Kg 1983 erziehungskritik

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IST DIE GESCHICHTE DER ERZIEHUNG EIN IRRWEG ? Ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit neueren Tendenzen radikaler Erziehungskritik Ein neuer Geist geht um in Pädagogenkreisen - der Geist der Antipädagogik. Er verunsichert pädagogisch aufge­ schlossene Eltern und Erzieher und hat sich sogar - wie ich lese - in die Debatten der Deutschen Gesellschaft für Er­ ziehungswissenschaften (im März 1982 in Regensburg) schon eingeschlichen. Eine Vielzahl literarischer Veröf­ fentlichungen trägt zu seiner Verbreitung bei. Eine Veröf­ fentlichung, die bereits Bestsellerauflagen erreicht hat, trägt den programmatischen Titel: Am Anfang war Erzie­ hung. Am Anfang - das ist von Alice Miller doppelsinnig gemeint: am Anfang der individuellen Lebensgeschichte und auch am Anfang der europäischen Neuzeit. Das klingt harmlos, wenn man noch nicht weiß, daß das, was da am Anfang geschehen sein soll, ein epochaler Sündenfall, eine Gewalttat gewesen sei, die sich auf individueller Ebene zwanghaft wiederhole. Wir erinnern uns an dunkle Seiten unserer eigenen Erziehungsgeschichte und werden großar­ tig bestätigt in der Wiederentdeckung der dunklen Seiten der Erziehungsgeschichte unserer Gesellschaft. Die Ge­ schichte der europäisch-abendländischen Erziehung wird gezeigt als ein Alptraum, aus dem wir gerade erwachen. Hier scheint noch einmal ein Stück gattungsgeschichtlicher Emanzipation möglich, mit dem sich alle identifizieren können: die Abschaffung all jener äußeren Abhängigkeiten und Zwänge, die im Namen der Erziehung eingerichtet und durch Erziehung über Menschen ausgeübt werden. Ich möchte in diesem Vortrag im wesentlichen drei Einwände gegen die antipädagogische Theoriebildung vorbringen: 1. daß sie gesellschaftliche Tatsachen vernachlässigt, wenn sie die in der Geschichte der Erziehung ausgeübten Zwänge allein der Erziehung anlastet, 2. daß sie Tatsachen psychischer Entwicklung vernachläs­ sigt, wenn sie die Abschaffung der Erziehung prokla­ miert, und 3. daß sie eine kritische Potenz pädagogischen Denkens übersieht, die heute gefordert wäre. Das Verführerische an der Antipädagogik scheint mir zunächst die Einfachheit ihrer Thesen zu sein. Man möch­ te, wenn man sich nicht schon gleich ihnen anschließt, doch ebenso einfach widersprechen. Um der Sache willen müßte jedoch differenzierter argumentiert werden. Ich bitte daher um Entschuldigung, wenn ich einerseits gewi s­ se polemische Zuspitzungen riskiere - die vielleicht der Diskussion förderlich sind - und andererseits auf kompli­ ziertere Zusammenhänge nur verweise, die im Rahmen dieses Vortrags nicht ausgeführt werden können. Ich muß noch ein paar Bemerkungen darüber machen, was von meinem Vortrag nicht zu erwarten ist: Ich gehe nicht ein auf praktische Vorschläge der Antipädagogen, sondern befasse mich vor allem mit ihrer Geschichtsthe o­ rie, die bestimmte Annahmen über die menschliche Natur einschließt. Allerdings gehe ich davon aus, daß bestimmte Mängel in der-theoretischen Begründung der antipädago­ gischen Position nicht gleichgültig sein können für deren Praxis. Ich gehe ferner hier nicht ein auf Differenzen zwi­ schen verschiedenen Autoren, die der Antipädagogik zuzu­ rechnen sind. Ich behandle die Antipädagogik als eine geistige Zeitströmung, die im Hinblick auf die Geschichte der Erziehung - und das heißt zugleich die Gege nwarts­ probleme der Erziehung - typische gemeinsame Auffas­ sungen aufweist. Wenn es in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich ist, die aktuelle Vielfalt erziehungskritischer Posi­ tionen zu beschreiben, so gilt dies in viel größerem Maße noch für die historische und aktuelle Vielfalt der von der Antipädagogik verworfenen Positionen pädagogischen Denkens und Handelns. Diesbezüglich kann ich immerhin auf die folgenden Beiträge meiner Kollegin und Kollegen verweisen, die das Thema dieser Vorlesungsreihe - Erzie­ hung und Gesellschaft - ja noch unter verschiedenen Aspekten behandeln werden.

