Kg 1979 schulklima

Page 1

Die Erwärmung des schulischen Binnenklimas Thesen über Möglichkeiten und Grenzen von Elternbeteili­ gung im öffentlichen Schulwesen 1 von Klaus Gilgenmann, Universität Osnabrück

1. Die Renaissance des Elternwillens in der Schul­ politik. Die Verfassungsentwicklung moderner Industriestaaten hat es zur gewohnten Vorstellung werden lassen, daß die Pro­ klamation von Elternrechten in Bezug auf die Erziehung des gesellschaftlichen Nachwuchses und die Abwehr dies­ bezüglicher Rechte des Staates einem eher konservative n und rückwärtsgewandten Teil des Spektrums politischer Willensbildung zuzurechnen sei. Diese Vorstellung scheint sich in der BRD zu bestätigen, wo die seit Mitte der 60er Jahre in Gang gekommenen Bildungsreformen von einem Bündnis aus Elternverbänden und christlichen Parteien angegriffen und einige schulische Reformvorhaben - und mit ihnen einige Reformpolitiker spektakulär zu Fall ge­ bracht wurden. Nach diesen konservativen Mobilisierungs­ erfolgen, die sich auf ungeplante Folgeprobleme der Bil­ dungsexpansion wie v. a. die zunehmende Konkurrenz in den Schulen stützten, ist allerdings seit Mitte der 70er Jahre ein bemerkenswerter Stellungswechsel zu beobachten: Die Reformparteien beschränken sich weitgehend darauf, die tatsächlich erfolgte Expansion der Teilnahme an weiterfüh­ render Bildung als sozialen Besitzstand zu interpretieren. Gleichzeitig setzen sich sozialdemokratische Bildungspoli­ tiker ab von der eigenen Tradition administrativer Reform­ durchsetzung und berufen sich mit zunehmendem Erfolg auf einen die Reform unterstützenden Elternwillen. Schon fragen sich weiterblickende CDU-Politiker, ob die konser­ vativen Mobilisierungserfolge der 70er Jahre mit einer bloß an der Zurücknahme von Bildungsreformen orientierten Politik noch einmal wiederholbar sein würden. Wenn heute Bildungspolitiker aller Parteien in der BRD um die "Freigabe des Eiternwillens" wetteifern, so scheint Skepsis angebracht. Es könnte sich herausstellen, daß sie darunter ebenso Verschiedenes verstehen, wie sie verschie­ denes meinten, als sie vor 10 Jahren alle für "mehr Chan­ cengleichheit" eintraten. Es muß gefragt werden, was für Entwicklungen eingetreten sind, die zu einer Neubewe r­ tung des Elternwillens in der Schulpolitik geführt haben. Ob es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Elternwi l­ len, der sich in der Überzahl von Anmeldungen zu Gesamt­ schulen ausdrückt und dem Elternwillen, der sich sich in der Alternativschulbewegung zeigt. Worin das Neue in dem durch die Bildungsexpansion veränderten Artikulati­ 1

Publiziert in: Bildung und Politik (Hrsg. Peter Glotz) Heft 7 und 10, 1979, Bonn – Die hier dargestellten Überlegungen wurden u.a. ange­ regt durch die Arbeit des Verfassers im Rahmen eines von der Bund-Länder-Kommission geförderten Schulbegleitforschungsprojekts über Elternbeteiligung an Gesamt - und Ganztagsschulen, das von Die­ ter Otten, Universität Osnabrück, geleitet wird. Die Ergebnisse empiri­ scher Untersuchungen dieses Projekts liegen in auswertbarer Form noch nicht vor und werden hier nicht referiert. Für den vorliegenden theoreti­ schen Versuch ist der Verfasser allein verantwortlich. Eine Theorie­ skizze wie diese kann nur einen allgemeinen Interpretationsrahmen für die Auswertungsdiskussion angeben und, soweit sie sich auf die Unter­ suchungsanlage i.e.S. bezieht, auch durch die empirischen Ergebnisse korrigiert werden.

