukturprinzip von gesellschaftlich erstrangiger Be¬deutung ... Es handelt sich nicht um eine systembildende Struktur, denn Konkurrenz erfordert keine Kommunikation zwischen den Konkurrenten. Sie kann Systeme generieren, aber nur, wenn sie zum Konflikt wird.“ (523f.) Dass Konkurrenz keine grundlegendes Moment der menschlichen Gesellschaft sondern eher eine späte Erscheinungsform sei, macht Luhmann daran fest, dass sie „in sozialstruktureller Hinsicht eine hinreichende Ausdifferenzierung von Konkurrenzsituationen [erfordert], und das wiederum ist nur erreichbar, wenn Konkurrenz gegen Tausch und gegen Kooperation hinreichend differenziert werden kann. Die Personen, mit denen man konkurriert, dürfen nicht identisch sein mit den Personen, mit denen man kooperiert; und auch nicht mit den Personen, mit denen man tauscht. Die entsprechenden Sozialmodelle müssen auseinandergezogen und getrennt verwirklicht werden. Die Gesellschaftsbereiche, die dafür in Betracht kommen, waren für die Durchsetzung der modernen Gesellschaft besonders bedeutsam, vor allem die an Märkten orientierte Wirtschaft, und, auf deren Empfehlung gleichsam, Wissenschaft und Politik.“ (522f.) Luhmann geht also nicht davon aus, dass Konkurrenz immer schon zum Konflikt wird, der zum latenten Bestandteil sozialer Systembildung wird, sondern dass Konkurrenz ein Phänomen der Semantik ist, dessen sich die moderne Gesellschaft bedient. Konkurrenz verstärke nur Widerspruchswahrnehmungen, setze aber „als Vehikel der Operationalisierung, eine Semantik der Einheit voraus, die das Verschiedene als Konkurrenz verbindet.“ Die „wirkliche Einheit“ sei die der autopoietischen Reproduktion des Systems. Ein Immunsystem könne Formen entwickeln, „in denen die Einheit des Systems als Selbstreproduktion weiterläuft, und dies selbst dann, wenn Zukunft und Konkurrenten, Nutzen und Konsens kommunikativ unerreichbar bleiben.“ (524). Der springende Punkt für die theoretische Herabsetzung der Konkurrenz ist also im Luhmannschen Begriff der Kommunikation als autopoietischer Elementareinheit sozialer Systeme zu suchen. „Nicht alles, was in die Sozialdimension hineinverweist und auf das andere Erleben und Handeln anderer aufmerksam macht, ist schon gleich Konkurrenz.“ (521) Hier ist aber zu fragen, warum die soziale Konstellation, in der Konkurrenten sich wechselseitig beobachten (indem sie z.B. die Effekte des Handelns der Anderen an sinkenden Preisen erleben) ohne direkt zu interagieren, nicht als eine Form der Kommunikation betrachtet werden soll. Wenn Interaktion der entscheidende Punkt wäre, dürfte auch die Lektüre verstorbener Autoren nicht mehr zum Netzwerk der menschlichen Kommunikation gerechnet werden. Und ebensowenig die durch Massenmedien gestützten Formen der Öffentlichkeit, in denen Konkurrenzkonflikte in der Moderne vorrangig ausgetragen werden. Wenn Luhmannn daran anschließend postuliert, in Konkurrenz träten „die verschiedenartigen Möglichkeiten nur unter der mitgesehenen Bedingung eines Zwangs zur Einheit“ (521) – dann wird deutlich, dass er evolutionäre Errungenschaften der modernen Gesellschaft hinsichtlich der Freisetzung von sozialen Zwängen seiner Analyse stillschweigend voraussetzt: „Am deutlichsten entstehen Konkurrenzsitua¬tionen unter der Bedingung von Knappheit, also in der Wirtschaft. Hier ist Einheit, wenn man so sagen darf, in dezentralisierter Form zugänglich: an jedem Gut, das nur einer auf Kosten anderer erhalten kann. Im politischen System ist die These der Einheitlichkeit der Machtausübung auf einem bestimmten Machtgebiet erst in der Entwicklung des neuzeitlichen Staates forciert worden, und erst recht ist die Zulassung von Kon-


