Kg 1980 wertwandelerziehung

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Klaus Gilgenmann

Wertwandel und Erziehung

Vorbemerkung Ich bin eingeladen worden, unter der Fragestellung "Erzie­ hung zu Werten?" einen Beitrag zu der neueren Diskussion über Werte in der Erziehung zu verfassen, die u. a. in dieser Zeitschrift geführt wurde.1 Ich möchte die Position vertre­ ten, daß Erziehung zu Werten oder Moralerziehung ein notwendiger Bestandteil unserer Zivilisation ist und - in einer im folgenden näher zu bestimmenden Sichtweise ­ sogar als eine ihrer höchstentwickelten Formen angesehen werden kann. Eine solche Position gerät leicht in den Ve r­ dacht, bildungspolitisch restaurative Tendenzen zu unter­ stützen, wie sie zuerst von konservativer Seite durch den Kongreß "Mut zur Erziehung" in die Diskussion gebracht und auch von sozialdemokratischer Seite aufgenommen wurden. Dies liegt mir fern. Ich mache auch keinen Ve r­ such, Wertkonservatismus als eine Auffangposition gegen­ über einem davon abzugrenzenden Strukturkonservatismus zu interpretieren. Ich betrachte Werte in der Erziehung nicht als Selbstverständlichkeiten, zu denen man bloß zurückzu­ kehren hätte, und das Wertsystem unserer Zivilisation nicht als etwas Statisches, einen Traditionsbestand, der unverän­ dert verfügbar wäre. Ich versuche, Zivilisation im Sinne von Elias2 als einen vielfältige Widersprüche einschließenden Prozeß zu begreifen, der noch keineswegs zum Abschluß gekommen ist oder einen Stand erreicht hätte, mit dem wir uns zufrieden geben könnten. Ich möchte allerdings gerade auf dieser Grundlage deutlich machen, daß es nicht genügt, die konservative Okkupation der Diskussion über Werte­ und Moralerziehung zu beklagen, ihre Instrumentalisierung für partikulare Zwecke zurückzuweisen und sich auf eine vermeintlich wissenschaftliche wertrelativistische Position zurückzuziehen. Ich werde im folgenden zunächst meine Abgrenzung gegenüber wertkonservativen und wertrelativen Positionen erläutern und danach in vier Schritten versuchen, Strukturmerkmale des tatsächlich im Zivilisationsprozeß vor sich gehenden Wertwandels nachzuzeichnen, um daraus schließlich einige Folgerungen für die Diskussion über Wer­ te in der Erziehung zu ziehen.

1. Wertkonservatismus und Wertrelativismus als Verzicht auf eine angemessene Diskussion über Werte Viele Argumente, die gegen die konservative Position in der Diskussion über Werte in der Erziehung angeführt werden können, sind in dieser Zeitschrift und an anderer Stelle be­ reits dargestellt worden.3 Ich brauche sie nicht zu wiederho­ len. Für zentral halte ich den Einwand, daß der konservative Wertekatalog äußerst vage gehalten und wenig präzise auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik, 1 2 3

Dieser Beitrag würde veröffentlicht in: Bildung und Politik (Hrsg. Peter Glotz) Heft 12, 1980, Bonn Norbert Elias: Über den Pro zeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Zwei Bände, Frankfurt/Main, 1976 s. Bildung und Politik Heft 3 und 7/80 sowie die Gegenthesen zu den Thesen des Kongresses Mut zur Erziehung" aufgestellt von Teilnehmern des 6. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissen­ schaft

insbesondere die Erziehungsverhältnisse bezogen erscheint. Die im einzelnen durchaus treffende Kritik an sozialwissen­ schaftlichen Artefakten in der Erziehungs- und Unterrichts­ praxis wird zur Verdrehung, wenn dadurch suggeriert wird, kritische Didaktik und linke Unterwanderung des Schulsy­ stems seien die Ursache für Erscheinungen der Bindungslo­ sigkeit, Resignation und Verzweiflung in der Jugend. Die konservative Position abstrahiert nicht ohne Grund von der realen Entwicklung der Bildungsverhältnisse, der tiefgreifenden Veränderung der sozialen Zusammensetzung der Teilnahme an weiterführenden Bildungsgängen. Sie zielt ja auf die Zurückdrängung dieser Entwicklung, die sich in den Bildungsreformansätzen der letzten zehn Jahre in der BRD Ausdruck verschaffte. Da diese Intention jedoch nur mit strukturrevidierender Gewalt an den Intentionen der großen Mehrheit der Bildungsteilnehmer vorbei durchge­ setzt werden könnte, verschiebt sich der verbale Angriff auf die Wert- und Wissenschaftsorientierungen der Reformer. Indem diesen die Schuld für ungeplante Folgeprobleme der Bildungsexpansion unterschoben wird, kann zugleich von der problemverschärfenden Wirkung des Festhaltens an tradierten Strukturen (z. B. Dreigliedrigkeit des Schulwe­ sens) abgelenkt werden. Es ist richtig, der konservativen Position entgegenzutre­ ten mit der Frage, welche Werte die Schule in ihrer gegen­ wärtigen Verfassung überhaupt vermitteln kann. Wo Schule im Lebensprozeß des einzelnen keine sinnvolle Perspektive aufweist, dürfte es ziemlich vergeblich sein, solchen Sinn durch Wertpostulate im Unterricht substituieren zu wollen. Werteerziehung ist Augenwischerei, wo die Schule in Wirk­ lichkeit einen ganz anderen als den didaktisch vorgegebenen Sinn lehrt: nämlich Konkurrenz um jeden Preis oder die Aufgabe aller Bildungs- und Berufsaspirationen. Dieses "versteckte Curriculum" schulischer Moralerziehung ist aufzudecken - d. h. auch für die Betroffenen selbst bewußt zu machen, mit Schülern zu diskutieren - bevor darüber diskutiert werden kann, zu welchen Werten erzogen werden soll. Dahinter steht die Frage, ob die Schule sich verändern­ den gesellschaftlichen Verflechtungsstrukturen anpassen, also entsprechende Orientierungen vermitteln kann oder ob sie - gebunden an die Strukturen, aus denen heraus sie sich entwickelte, - daran scheitert, die neuen Orientierungen zu verallgemeinern und zu stabilisieren. Jede Analyse der Folgeprobleme der Bilduingsexpansion muß zugleich den irrealen Charakter der konservativen Wertpostulate erweisen. Ich habe das in dieser Zeitschrift in gewissem Umfang bereits an dem Thema Elternrechte zu zeigen versucht.4 Die Bildungsexpansion verändert tiefgrei­ fend die gesellschaftlichen Voraussetzungen für das Zu­ sammenwirken vonElternhaus und Schule. Nicht nur der klassische Dualismus des Sozialisationssystems löst sich auf, sondern alle jene lebensgeschichtlichen Orientierungen, die auf klassenspezifisch beschränkten Bildungschancen basieren, lösen sich auf in tendenziell universeller Bildungs­ konkurrenz. Die Diskussion über Werte in der Erziehung muß m. E. - ähnlich wie die Diskussion über Elternrechte, die auch zunächst von konservativer Seite okkupiert wurde ­ begriffen werden als Bestandteil der Suche nach neuen Wertorientierungen, und zwar nach solchen, die sowohl präziser bestimmbar als auch universeller geltungsfähig sind als diejenigen, die der konservative Wertekatalog aufführt. 4

Klaus Gilgenmann (1979) Die Erwärmung des schulischen Binnenklirnas. Thesen über Möglichkeiten und Grenzen von Eltembeteiligung im öf­ fentlichen Schulwesen. Bildung und Politik, Heft 7 und 10/ 79


K.Gilgenmann: Wertwandel und Erziehung Um die Suche nach neuen Wertorientierungen interpr e­ tieren zu können, halte ich es für erforderlich, etwas weiter auszuholen, als dies zur Betrachtung der Folgeprobleme der Bildungsexpansion i. e. S. erforderlich scheint. Ich werde im folgenden einige Strukturmerkmale des langfristigen Wert­ wandels skizzieren. So kann etwa am Wandel der Einstel­ lungen zur Anwendung körperlicher Gewalt - im Innern der Gesellschaften wie in ihren Außenbeziehungen - bereits erkennbar werden, wie irreal und damit gefährlich eine Posi­ tion wirken kann, die sich einerseits gegen das Bewußt- und Fähigmachen zum Austragen von Konflikten als Aufgabe der Schule sperrt und andererseits auf "die Liebe zur Heimat und dem Vaterland" als soziale Integrationsfaktoren bauen will. Es gehört zu den Grundmustern konservativer Rhetorik, das ständige Infragestellen von Werten als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu deuten und eine Schule, die dies Infragestellen zum didaktischen Prinzip erhebt, für alle möglichen Zerfallerscheinungen verantwortlich zu ma­ chen. Nun hat demgegenüber die Sozialisationsforschung gezeigt, daß die Vermittlung von moralischen Werten kaum möglich wäre, ohne daß bestimmte Wertorientierungen individuell in Frage gestellt werden. Ohne diese Möglichkeit müßte die Moralentwicklung auf der entwicklungspsycholo­ gisch niedrigen Stufe der Introjektion von äußerlichen Zwängen stehen bleiben (dazu mehr in Punkt 6). Die Mö g­ lichkeit zur Kritik, d. h. auch bewußten Ablehnung bestimmter Werte muß demnach auch in der Schule einge­ räumt werden. Es wäre vermutlich der Verfassungswirklich­ keit der BRD keineswegs förderlich, wenn die Werte unse­ rer Verfassung davon institutionell ausgenommen blieben. Andererseits genügt es nicht, dem konservativen Werte­ konzept für die Schule mit dem Hinweis auf die Wertoffen­ heit unserer Verfassungsordnung entgegenzutreten und sich auf eine "offene wissenschaftlich kritische Diskussion" über Werte und Moral zurückzuziehen.5 Die Relativierung tra­ dierter Wertvorstellungen durch wissenschaftliche Kritik ist notwendig und kann heilsam sein angesichts ihres demago­ gischen Mißbrauchs. Vor der Frage, welche Werte konsens­ fähig sind, wie tradierte Werte zu interpretieren wären, da­ mit sie heute konsensfähig sein können, und welche neuen Wertorientierungen zu unterstützen wären, darf sich kein Erzieher und keine Erziehungsinstitution unter Ve rweis auf das Ethos der Wissenschaftlichkeit drücken. Ungewollt politische "Vemebelung" betreibt doch auch, wer sich gegen konservative Werte- und Moralerziehung wendet und nicht sagt, welche Wertorientierungen an deren Stelle treten können, wer also suggeriert, daß durch die Kritik der obsoleten Orientierungen allein der soziale Zu­ sammenhalt oder gar humanere Formen des Verkehrs zwi­ schen Menschen und zwischen Mensch und Natur ermö g­ licht würden. Sofern die Gründe zur Ablehnung einer Wert­ orientierung in einem realen Konflikt bestehen, der im Rahmen dieser bestimmten Orientierung nicht lösbar er­ scheint, muß es auch möglich sein, Bedingungen anzugeben, unter denen dieser Konflikt lösbar wäre und damit neue Orientierungen zu entwickeln. In dem Verzicht auf diese intellektuelle Anstrengung erweist sich der versteckte Ko n­ servatismus des Wertrelativismus. Der Rückzug auf die 5

s. Briese, Claußen, Heitmeyer, Klönne, Wallraven: Aufruf: Gegen die Vernebelung politischer Bildung durch Werte- und Moralerziehung. In Bildung und Politik Heft 7/80