onskontext des Elternwillens besteht und wi eweit dieser Wille bildungspolitisch trägt. Die Berufung auf den Elternwillen stellt einen Bruch in der Tradition sozialdemokratischer Bildungspolitik dar, die sich an universellen Zielen wie dem der Gleichheit der Bildungschancen und nicht an partikularen Interessen legi­ timierte, als die ihr die Interessen von Eltern galten. Es ist daher gegen die Berufung auf den Elternwillen zum Zwek­ ke der Verteidigung oder gar Durchsetzung von Bildungs­ reformen eingewandt worden, daß sie die Gefahr enthielte, die parlamentarische Verantwortung für die Gestaltung des Schulwesens aufzugeben und diese damit dem Felde der Standes- und Gruppeninteressen zu überlassen (Knut Ne­ vermann, Bundeskongreß der GGG, 1979). Aus dieser Sicht erscheint die Neubewertung des EIternwillens in der Schulpolitik als eine Anpassung an konservative Politik­ muster um den Preis der Aufgabe politisch damit unve r­ träglicher Ziele, als eine fragwürdige taktische Wendung, die sich allenfalls rechtfertigen ließe, um vorübergehend blockierte Willensbildungsprozesse in Parteien und Parla­ menten wiederzu öffnen. Dieser demokratietheoretischen Diskussion steht nun zunächst eine Position diffusen Mißtrauens gegenüber administrativer Reformpolitik gegenüber, die sich nicht auf bestimmte Interessengruppen beschränkt. Seit die Familie sich immer weniger als ein ökonomischer Zwangsverband darstellt - obwohl sie es der Rechtsform nach noch ist - und sich verwandelt in einen Ort der Zuflucht, Rekreation und individuellen Bedürfnisentfaltung im Gegensatz zu den Zwängen der von Konkurrenz bestimmten Außenwelt, hat die staatliche Berufung auf das "Recht des Kindes" mit dem Staat als Anwalt - viel von ihrem aufklärerischen Pathos verloren. In dem Maße, in dem aus der Verwirkli­ chung von "mehr Chancengleichheit" bloß mehr Konkur­ renz im Schulwesen folgte, hat auch die Berufung auf die gesamtstaatliche Verantwortung tür die Gestaltung des Schulwesens an Überzeugungskraft eingebüßt. Ich möchte im folgenden einige Gründe dafür anführen, warum die Renaissance des Elternwillens in der Schulpoli­ tik sich als Rückkehr zu einem ständischkonservativen Politikverständnis nicht angemessen erklären läßt, und warum sich diese Entwicklung auch bloß taktischen Kalkü­ len entzieht. Ich möchte andererseits keinen Zweifel lassen, daß sich aus der Neubewertung des Elternwillens allein noch keine Lösung bildungspolitischer Probleme ergibt. Ich vermute vielmehr, daß diese Neubewertung erst den Anfang einer Entwicklung markiert, in der sich die Bil­ dungspolitik mit Problemen auseinanderzusetzen haben wird, deren Bearbeitung die Beschränkung auf das Bil­ dungssystem nicht mehr zuläßt. Ich möchte diese Ansicht zunächst in der These ausdrücken, daß die Neubewertung des Elternwillens in der Schulpolitik eine Folge des Veral­ tens der klassischen Trennung von Elternhaus und Schule und mithin der bisherigen Abgrenzung der Rechte der El­ tern und des Staates in bezug auf die Nachwuchssozialisa­ tion darstellt. (Zu der hier nicht weiter verfolgten Rechts­ problematik s.v.a. Dietze)

2. Entstehung und Verallgemeinerung des Dualis­ mus von Elternhaus und Schule. In modernen Industriegesellschaften wird die Aufgabe der Nachwuchssozialisation in der großen Mehrheit aller Fälle in einer spezifischen Zweiteilung wahrgenommen: Der Sozialisationsprozeß findet einerseits innerhalb von Fami-


K.Gilgenmann: Thesen über Möglichkeiten und Grenzen von Elternbeteiligung im öffentlichen Schulwesen lien, in deren Privatsphäre, und andererseits außerhalb von Familien, in staatlich geregelten Schulsystemen (ein­ schließlich Privatschulen) statt. Jenseits der alten Diskussi­ on über die Verteilung der Rechte und Pflichten zwischen Eltern und Staat in Bezug auf die Nachwuchssozialisation, werden heute zunehmend Probleme der pädagogischen Kompetenz im Verhältnis der beiden Sphären der Nach­ wuchssozialisation diskutiert. Jede Sphäre hat ihre Prophe­ ten und Dogmatiker im Rahmen der damit befaßten Erzie­ hungswissenschaften: Steht auf der einen Seite die These vom defizitären Charakter familialer Sozialisation und die Hoffnung auf befreiende oder kornpensatorische Wirkung öffentlicher Erziehung, so auf der anderen Seite die These von der Unersätzlichkeit der Familie und die Befürchtung totaler Verschulung. Die Stärkung einer Sphäre erscheint nur auf Kosten der anderen möglich, jedoch keine durch die andere ersetzbar. Je mehr konkrete Probleme der Nachwuchssozialisation in dieser Diskussion thematisiert werden, desto stärker tritt ein Strukturproblem hervor: der dualistische Charakter des Sozialisationssystems selbst. Die Entstehung und Verallgemeinerung des dualen So­ zialisationssystems ist verbunden mit der Entkoppelung von ökonomischen Subsistenzmöglichkeiten und persönli­ chen Lebenschancen vom familialen Produktionsmittelei­ gentum, die seit Beginn der Moderne zu jener epochalen Ausdehnung der Ehe- und Familienbereitschaft geführt hat, die weltweit bis heute andauert. Die Verallgemeinerung des Familienlebens über die produktionsmittelbesitzenden Schichten hinaus hat mit der Trennung vom außerhäusli­ chen Erwerbsleben zu einer "Erwärmung des familialen Binnenklimas" (Shorter) geführt, die sich mit der Auflö­ sung vorindustrieller Familienwirtschaft in allen Bevölke­ rungsschichten - wenngleich mit noch zu erörternden Un­ terschieden des sozialen Kontexts - ausbreitet. Im epocha­ len Curriculum des dualen Sozialisationssystems entspricht nun dieser Erwärmung des familialen die Kälte des schuli­ schen Binnenklimas: als Vorbereitung auf das Leben au­ ßerhalb der Familie. Einen Prototyp solcher Vorbereitung im Rahmen duali­ stischer Sozialisation stellt das preußische Gymnasium dar. Formale Bildung, die Abstraktion von der Sphäre persönli­ cher Neigungen und Bedürfnisse wird zum Prinzip erhoben und allein über das Interesse am Bildungsstatus mit der Erfahrungswelt des Elternhauses verknüpft. Die Aneignung von Bildung wird hier jenseits aller bestimmten Inhalte zu einer Leistung, die die Erreichung eines bestimmten sozia­ len Status verbürgt. Das Interesse des preußischen Staates an einer Modernisierung seines Verwaltungsapparates führte zur Abschaffung der Amtsappropriation und ersetzte diese durch Formen der Rekrutierung, in denen dem Durchlaufen des Gymnasiums der entscheidende Stellen­ wert zukam (Herlitz). Die Kälte des schulischen Binnen­ klimas war wesentlich bestimmt durch diese Instruinentali­ sierung von Bildung für die Staatsdistribution. Auf der anderen Seite stellt die preußische Beamtenf a­ milie einen Prototyp der modernen Familie dar lange bevor Lohnarbeit zu ihrer dominanten Einkommensquelle wurde. Familien- und Arbeitsleben sind strikt getrennt, die stan­ desgemäße Alimentation erlaubt jenseits der beruflichen Verpflichtungen ein ausgedehntes Privatleben. Dazu gehört die Freistellung der Frau vom Zwang zu niederen (oder gar außerhäuslichen) Tätigkeiten zugunsten der häuslichen Sorge um Gatten und Nachwuchs. Die Sorge um den