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kurrenz um diese Macht in einem mehr als faktischen, nämlich institutionalisierten Sinne ein Kunstprodukt politischer Verfassungen. Vollends prekär ist die Konkurrenz auf dem Gebiete des »Geistigen« - das Thema des berühmten Vortrags von Karl Mannheim. Mannheim bezieht Konkurrenz auf »die öffentliche Auslegung des Seins«, ohne zu begründen, weshalb das Sein nur eine öffentliche Auslegung zulasse. Wie man heute sehen kann, ist auch dies eine historische Frage. Inzwischen hat sich der »Pluralismus« legitimiert mitsamt allen Folgeerscheinungen wie Theorievergleich und -diskussion, und entsprechend wird das intellektuelle Klima dekonkurrenziert.“ (521f.) Auch diese Diagnose muss sich fragen lassen, ob sie die Effekte des friedlichen Pluralismus konkurrierender Ideen, die die moderne Gesellschaft ermöglicht hat, nicht über- und die fortdauernden Konkurrenzkonflikte nicht unterschätzt. 192 Die These, dass die Entwicklung der modernen Gesellschaft nicht durch den Primat einer neuen Differenzierungsform, sondern durch die Konkurrenz historisch evoluierter Differenzierungsformen bestimmt sei, ist hier natürlich noch nicht angemessen ausgeführt. An dieser Stelle möchte ich nur darauf verweisen, dass die Argumentation sich theoretisch auf die anti-teleologische Ausrichtung der Evolutionstheorie und empirisch auf die Evidenz fortbestehender Phänomene älterer Differenzierungsformen in der Moderne stützt. Die Evolutionsbiologie hat gezeigt, dass einmal evoluierte Formen von Organismen (im Unterschied zu Populationen und Arten) nicht verschwinden, sondern in komplexeren Formen der Organisation (oft in veränderter Stellung) reproduziert werden. So ähnlich könnte es auch für die kulturelle Evolution beschrieben werden. 193 Konkurrenz der Differenzierungsformen ist nicht zwangsläufig mit Konflikten verbunden. Vielfach ist darauf hingewiesen worden, dass segmentäre Differenzierung bei Familien und Nationalstaaten, stratifikatorische Differenzierung in Organisationen, Zentrum-Peripherie-Differenzierung in den globalen Netzwerken der modern Gesellschaft zu beobachten ist. Dazu Stichweh (1994: 41): „Die analytische Irreduzibilität der Differenzierungsformen heißt natürlich nicht, daß sie nicht nebeneinander vorkommen könnten. Drei Formen der Kombinierbarkeit sollte man unterscheiden. Erstens die Zweitinterpretation einer Einheit in Termini einer anderen Differenzierungsform. Hier wäre an die immer auch funktionale Deutung der Stände des mittelalterlichen Europa zu denken oder an eine Hierarchisierung von Segmenten in einfachen Gesellschaften oder an - vermutlich eher von sozialwissenschaftlichen Beobachtern unternommene - Versuche einer hierarchischen Ordnung von Funktionssystemen. Zweifellos liegt in einer solchen Zweitinterpretation die Möglichkeit einer Transformation, des Überwechseins in eine andere Differenzierungsform. Die zweite Form der Kombination ist die Koexistenz von Differenzierungsformen unter der Prämisse des Primats einer von ihnen. Das naheliegende Beispiel ist hier die Fortexistenz von Schichtung in modernen Gesellschaften oder die relativ fortgeschrittene Ausgrenzung von politischen Institutionen in traditionalen Hochkulturen. Die dritte Kombinationsmöglichkeit für Differenzierungsformen liegt darin, daß die weitere Innendifferenzierung von Teilsystemen der Gesellschaft nicht an die Differenzierungsform gebunden ist, die die Unterschiede zwischen diesen Teilsystemen in erster Instanz erzeugt hat. Man braucht hier nur an das häufige Vorkommen segmentärer Strukturen innerhalb von Funktionssystemen der modernen Gesellschaft zu denken.“ 194 Hier wäre aber nicht erst an die vielzitierte Formel von Huntington anzuknüpfen sondern auch schon an Max Webers „Kampf der Wertordnungen“ (Weber 1919: 27/28 ) Zur Wiederaufnahme der konflikttheoretischen Perspektive in Bezug auf die moderne Weltgesellschaft Bonacker/Weller 2006. Dieser Sammelband enthält vier Ansätze der Weltgesellschaftsperspektive, die die Auffassung teilen: „...die Weltgesellschaft sei eine emergente soziale Ordnung, die soziale Prozesse unterhalb der globalen Ebene strukturiert. Diese Strukturierung vollzieht sich je nach Konzept über Mechanismen der funktionalen Diffe-