2 Position der Wertekritik wird dadurch folgenschwer, daß dem "versteckten Curriculum" moralischer Erziehung, dem in der Schule institutionalisierten Konkurrenzkampf, das Feld Überlassen wird. Erst hierdurch entsteht das Vakuum, das spürbare Defizit einer bewußten Werte- und Moralerzie­ hung, die den konservativen Vorstoß ermöglicht. Die wertrelativistische Position legitimiert sich nicht nur durch einen restriktiven Wissenschaftsbegriff, der die Ent­ scheidung über Werte in den vor- oder außerwissenschaftli­ chen Bereich - (sei es als Privatsache, sei es als Sache des Gesetzgebers) - verweist. Es gibt andere Spielarten des Wertrelativismus, die sich auf den Vergleich der Wertvor­ stellungen in verschiedenen Gesellschaftsforrnen und Kultu­ ren berufen. Die Radikaleren unter ihnen suchen die Lösung von Problemen unserer Gesellschaft im Rückgriff auf die Mittel und Werte vergangener oder unterdrückter Kulturen. Es ist ein Verdienst dieser Theorien, daß sie den Preis be­ wußt machen, der für die Entwicklung der europä­ isch-abendländischen Zivilisation gezahlt werden mußte, das Opfer an Glück und potentieller Lebenserfüllung, das jeder Einzelne - je nach seiner sozialen Stellung - noch heu­ te in ihr zu erbringen hat. Daraus könnte theoretisch auch die Aufgabe abgeleitet werden, die sich der Zivilisation stellt, nämlich die der Versöhnung mit den bisher unter­ drückten Seiten menschlicher Möglichkeiten und Leiden­ schaften. Tatsächlich erliegen diese Theorien jedoch der Faulheit, sich mit der Entdeckung der unterdrückten Seite zufrieden zu geben und die Heilung aller Wunden ge­ schichtslos aus der Wiederherstellung alter Verhältnisse oder der Abschaffung zivilisatorischer Errungenschaften zu erwarten. Dies gilt z. B. für die sozialgeschichtliche Betrachtung der modernen Familie, der Schule, der Kindheit, also jener sozialen Beziehungsstrukturen, die der wissenschaftlichen Befassung mit Erziehung vorangingen. Der Wertrelativismus ist - ebenso wie der Wertkonserva­ tismus - eine Erscheinung, die in Phasen des gesellschaftli­ chen Obergangs und der Suche nach neuen Wertorientierun­ gen auftritt. Auf dem Hintergrund langfristiger Entwicklun­ gen betrachtet, erscheinen Wertrelativismus und Wertkon­ servatismus nur als zwei verschiedene Arten, dem Problem der Formulierung eindeutig gegenwartsbezogener Moral­ prinzipien auszuweichen. Nicht nur zeigt sich der Wertrela­ tivismus als konservativ, wenn er das Feld der moralischen Erziehung faktischen Zwängen überläßt. Der Wertkonserva­ tismus andererseits erweist sich als relativ, da er doch seine Normen unhinterfragt aus dem jeweils verfügbaren, tatsäch­ lichen Veränderungen unterworfenen Traditionsbestand entnimmt. Beide Positionen dispensieren sich von der Arbeit der Neubestimmung von Werten, die sich nicht trennen läßt von der Untersuchung der sich verändernden Bedingungen, unter denen Menschen sich orientieren müssen. Jeder Versuch einer wissenschaftlichen Mitarbeit an der Neubestimmung von Werten tut gut daran, sich langfristige Entwicklungen zu vergegenwärtigen. Die Betrachtung des Wertwandels in der Geschichte wäre allerdings nutzlos, wenn dadurch nur die Relativität aller Werte bestätigt wür­ de, wenn sich kein Zusammenhang z. B. zwischen hö­ fisch-aristokratischen, bürgerlichen und heutigen Wertorien­ tierungen feststellen ließe. Dabei braucht es andererseits nicht um die Suche nach "ewigen" Werten zu gehen. Um eine Entwicklung zu begreifen, ist es nicht notwendig, nach Konstanten zu suchen. Es genügt, daß sich eine Richtung erkennen läßt in der Art, wie sich die Veränderungen voll-


K.Gilgenmann: Wertwandel und Erziehung ziehen, um daraus nützliche Folgerungen für die Orientie­ rung in der Gegenwart ziehen zu können. Es zeigt sich bei solcher Betrachtung, daß Gesellschaften wie Individuen ihren Zusamnienhalt und ihre Identität nur wahren können, indem sie sich weiterentwickeln. Dies gilt nicht nur für die wirtschaftsstrukturelle Dimension von Gesellschaften - wo dies, wenngleich in sehr verengter Auslegung, heute auch Konservative annehmen - sondern gerade auch für deren moralische Dimension, in der Suche nach Wertorientierun­ gen und ihrer Verallgemeinerung.

2. Staatliches Gewaltmonopol, gewaltfreie Konkur­ renz und Entwicklung des Selbstzwangs Gesellschaftlicher Wertwandel wird gewöhnlich nicht wahr­ genommen, weil neue Orientierungen als Wertvorvorstel­ lungen überhaupt erst wahrgenommen werden, wenn sie ­ zumindest in einer modellgebenden Schicht - bereits als selbstverständlich gelten. Es erscheint daher nicht unange­ bracht, in der Darstellung des Wertwandels mit einer Vo r­ stellung zu beginnen, die bis heute nicht uneingeschränkt als selbstverständlich gelten kann: ich meine die Wertvorstel­ lung von der Gewaltfreiheit in den menschlichen Beziehun­ gen. Vielen erscheint die Geschichte als eine unerschöpfli­ che Quelle von Belegen für die These, daß es nicht ohne Gewalt abgeht, wenn etwas Altes verteidigt oder etwas Neu­ es erreicht werden soll. Und doch läßt sich zeigen, daß die Ächtung der Gewalt in den menschlichen Beziehungen ­ zuerst in den Beziehungen im Inneren, dann auch im Äuße­ ren der Gesellschaften - ständig zugenommen hat. Das Ve r­ hältnis von Gewalt und Gewaltfreiheit ist ein Grundthema in dem theoretischen Ansatz von Norbert Elias, die Entwick­ lung der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen in den europäisch-abendländischen Gesellschaften der letzten vier- bis fünfhundert Jahre als eine "gerichtete" Entwick­ lung, als "Prozeß der Zivilisation" zu interpretieren.6 Ausgangspunkt für die Entstehung einer Sphäre -ewaltfreier Interaktion im europäischen Zivilisationsprozeß ist das, was Elias den Monopolmechanismus nennt: die Bildung von stabilen Herrschaftszentren, Organen der Ge­ sellschaft, die die freie Verfügung über Mittel zur körperli­ chen Gewalt einschränken und als polizeilich-militärische Machtmittel monopolisieren. Die Entstehung von Gewalt­ monopolen geht einher mit der Ausbreitung der Geldwirt­ schaft und der Monopolisierung der Steuerabgaben. Die militärische und die wirtschaftliche Seite der Monopolstel­ lung bestärken sich wechselseitig und drängen allmählich die zentrifugalen Tendenzen der Feudalgesellschaften zu­ rück, die auf der unmittelbaren Herrschaft von Kriegern über Bauern, der überwiegend geldlosen Bodenwirtschaft basierten. Das Steuer- und Gewaltmonopol wird zu einer 6

In Elias Werk "Ober den Prozeß der Zivilisation" findet sich eine wesent­ lich anschaulichere und komplexere Darstellung von Mechanismen, die den Prozeß der europäisch-abendländischen Zivilisation bestimmen, als hier wiedergegeben werden kann. Zwar hat Elias diesen Prozeß differen­ ziert nur an der Entwicklung der europäischen Adelsschichten und des absolutistischen Staates verfolgt, er hat jedoch an vielen Stellen deut­ lichgemacht, daß die an deisem Material entwickelten Prinzipien eine weit darüber hinausgehende Geltung beanspruchen können. Ich verfolge hier unter dem eingeschränkten Aspekt der Erziehung auch die Frage, inwiefern diese Prinzipien zum Verständnis von Entwicklungen verhel­ fen können, die Elias - 1936 - noch gar nicht überblikken konnte. Selbst­ verständlich hat die vorliegende Skizze im Hinblick auf die Beantwor­ tung dieser Frage nur den Charakter eines vorläufigen Programms, das der weiteren Ausführung bedarf.

3 dauerhaften Erscheinung, zum Kristallisationskern der mo­ dernen Staatenbildung, mit der Herausbildung eines diffe­ renzierten Herrschafts- und Verwaltungsapparates, dem sich sukzessive weitere Monopole angliedern. Im Innern der durch ein Herrschaftszentrum zusammengefaßten Gesell­ schaftseinheiten entwickelt sich eine stärkere Funktionstei­ lung und damit stärkere Abhängigkeit der Menschen vo n­ einander und von der Erhaltung des ganzen Systems. In der Nähe des Herrschaftszentrums, wo die gesellschaftliche Verflechtung am höchsten ist, werden die Handlungsketten länger. Zurückhaltung der Affekte und Ablösung der Hand­ lung vom Augenblicksimpuls werden zur Erfolgsbedlingung in der höfischen Gesellschaft. Die Konkurrenz um Macht­ und Lebenschancen wird bestimmten Regeln unterworfen, ohne die die Aufrechterhaltung eines arbeitsteiligen Systems nicht möglich wäre. Die Gewalt verschwindet nicht aus den menschlichen Beziehungen, doch treten mehr und mehr gesellschaftliche Zwänge an ihre Stelle. Mit der Stabilisie­ rung des politischen Gewaltmonopols findet einerseits eine Verschiebung der kriegerischen Anwendung von Gewalt in die Außenbeziehungen der intern pazifizier ten Gesellschaftseinheiten statt und andererseits ihre Verwandlung in polizeiliche Gewalt zur Einhaltung der Verkehrsregeln in den inneren Beziehungen. Je geringer deren gesellschaftlicher Verflechtungsgrad, desto umfassen­ der sind zunächst die Aufgaben der Polizei und all jener Anstalten, die sich mit der Aussonderung und gei­ stig-moralischen Besserung von Menschen befassen, deren Verhalten nicht oder noch nicht dem herrschenden Standard entspricht: Gefängnisse, Irrenhäuser und Schulen. Die Ent­ stehungsphase dieser modernen Institutionen mag aus heuti­ ger Sicht als eine Phase enoriner Gewaltsamkeit erscheinen, die bis heute darin nachwirkt. Wir können diese Sicht je­ doch nur entwickeln, weil wir gesellschaftliche Zwänge bereits verinnerlicht haben, die zu dieser Zeit noch gar nicht existierten. Andererseits verführt diese Sicht dazu, die Ge­ waltsamkeit jener feudalen Kriegergesellschaften zu unter­ schätzen, die durch die Entstehung moderner Staatengebilde abgelöst wurden. Die Herausbildung einer psychischen Selbstzwangappa­ ratur, wie sich sich in der Folgezeit ausbreitete, hat die Sta­ bilisierung des politischen Gewaltmonopols zur Vorausset­ zung. Diese Voraussetzung ist nicht zu verstehen als platte Abbildung oder Introjektion der Staatsgewalt im Seelen­ haushalt der Menschen. Erst die gesellschaftliche Verflech­ tung, die Entwicklung des gesellschaftlichen Zwangs zum Selbstzwang in einer Sphäre menschlicher Beziehungen, die von unmittelbarer Gewaltandrohung frei ist, ermöglicht eine allmähliche Umfonnung des Sozialcharakters im Sinne zunehmender, kognitiver und moralischer Selbststeuerung des Verhaltens. Die dafür nötige Entwicklung rationalen Denkens, Differenzierung der Fremd- und Selbstwahrneh­ mung des Menschen und seiner sinnlichen Eindrucksfähig­ keit, ist nicht möglich ohne Schutz vor der physischen Überwältigung oder Vernichtung, vor dem unvorhersehba­ ren Einbruch irregulierbarer Ängste, wie sie die menschliche Existenzweise im Mittelalter durchsetzten. Der Prozeß der Zivilisation setzt voraus, daß anstelle der irregulierbaren gesellschaftlich regulierte Ängste treten. Der Preis für die­ sen Sicherheitsgewinn besteht in der Internalisierung der Ängste und damit all jene n ambivalenten Gefühlslagen, die aus der Selbstunterdrückung von Bedürfnissen entstehen