2

Nachwuchs hat nicht mehr wie in den vorindustriellen Familien den bornierten Charakter der Zurichtung auf die Rolle von Produktionsmittelerben. Die Elterliche Alters­ versorgung ist durch den Beamtenstatus gewährleistet. Das Verhältnis der Generationen ist nicht mehr durch ein un­ mittelbar ökonomisches Verhältnis, die Lebensperspektive des Nachwuchses nicht mehr durch die Erwartung des Erbteils bestimmt. Dennoch ist dem Nachwuchs eine Zu­ kunft versprochen: nämlich über die gymnasiale Bildungs­ laufbahn. Dieser Weg wird geebnet durch die Liebe und Opferbereitschaft der Mutter, die für eine vom äußerhäusli­ chen Existenzkampf verschonte Kindheit sorgt, und durch die aufgeklärte Strenge des Vaters, der schon im Elternhaus die außerliäuslichen Orientierungen repräsentiert, bis auch der Nachwuchs hinaus muß "ins feindliche Leben", d. h. zunächst ins Gymnasium. Die Aneignung von Bildung stellt hier weder bloß eine spezielle vorberufliche Qualifikation noch bloß eine Be­ gleiterscheinung familialen Reichtums dar, sondern ein Instrument zur intergenerativen Statussicherung. Der In­ strumentcharakter von Bildung braucht dabei durchaus nicht bewußt zu sein. In einer Welt, die sich vor allem in familiale Innenwelt und Außenwelt teilt, ist der allen un­ mittelbaren Lebenserfahrungen äußerliche Charakter schu­ lischer Leistungsanforderungen adäquater Ausdruck einer Welt, in der es sich nach väterlichem Vorbild zu bewähren gilt. Die Kälte des schulischen Binnenklimas wird nicht nur kompensiert durch die Wärme des Elternhauses, sondern vor allem durch die übergreifende Perspektive auf die Er­ reichung des im Elternhaus erlebten sozialen Status, die stellvertretend wa hrgenommen wird durch den Eltemwi l­ len. Die Sozialisationsfunktion des Elternwillens liegt in der symbolischen Verknüpfung von Bildungs- und Sozial­ status, lange bevor diese vom Nachwuchs bewußt wahrge­ nommen werden kann. Das Funktionsgeheimnis dualer Sozialisationssysteme liegt letzten Endes in dem Zukunft­ versprechen, das sich in der spezifischen Verknüpfung von Bildungsabschlüssen und Berufszugängen darstellt. Nach diesem Muster hat sich das Gymnasium und das höhere Schulwesen überhaupt als eine Reproduktionsbe­ dingung "höherer" sozialer Schichten herausgebildet, deren familiales Privateigentum allein daffir keine hinreichende Voraussetzung mehr bieten kann. Allerdings stößt die Ve r­ allgemeinerung dieses Typs dualer Sozialisation auf Schranken in der Verfügbarkeit entsprechend hervorgeho­ bener sozialer Stellungen im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Es entwickelt sich daher zunächst unabhän­ gig hiervon ein ganz anderer Typ dualer Sozialisation im "niederen" Schulwesen, der Volksschule. Auch hier inter­ veniert der Staat im familialen Reproduktionsprozeß. Die Intervention dient jedoch nicht der Rekrutierung einer spezifischen sozialen Schicht, sondern der Herstellung von Arbeits- und Verkehrsfähigkeit überhaupt, also der freien Konkurrenz. Ihr Mittel ist nicht das spezielle Statusve r­ sprechen, sondern die allgemeine Schulpflicht. Die enorme Expansion der arbeitsfähigen Bevölkerung in den Industriegesellschaften ist ein Ergebnis der Verall­ gemeinerung der Familienfähigkeit, die wiederum an die Verallgemeinerung der Lohnarbeit als selbstständiger Ein­ kommensquelle gebunden ist. Da diese Quelle zunächst nur knappe und überdies ständig durch Krisen bedrohte Le­ benschancen bot, war das Farnilienleben der lohnabhängig gewordenen Schichten entsprechend eingeschränkt und