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renzierung, der Institutionalisierung globaler Modelle, der globalen Durchsetzung von Kapitalismus und Prinzipien der Staatlichkeit oder über hegemonial abgestützte Restriktionen der Entwicklung und Teilhabe am Weltmarkt und an internationalen Institutionen. Konflikte sind aus dieser Perspektive das Resultat der strukturellen Eigenschaften der Weltgesellschaft und ergeben sich aus den globalen Strukturierungsvorgängen.“ Diese Gemeinsamkeit der konkurrierenden Ansätze erscheint jedoch zu allgemein, um die tatsächliche Konfliktdynamik zu erklären. 195 Historisch-empirisch ist nicht auszuschließen, dass die kulturelle Evolution menschlicher Sozialsysteme sich auf einem irreversiblen Pfad zur Durchsetzung des Primats funktionaler Differenzierung befindet. Diese Annahme muss jedoch theoretisch expliziert werden, damit sie nicht als normative Prämisse die Diagnose der Probleme der modernen Gesellschaft verzerrt. Wenn man die Luhmannsche These vom Primat funktionaler Differenzierung in der modernen Weltgesellschaft nicht in Frage stellt, muss die empirisch offenkundige Konkurrenz der Differenzierungsformen als „fehlende Durchsetzung“ funktionaler Differenzierung beschrieben werden. Dieses Problem wird sehr deutlich bei Heintz (2007, 347): „Schrift ist zum kommunikativen Leitmedium geworden, und Gesellschaften sind eingebettet in weltgesellschaftliche Strukturen, die ihnen zumindest auf formaler Ebene ein Bekenntnis zu den Prinzipien funktionaler Differenzierung abverlangen - zu Rechtsstaatlichkeit und zur Autonomie der Wissenschaft, zur Eigengesetzlichkeit des Marktes und zur Beschränkung der Religion auf ein privates Glaubensbekenntnis. Trotz dieser Unterschiede geben die genannten historischen Arbeiten jedoch einen Hinweis darauf, weshalb und in welcher Form eine mangelnde Ebenendifferenzierung gesellschaftliche Differenzierungsprozesse blockieren kann. Sie legen nahe, die fehlende Durchsetzung funktionaler Differenzierung in bestimmten Weltregionen nicht nur gesellschaftstheoretisch (Stichweh 2000, 96ff.; Neves 2007) oder organisationssoziologisch (Holzer 2006) zu erklären, sondern auch aus einer interaktionstheoretischen Perspektive zu interpretieren. Die Interaktionsabhängigkeit der Strukturbildung erschwert symbolische Generalisierung und sachliche Spezifizierung und begünstigt umgekehrt Partikularisierung und Personenorientierung - Strukturmerkmale, die für Weltregionen typisch sind, in denen funktionale Differenzierung nur partiell realisiert ist.“ So versucht auch W.L.Schneider (u.a. in diesem Band) die konfliktträchtige Konkurrenz der Differenzierungsformen mit dem Konzept des Parasitismus (theoretische Entfaltung einer von Luhmann verwendeten Metapher Serres) unter den Hut der Luhmannschen Gesellschaftstheorie zu bringen: „Die Systemtheorie beschreibt die moderne Gesellschaft als Population von Teilsystemen wie Politik, Ökonomie, Recht, Wissenschaft etc., von denen jedes auf die Erfüllung einer bestimmten sozialen Funktion spezialisiert ist. Eine ganze Reihe von Phänomenen von geradezu auf-dringlicher empirischer Präsenz wie transnationaler Terrorismus, Warlord-Formationen, klientelistische Netzwerke, organisierte Kriminalität und mafiöse Strukturen lassen sich bisher in diesen Rahmen nicht adäquat einordnen. Innerhalb des Arbeitsgebiets wird deshalb die Möglichkeit untersucht, die Theorie funktionaler Differenzierung zu ergänzen durch einen theoretischen Ansatz, der die erwähnten Phänomene als ‚parasitäre Sozialsysteme‘ rekonstruiert und in der Differenzierungsform der modernen Gesellschaft verankert. Von besonderem Interesse sind dabei auch die sozialen Formen, die parasitäre Sozialsysteme annehmen, d.h. inwiefern und unter welchen Bedingungen sie sich etwa über wiederkehrende Anlässe der face-to-face Interaktion und/oder durch die Bildung von Organisationen bzw. die Formierung von Netzwerken reproduzieren.“ (aus Schneiders Darstellung auf seiner Uni-website ) 196 Bevor ich hier Ebenendifferenzierung in der Moderne als Freiheitsgewinn interpretiere, ist aber noch einmal auf das von Heintz (2007, 345f) aufgeworfene Zurechnungsproblem in der Luhmannschen Beschreibung einzugehen:


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„Die Ebenendifferenzierung ist eine irreduzible, aber gleichzeitig inklusive Hierarchie. Auch in Organisationen wird interagiert, und Organisationen sind Teil der Weltgesellschaft. Trotz dieser Inklusivität bleibt die Eigengesetzlichkeit der Systemtypen jedoch erhalten. D.h. auch wenn sich Interaktionen am Funktionsprimat orientieren und der Interaktionsverlauf durch organisatorische Erwartungen gerahmt ist, ist das, was in Interaktionen abläuft, durch die Organisation nicht bereits vorentschieden (s. auch Kieserling 1999, Kap. 11). Damit stellt sich jedoch die Frage der Kausalität: Inwieweit sind der Interaktionsverlauf und dessen Ergebnisse der Organisation zuzurechnen und folglich primär organisationssoziologisch zu erklären und inwieweit erklären sie sich aus der Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit von Interaktionssystemen? Die Antwort auf diese Frage ist nicht ein für allemal zu entscheiden, sondern variiert je nach dem Freiheitsgrad, der Interaktionssystemen zugebilligt wird. Auch im Falle von Interaktionen, die unter einem Funktionsprimat stehen und in Organisationen unter formalisierten Bedingungen stattfinden, kann Unvorhersehbares entstehen, das nicht durch den organisatorischen Rahmen vorgezeichnet ist, sondern sich aus der konkreten Interaktionssituation ergibt. Dies gilt auch für Interaktionssysteme, die die Funktion haben, Entscheidungen produzieren. Obschon solche Interaktionen unter bereits vorentschiedenen Bedingungen stattfinden - selektiver Teilnehmerkreis, Reihenfolge der zu entscheidenden Punkte, Entscheidungsmodalitäten etc. -, kann das, was am Ende entschieden wird, das emergente Ergebnis der Eigendynamik von Interaktionssystemen sein und ist folglich nicht ausschließlich auf die jeweiligen Organisationsziele und Organisationsstrukturen zurückzuführen (s. dazu am Beispiel des 2. Vatikanischen Konzils, Gabriel/Nacke/Tyrell 2006, Nacke 2008). Die Tendenz, die Zurechnungsfrage vorschnell zugunsten der Organisation zu entscheiden, ist ein wesentlicher Grund dafür, weshalb in vielen empirischen Studien zwar Interaktionen untersucht, diese aber nicht als Interaktionen erkannt werden.“ 197 Ein Hinweis auf die dynamisierenden Makroeffekte der Freisetzung individueller Bedürfnisse auf der Mikroebene bei Sloterdijk im Anschluss an Girard und Nietzsche: „Das Experiment der Moderne, soweit es die Konsum- und Konkurrenzverhältnisse betrifft, hat zu einer nahezu schrankenlosen Deregulierung des erotischen Felds geführt. Noch in keiner vorangehenden sozialen Formation ist die systematische Aufreizung des Begehrens nach allem, was andere besitzen, so explizit für die Motivierung des Verhaltens eingespannt worden. Die Feuer des Neides - die Girard in seinem Buch über Shakespeares dra¬maturgische Analysis auf die eindrucksvollste Weise studiert hat — sind von der Konsumgesellschaft in Dienst genommen und zu kraftwerk-analogen Energiekreisen zusammengeschaltet worden. Moderne Gesellschaften stellen aus dieser Sicht marktintegrierte Eifersuchtsreaktoren oder Neidkraftwerke dar, die unentwegt die Aufgabe bewältigen müssen, das Erniedrigungs- und Haßpotential zu binden, das sie durch ihre geschichtlich beispiellose Ambitions- und Appetenzpublizistik schüren. Daß moderne Gesellschaften sich ihre typischen Wunsch-Enthemmungskampagnen leisten können, ist der Ausdruck ihrer systemtragenden Orientierung an Bereiche¬rung und Gütervermehrung. Sie meinen, die anthropologisch bedenkliche Aufheizung von Eifersuchtswettbewerben um knappe Güter riskieren zu dürfen, weil sie zugleich eine epochale Mobilmachung der Produktion zur Entknappung eben dieser Güter ins Werk setzen.“ (Sloterdijk 2008, 252f.) 198 Eine weitergehende Position zur gleichzeitigen Gegebenheit sozialer Differenzierungsformen in Verbindung mit einer Kritik an der Luhmannschen Primatsthese hat Hondrich (1987: 275ff.) vertreten. In dieser Hinsicht abweichend von den meisten Kritikern gibt er der Luhmannschen Theorie nach der autopoietischen Wende den Vorzug: "Der Neuzugang zum Verständnis sozialer Differenzierung führt nicht über die Geschichte, sondern über die Theorie sozialer Systeme. Luhmann als Vorbild - ja, aber der Luhmann der autopoietischen Systeme, nicht der einer historisierenden Differenzie-