K.Gilgenmann: Wertwandel und Erziehung und sich der bewußten Selbstregulierung des Individuums noch entziehen. Das Wertsystem ist nur der bewußte Teil jener Ersche i­ nungsforinen des Zivflisationsprozesses, die sich auf seiten der Subjekte, in den einzelnen Individuen niederschlagen. Dieser bewußte Teil ist jedoch nicht zu trennen von der psychischen Modellier-ung, den Veränderungen im Trieb­ haushalt, die den Einzelnen nicht bewußt werden. Solange der unbewußte Teil dieser Veränderungen noch hoch ist, erscheint das Wertsystem ziemlich statisch. Es verändert sich umso rascher, je höher der Anteil nicht nur der interna­ lisierten Zwänge sondern auch der bewußten Selbststeue­ rung im gesellschaftlichen Verhalten ist. Das Wertsystem ist also nicht zu verstehen als bloßes "Überbau"-Phänomen, unterhalb dessen sich die relevanten sozialen Veränderun­ gen vollziehen.

3. Versachlichte Herrschaft, Konkurrenz der Priva­ tei gentürner und Polarisierung der Lebenswelt Mit der Transformation eines Teils des europäischen Schwertadels zur sozialen Oberschicht, der höfischen Ge­ sellschaft, entsteht ein neuer Verhaltensstandard, der sich durch seine psychologische Verfeinerung nicht nur gegen­ über den Verhaltensstandards der alten kriegerischen Ober­ schichten und allen anderen Schichten sozial abhebt, son­ dern zugleich als das adäquate Verhalten in der Konkurrenz um soziale Stellungen im Machtgefüge des absolutistischen Staats erscheint. Er wird eben dadurch zum Modell für auf­ stiegsorientierte Teile des Bürgertums, die sich an dieser Konkurrenz zu beteiligen suchen. Nach Errichtung des staat­ lichen Gewaltmonopols findet die Entwicklung sozialer Auseinandersetzungen auf zwei Ebenen statt: Auf der Ebene der durch den absolutistischen Staat geregelten Konkurrenz, d. h. hier der Konkurrenz ständischer Organisationen, und auf der Ebene der Konkur­ renz um den Einfluß auf das Herrschaftszentrum selbst. Die sozialen Kämpfe gehen nicht mehr - wie im ganzen Mittelal­ ter - um die Beseitigung des Herrschaftsmono pols über­ haupt, sondern um die Frage, wer über die Monopolappara­ tur verfügen, woher sie sich rekrutieren, wie ihre Lasten und ihr Nutzen verteilt werden sollen. Über den Ausgang dieser Auseinandersetzung entscheiden Verschiebungen in den sozialen Kräfteverhältnissen, die sich in langfristigen Pro­ zessen jenseits der etablierten Regeln der Konkurrenz erge­ ben. Solange der Ausgang nicht entschieden ist, passen sich die aufsteigenden Schichten den Regeln der alten Regirnes und den Verhaltensstandards der alten Oberschichten an. Es entsteht jener zwiespältige Sozialcharakter von Aufsteigern, der von dem Gefühl durchsetzt ist, das Ideal nur schlecht zu kopieren. Sobald jedoch das Bürgertum zur herrschenden Schicht geworden ist, entwickelt sich auch das Bewußtsein von den spezifischen Grundlagen, denen es seinen Aufstieg verdankt. Die Wertvorstellungen der Aufgestiegenen ve r­ binden sich mit denen der alten Oberschicht. Deren Mitglie­ der passen sich den neuen Vorstellungen an oder steigen ab. Das Wertsystem wandelt sich. Mit dem Bürgertum wird zum ersten Mal in der Ge­ schichte eine soziale Gruppierung zur Herrschenden, die ihren Aufstieg nicht primär kriegerischen oder priester­ lich-religiösen - Kompetenzen sondern ihrer wirtschaftli­ chen Kraft, dem Gelderwerb und produktiver Arbeit ve r­ dankt. Damit unterhöhlt sie das Kräftegleichgewicht der Stände und löst deren kollektive Erwerbsmonopole sukzes­

4 sive auf zugunsten eines offeneren Marktsystems, in dem allein die individuelle Tüchtigkeit über den wirtschaftlichen Erfolg entscheiden soll. Die zugleich individualistische und egalitäre Leistungsmoral konstituiert das spezifische Selbst­ bewußtsein des aufsteigenden Bürgertums und ihre Polemik gegen die alten Oberschichten als Müßiggänger und Parasi­ ten. Die freie Konkurrenz der Privateigentümer ist allerdings nicht so frei, daß sie nicht der Absicherung ihrer Vorausset­ zungen durch ein staatliches Gewaltmonopol bedürfte. Dazu bedarf es . der Umforrnung des absolutistischen Staatsappa­ rates, der weitgehend noch Züge persönlicher und damit unberechenbarer Herrschaft trägt, die sich mit den Sachge­ setzlichkeiten einer kapitalistischen Erwerbswirtschaft nicht verträgt. Zur Versachlichung der Herrschaft wird einerseits die Aneignung der Ämter im Herrschafts- und Verwaltungs­ apparat qua persönlicher Abstammung zugunsten von Bil­ dungsund Beamtenlaufbahnen abgeschafft - und damit auch hier dem Prinzip der individuellen Tüchtigkeit zum Durch­ bruch verholfen, - werden andererseits vielfältige institutio­ nelle, parlamentarische und rechtliche Kontrollen der Staatsmacht geschaffen. Die bürgerliche Gesellschaft teilt sich in eine Sphäre, die durch die Staatsmacht reguliert wird und eine andere Sphäre, in der der Staat sein Recht verliert und das vermeintlich natürlichere Recht in den Gesetzen des Marktes und der individuellen Tüchtigkeit zum .Durchbruch kommt. Das Bürgertum nimmt den in der höfischen Gesellschaft entwickelten Standard zivilisierten Verhaltens zwar in ihr Wertsystem auf, sie entwickelt ihn jedoch auf einer anderen Ebene weiter. Gemessen an der psychologischen und litera­ rischen Verfeinerung der Sitten stellt der Aufstieg bürgerli­ cher Schichten eine Lockerung der Selbstzwänge dar. Dies bedeutet jedoch keineswegs einen Rückgang des gesell­ schaftlichen Zwangs zum Selbstzwang und zur Langsicht überhaupt. Die bürgerliche Gesellschaft bildet ein viel um­ fassenderes und dichteres System wechselseitiger Abhän­ gigkeiten zwischen den Menschen und vom System insge­ samt als die höfische Gesellschaft. Einerseits wird das Zen­ tralmonopol über körperliche Gewalt beibehalten und noch perfektioniert, andererseits wird die Verfügungsgewalt über Sachen weitgehend dezentralisiert. Das bürgerliche Berufs­ und Erwerbssystem setzt gesellschaftliche Verflechtung primär über sachliche, nicht persönliche Beziehungen Im Zentrum dieses Systems steht die Beziehung zwischen kapi­ talistischem Produktionsmitteleigentum und lohnabhängiger Arbeit, die die Entwicklung einer von der pysischen Natur des Menschen weitgehend entkoppelten Technologie zur Beherrschung der äußeren Natur und eine gesellschaftlich erweiterte Reproduktion seiner Lebensmittel und -bedürfnisse ermöglicht. Dieses gesellschaftliche System verlangt ein Muster der Verhaltenssteuerung und Triebmodellierungl das die gesell­ schaftlichen Zwänge in weit höherem Maße zu internalisie­ ren erlaubt, als dies in der höfischen Gesellschaft der Fall war. Es zielt auf die Entwicklung einer psychischen Struk­ tur, die die Selbststeuerung des Verhaltens in der Weise übemimmt, daß sozialer Erfolg oder Mißerfolg gar nicht mehr in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit gesehen son­ dern unmittelbar dem eigenen Verhalten zugeschrieben wird. Die bürgerliche Leistungsmoral setzt das Maß des Selbstzwangs so hoch an, daß dieses Wertsystem selbst von den Mitgliedern der herrschenden Schicht kaum überzeu­ gend repräsentiert werden könnte, hätte sie nicht anderer-


K.Gilgenmann: Wertwandel und Erziehung seits einen gesellschaftlichen Mechanismus entwickelt, der diesen Druck erträglicher zu machen geeignet ist: Das ist die Differenzierung der Wertorientierungen entlang verschiede­ ner Sphären des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs. Die höfische Gesellschaft kannte nur einen wesentlichen Unterschied der Orientierungsmuster, nämlich den zwischen den immer nur beschränkt pazifizierbaren Außenbeziehun­ gen und den durch das Herrschaftsmonopol geregelten In­ nenbeziehungen. Im Innern der pazifizierten Gesellschafts­ einheiten wiederholte sich auf allen Ebenen nur der sta­ tisch-hierarchische Aufbau des Herrschaftszentrums bis hin zur Stellung der Geschlechter und Generationen im Famili­ enverband. Die bürgerliche Gesellschaft löst statische Hier­ archien auf und differenziert sich neu auf der Grundlage getrennter Lebenssphären. Die zugleich eglitären und indi­ vidualistischen Prinzipien der bürgerlichen Leistungsmoral gelten zunächst nur für die Sphäre der wirtschaftlichen Konkurrenz, im Verkehr der Privatleute. Dies bedeutet nicht nur eine Abgrenzung gegenüber jener öffentlichen Sphäre, in der Staat und Politik existieren. Die Prinzipien der Chan­ cengleichheit und des Individualismus verlieren ihre Gel­ tung auch jenseits des Verkehrs der Privatleute, eben in ihrer Privatsphäre selbst. Dies gilt in besonderer Weise für die bürgerliche Familie. Die besondere Bedeutung der bürgerlichen Familie für die Triebmodellierung und Verhaltenssteuerung des bürger­ lichen Sozialcharakters besteht zunächst darin, daß sie sich aus dem gesellschaftlichen Verflechtungszusammenhang herauslöst und intern ganz andere Orientierungen kultiviert, als außerhalb gelten. Nicht Gleichgültigkeit der Person und rücksichtslose Interessenwahrnehmung bestimmen die Be­ ziehungen in der Familie, sondern persönliche Bindung und affektivdiffuse Solidarität. Ebendies macht sie zu einer Le­ benswelt, in der der bürgerliche Privatmann sich von den Anstrengungen des Konkurrenzkampfs, einschließlich der entsprechenden Selbstzwänge, erholen kann. In der bürger­ lichen Familie wird auch die traditionelle Hierarchie in den Beziehungen der Geschlechter und Generationen nicht ein­ fach übernommen, sondern zu einer historisch wohl einma­ ligen Polarisierung der Geschlechts- und Generationsrollen weiterentwickelt. Hier entwickelt sich das Ideal der nichtar­ beitenden Hausfrau, deren Funktionen sich auf die Kultivi e­ rung der innerhäuslichen Beziehungen und die Repräsenta­ tion des privaten Reichtums in der Gepflegtheit ihres Äuße­ ren beschränken. Durch Nichtarbeit folgt die bürgerliche Frau zwar nur dem Beispiel aller bis dahin herrschenden Klassen, die in der Befreiung von niederen Tätigkeiten ihre Macht und ihren Reichtum darstellten. Aber dieses Verhal­ tensmuster bisheriger Oberschichten steht ja im strikten Gegensatz zur Selbstdarstellung und Herrschaftslegitimation des Bürgertums insgesamt. Es stellt also eine Differenzie­ rung im dominanten Wertsystem dar, die zur Polarisierung der Geschlechtsrollen beiträgt. Eine ebenso wichtige Diffe­ renzierung ergibt sich in den Generationsrollen. Für die LebensWelt der bürgerlichen Familie geradezu konstitutiv wird die Polarisierung zwischen Erwachsenen und Kindern. Kindheit wird zum Inbegriff aller menschlichen Eigenschaf­ ten, Bedürfnisse und Triebäußerungen, die aufgrund des gesellschaftlichen Zwangs zum Selbstzwang in der bürgerli­ chen Gesellschaft ansonsten keinen Raum mehr haben. Erst die Zentrierung der bürgerlichen Familie um Kinder macht die Familie zur Innenwelt gegenüber einer davon insgesamt zu unterscheidenden Außenwelt.