K.Gilgenmann: Thesen über Möglichkeiten und Grenzen von Elternbeteiligung im öffentlichen Schulwesen bedroht. Diese Lage förderte zunächst das Festhalten über­ lieferter Einstellungen und Lebensformen auch auf verän­ derter ökonomischer Grundlage (wie z.B. nachbarschaftli­ che Unterstützungsgemeinschaften, agrarische Versor­ gungselemente neben der Lohnarbeit in Ar beitersubkultu­ ren). Hierzu zählen auch rigide Geschlechts- und Generati­ onsrollenbestimmungen, die aus herkömmlicher Sicht Frauen- und Kinderarbeit nicht ausschließen, obwohl gera­ de diese unter den Bedingungen der Lohnarbeit zur Bedro­ hung des Familienlebens werden mußten. Erst mit der Beschränkung des Arbeitstages und der Niedriglohnkon­ kurrenz durch Frauenarbeit sowie dem Verbot der Kinder­ arbeit, konnte sich die Lohnarbeiterfamilie konsolidieren und die ihr verbleibenden ökonomischen Funktionen, näm­ lich die tägliche und die generative Reproduktion der Ar­ beitskraft in privater Form organisieren. So wie das Verbot der Kinderarbeit den Arbeitskräftenachwuchs vor gesund­ heitlicher Zerstörung bewahren sollte, so die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht vor sozialer Verwahrlosung während der Arbeitszeit der Eltern. Für diese bedeutete die Volksschule zunächst eine Entlastung von Betreuungsfunk­ tionen, für den Nachwuchs eine Einübung in Arbeitsdiszi­ plin und elementare Kulturtechniken, die ihm das auf Frei­ zeit reduzierte Familienleben nicht vermitteln konnte. Der Dualismus zwischen Elternhaus und Schule kann hier frei­ lich - da dem Nachwuchs über dem Pflichtschulbesuch keine Zukunft außerhalb der Konkurrenz versprochen ist, ­ nur durch Androhung staatlicher Zwangsmittel überbrückt werden.

3. Die Auflösung des dualen Sozialisationssystems Mit der Etablierung eines allgemeinen Pflichtschulsystems wird der Dualismus von Schule und Elternhaus zu einem allgemeinen, staatlich geschützten Prinzip der Nachwuchs­ sozialisation. Die Ungleichheit seiner sozialen Grundlagen erscheint nicht als prinzipieller Gegensatz, sondern nur als empirischer Unterschied der privaten, familialen Aus­ gangsbasis. Diese Erscheinung hat ihre objektive Grundla­ ge in der Form der Lohnarbeit und ihrer Verallgemeine­ rung, der Subsumtion immer weiterer Schichten der er­ werbstätigen Bevölkerung unter lohnförmige Beschäfti­ gungsverhältnisse (in der BRD fast 90 %), die sich u.a. in folgenden Entwicklungen ausdrückt: - die Verringerung der Zahl selbstständiger Bauernund Handwerkerfamilien, die noch ein Reservoir für tradi­ tionalistische Einstellungen in die lohnabhängige Be­ völkerung einbringen können; - die Einrichtung kollektiver Alters-, Krankheitsund Arbeitslosenversicherungen, die die Lohnabhängigen unabhängiger von traditionellen Sicherungsformen, insbesondere vom eigenen Nachwuchs macht; - die Verbilligung der Mittel für die tägliche Reproduk­ tion und die maschinelle Erleichterung der Hausarbeit, die die ökonomische Bedeutung patriarchalisch fixier­ ter Geschlechts- und Generationsrollen verringert; - die Senkung der Arbeitszeit, die die privaten Disposi­ tionsmöglichkeiten für individuelle und familiale Be­ dürfnisentfaltung erhöht. Die genannten Tendenzen führen vermutlich zu jener all­ gemeinen Erwärmung des familialen Binnenklimas, die mit einer Auflösung traditionalistisch verfestigter Rollenerwar­ tungen einhergeht. Als Indikatoren für einen derartigen

3

EinstellungsWandel lassen sich u.a. folgende Tendenzen

anführen:

- die Verringerung der Kinderzahl pro Familie (auf eine

"Wunsch"-Kinderzahl, die sich der der Beamtenfamilie aus dem vorigen Jahrhundert annähert); - die nachlassende Wertschätzung von "Gehorsam" und "Leistung" als Sozialisationsziele und zunehmende Wertschätzung von "Liebe" und "Glück" für den eige­ nen Lebensbereich; - der nahezu restlose Abbau von Vorbehalten gegen die Teilnahme des eigenen Nachwuchses an weiterführen­ den Schulbildung. Dieser Einstellungswandel beinhaltet tatsächlich in gewi s­ ser Weise eine Angleichung der Ausgangsposition im dua­ len Sozialisierungssystem: Auch die Lohnarbeitereltern erwärmen sich f-ür die Bildungschancen ihres Nachwuch­ ses. Die konservative Klage über den "universellen Auf­ stiegsdruck" (Schelsky), tut so, als ob es sich hier um eine ganz andere Motivlage handele, als bei dem klassischen Statuswahrungsmotiv bildungsbürgerlicher Schichten. (Und auch Sozialdemokraten scheinen das Motiv des Bil­ dungsaufstiegs für etwas Unanständiges zu halten. Evers, AfB-Kongreß.) Tatsächlich ist jedoch ein materieller Vo r­ teil, den Lohnarbeitereltern aus dem Bildungsaufstieg ihres Nachwuchses ziehen könnten, kaum erkennbar. Das Motiv dürfte eher einen "idealistischeren" Charakter besitzen als bei den herkömmlich bildungspriviligierlen Schichten. Die Lohnarbeitereltern identifizieren sich mit den Lebenschan­ cen ihres Nachwuchses, weil sie den Sinn ihres eigenen Lebens in ihrer Familie und im Glück ihrer Kinder suchen. Das Motiv ist immateriell insofern, als es ein Produkt der massenhaften Verselbständigung des Familienlebens und der Sinnlosigkeitserfahrung im Leben außerhalb der Fami­ lie ist. Die Einstellung der Eltern ist eher affektiv-diffus, Projektion eigener unerfüllter Lebenswünsche, als instru­ mentell, auf den Schulerfolg des Nachwuchses bezogen. Die Verallgemeinerung elterlicher Bildungsaspiration stößt im Dualismus von Elternhaus und Schule auf eine doppelte Schranke: Einerseits wird gerade der verselbstän­ digte Charakter des Elternwillens zum Problem. Je mehr die Eltern den Sinn ihres Lebens in der Privatsphäre su­ chen, desto mehr schwimmt ihr Familenleben weg aus allen gesellschaftlichen Bezügen. Die Kluft zwischen El­ ternhaus und Schule vergröbert sich. Andererseits kann die familiale Sinnsuche die Sinnlosigkeitsangst des Nachwuch­ ses nicht verringern, solange ihm in der Schule und über die Schule keine Zukunft versprochen ist. Mit der Verallgemeinerung der Lohnarbeit findet in den meisten Industriegesellschaften ein Prozeb der Vereinheit­ lichung und Binnendifferenzierung zwischen dem Typ des " höheren " und dem Typ des " niederen " Schulwesens statt. Die Binnendifferenzierung entspricht zunächst einer Hierarchisierung des Berufssystems und einer Segmenti­ crung dcr Arbcillsmärktc, worin formale, vorberufliche Bildungsnachweise zunehmende Bedeutung erlangen. Der Prozeß der Vereinheitlichung erfolgt überwiegend i.S. einer Erhöhung der Durchlässigkeit zu den über die Pflichtschule hinausführenden Bildungslaufbahnen. Der Treibsatz zu dieser Entwicklung ist die Teilhabe an den herkömmlich dem höheren Schulwesen vorbehaltenen Statusversprechen. Je differenzierter die Abschlüsse in einem Bildungssystem Berufs- und Lebenschancen zuweisen, desto größer wird zunächst der soziale Druck zu chancengleichem Zugang.