1. Die Geschichte der Erziehung als eine Geschichte der Repression gegen Kinder und die Vernachlässigung gesellschaftlicher Tatsachen Nach einer älteren erziehungssoziologischen Formulierung läßt sich Erziehung allgemein interpretieren als "Reaktion der Gesell­ schaft auf die Entwicklungstatsache" (Bernfeld). Diese Formel soll nicht die Erziehung einer bestimmten Gesellschaft bezeich­ nen, sondern nur zwei Dimensionen, die bei der Betrachtung aller Erziehungsverhältnisse zu beachten sind: a) die natürliche Dimension, die sich schon in der Tatsache der Entwicklung von Generationen zeigt, und b) die soziale Dimension, die sich in der Tatsache zeigt, daß je­ weils bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten von Generation zu Generation weitergegeben werden. Alle menschlichen Gesell­ schaften haben für den Generationswechsel Methoden der geziel­ ten Intervention entwickelt. Sie unterscheiden sich jedoch nach Zielen und Umfang dieser Intervention. Was die moderne Erzie­ hung vom Initiationsritus in Stammesgesellschaften oder den komplizierten Formen der Tradierung in Bauerngesellschaften unterscheidet sind v.a. zwei Tatsachen: 1. wird die gesellschaftliche Intervention mit Zielen begründet, die sich nicht einfach aus den unmittelbaren Lebenspro zes­ sen ergeben und 2. wird ein größere Tel der Lebensprozesse der nachwachsen­ den Generation als je zuvor in der Geschichte von dieser In­ tervention betroffen. Dies sind nun Tatsachen von solcher Allgemeinheit und Verbrei­ tung in den gegenwärtigen Industriegesellschaften, daß sie vielen Zeitgenossen als selbstverständlich erscheinen. Es bedarf der historischen und kulturvergleichenden Perspektive, um sie über­ haupt als soziale Tatsachen wahrzunehmen. Die antipädagogische Kritik, die diese Tatsachen aufgreift, beruft sich zu ihrer histori­ schen Fundierung v.a. auf zwei Autoren - Phillipe Ari&s und Lloyd de Mause. Ich möchte zunächst der Frage nachgehen, in­ wiefern die Geschichtskonstruktionen dieser beiden Autoren, die recht verschieden, z.T. sogar gegensätzlich argumentieren, zur Begründung der antipädagogischen Position dienen können. Ariés hat am Beispiel der Veränderungen in der Stellung des Kindes und der Familie in Frankreich im Obergang vom Spätmit­ telalter zur. Moderne zweierlei zu zeigen ve rsucht: 1. In der mittelalterlichen Gesellschaft sind Kinder schon in frühem Alter (6 J.) in den - hierarchisch gegliederten -sozialen Organismus integriert. Es existiert darin keine Vo r­ stellung von Kindheit als einem besonderen psychischen Entwicklungsstadium. 2. Die Entwicklung zur Moderne ist gekennzeichnet durch eine zunehmende psychische Distanz zwischen den Generationen, die sich v.a. in der Ausgliederung der Kinder aus dem öffent­ lichen Leben, ihrem Rückzug in die Familie und ihrer alters­ gleichen Erfassung in Schulanstalten ausdrückt. Aribs sieht diese Entwicklung v.a. durch die Institution der Schule be­ stimmt, deren neuer Geist der Erziehung auf die Einstellung der Eltern zurückwirkt und mit der Verallgemeinerung der Schule allmählich die Generationsbeziehungen in allen sozia­ len Schichten tiefgreifend verändert. Den geistigen Ursprung dieser Entwicklung sieht Ariés in den Weltverbesserungsideen einer radikalen Minderheit von Kirchen­ reformern und Humanisten, die Mittel gegen die Unmoral ihrer spätmittelalterlichen Zeitgenossen suchten und in den weltabge­ wandten Institutionen kirchlicher Nachwuchsrekrutierung den Prototyp der modernen Schule fanden. Er sammelt vielfältige Belege aus der Frühgeschichte dieser Institution, die v.a. zweier­ lei zeigen sollen: 1. Ihre Entwicklung sei bestimmt durch die Isolierung hetero­ gener sozialer Umwelteinflüsse, insbesondere durch die al­ tershomogene Zusammenfassung in Unterrichtsklassen; 2. ihre Entwicklung sei bestimmt durch ein ständig verfeinertes Instrumentarium