5 Die Entstehung der Kindheit als eine in spezifischer Weise von gesellschaftlichen Zwängen verschonte Lebens­ sphäre wäre nicht möglich gewesen ohne die Existenz von Institutionen, die die gesellschaftliche Differenz zwischen Kindheit und Erwachsenheit wieder-um zu überbrücken geeignet sind, die Schulen. Kindheit entsteht allerdings nicht durch die institutionelle Aussonderung einer Lebensphase aus dem Lebenszusammenhang aller Altersstufen in der mittelalterlichen Gesellschaft, wie Aries7 suggeriert, sondern aus dem Abstand zwischen der Triebherrschung, die auf der psychischen Entwicklungsstufe von Kindern möglich ist, und jenen gestiegenen Anforderungen der Triebmodellie­ rung, die sich in den Wertorientierungen des Bürgertums ausdrücken. Die disziplinierende Funktion der Schule ent­ springt nicht bloß den moralischen Zwangsvo rstellungen einiger pädagogisch arnbitionierter Kirchenreforrner son­ dern hat ihr sinnfälliges Vorbild in den erfolgreichen Ve r­ haltensmustern des aufsteigenden Bürgertums. Die Schule wird schon in der ständisch-absolutistischen Gesellschaft zu einem Synonym für die Befreiung aus traditionellen Zwä n­ gen, weil über schulische Bildung - die über die Tradierung des Produktionsmittelwissens zwischen Eltern und Kindern hinausgeht - jene Öffnung der Lebensperspe ktiven flür den bürgerlichen Nachwuchs erfolgte, die erst die traditionelle Privilegierung des Erbsohns und die Erbfolgespannungen zwischen den Generationen abzumildern erlaubte. Freilich konnte diese Perspektive nur auf der Grundlage der Expan­ sion jenes gesellschaftlichen Ve rflechtungszusammenhangs durchschlagen, die dem entsprechend gebildeten Nachwuchs immer neue Professionalisierungsmöglichkeiten erschloß. Die getrennten Lebenssphären von Elternhaus, Schule und Beruf schließen sich zum bürgerlichen Aufstiegs- und Sta­ tussicherungsmodell zusammen.

4. Sozialstaatliche Transformation der Lebenswelt, Bildungskonkurrenz und Aufstieg der Intelligenz Mit dem Bürgertum wird eine Klasse zur sozialen Ober­ schicht, deren Entwicklung in weit höherem Maße mit der Entwicklung der arbeitenden Unterschichten verflochten ist, als dies für vorbürgerliche Oberschichten der Fall war. Die spezifischen ökonomischen Verhältnisse, die die Macht des Bürgertums begründen, schließen eine Vergesellschaftung der Arbeit i. S. arbeitsteilig-kooperativer Zusammenfassung vieler Arbeitskräfte ein. Diese begründet mit der Möglich­ keit gemeinschaftlicher Arbeitsverweigerung eine Gegen­ macht der abhängig Arbeitenden, die innerhalb bestimmter Systemgrenzen die Verbe sserung ihrer Arbeits- und Le­ bensbedingungen durchzusetzen erlaubt. Mit der Verbesse­ rung der sozialen Lage der arbeitenden Unterschichten fin­ det auch eine Anpassung an die bürgerlichen Lebensformen statt: Aufgrund seiner selbständigen Einkommensquelle kann sich auch der Lohnarbeiter eine eigene Familie leisten - freilich bildet sie zunächst nur eine Notgemeinschaft zum überleben, in der alle Mitglieder ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Mit der Errichtung öffentlicher Volksschulen eröff­ net sich dem Lohnarbeiternachwuchs auch eine Bildungs­ laufbahn freilich zunächst nur im Rahmen der Pflichtschule, die ihn vor körperlicher und moralischer Verwahrlosung schützen und eine gewisse Mindestqualifikation garantieren soll. Sein Berufsleben vermittelt ihm keinen sozialen Status, 7

Philippe Ariés: Geschichte der Kindheit, München, Wien 1975


K.Gilgenmann: Wertwandel und Erziehung der Inhalt seiner Arbeit muß ihm weitgehend gleichgültig bleiben, sofern nur ein bestimmtes Einkommen gewährlei­ stet ist. Jene Differenzierung der Lebenswelt, die sich dem Bür­ gertum zur eigentumsstabilisierten Harmonie zusammen­ schließt, enthält für die Lohnabhängigen nur dissoziierte Formen, deren innerer Zusammenhang durch den Verlust der Arbeits- und Lebnsperspektive ständig bedroht ist. Sie bilden daher auch keine hinreichende Grundlage für die Verwandlung gesellschaftlicher Zwänge in Selbstzwänge, die entsprechende Aneignung des bürgerlichen Wertsy­ stems. Eine Stabilisierung und Verallgemeinerung der in der bürgerlichen Gesellschaft entwickelten Lebensformen für die abhängig arbeitenden Schichten wird erst durch eine ständig zunehmende staatliche Intervention in deren Le­ benszusammenhang ermöglicht. Gesetzliche Arbeitslosen-, Unfall-, Kranken- und Altersversicherung, staatliche Sozi­ al-, Familien- und Bildungspolitik bewirken eine Transforr­ nation der Lebenswelt, die innerhalb des bürgerlichen Wert­ systems stets nur als Ausnahme von den Regeln des bürger­ lichen Verkehrs, derTrennung von öffentlicher und Privat­ sphäre gelten, oder sogar als Verstoß gegen Leistungsprin­ zip und individuelle Freiheit gewertet werden kann. Dieser Transforrnationsprozeß hat allerdings langfristige Wirkun­ gen auf den gesellschaftlichen Verflechtungsmodus und das soziale Kräfteverhältnis im System der modernen Industrie­ gesellschaften überhaupt. In der Auseinandersetzung um Lebenschancen kann sich zwischen Bürgertum und abhän­ gig Arbeitenden solange keine soziale Kräfteverschiebung ergeben, wie sich diese Auseinandersetzung im wesentli­ chen auf die Sphäre der wirtschaftlichen Konkurrenz be­ zieht, der das Bürgertum seinen Aufstieg verdankt, und die Regeln dieser Konkurrenz weitgehend unangetastet bleiben. Da ein Verstoß gegen diese Regeln nicht nur die staatlich monopolisierte Gewalt herausfordert sondern auch die Ge­ fahr der Vernichtung der ökonomischen Grundlagen bein­ haltet, denen beide Klassen ihre Existenzsicherung verdan­ ken, verschiebt sich die soziale Auseinandersetzung auf andere Ebenen. Die für das gesellschaftliche Wertsystern folgenreichste Veränderung ergibt sich in der epochalen Verschiebung der sozialen Auseinandersetzung um Lebens­ chancen in der Bildungskonkurrenz. (Diese Ve rschiebung ist ja nicht nur in Industriegesellschaften zu beobachten, in denen das Bürgertum sich die politische Definitionsmacht über die Regeln der wirtschaftlichen Konkurrenz noch in gewissem Umfang bewahrt hat, sondern auch in jenen, in denen diese Macht an eine staatliche Planungs- und Verwal­ tungsbürokratie übergegangen ist.) Die Verschiebung der sozialen Auseinandersetzung ins Bildungswesen bietet ein Einfallstor für weiterreichende Transfonnationsprozesse, weil hier - im Unterschied zur Sphäre der wirtschaftlichen Konkurrenz die legitimatori­ schen Voraussetzungen der Konkurrenz sich nicht prinzipi­ ell abstrahieren lassen vom sozialen Lebenszusammenhang, in dem der einzelne seine Konkurrenzfähigkeit entwickelt. Der Kampf um Chancengleichheit im Bildungswesen ist von vornherein ein Kampf um die Regeln und Voraussetzungen, unter denen diese Konkurrenz ausgetragen wird. Obwohl sich Formen der Bildungskonkurrenz bereits im Aufstiegs­ kampf des Bürgertums um Stellungen im absolutistischen Staatsapparat finden, handelt es sich doch um einen Mecha­ nismus, der als eine zentrale Form der Auseinandersetzung