K.Gilgenmann: Thesen über Möglichkeiten und Grenzen von Elternbeteiligung im öffentlichen Schulwesen Bildungsreform muß sich am Postulat der Chancengleich­ heit ausweisen. Die Anwendung des Chancengleichheitspostulats auf die gesellschaftliche Organisation von Bildungsprozessen impliziert 1., daß begrenzt viele Chancen nach gleichen Kriterien verteilt werden und 2., daß Gleichheit der Vo r­ aussetzungen zur Erfüllung dieser Kriterien unterstellt werden kann. Die erste Forderung kann problema­ tisch.werden, wenn nach dem Sinn der Kriterien gefragt wird (also z.B. nach der Beziehung zwischen Prüfungsan­ forderungen und künftiger Berufstätigkeit). Sie ist jedoch leicht zu erfüllen, wenn nur auf die formale Gleichheit geachtet wird. Um so problematischer wird die zweite Forderung, die sich unauflösbar mit der Beurteilung sozia­ ler Lebenschancen verbindet. Die Lösung kann nur ein praktischer Kompromiß sein. Da in empirischen Untersu­ chungen vielfältig festgestellt wurde, daß die unterschiedli­ che Fähigkeit zur Wahrnehmung von Bildungschancen ­ und damit zur Überwindung von Selektionsbarrieren ­ entscheidend abhänge von der sozialen Herkunft - konkre­ ter: vom Bildungsmilieu des Elternhauses - erscheinen zwei Konsequenzen zwingend: 1. Zur Erhöhung der Chancengleichheit muß das Schulsystem selbst sozialschichtspezifische Bil­ dungsbenachteiligungen durch besondere Betreu­ ung und Förderung kompensieren. 2. Die Selektionsentscheidung wird um so gerechter, je später sie fällt, wenn also der von ihr Betroffene relativ unabhängig von seinem Elternhaus gelernt hat, ihre Konsequenzen selbst zu antizipieren. Der Prozeß der Vereinheitlichung des Schulwesens erweist sich als prozessierender Widerspruch zweier entgegenge­ setzter Sozialisationsmechanismen: Auf der einen Seite handelt es sich um die Verallgemeinerung des Statusve r­ sprechens als einen übergreifenden Stimulus für das Durch­ laufen höherer Bildungslaufbahnen. Da und insoweit die veftigbaren Statuszuweisungen begrenzt bleiben, muß jede Erhöhung der Chancengleichheit im Zugang zu einer Erhö­ hung der Konkurrenz und damit auch zur Vernichtung einer größeren Zahl gegebener Chancen führen. Damit nun der Konkurrenzkampf in den höheren Abteilungen nicht zu einer funktionskritischen Erhitzung des schulischen Bin­ nenklimas führt, müssen sogenannte Abkühlungseffekte (z.B. verschleierte Abstufungen) eingebaut werden (Clark). Auf der anderen Seite erhält nun das Schulwesen - im Ge­ gensatz zu seiner Rolle im dualistischen System - zuneh­ mend auch "Aufwärmungsfunktionen" zugewiesen. Soweit die Erwärmung des schulischen Binnenklimas nicht durch die Verallgemeinerung der Statusdistribution selbst erfolgt, müssen Funktionen übernommen werden, die den Schulty­ pen des dualistischen Systems fremd waren. Weder im Curriculum des Gymnasiums noch in dem der Volksschule war vom "Lernen des Lemens" die Rede, wurde durch vielfältige Anknüpfungen an unmittelbare Erfahrungswe l­ ten die Lernmotivation erst herzustellen versucht, die in der weiteren Schullaufbahn verlangt wurde. Noch weniger wäre man auf die Idee gekommen, die Rolle des Lehrers auch dahingehend zu bestimmen, daß er selbst noch für die affektive Absicherung der intellektuellen und moralischen Lernleistungen seiner Schüler zuständig sei. Die Erwärmung des schulischen Binnenklimas unter dem Postulat der Chancenangleichung ist nicht nur Reakti­ on auf eine Destabilisierung des Verhältnisses von Eltern­