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rungs»theorie«, die aus der eigenen Systemtheorie kaum gelernt, nicht einmal Fragen übernommen hat. " (1987, 301) 199 Auf den ersten Blick lässt sich die Konfliktlage der modernen Gesellschaft so beschreiben, dass Konflikte (zwischen den koexistierenden Differenzierungsformen) nur dann entstehen, wenn eine der älteren Formen (stratifikatorisch oder segmentär) in einem bestimmten raum-zeitlichen Kontext dominiert und evoluierte Formen funktionaler Differenzierung instrumentalisiert. Ein Beipiel wäre die Verwendung der technisch-organisatorischen Errungenschaften der modernen Finanzwirtschaft für die Zwecke korrupter Regime oder moderner Kommunikations- und Waffentechnik für religiös-fundamentalistische Bewegungen. Denn umgekehrt entsteht nicht zwingend ein Konflikt, wenn unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung Formen stratifikatorischer Differenzierung (in Organisationen und sozialen Bewegungen) und segmentärer Differenzierung (in Familien und Nationalstaaten) instrumentalisiert werden. Auf den zweiten Blick sieht die Konfliktlage aber nicht mehr so einfach aus. Wenn man die Frage aufwirft, wie es überhaupt möglich ist, dass Akteure sich in der modernen Gesellschaft an älteren Formen sozialer Differenzierung orientieren, stößt man auf Umstände, die die Verallgemeinerung der Formen funktionaler Differenzierung auf bestimmte Individuen begrenzen (so z.B. legale Zugänge zu Arbeitsmöglichkeiten für Migranten, daran hängend Bildungschancen etc.) und damit den Rückgriff auf andere (z.B. durch Verwandtschaft oder ethnische Bindung gestützte) Differenzierungsformen nahelegen. 200 Als prominentes Beispiel für Konflikte der Differenzierungsformen kann hier der Streit über den universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte angeführt werden, der mit dem Souveränitätsanspruch der Nationalstaaten kollidiert. Mit der Kritik an den individuellen Menschenrechten ist das Festhalten am Vorrang von Gruppenrechten und an der traditionellen Aufspaltung zwischen Innen- und Außenmoral verbunden. Dieser Konflikt wird dann relativistisch als Konflikt europäischer mit außereuropäischen Traditionen i.S. autochthoner kultureller Unterschiede umgedeutet. Zur globalen Entwicklung der Menschenrechte s. Pinker 2011, 502-711. Nach Pinkers Darstellung kommt Gewalt im allgemeinen und besonders gegen Frauen, Kinder, Homosexuelle und ethnische Minderheiten weitaus seltener vor in Kulturkreisen, die als individualistisch eingestuft werden und in denen die Menschen sich als Individuen mit dem Recht zum Verfolgen eigener Ziele fühlen, als in Kulturen, in denen die Menschen sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen, deren Interessen Vorrang vor ihren eigenen haben. 201 Literaturhinweise zu den Materialien im Anhang Abrutyn, S., 2009: Toward a General Theory of Institutional Autonomy S. 449-465 in: Sociological Theory 27:4 December 2009, American Sociological Association Alexander, J. C., Giesen, B., Münch, R. und Smelser N.J. (Hg.), 1987: The Micro-Macro-Link. Berkeley: University of California Press. Beetz, Michael 2010a: Das unliebsame System. Herbert Spencers Werk als Prototyp einer Universaltheorie – S.22-37 in: Zeitschrift für Soziologie 2/2010 Beetz, Michael 2010b: Gesellschaftstheorie zwischen Autologie und Ontologie. Reflexionen über Ort und Gegenstand der Soziologie. Bielefeld: Transcript-V. Blute, Marion 1979: Sociocultural Evolutionism: An Untried Theory. Behavioral Science 24, 46-69. Blute, Marion 2002: Review of Niklas Luhmann, Theories of Distinction: Redescribing the Descriptions of Modernity. Canadian Journal of Sociology Online. Nov.-Dec., 2002 (www.cjsonline.ca / pdf / luhmann.pdf) Blute, M. 2010: Darwinian Sociocultural Evolution. Solutions to Dilemmas in Cultural and Social Theory. Cambridge University Press, New York.


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