6 um Lebenschancen erst im 20. Jahrhundert seine volle Be­ deutung für den Zivilisationsprozeß erlangt. In allen bisher skizzierten Gesellschaftsformen hat die jeweilige Form der Konkurrenz um Macht- und Lebenschancen den stärksten Einfluß auf die Bildung des Sozialcharakters und die Trieb­ modellierung der herrschenden Schichten gehabt. Die Erzie­ hung zu bestimmten Werten ist ein Charakteristikum einer durch bestimmte Regeln gebundenen Konkurrenz. Die Er­ ziehung in der bürgerlichen Gesellschaft ist u. a. dadurch gekennzeichnet, daß sie der Austragung der Konkurrenz biographisch vorausgesetzt ist. Der Nachwuchs lernt die nötige Moral in Elternhaus und Schule, bevor er sich in der Konkurrenz bewähren muß. Diese Bedingungen des Auf­ wachsens ändern sich mit der Verschiebung der sozialen Auseinandersetzung um Lebenschancen in die Konkurrenz um Bildungschancen. Die Bildungskonkurrenz löst die Pola­ risierung der Generationsrollen im bürgerlichen Sinne auf: Einerseits werden bereits Kinder mit der Notwendigkeit konfrontiert, um Lebenschancen zu konkurrieren, wie dies zuvor nur Erwachsene taten. Andererseits entsteht ein sozia­ ler Druck zur zeitlichen Verschiebung der Entscheidungen in der Bildungskonkurrenz, der die Bildungslaufbahnen verlängert. Konkurrenzentscheidungen auf der Grundlage der psychischen Entwicklungsstufen von Kindern und Ju­ gendlichen werfen - zunächst als Folge der Einsicht in die Variationsbreite ihrer zeitlichen Abfolge - Legitimations­ probleme auf. Die Verlängerung der Bildungslaufbahnen bewirkt jedoch zugleich eine Ausdehnung der Lebensphase, in denen Menschen nicht als erwachsen, d. h. kompetent und selbst verantwortlich für ihre Handlungen gelten. Die Bil­ dungskonkurrenz tendiert nicht nur dazu, die Rolle der Kindheit sozial auszudehnen, sondern auch die Rolle der Erwachsenheit grundlegend zu verändern. Erwächsenenrol­ len sind bürgerlich zunächst und vor allem Berufsrollen. Mit der Teilnahmeexpansion an verlängerten Bildungslaufbah­ nen entsteht im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung ein Druck zur Ausdifferenzierung immer neuer Berufe für hö­ herqualifizierte Arbeit. Dieser Prozeß erfolgt jedoch nicht mehr nach dem Muster bürgerlicher Professionalisierung: es entstehen SemiProfessionen, die keine vollständige Mono­ polisierung des Berufswissens gegenüber ihrem Publikum mehr durchsetzen können. Der Prozeß der beruflichen Diffe­ renzierung produziert zugleich Wissensdiffusion, Alterna­ tivwissen und damit Entdifferenzierung. Wer sich einmal eine Berufsrolle angeeignet hat, kann sich nicht darauf ve r­ lassen, diese ein Leben lang ausüben zu können. Sozialer Erfolg wird zunehmend von der Bereitschaft abhängig, sich jederzeit erneut der Bildungskonkurrenz zu unterwerfen. Es zeichnet sich damit ein neuer Erwachsenentyp ab, dessen hervorragendste Eigenschaft gerade darin bestünde, jeder­ zeit so lernfähig aber auch so unselbständig wie ein Kind sein zu können. Die Bildungskonkurrenz verändert nicht nur die Genera­ tionsrollen, sie wird auch zu einem wichtigen Faktor der Veränderung der Geschlechtsrollen. Die Polarisierung der Geschlechtsrollen entlang der getrennten Sphären von Fami­ lie und Beruf löst sich auf mit der überproportionalen Teflnahme von Frauen an der Bildungsexpansion und der Zunahme konkurrenzfähiger Qualifikationen von Frauen auf den mittleren Stufen der Hierarchie gesellschaftlicher Ar­ beitsteilung und Einkommensverteilung. Mit zunehmender ökonomischer Unabhängigkeit der Frauen geht die Bedeu­ tung der Ehe als Vertragsbeziehung, die den Austausch


K.Gilgenmann: Wertwandel und Erziehung geschlechtsspezifisch ungleicher Leistungen regelt, zurück zugunsten einer rein subjektiven Orientierung an in ihr - als Lebenssphäre jenseits von Konkurrenzbeziehungen - ent­ wickelten Gefühlswerten. In den Geschlechtsbeziehungen wird nach einer egalitären Lösung der familiaren Versor­ gungs- und Erziehungsaufgaben gesucht. In der Nach­ wuchsorientierung spitzt sich der Vorrang qualitativer vor quantitativer Orientierung - der bereits in der bürgerlichen Lebenswelt die Kinderzahl reduzierte - dahingehend zu, daß die Entscheidung für Kinder überhaupt von einer Vielzahl außerfamilialer Bedingungen abhängig gemacht wird. Die Entwicklung des Kindes soll nicht darunter leiden, daß seine Eltern Opfer für es erbringen müssen, die deren subjektive Fähigkeiten mit Kindern umzugehen überfordert. Zuneh­ mend wird auch auf die Fixierung der Geschlechtsbeziehun­ gen in ehelicher Form überhaupt verzichtet, weil allein die Intensität der Gefühlsbindungen den Charakter der Bezie­ hung bestimmen soll . Die Familie als Lebensform wird gleichsam von innen heraus aufgelöst: durch Steigerung der in ihr entwikkelten Wertorientierungen, in der Verantwo r­ tung und Rücksicht auf die Entwicklung der Kinder, in den Liebes- und Glücksansprüchen in der Beziehung der Ge­ schlechtspartner. Die Bildungskonkurrenz wird zu einem zentralen Faktor der sozialen Transformation in den modernen Industriege­ sellschaften, weil durch sie - über die staatliche Intervention in den sozialen Lebenszusammenhang der abhängig Arbei­ tenden hinaus - vielfältig ungeplante Prozesse ausgelöst oder verstärkt werden. Die wichtigste Erscheinung in diesem Transformationsprozeß ist die Entfaltung der Aufstiegsbe­ dingungen einer neuen sozialen Schicht, der Intelligenz.8 Wie immer man ihre soziale Stellung in den entwickelten Industriegesellschaften klassifizieren mag - es läßt sich jedenfalls konstatieren, daß es sich um eine Gruppierung handelt, die noch weitaus stärker als dies für das Bürgertum gilt, mit den abhängig arbeitenden Schichten verflochten ist. Idealistisch ausgedrückt ist die Intelligenz überhaupt nur der allgemeine Ausdruck des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit, der allseitigen Abhängigkeit der Arbeitenden. Tat­ sächlich hat sie eine zwiespältige Stellung in dem vorfindli­ chen System gesellschaftlicher Ar beitsteilung. Als bürokra­ tische Funktionselite und als technische Intelligenz hat sie sich in diesem System Statusvortefle gegenüber der Mehr­ heit abhängig Arbeitender errungen. Die Bildungskonkur­ renz ist das Medium ihres Aufstiegs und zugleich seiner Bedrohung. Die Entfaltung der Bildungskonkurrenz stellt den etablierten Teilen der Intelligenz einen wachserden Teil der Intelligenz gegenüber, der innerhalb einer Struktur un­ gleicher sozialer Stellungen keine Chance zum Aufstieg besitzt, also marginalisiert wi rd. Alle Veränderungen im gesellschaftlichen Verflech­ tungszusammenhang, die hier auf die Entfaltung der Bil­ dungskonkurrenz zurückgeführt wurden, lassen sich zu­ gleich als Begleiterscheinungen des Aufstiegs der Intelli­ genz interpretieren. Insbesondere dort, wo diese Verände­ rungen mit Bewußtsein vollzogen werden, deutet sich be­ reits ein Wertwandel an, der den Aufstieg der Intelligenz zur modellgebenden Schicht spiegelt. Allerdings stellt die Intel­ ligenz in den meisten Industriegesellschaften noch keine so 8

Ich verwende die Bezeichnung so, wie sie zuerst in den osteuropäischen Ländern in Anwendung gekommen ist. Vgl. etwa G. Konrad, I. Szelenyi: Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht, Frankfurt/Main 1978

7 homogene Schicht dar, wie uns rückblickend Aristokratie und Bürgertum als modellgebende Schichten homogen er­ scheinen. Noch ist nicht erkennbar, wie es jenen Teilen der Intelligenz, deren Ansprüche im vorfindlichen System nicht integrierbar sind, gelingen könnte, den gesellschaftlichen Verflechtungsmodus zu ihren Gunsten zu ändern und sich damit von der technisch-bürokratischen Intelligenz zu emanzipieren - wie dies einmal dem freiberuf­ lich-unternehmerischen Bürgertum gegenüber dem Stände­ bürgertum und der höfischen Aristokratie gegenüber der feudalen gelungen ist. Die universelle Entfaltung der Bil­ dungskonkurrenz ist vermutlich keine hinreichende Bedin­ gung ihres sozialen Aufstiegs, wenn sie auch auf vielen Ebenen ungeplante Prozesse in Gang setzt, die den gesell­ schaftlichen Verflechtungsmodus berühren. Wenn der Auf­ stieg der Intelligenz zur modellgebenden Schicht gelingen sollte, so bleibt die Frage, ob es noch einmal möglich ist, nur den gesellschaftlichen Verteilungsmodus von Lebens­ chancen zu ändern, also die Regeln der Konkurrenz, oder ob die Intelligenz nicht zu ihrer eigenen Entfaltung gezwungen sein wird, die Ungleichheit der zu verteilenden Chancen endlich selbst abzuschaffen.

5. Weltmachtkonkurrenz, universelle Bedrohung der Lebenswelt und Ambivalenzen in der Suche nach neuen Wertorientierungen Seit der Entstehung staatlicher Herrschaftsmonopole in den europäisch-abendländischen Gesellschaften haben sich die Formen ihres ökonomischen Reproduktionsprozesses ge­ wandelt, die sozialen Kräfteverhältnisse verschoben, neue soziale Schichten sind aufgestiegen und haben die Regeln des gewaltfreien Verkehrs im Innern der Gesellschaften, deren Herrschafts- und Wertsystem verändert. Diese Verän­ derungen sind einhergegangen mit einem gewaltigen Wach­ stum der gesellschaftlichen Abhängigkeiten der Menschen, der Verflechtung im Innern wie im Äußern der Gesell­ schaftseinheiten. Auf der einen Seite sind die wissenschaft­ lich-technischen Produktivkräfte zur Beherrschung der äu­ ßeren Natur und der durch gesellschaftliche Arbeit produ­ zierte Reichtum gewachsen und entsprechend der Anteil der abhängig Arbeitenden an der Bevölkerung und ihr materiel­ ler Lebensstandard, dessen Zusammensetzung selbst ein Ausdruck des herrschenden Wertsystems ist. Auf der ande­ ren Seite ist der äußere Umfang der durch ein Herrschaftssy­ stem pazifizierten Gesellschaftseinheiten durch militärische Okkupationen und Bündnisverflechtungen über national­ staatliche Grenzen hinaus gewachsen. Die industriellen Zentren haben ihre Macht auf die nicht oder weniger indu­ strialisierten Gesellschaften ausgedehnt und sie in ein welt­ weites System wirtschaftlicher und militärischer Abhängig­ keiten eingespannt. Die letzte nicht schon durch ein Macht­ zentrum geregelte Konkurrenz in den internationalen Bezie­ hungen spielt sich ab zwischen zwei industriegesellschaftli­ chen Machtblöcken, von denen jeder das militärische Poten­ tial hat, die andere Seite der Menschheit mit einem Schlage auszulöschen. Weil - und soweit - sich für die angreifende Seite das Risiko eines Gegenschlages nicht ausschließen läßt, ergibt sich hiermit ein Machtgleichgewicht, das zu einer gewissen Pazifizierung der internationalen Beziehun­ gen zwingt. Die weitgehende Pazifizierung der sozialen Auseinan­ dersetzungen im Innern der industriell entwickelten Gesell-