der Disziplinierung, hinter dem die trans­ zendentale Idee eines neuen Menschen gestanden habe. Die pädagogische Entdeckung, daß nämlich durch Berücksicht i­ gung altersspezifischer Entwicklung dem angestrebten Ziele nä­ herzukommen ist, wäre demnach bloß ein Nebeneffekt. Der Aus­ gangspunkt pädagogischen Denkens erscheint bei Ariés noch ganz bestimmt durch die moralischen Ziele, denen die Entwick­ lungsfähigkeit der menschlichen Natur unterworfen wird. De Mause, der andere Autor, auf den sich Antipädagogen be­ rufen, hat gegen die Geschichtskonstruktion von Ariés vor allem


Klaus Gilgenmann: IST DIE GESCHICHTE DER ERZIEHUNG EIN IRRWEG ? eingewandt, daß darin nur die moderne, pädagogisch legi­ timierte Gewalt in den Generationsbeziehungen angegrif­ fen werde und demgegenüber die in vieler Hinsicht bruta­ leren Formen der GewaltausUbung von Eltern gegenüber Kindern, wie sie schon in älteren Gesellschaftsformen, zumal im Mittelalter, vorkommen, nicht thematisiert bzw. als Teil von deren Sozialität weginterpretiert werden. Auch de Mause sieht in der Geschichte der Erziehung, wie in den Generationsbeziehungen überhaupt, eine Geschichte der Repression gegen Kinder. In seiner Geschichtsko n­ struktion wird die ganze Menschheitsgeschichte in Phasen eingeteilt nach Art und Umfang der Repression in den ElternKind-Beziehungen. Anders als Ari&s sieht er jedoch den Ausgangspunkt solcher Repression nicht in einer Idee oder Institution einer bestimmten Gesellschaft, die auf die Generationsbeziehungen einwirkt. In seiner theoretischen Konstruktion ist die Ursache der Repression - unabhängig von sonstigen sozialen Umständen - in der persönlichen Beziehung zwischen Eltern und Kindern selbst verankert, nämlich in der jeweiligen Unfähigkeit der Eltern, in der Interaktion mit ihren Kindern das Wiederauftauchen von Erfahrungen aus ihrer eigenen Kindheit zu bewältigen. Die Unterdrückung dieser Ängste erfolgt - in einer Projektion oder Umkehrreaktion -durch Unterdrückung der Lebens­ äußerungen der Kinder, die diese Ängste ausgelöst haben. Also: je schlimmer die Erfahrungen der eigenen Kindheit, desto größer die Unterdrückung, die an die eigenen Kinder weitergegeben wird. Nach demselben Modell argumentie­ ren die Antipädagogen, wenn sie Erziehung als eine Rache darstellen, die Eltern stellvertretend für ihre Eltern an ihren Kindern verüben. Nun wäre die Geschichte der Eltern-Kind-Beziehungen eine hoffnungslos verfahrene Angelegenheit, wenn sich immer dieselben Erfahrungen nur wiederholten. Nach de Mause ist dies jedoch nicht so: Er sieht eine Entwicklung in der Fähigkeit der jeweils nachfolgenden Generation, "sich in das psychische Alter ihrer Kinder zurückzuverset­ zen und die Ängste dieses Alters, wenn sie ihnen zum zweiten Mal begegnen, besser zu bewältigen, als es ihnen in der eigenen Kindheit gelungen ist. Die Repression er­ scheint also um so größer, je weiter wir in die Geschichte der Eltern-Kind-Beziehungen zurückblicken. Umgekehrt steht an ihrem logischen Ende, wenn wir vorwärtsblicken, das Ende jeder Repression gegenüber Kindern, das zu­ sammenfällt mit der Entwicklung der Fähigkeit zur Empa­ thie bei den Eltern - eine Kompetenz, über die nach de Mause gegenwärtig erst sehr wenige Eltern verfügen. Was tragen nun die Geschichtskonstruktionen von Aribs und de Mause zur Begründung der antipädagogi­ schen Position bei? Ariés Konstruktion erscheint diesbe­ züglich zunächst als die radikalere - sie enthält die Option nicht nur für eine Abschaffung der Erziehung, sondern der ganzen Lebenswelt, die sich in diesem Zusammenhang herausgebildet hat, auch der modernen Familie und jener Kindheit, um die sie zentriert ist ("Kinder-Kindheit" wird zur abschätzigen Formel dafür!). In dieser Option erscheint jede Form der Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern legitim, solange sie