4

haus und Schule, sondern sie verstärkt diese. Eltern und Lehrer können sich nicht mehr auf eine prästabilierte Ar­ beitsteilung verlassen und fühlen sich immer häufiger in ihren Rollen überfordert. Elterliche Bildungsaspiration schlägt im schulischen Binnenklima um in Hilflosigkeit und diffusen Leistungsdruck. Die Lehrer müssen in ihrer Berufsrolle allein den Widerspruch zwischen möglichst individueller Förderung und möglichst objektivem Lei­ stungsvergleich ausbalancieren. Sie müssen wissen - oder es verdrängen -, daß sie selbst es sind, die mit jeder Notengebung die Dissoziation zwischen individueller Neigung, konkreten stofflichen Interessen, intrinsischer Lernmotivation und externer Stimuherung unter der Androhung des Verlusts von Bildungs-, Berufs- und Lebenschancen in den Lernprozessen ihrer Schüler vertiefen. Gerade Lehrer, die das Chancengleichheitspostulats ernst nehmen, geraten vielfältig in Konflikte mit Eltern, denen ob sie nun mehr Unterstützung oder mehr Disziplinierung ihres Nachwuch­ ses verlangen - jedenfalls das Motiv der Chancengleichheit äußerlich bleibt.hat der Prozeß der Vereinheitlichung des Zweifellos Schulwesens nicht nur zu einer Dissoziation von Lernmoti­ vationen sondern auch zu einer Freisetzung von Lernfähig­ keit in dem Maße beigetragen, in dem Bildungsbarrieren tatsächlich abgebaut, neue Chancen eröffnet wurden. In einigen Untersuchungen wird sogar behauptet, daß die bloße Ausdehnung der Bildungsdauer mit einer Erhöhung des Potentials an demokratischen und toleranten Einstel­ lungen einhergehe. Wenn ich eher negative, ungeplante Effekte der Egalisierungspolitik im Bildungswesen betont habe, so geht es mir darum, die Entwicklung zu rekonstru­ ieren, worin der sozialisationswirksame Elternwille in seiner herkömmlichen Gestalt untergehen mußte. Die Ein­ sicht in dieser Entwicklung ist notwendig, um die eingangs skizzierte Renaissance des Elternwillens in der Schulpolitik verstehen. Jede soziale Reform bringt ihre Gegenbewegung hervor, diese enthält jedoch nicht nur reaktionäre, sondern auch heilsame Kräfte in bezug auf die sozialisationszerstö­ rerischen Effekte dieser Entwicklung. Heilsame Kräfte vermute ich vor allem in den vielfältigen Ansätzen zu neu­ en Formen schulischer Elternbeteiligung, deren Möglich­ keiten und Grenzen auch im folgenden diskutieren möchte.

4. Möglichkeiten und Grenzen der innerschuli­ schen Wiederherstellung eines sozialisationswirk­ samen Bandes zwischen den Generationen Die meisten Schulgesetze in der BRD kennen die Betei­ ligung von Eltern am schulischen Leben nur in der Form einer repräsentativen Interessenvertretung. im Gegensatz zu parlamentarischen Vertretungsformen wird hierbei ein kollektiver Elternwille unterstellt, der in je verschiedener Gewichtung den Willen der Schüler und Lehrer, der Schul­ leitung und der Schulbehörden in verschiedenen Gremien gegenübertritt. In Lände-rn mit einem stärker horizontal gegliederten und kommunal organisierten Schulwesen ­ wie in den USA - gibt es die Form der Beteiligung von Eltern als freiwillige Mitarbeiter der Schule sowie des Lehrers im Unterricht. Beide Formen führen nachweislich zu einer schichtspezifisch verzerrten Beteiligung der El­ tern. Das grundlegende Problem dieser Beteiligungsformen ist in. E. allerdings nicht ihre mangelnde Repräsentativität im Hinblick auf die soziale Zusammensetzung der Eltern-