K.Gilgenmann: Wertwandel und Erziehung schaften basiert auf einem Kreislauf von materieller Produk­ tion und Massenkonsum, dessen perpetuierliche Ausdeh­ nung zur Erschöpfung der natürlichen Ressourcen auf die­ sem Planeten führen muß. Durch die stabilisierende Wir­ kung dieses Kreislaufs für die industriellen Zentren haben sich gewaltsame Formen der sozialen Auseinandersetzung um Machtund Lebenschancen aus den Zentren in die Peri­ pherie verlagert. Die Peripheriegesellschaften nehmen an dem Wachtumskreislauf der industriellen Zentren nur mit ungleichen Voraussetzungen und Wirkungen teil: Als Ro h­ stoffländer erfahren sie zuerst die Folgen der Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts durch rücksichtslose Ausbeu­ tung der Natur; als Länder mit billiger Massenarbeitskraft werden sie in den industriellen Kreislauf einbezogen, ohne Einfluß auf die Verteilung des produzierten Reichtums zu gewinnen; als Konsumentenländer industrieller Produkte passen sie sich dem Wertsystem der Industriegesellschaften an, ohne sich damit in ihren Gesellschaften orientieren zu können. Im exponentiellen Wachstum der Weltbevölkerung, das heute überwiegend in den Peripheriegesellschaften statt­ findet, - iedoch erst durch deren ökonomisch-soziale Ver­ flechtung mit den industriellen Zentren in Gang gesetzt wurde, erweist sich die Zwangsläufigkeit einer ökologischen Weltkatastrophe. Diese Katastrophe ist längst im Gang, sie wird nur aufgrund des militärisch-ökonomischen Machtpo­ tentials der Industriegesellschaften noch überwiegend auf die Peripheriegesellschaften begrenzt. Allerdings entsteht aufgrund des militärischen Gleich­ gewichts der Machtblöcke und durch die relative Bedeu­ tung, die die Peripheriegesellschaften in der Konkurrenz der industriellen Zentren gewinnen können, Raum für deren eigene Entwicklung. Die Abhängigkeit zwischen Zentren und Peripherien wird als wechselseitige spürbar, die Kräfte­ verhältnisse verschieben sich. Die Widerstand von Periphe­ riegesellschaften gegen ihre Ausbeutung hat Rückwirkungen auf die innere Stabilität der Industriegesellschaften. Sie versuchen dem äußeren Druck zu entsprechen, indem sie mit einem Teil ihrer Wachstumsüberschüsse Peripheriegeseli­ schaften helfen, das Modell der inneren Pazifizierung durch industrielles Wachstum nachzuvollziehen. Da jedoch die Ausdehnung des Kreislaufs von Wirtschaftswachstum und materiellem Konsum auf größere Teile der Weltbevölkerung zu einer beschleunigten Erschöpfung aller natürlichen Res­ sourcen führen muß, ist eine Pazifizierung im Weltmaßstab auf diesem Wege ausgeschlossen. Das Problem der unglei­ chen Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen industriellen Zentren und Peripherie verschiebt sich im Kampf um die verbleibenden Ressourcen in Richtung auf direkte Konfrontation der industriellen Machtblöcke. Immer häufiger werden militärische Pläne gemacht und durch poli­ tische Öffentlichkeiten nachvollzogen, die darauf zielen, das Risiko eines "alles" entscheidenden Offensivschlages wieder kalkulierbar zu machen. Im Innern der Industriegesellschaften entsteht mit der Verringerung ihrer Wachstumsüberschüsse wieder ein zu­ nehmender sozialer Druck auf den gesellschaftlichen Ve rtei­ lungsmodus. Auf der einen Seite werden die Verteilungs­ kämpfe härter, da sich die Auseinandersetzung nicht mehr auf die Verteilung von Oberschüssen beschränken läßt. Auf der anderen Seite wächst - auf der Grundlage eines Lebens­ standards, der sich voraussichtlich nur noch verschlechtern kann - die Neigung, nicht nur die Verteilung sondern auch die Produktionsweise des gesellschaftlichen Reichtums und

8 die entsprechende Lebensweise, also den gesellschaftlichen Verflechtungsmodus überhaupt in Frage zu stellen. Immer mehr Menschen zweifeln daran, daß Kosten und Nutzen ihrer persönlichen Verflechtung mit dem industriellen Wachstumsprozeß in der Leistungs- und Statuskonkurrenz noch in einem sinnvollen Verhältnis zueinander stehen. Die Suche nach Alternativen ist vielfältig und diffus. Sie zeigt sich vor allem in den expandierenden Zwischenwelten, Subkulturen jenseits von familialer und staatlich admini­ strierter Lebenswelt, von Bildungsund Berufskonkurrenz. Die Durchbrechung der bürgerlich getrennten Lebenssphä­ ren, die im Staatseingriff passiv erlitten wurde, wird hier noch einmal aktiv und selbstbewußt vollzogen. Neue soziale Bewegungen, deren Zusammensetzung durch generatioils­ und geschlechtsspezifische Gruppierung stark bestimmt ist, greifen Fragen der persönlichen Lebenswelt, der natürlichen und sozialen Umwelt auf und werten sie zu politischen Fra­ gen auf. Umgekehrt werden Fragen des gesellschaftlichen Gesamtsystems, Verfassungspostulate, historische Ko nflikt­ konstellationen relativiert und politisch abgewertet. Wenn man die vorsichgehende Suche nach neuen Le­ bensfonnen und Verhaltensorientierungen auf dem Hinter­ grund des bisherigen Verlaufs des europäischabendländi­ schen Zivflisationsprozeß - also von einer nicht wertrelativi­ stischen Position au-gehend - zu analysieren versucht, so stellt sich zunächt die Frage: Läßt sich hinter der Vielfalt der Erscheinungen eine Richtung erkennen, die man i. S. einer Weiterentwicklung zu einer höheren Stufe der Zivilisation interpretieren kann, oder läßt sich eine solche Richtung nicht erkennen, handelt es sich vielleicht bloß um einen Prozeß der Desintegration des vorhandenen Zivilisationsmodells' Eine Antwort auf diese Frage müßte folgenden Widerspruch auflösen: In den modernen industriegesellschaften entwik­ kelt sich ein historisch bisher ungekanntes Maß gesellschaft­ licher Abhängigkeiten, ein System von Fremdzwängen in Arbeitswelt und staatlich administrierter Lebenswelt. Zivili­ sation besteht nach ihrem bisherigen Verlaufsmuster darin, gesellschaftliche Zwänge in Selbstzwänge, Triebmodellie­ rung, rationales Denken, planvolles Verhalten aufzulösen. Eine relative Verringerung der Fremdzwänge ergibt sich regelmäßig als Ausdruck einer höheren Stufe der Integration und Selbststeuerung, der Internalisierung zu Selbstzwängen. Demgegenüber ist jedoch in den Industriegesellschaften eine starke Tendenz zur Lockerung von Selbstzwängen zu beo­ bachten, die sich teils noch im Aufbegehren gegen überlie­ ferte Standards, teils bloß im Fallenlassen von kulturellen Selbstzwanginechanismen ausdrückt.9 Diese Tendenz ist - nicht nur im Rahmen konservativer Kulturkritik - schon vielf'ältig interpretiert worden. Es las­ sen sich hierunter offenkundig Erscheinungen des kulturel­ len Zerfalls, der sozialen Desintegration beschreiben, die mit dem hier skizzierten Verlaufsmuster der Zivilisation kaum vereinbar erscheinen. Es gibt die Tendenz zum Rückzug aus gesellschaftlichen Verflechtungszusammenhängen, die Vermeidung langer Interdependenzketten und all jener Am­ bivalenzen, die aus der Verinnerlichung von Rücksicht und 9

Es ist hier nicht der Raum für eine Auseinandersetzung mit anderen Interpretationen des vor sich gehenden Wertwandels. S. hierzu: Ronald Inglehart; The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Westem Politics, Princeton 1977; Elisabeth Nölle-Neumann: Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zü­ rich 1978; Helmut Klages, Peter Kmieciak (Hg.): Wertwandel und ge­ sellschaftlicher Wandel, Frankfurt/Main 1979


K.Gilgenmann: Wertwandel und Erziehung Langsicht entstehen. Es gibt in den Autonomiebestrebungen von Landkommunen und Alternativprojekten den Traum vom einfachen Leben, der sich auch in der literarischen Renaissance des Mittelalters oder der Stammesgesellschaf­ ten zeigt. Es gibt die subtile Empfindung institutioneller Zwänge und gleichzeitige Idolisierung unmittelbarer Gewalt in der Revolte; es gibt die habituelle Fixierung von Kind­ heits- und Jugendposen, und es gibt den wirklichen Ausstieg in der Drogenszene. Al le diese Verhaltensweisen sind auch anzutreffen in jenen Subkulturen und sozialen Bewegungen, in denen die Suche nach alternativen Lebensweisen stattfin­ det. Für die hier angesprochenen Verhaltensweisen ist es allerdings kennzeichnend, daß sie sich nicht wi rklich der Anstrengung unterziehen, nach neuen integrationsfähigen Formen zu suchen und entsprechende Wertorientierungen auszubilden. Es genügt jedoch nicht, sie als kulturelle Zer­ fallserscheinungen zu deuten. Es ist zunächst - im Gegensatz zum Ansatz konservativer Kulturkritik - auf den Zusam­ menhang dieser Erscheinungen mit dem herrschenden Ve r­ gesellschaftungsmodus selbst zu verweisen. Der Zerfall integrationsfähiger Strukturen, der sich in der Universalisie­ rung von Konkurrenzhaltungen, in der Auflösung stabiler Berufsbeziehungen ebenso wie in der Auflösung stabiler Generations - und Geschlechtsbeziehungen zeigt, hat seine Ursachen nicht im kulturellen Wertsystem, sondern im öko­ nomisch-sozialen Kernbereich, im Selbststabilisierungsme­ chanismus industriegesellschaftlicher Wachstumspolitik. Wichtiger noch als dieser Verweis erscheint mir allerdings die Beobachtung, daß es sich bei den eher regressiven und destruktiven Reaktionsweisen nur um einen Teilaspekt der Veränderungen handelt, die durch diesen Zerfallsprozeß ausgelöst werden. Die dominante Tendenz der neuen sozialen Bewegungen in den Industriegesellschaften läßt sich keineswegs als eine zivilisationsfeindliche Rückzugsbewegung beschreiben. Es zeigt sich hierin vielmehr eine große Vielfalt von Verhal­ tensweisen und Wertorientierungen, die auf eine höhere Stufe sozialer Integration und d. h. auch der Transformation von Fremd- in Selbstzwänge hinweisen. Ein Indiz hierfür ist die Ausbreitung und Wertschätzung von Selbstorganisati­ onsansätzen in jeder Form, von den verschiedensten Selbst­ hilfegruppen, die sich entlang gemeinsamer persönlicher Leidenserfahrungen organisieren bis hin zu Selbstverwal­ tungsinitiativen und selbstwirtschaftenden Berufskooperati­ ven. Selbsterfahrungsgruppen erleben einen Zulauf und eine z. Z. euphorische Wertschätzung, die Kritiker veranlaßt, vor den Gefahren der Enttäuschung unrealistischer Erwartungen zu warnen. Gegen die neuen Therapieforrnen (Gestaltthera­ pie, Humanistische Psychologie) mit ihrem radikalen Selbstverantwortungsansatz wird mit gewissem Recht ein­ gewandt, daß sie von der gesellschaftlichen Bedingtheit psychischen Leidens zu sehr abstrahieren und die Selbsthei­ lungskräfte vieler überfordern. Andererseits kann gerade dieser "unrealistische" Optimismus, der hohe Anspruch an die Selbstverantwortlichkeit der Individuen als Indikator dafür angesehen werden, daß es sich hier um einen Kristalli­ sationskern für die Entfaltung eines höheren Zivflisations­ standards handelt. Ganz ähnlich können m. E. auch die Be­ strebungen zu dezentraler Selbstverwaltung in der außerbe­ ruflichen Lebenswelt und zur Selbstorganisation unmittelbar gesellschaftlicher Arbeit interpretiert werden. Die dezentra­ le, selbstverwaltete Organisation von Arbeits- und Lebens­ prozessen, überhaupt jede Entdifferenzierung der Lebens­