K.Gilgenmann: Thesen über Möglichkeiten und Grenzen von Elternbeteiligung im öffentlichen Schulwesen schaft, sondern die darin angelege Beschränkung der Betei­ ligung selbst. Eltern als Interessenvertreter vertreten andere Eltern, die sich schon deshalb nicht mehr in gleichem Maße beteiligen. Eltern als freiwi llige Mitarbeiter entfernen sich von der Rolle aller anderen Eltern und werden in deren Augen zu Lehrern oder Hilfslehrern. Angesichts der Be­ schränkungen stellen die vielerorts zu beobachtenden An­ sätze von Elternselbsthilfegruppen, die schulbezogen, aber ohne institutionelle Einbeziehung in der Schule arbeiten, und die in Modellversuchen im Grundschulbereich zu beo­ bachtenden Ansätze zu einer vollständigen Einbeziehung der Eltern in Schule und Unterricht eine neue Qualität der Beteiligung dar (Hamburg). Die Möglichkeiten solcher Breitenbeteiligung von El­ tern in öffentlichen Schulen lassen sich wie folgt skizzie­ ren: Als Ausgangssituation kann vereinfacht eine Situation gelten, worin die Mehrheit aller Eltern eine konkrete unter­ stützende Funktion im Sozialisationsprozess nicht mehr wahrzunehmen vermag und entweder alle Aufgaben auf die Schule abschiebt oder sogar die kognitiv fordernde Seite der Schule durch diffuse Leistungserwartungen einseitig verstärkt. Die Mehrheit der Lehrer ist dieser Situation nicht gewachsen und reagiert, indem sie entweder die affek­ tiv-kompensatorische Erziehungsaufgabe - z.T. gegen die Eltern - überbetont, oder indem sie sich auf die kogni­ tiv-fordernden Aufgaben - die Fachlehrerrolle - zurückzieht und den differenziellen Unterstützungsvorteil einer Min­ derheit zum Begabungsvorsprung umdeutet. Durch die Breitenbeteiligung von Eltern kann die Funktion der Er­ wärmung des schulischen Binnenklimas von den Lehrern an die Eltern zurückgegeben werden. Die elterliche Bil­ dungsaspiration kann in konkreten Unterstützungstätigkei­ ten sublimiert werden. Das Selbstwertgefühl von Eltern im Umgang mit Lehrern und Schule kann gestärkt, dif­ fus-schulferne Leistungserwartungen können abgebaut und kognitive Dissonanzen zwischen Elternhaus und Schule verringert werden. Die Breitenbeteiligung von Eltern kann von den Lehrern als Entlastung im affektiven Bereich und als Auflösung einer strukturellen Überforderung erfahren werden. Mit der Stabilisierung ihrer Berufsrolle im Bereich kognitiv-moralischer Sozialisationsaufgaben kann an die Stelle ängstlicher Abwehr von Elterneinflüssen eine neue Kooperationsbereitschaft treten. Die Erwärmung des schulischen Binnenklimas, die sich im Zuge der Verallgemeinerung unter dem Postulat der Chancengleichheit als notwendig ergab, wird mit der brei­ tenwirksamen Einbeziehung der Eltern in das Schulleben erst auf eine solidere Grundlage gestellt. Wenn Eltern und Lehrer ohne Rücksicht auf die verfestigten Gegensätze zwischen privater und öffentlicher Sphäre in der schuli­ schen Organisation von Sozialisationsprozessen Möglich­ keiten finden, wechselseitig voneinander zu lernen, so muß dies das Lernklima der Schule insgesamt verbessern. Eine Grenze dieser Möglichkeiten scheint auf der Hand zu lie­ gen: die hierfür verfügbare Zeit der Eltern. Während der Lehrer für seinen Teil der Arbeit bezahlt wird, fällt die schulische Beteiligung der Eltern in deren unbezahlte Zeit bzw. Freizeit. Dies kann zu einer ungleichen Beteiligung beider Elternteile führen, wdil und insoweit Hausarbeit und Lohnarbeit zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt sind. Es handelt sich hier jedoch nur vordergründig um ein Zeitproblem. Die Zeitgrenze scheint äußerst flexibel und dehnbar, wenn es gelingt, die Beteiligung der Eltern an der

5

Schule als eine Erweiterung ihres Privatlebens zu behan­ deln. Dies kann gelingen, weil die Beteiligungsmotive von Lohnarbeitern aus der vom Arbeitsleben abgespaltenen Privatsphäre stammen. Gerade darin liegt aber ein Problem: Die Erweiterung des Handlungsspielraums der Familie auf den Bereich öffentlicher Erziehung kann die Spaltung zwi­ schen Leben und Arbeit nicht aufheben. Alle erfolgreichen Versuche mit einer Breitenbeteili­ gung von Eltern an öffentlichen Schulen in der BRD sind im Grundschulbereich abgesiedelt. (Darüber hinausführen­ de Versuche sind mir zumindest nicht bekannt). Als Erklä­ rung für diese Beschränkung wird angeführt, daß es vo r­ rangig darauf ankomme, den Schock der Schuleintrittspha­ se, den Bruch der Sozialisationsprozesse zwischen Eltern­ haus und Schule zu mildern, und daß es danach eher darauf ankomme, dem Schüler zur Selbständigkeit-- gerade auch vom Elternhaus- zu verhelfen und auf das Berufsleben vorzubereiten. Solche Erklärungen erscheinen jedoch we­ nig zwingend: Da doch der größere Teil der Eltern selbst Berufserfahrungen hat, ist zunächst nicht einzusehen, war­ um die Schüler nicht von der Präsentation dieses lebendi­ gen Erfahrungsschatzes - aller Eltern einer Jahrgangsklasse oder Schule - lernen können sollten. Die Verhinderung dieser Möglichkeit läßt sich von zwei Seiten her erklären: Durch die Eltern selbst, denen es schwerfallen muß, gerade die charakteristischen, gleich­ bleibenden und ihnen gleichgültigen Züge ihres Arbeitsle­ bens in der Schule darzustellen. Allerdings könnten Lehrer und Schüler ja hier theoretisch -verallgemeinernd - und praktisch - durch Exkursionen - vermitteln. Das grundle­ gendere Hindernis liegt jedoch in der Schule selbst, in der spezifischen Verknüpfung schulischer Lemprozesse mit dem Arbeitsleben, die gerade nicht konkret anschaulich, sondern - verinittelt über die Konkurrenz im Bildungswe­ sen hoch abstrakt ist. Die Konkurrenz im BildungsSystem ist keineswegs ein direktes Abbild der Konkurrenz im Be­ schäftigungssystem. Dies gilt nicht etwa nur wegen der zeitlichen Verzögerung zwischen Veränderungen auf Ar­ beitsmärkten und den Auswirkungen individueller und durch Selektion im Bildungswesen gesteuerter Entschei­ dungen. Die wesentliche Funktion der Selektion im Bil­ dungswesen ist nicht - und war nie - die Proportionierung von Bildungsabsolventen allein für einen vermeintlichen oder wirklichen gesellschaftlichen Bedarf. Ihre wesentliche Funktion ist die Steuerung der Bildungsmotivation selbst durch das Statusversprechen. Das wesentliche Ergebnis der Bildungsreform in der BRD war ja nicht etwa die Herstel­ lung gleicher Chancen, eine sozial gerechtere Selektion (also bloß die Verteilung einer gleichbleibenden Zahl von Chancen nach anderen Kriterien an andere Leute), sondern die Bildungsexpansion. Gleichgültig, inwieweit dies ein gewolltes oder naturwüchsiges Ergebnis ist: der Effekt besteht in einer immer komplizierteren Verkoppelung von Bildungs- und Beschäftigungssystem. Die herkömmlich einer Minderheit vorbehaltenen Bildungs- und Berufsbe­ rechtigungen werden verallgemeinert und es kommen neue Zuweisungskriterien hinzu. Immer mehr erwerben die alten Berechtigungen, verlängern damit ihre Bildungslauf­ bahnen und dennoch löst sich der Statusdistributionsme­ chanismus damit nicht von selbst auf, sondern differenziert sich vertikal entlang der ungleich bewerteten Berufs- und Lebenschancen.


K.Gilgenmann: Thesen über Möglichkeiten und Grenzen von Elternbeteiligung im öffentlichen Schulwesen Die differenzierte Koppelung von Bildungsabschlüssen an Berufs- und Lebenschancen garantiert rückwirkend für den alle Bildungsprozesse durchdringenden externen Sti­ mulus und damit so hofft man - für eine Perpetuierung der Bildungsexpansion (Deutscher Bildungsrat, 1975). Dieser Stimulus sorgt aber auch für die Auflösung kon­ kret-stofflicher Inhalte von Bildungsprozessen zugunsten der Konkurrenz um zunehmend abstrakt werdende Chan­ cen. In dieser Konkurrenz lösen sich nicht nur konkrete Interessen und Neigungen, sondern auch alle Möglichkei­ ten der EIternbeteiligung auf: weder aus der Perspektive des Elternhauses noch aus der Perspektive des Berufsle­ bens kann hier noch konkrete Unterstützung kommen. Alles reduziert sich auf die schulischen Definitionen, in denen die Konkurrenz ausgetragen wird. In dieser Sinnent­ leerung der Konkurrenz liegt eine Tendenz zur Umkehrung der Definition selbst: mit der Verlängerung der Bildungs­ phasen und dem Abstraktwerden der damit versprochenen Chancen kippen die Situaticnsdefinitionen um in einen Verzicht auf das versprochene Ende und die Bejahung einer Adoleszenz ohne Ende, womit dem Konkurrenzme­ chanismus der Stachel gezogen wäre. Hier erweist sich der Irrtum der Bildungsreformer, die die Ungleichheit der Bil­ dungschancen im wesentlichen auf elterliche Erziehungsstile zurückgeführt haben und nicht auch auf die in den Elternhäusern ungleich repräsentierten Zukunftschancen (die durch kompensatorische Erziehung nicht zu beeinflussen sind). Je mehr die Chancen angeglichen und damit gleichermaßen stimulierend und ungewiß werden, desto deutlicher stellt sich heraus, daß das Fehlen konkret anschaulicher Chancen in allen Bildungsprozessen zerstörerische Folgen hat. Diese Folgen zeigen sich in der Auflösung des sozialisationswirksamen Bandes zwischen den Generationen und darüber hinaus in der Instabilisierung der Geschlechtsbeziehungen, nachlassender Eheund Familienbereitschaft. (Die Erwärmung des familialen Binnenklimas, der romantische Trend zu freier Liebes- und Subjektivität-sentfaltung treibt über die Möglichkeiten der Lohnarbeiterfamilie hinaus.) Der Deutsche Bildungsrat hat einmal (1973) verstärkte Selbständigkeit der Schulen als Voraussetzung für mehr Mitwirkung von Eltern, Lehrern und Schülern gefordert und ist damit auf heftigen Widerstand gestoßen. In seiner eher resignativen Abschiedsbilanz über zehn Jahre Bil­ dungsreform (1975) hat er für eine vorsichtige Beibehal­ tung von Selektionen als einzig möglichem Mittel zur Fort­ setzung der Bildungsexpansion plädiert. Damit hat er die Autonomisierungsforderung selbst entkräftet. Die Selb­ ständigkeit der Schule unter Beibehaltung einer vertikalen Verkoppelung mit dem Beschäftigungssystem bleibt das, was sie war: die über das Statusversprechen ferngesteuerte pädagogische Provinz. Nur, daß sich das Statusversprechen heute in einem immer schwerer durchschaubaren Distribu­ tionsmechanismus verflüchtigt, seine Sozialisationswirk­ samkeit in der aussichtslosen Konkurrenz verliert. Soziali­ sationswirksame Elternbeteiligung kann sich nur gegen den Konkurrenzmechanismus und das darüber fremdbestimmte Curriculum konstituieren. Ein Band zwischen den Genera­ tionen kann sich nur restituieren, wenn nicht mehr die ve r­ tikale, sondern eine horizontale, konkret-anschauliche Verknüpfung von Schule und Arbeitsleben, Bildungsab­ schlüssen und Berufszugängen dominiert. Diese Verknüp­ fung verlangt nicht formelle Selbstständigkeit, sondern

6

gerade konkrete Einbindung der Schule in überschaubare Lebens- und Arbeitszusammenhänge, nicht Autonomisie­ rung, sondern Kommunalisierung der Schule.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.