9 welt, erhöht die Umweltkomplexität und damit die Gefahr subjektiver Überforderung für den Einzelnen. Rückschläge durch Identitäts- und Existenzgefährdung und naturwüchsi­ ge Reinstitutionalisierung von Hierarchien sind also wahr­ scheinlich. Zunächst bleibt festzuhalten, daß hier ein un­ gleich höheres Maß an Selbstverantwortung, d. h. auch an Selbstzwängen, vorausgesetzt und angestrebt wird, als in den organisatorisch und produktivitätsmäßig noch überlege­ nen Formen des staatsmonopolistischen Industrialismus. Die Frage nach dem Verhältnis der neuen sozialen Be­ wegungen in den Industriegesellschaften zum Zivilisations­ prozeß entscheidet sich allerdings nicht an ihren Wertorien­ tierungen an sich, sondern tatsächlich daran, wie realistisch diese Orientierungen sind. Es ist also die Frage, ob es gelin­ gen kann, neue integrationsfähige Strukturen der Vergesell­ schaftung zu entwickeln, denen diese Orientierungen ent­ sprechen. Die Suche nach alternativen Strukturen im Innern der Industriegesellschaften kann sich nicht auf das modell­ gebende Verhalten einer neuen sozialen Oberschicht stützen. Die Intelligenz verfügt über kein geschlossenes Wertsystem. (In den sozialistischen Gesellschaften ist ihr Versuch, ein solches aus dem Marxismus zu destillieren, gescheitert.) Als Funktionselite ist sie ängstlich bemüht, die von den neuen sozialen Bewegungen aufgeworfenen Fragen als unpoliti­ sche zu behandeln. Sie weiß, daß die Frage nach dem indus­ triellen Wachstumsmechanismus eine Rethematisierung der sozialen Frage, der Frage nach den Kosten und Lasten des Vergesellschaftungsmechanismus verlangt und sie kann sich keine andere Antwort auf diese Frage vorstellen, als die, die das 19. Jahrhundert darauf gegeben hat: nämlich das Wie­ deraufbrechen gewaltsamer Klassenauseinandersetzungen. Diese Ansicht wird auch von einem Teil der marginalen Intelligenz geteilt. Obwohl die marginale Intelligenz in den neuen sozialen Bewegungen stark vertreten ist, ist sie in ihren Orientierungen doch zu sehr gebrochen und in negati­ ver Hinsicht auf den herrschenden Vergesellschaftungsme­ chanismus fixiert, um die Vielfalt der in den neuen sozialen Bewegungen aufgeworfenen Fragen politisch zusammenfas­ sen zu können. Die Suche nach Alternativen und die Verän­ derung der Wertorientierungen stellt also noch einen weit­ gehend naturwüchsigen, ungeplanten Prozeß in den Indu­ striegesellschaften dar. In der Bundesrepublik ist vor kurzer Zeit eine politische Partei gegründet worden, die versucht, die Orientierungen der neuen sozialen Bewegungen auf­ zugreifen und im vorhandenen politischen System zu vertre­ ten. Als Kurzformel für integrationsfähige gesellschaftliche Strukturen, die diese Partei anstrebt, wurde die Merkmals­ kombination "ökologisch, sozial, basisdemokratisch dezen­ tral und gewaltfrei" ins Programm genommen. Tatsächlich haben sich an der Frage der Kombinierbarkeit ökologischer und sozialer Strukturprinzipien nach kurzer Zeit Konflikte und eine Spaltung der Partei ergeben. Schon vorher ergaben sich gravierende Differenzen in den Bewegungen, aus denen die Partei sich rekrutierte, in der Frage, ob die Bildung einer Organisation, die sich auf das herrschende Parteiensystern bezieht, überhaupt mit den Prinzipien der Basisdemokratie vereinbar sei. Ein anderer Teil dieser Bewegungen fühlte sich von der Partei abgestoßen, weil sie das Prinzip der Gewaltfreiheit uneingeschränkt postulierte. Haben also alle diejenigen Beobachter recht, die den Versuch von vornher­ ein für unrealistisch gehalten haben, die Vielfalt der Orien­ tierungen der neuen sozialen Bewegungen politisch zusam-


K.Gilgenmann: Wertwandel und Erziehung menzufassen? We nngleich niemand, der wissenschaftlich zu denken gelernt hat, sich davon dispensieren kann, nachweis­ lich unrealistische Orientierungen zu kritisieren, so kann doch auch niemand aus zeitgenössischer Nahsicht schon abschließend beurteilen, welche Orientierungen sich noch als realistisch erweisen können. Blickt man auf den Ausgangspunkt des abendländischeu­ ropäischen Zivilisationsprozesses, läßt sich kaum eine un­ realistischere Orientierung vorstellen als die Verbindung von Dezentralität und Gewaltfreiheit. In den dezentralen Feudalsystemen war Gewalttätigkeit allgegenwärtig. Eine Sphäre gewaltfreier Beziehung entstand erst mit stabilen Herrschaftszentren. Seit es diese gibt, wird ihre Konkurrenz untereinander mit gewaltsamen Mitteln ausgetragen; seit­ dem werden Menschen, die gegen bestimmte Regeln versto­ ßen, mit Gewalt dafür bestraft, und werden Regeln selbst mit Gewalt geändert. Die Menschen haben gelernt zu unter­ scheiden zwischen Beziehungen, in denen das Prinzip der Gewaltfreiheit gilt, und solchen, in denen es keine Geltung hat. Es erscheint unrealistisch, das Prinzip der Gewaltfrei­ heit von zentralen Herrschaftsstrukturen zu entkoppeln und als uneingeschränktes Prinzip zu postulieren, da die Men­ schen nicht gelernt haben, ohne Androhung von Gewalt auf Gewalt zu verzichten. Man kann noch weiter in der Menschheitsgeschichte zurückblicken und dabei feststellen, daß es keine unrealistischere Beschreibung des Verhaltens der Menschheit geben kann als die, sich zugleich ökologisch und sozial zu orientieren. Seit es sie gibt, gipfelte ihre sozia­ le Orientierung stets in dem Bemühen, sich selbst auf Ko­ sten alle anderen Lebewesen, und ihre jeweilige soziale Einheit wiederum auf Kosten anderer sozialer Einheiten zu vermehren. Sie hat mit diesem Verhaltensmuster solange keinen Schaden auf der Erde anzurichten vermocht, wie ihre Mittel zur Beherrschung der äußeren Natur noch weitgehend an die Beherrschung des menschlichen Körpers gebunden waren und ihre sozialen Kämpfe untereinander selbst noch zur Begrenzung ihrer Vermehrung beitrugen. Erst mit der Industrialisierung beginnt die Menschheit sich tatsächlich auf Kosten fast aller anderen Lebewesen und um den Preis irreparabler Störungen der ökologischen Systeme der Erde zu vermehren. Es erscheint unrealistisch anzunehmen, daß die Menschheit jene gattungsgeschichtlich verankerte sozia­ le Orientierung die sie ständig zur Selbstvermehrung treibt, ändern könnte. Realistischer wäre es wohl anzunehmen, daß sich eine Beschränkung dieser enormen Vermehrung noch einmal durch die entsprechende Entwicklung der Technolo­ gie zur wechselseitigen Vernichtung der Menschen unter­ einander ergäbe. Und dennoch haben die Menschen in den Industriegesellschaften längst damit begonnen, den unge­ planten Prozeß ihrer Selbstvermehrung und -vernichtung zu beenden. Die Frage, die sich ihnen heute stellt, ist, wie Strukturen zu verallgemeinern sind, die es der ganzen Menschheit erlauben, diesen notwendigen evolutionären Schritt nachzuvollziehen. Diese Frage muß zunächst im Innern der Industriegesellschaften selbst beantwortet wer­ den. Denn nur sie haben die Mittel dazu.

6. Lockerung der Selbstzwänge, andauernde Not­ wendigkeit der Erziehung und Möglichkeiten einer höheren Stufe der Moralentwicklung Die Befreiung vom gesellschaftlichen Zwang zum Selbst­ zwang ist ein Stoff, aus dem nicht nur individuelle Träume,

10 sondern auch soziale Bewegungen gemacht werden. Alle sozialen Bewegungen dieses Jahrhunderts in den Industrie­ gesellschaften haben Momente des subjektiven Widerstands gegen die Rigidität zivilisatorischer Triebmodellierung in sich aufgenommen und mit ihren sozialen Forderungen verknüpft. Politisch kann hier unterschieden werden zwi­ schen reaktionären Tendergen, die unterschwellig operieren mit der Freisetzung unterdrückter Bedürfnisse, deren Zivili­ sationsfeindlichkeit sich im Rückgriff auf einfache Schwarz-Weiß-Bilder, Freund-FeindVerhältnisse, Autori­ täts- und Gewaltverherrlichung, Blut- und Bodenmystik, mythischern statt rationalem Denken etc. erweist und ande­ rerseits progressiven Tendenzen, die auf eine weniger zwanghafte Strukturier-ung der Bedingungen zur bewußten Entwicklung des individuellen Selbstzwangsystems, d. h. auf höhere Selbststeuerungskompetenz, mehr Selbst- und Fremdwahrnehmung im gesellschaftlichen Verflechtungszu­ sammenhang zielen, deren zivilisatorische Funktion darin bestünde, ein Stück innerer Freiheit zu gewinnen, ohne in die Unfreiheit naturwüchsiger Zwänge zurückzufallen. Al­ lerdings wird die Entscheidung darüber, welche Erscheinun­ gen als reaktionär und welche als progressiv einzustufen sind, aus der tagespolitischen Nahsicht ebensowenig eindeu­ tig zu fällen sein wie schon die Frage, welche Orientierun­ gen als illusionär und welche als realistisch anzusehen seien (in der oben skizzierten wissenschaftlichen Nahsicht). Viele Tendenzen, die sich als Abkehr vom Zivilisationsprozeß beschreiben lassen - und dies auch sind, wenn sie sich poli­ tisch verfestigen -können zugleich notwendige Momente in dessen Weiterentwicklung sein. Der Prozeß der Zivilisation schließt ein gewisses Maß an Regression - in der gesell­ schaftlichen wie in der individuellen Entwicklung - ein. Einer so differenzierten Betrachtung der Widersprüche im Zivilisationsprozeß kommt umso mehr praktische Bedeu­ tung zu, je mehr sich die Betrachtung auf der Ebene des Verhaltens von Individuen bewegt, also nicht unmittelbar politische, sondern z. B. pädagogische Zwecke verfolgt. Wenn der Prozeß der Durchsetzung eines Zivilisationsstan­ dards eine gewisse Breite und Stabilität erreicht hat, ändern sich auch die pädagogischen Mittel, um die darin entwi ckel­ ten Einstellungen und Verhaltensmuster zu reproduzieren. Anstelle offener Gewaltanwendung treten subtilere Zwangsmittel. Dies erscheint als Liberalisierungsphase, die jedoch in dem Maße, in dem dadurch bestandsgefährdende Veränderungen ausgelöst werden, ~von Restaurationsphasen abgelöst werden, in denen wiederum die zivilisatorischen Standards auf einer breiteren Grundlage befestigt werden. Die Pädagogen haben sich gewöhnlich entweder für die liberale oder die restaurative Tendenz engagiert, ohne ein Bewußtsein ihrer Stellung im Zivilisationsprozeß zu ent­ wikkeln. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts nehmen die Pha­ sen pädagogischer Liberalisierung in den Industriegesell­ schaften an Umfang und Heftigkeit zu. Es entstehen Theori­ en der organischen Selbstentfaltung des Menschen, in denen die Rolle des pädagogischen Eingriffs zunehmend zurück­ genommen wird. Thematisiert wird der Zwang, der durch Erziehung ausgeübt wird, abstrahiert wird jedoch von den Zwängen, die durch Erziehung nur verarbeitet werden. Die Tatsache, daß der Prozeß der Zivilisation sich vielfältig institutionell verfestigt hat, wird umgedeutet zum Naturpro­ zeß und erscheint als Möglichkeit des Verzichts auf erziehe­ rische Mittel überhaupt. Erst in der Restauration wird wieder erkennbar, daß die liberale Pädagogik sich bloß davon abge-


K.Gilgenmann: Wertwandel und Erziehung koppelt hat, auf die zivilisatorische Richtung Einfluß zu nehmen, in der die gesellschaftlichen Zwänge sich entwi k­ keln. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich li­ berale Tendenzen der Pädagogik radikalisiert zur Kritik der Entwicklung des modernen Schulwesens überhaupt.10 Die Kritik macht sich fest an der Entwicklung des Schulsystems zum zentralen Verteilungsmodus von Lebenschancen in den Industriegesellschaften. Diese Kritik ist notwendig, soweit sie sich auf Wirkungen der Bildungskonkurrenz in der psy­ chischen Modellierung von Kindern und Jugendlichen be­ zieht, und sie kann heilsam sein, soweit sie den Widerstand gegen persönlichkeitszerstörerische Wirkungen stärkt. Sie ist allerdings geschichtsblind und kann gefährliche Illusio­ nen befördern, wo sie suggeriert, daß etwa durch Abschaf­ fung des Schulsystems auch die zerstörerischen Wirkungen der Konkurrenz aus den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen verschwänden. So wenig ältere Formen der Ko n­ kurrenz allein desh ilb verschwanden, weil Menschen unter ihnen litten und dadurch geformt wurden, so wenig ist dies für die Bildungskonkurrenz zu erwarten. Die Konkurrenz konnte immer nur verschoben, d. h. in eine noch strengeren Regeln unterworfene, Form gebracht und auf einen größeren Teilnehmerkreis ausgedehnt werden. Eine Form der Ko n­ kurrenz, die die Bildungskonkurrenz in den Industriegesell­ schaften ablösen könnte, ist nicht erkennbar. Die Bedingun­ gen der Auflösung dieser Konkurrenz können nur die Be­ dingungen der Auflösung aller Konkurrenz um soziale Le­ benschancen, also aller sozial relevanten Ungleichheiten sein. Solange dieses Ziel nicht erreicht ist, können Versuche, die Konkurrenz auf dem Felde der Bildungsanstrengungen nicht nur zu mildern, sondern daraus zu vertreiben, nur zur Restituierung älterer und gewaltsamerer Forrnen der Aus­ tragung sozialer Spannungen führen. Dennoch spiegelt die neuere bildungstheoretische Di s­ kussion mit ihrer radikalen Schulkritik auch die historische Möglichkeit einer neuen Entwicklungsstufe der Pädagogik im Zivilisationsprozeß wider. Die Universalisierung der Bildungskonkurrenz löst tradierte Bedingungen von Erzie­ hung auf und setzt zugleich neue Bedingungen, die die Päd­ agogik zu berücksichtigen hat. Erziehung war in einem historisch bedeutsamen Maße Moralisierung des individuel­ len Verhaltens durch Androhung von Gewalt. Der strafbe­ wehrte Eingriff des Pädagogen in den psychischen Entwick­ lungsprozeß des Individuums stellte die biographische Wie­ derholung jener historischen Durchsetzung gewaltfreier Verkehrsformen durch Bildung staatlicher Gewaltmonopole dar. Die Entstehung der modernen Schule galt zuerst der moralischen Disziplinierung des Nachwuchses, und erst allmählich bildeten sich weitere Aufgaben durch die Ve r­ knüpfung von Bildungs- und Berufslaubahnen heraus. In den bürgerlichen Schichten begann eine Verlagerung der Aufgabe der Disziplinierung aus der Schule in die Familie, wo sie zu einem Moment geschlechtsspezifischer Arbeitstei­ lung wurde und anstelle der Anwendung unmittelbarer Ge­ walt auch die subtileren Möglichkeiten des Lust- und Lie­ besentzugs treten konnten. Die Schule konnte die Einübung gewisser Regeln schon voraussetzen und die weitere Morali­ sierung der Sozialisationskraft ihres spezifischen Verflech­ tungssystems überlassen. Mit der Verallgemeinerung der 10

Dafür exemplarisch: I. Illich: Entschulung der Gesellschaft, München 1972

11 Bildungskonkurrenz auf alle sozialen Schichten wird nun dieser Mechanismus zugleich verallgemeinert und grundle­ gend in Frage gestellt: Auf der einen Seite ist die universelle Bildungskonkurrenz eine so dichte Transmission gesell­ schaftlicher Zwänge ins schulische Leben, daß demgegen­ über die pädagogische Androhung persönlicher Gewaltmit­ tel als ein überflüssiger Archaismus erscheinen muß. Auf der anderen Seite stellt jedoch eben diese Transmission gesellschaftlicher Zwänge auf der psychischen Entwick­ lungsstufe von Kindern und Jugendlichen eine so gravieren­ de Belastung dar, daß sich eben hierdurch eine neue Aufga­ benstellung für die Pädagogik ergibt, Mit der durch die Universalisierung der Bildungskonkurrenz bewirkten Ve r­ dichtung gesellschaftlicher Zwänge scheinen die Probleme der Disziplinierung im Schulleben wieder zuzunehmen. Es handelt-,sich hierbei allerdings um Disziplinprobleme neuer Art, die mit Motivationsproblemen und vielen angi;rn psy­ chischen Konflikten korrespondieren, die gerade nicht aus dem Mangel an erfahrenen Zwängen sondern aus der Über­ forderung der psychischen Strukturen stammen, die deren Internalisierung leisten sollen. Es wird also zur Aufgabe der Pädagogik, die Dichte und Unausweichlichkeit der im Schulleben institutionalisierten Zwänge zu verringern. Zu diesem Zwecke müssen nicht nur die psychischen Folgepro­ bleme von Erfolg oder Mißerfolg in der Bildungskonkurrenz aufgefangen, sondern von vornherein soziale und affektive Voraussetzungen im schulischen Feld geschaffen werden, die deren Bedeutung relativieren. Der professionelle Erzie­ her ist mit dieser Aufgabe überfordert, es wird notwendig, Eltern und andere Bezugspersonen aus der Lebenswelt des Schülers ständig ins Schulleben einzubeziehen. Es wird zur historischen Aufgabe der Pädagogik, ihre eigene Professio­ nalisierung zurückzunehmen und die ihr delegierten Erzie­ hungsfunktionen an die Lebenswelt selbst zurückzugeben. Dies setzt allerdings entsprechende Veränderung der Le­ benswelt voraus. Die relative Liberalisierung der Erziehungsstile, der Ab­ bau disziplinierender und die Betonung affektiv stützender Funktionen im Erziehungsprozess, die sich von den Intelli­ genzschichten ausgehend - und insofern modellbildend in die Schule hinein durchzusetzen beginnen, stellen erste notwendige Ant worten auf die Zunahme sozialisationswirk­ samer Zwänge im Schulsystem dar. Sie sind allerdings noch keine hinreichenden Antworten. Die universelle Bildungs­ konkurrenz setzt neue Bedingungen für Erziehung nicht nur i. S. affektiv unterstützender Aspekte, sondern auch i. S. moralischer Aspekte der Erziehung. Es genügt keineswegs, jene Aufgaben moralischer Erziehung, die herkömmlich durch persönliche und sachliche Autorität wahrgenommen wurden, nunmehr den Sozialisationseffekten der Bildungs­ konkurrenz zu überlassen. Es gibt keine prästabilierte Har­ monie zwischen diesem Setting und einer perrnissiven Er­ ziehung, wie es sie einmal zwischen den Strukturen der höheren Schule und der bürgerlichen Familie gab. Permissi­ ve Erziehung kann nur dadurch persönlichkeitsbildend wer­ den, daß sie versucht, die gesellschaftlichen Tendenzen zur Lockerung der Selbstzwänge den Abbau tradierter Zwänge in den Geschlechts- und Generationsbeziehungen, das zu­ nehmende Streben nach persönlichem Glück und Selbstve r­ wirklichung bewußt aufzugreifen und in einer moralischen Erziehung zu integrieren, die die Bedingungen ihrer Verall­ gemeiner-ungsfähigkeit transparent macht. Die historische Chance einer von Zwangsmitteln weitgehend befreiten Er-


K.Gilgenmann: Wertwandel und Erziehung ziehung besteht darin, daß sie selbst zum Medium der dis­ kursiven Aneignung moralischer Prinzipien wird.11 Insofern als moralische Erziehung die Geltung universalistischer Prinzipien lebensgeschichtlich verankern muß, gerät sie schließlich auch in Konflikt mit den naturwüchsigen Effek­ ten der Bildungskonkurrenz. Diese erzwingt zwar die Aner­ kennung allgemeinverbindlicher Regeln, doch haben diese nur Geltung in negativer Hinsicht. Die Ziele der Konkurrenz bestehen allemal im besonderen Vorteil des Einzelnen. Mo­ ralische Erziehung muß, um diese partikularen Orientierun­ gen zu transzendieren, eine soziale Verflechtung ins Auge fassen, die diese Ziele der Konkurrenz aufhebt. D. h. zu­ nächst, den starren Schematismus universeller Regeln durch Reflexion der individuellen Besonderheit in ihrem lebens­ weltlichen Kontext aufzuheben - wie dies Erziehung im emphatischen Sinne, im Unterschied zu Verwaltung, schon immer erforderte. Es heißt darüberhinaus, die Bedingungen der Verallgemeinerbarkeit von Interaktionsbeziehungen, in denen so flexibles Verhalten möglich ist, in die durch den Erziehungsprozeß vermittelten Wertorientierungen aufzu­ nehmen. Moralische Erziehung, die im bisherigen Zivilisati­ onsprozeß unterdrückten Seiten der menschlichen Natur entgegenkommt und sie mit den Erfordernissen seiner ge­ sellschaftlichen Verflechtung zu reintegrieren versucht, kann sich nicht als naturwüchsiges Ergebnis ungeplanter Prozesse ergeben. Es handelt sich aber auch nicht bloß um eine pädagogische Utopie. Eine Versöhnung des Menschen mit bisher unterdrückten Seiten seiner inneren Natur ist notwendig, damit er auf die Befriedigung jener Bedürfnisse verzichten kann, die die Industriegesellschaften im zerstöre­ rischen Kreislauf von Wirtschaftswachstum und Massen­ konsum entwickelt haben, und die ihn bisher entschädigen für den Triebverzicht, der ihm durch seine Verflechtung in deren Leistungs- und Statussystern abgefordert wurde. Mo­ ralische Erziehung hat also die Aufgabe, jene realen Ent­ wicklungen zu unterstützen und zu stabilisieren, in denen versucht wird, ein neues Verhältnis zur sozialen Natur des Menschen, zu den darin historisch entwickelten und durch objektive Entwicklungen obsolet gewordenen Bedürfnissen, zu gewinnen.

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Es ist hier nicht der Raum, um auf die sozialisationstheoretischen Aspek­ te der Annahme einer morahschen Evolution einzugehen. S. hierzu die Diskussionsbände: R. Döbert, J. Habermas, G. NunnerWinkler (Iig.): Entwicklung des Ichs, Neue Wiss. Bibliothek 90, Köln 1977; G. Portele (Hg.): Sozialisation und Moral. Neuere Ansätze zur moralischen Ent­ wicklung und Erziehung, Weinheim und Basel, 1978

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