nur nicht pädagogisch moti­ viert ist. An die Gefahren der Auslieferung von Kindern an weitaus mächtigere außerpädagogische Sozialisations­ zwänge wird nicht gedacht - vielleicht,weil der Traum von einer Gesellschaft, die keine äußeren Zwänge mehr kennt (eben einer "Erwachsenen-Kindheit") nicht ausgeträumt werden soll. De Mause' Konstruktion ist demgegenüber anspruchs­ voller. Hier wird von den Erwachsenen Empathie verlangt, vielleicht mehr als menschenmöglich ist. Die Empathie­ forderung läßt sich verstehen als eine hohe moralische Forderung, nämlich alle Lebensäußerungen des Kindes zu akzeptieren und zu bejahen, d.h. die eigenen Lebensbe­ dürfnisse des Erwachsene n zurückzustellen. Die morali­ sche Ambition liegt hier im radikalen Verzicht auf eine "pädagogische" Legitimation von Eingriffen, die die Ent­ wicklung des Kindes den äußeren Bedürfnissen des Er­ wachsenenalltags anzupassen geeignet sind. Ich habe den Eindruck, daß diese Ve rschiedenheit der beiden Ge­ schichtsko nstruktionen, auf die sich Antipädagogen beru­

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fen, eine gewisse Unentschiedenheit.der antipädagogischen Ori­ entierung selbst spiegelt. Die Konstruktion von Ariés läßt keine andere Möglichkeit, als aus der Geschichte "auszusteigen". Die Konstruktion von de Mause enthält die Behauptung eines geschichtsimmanenten Fort­ schritts in den Eltern-Kind-Beziehungen. Auch diejenigen Anti­ pädagogen, die die Geschichte der Erziehung insgesamt für einen Irrweg halten, müssen ja mit de Mause annehmen, daß ein solcher Fortschritt möglich ist. Sonst bräuchten sie ihre Position nicht zu vertreten. Wodurch wäre aber ein solcher Lernfortschritt mög­ lich? De Mause' Hinweis auf jene Selbstheilungskräfte, die in der psychoanalytischen Interaktion zwischen Arzt und Patient mobili­ siert werden, trägt m.E. nichts zur Klärung der gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit eines solchen Fortschritts bei. Die Behauptung von de Mause stützt sich jedoch auf Erscheinungen eines tatsächlich vor sich gehenden Wandels der Generationsbe­ ziehungen, auch wenn sie ihn nicht erklärt. Damit komm ich zu einer Gemeinsamkeit beider Autoren, die ihre Nähe zur antipädagogischen Position vielleicht deutlicher macht als ihre Unterschiede: Beide thematisieren Zwänge in der Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern und abstrahieren weitgehend von Zwängen der Gesellschaft, die durch diese Inter­ aktion sich nur vermitteln. Nach Ariäs entspringen die Zwänge letztlich einem geistigen Wandel,*der den Einbruch der Mode rne ins Mittelalter markiert. Sie vermitteln sich über Institutionen, die die Distanz zwischen den Generationen ständig vertiefen. Nach de Mause sind es gerade die immer engeren Beziehungen zwi­ schen Erwachsenen und Kindern, die Ängste und Repression in den Generationsbeziehungen auslösen (These 3). Wer hat nun recht? Vielleicht beide: Die Generationsbeziehungen sind enger geworden und die Distanz zwischen den Generationen ist den­ noch größer geworden. Die paradoxe Formulierung läßt sich jedoch nicht auflösen, ohne über Aribs und de Mause hinauszu­ gehen. Es wäre zu zeigen (etwa in Anknüpfung an Elias), daß die Veränderung der Generationsbeziehungen im Obergang vom Mittelalter zur Moderne nicht bloß die Stellung des Kindes, son­ dern gerade die Stellung des Erwachsenen betrifft. Sie hat ihre Ursache in Veränderungen des gesellschaftlichen Verflechtungs­ modus, die sich für den einzelnen als Polarisierung der Lebens­ welt zwischen der Sphäre der Politik und des gesellschaftlichen Austauschs auf der einen Seite, der Sphäre der Familie und der privaten Interessen auf der anderen Seite darstellt. So wachsen auf der einen Seite die Anforderungen an Affektunterdrückung und Planungshorizont und damit auch die psychische Distanz gegenüber der Welt von Kindern. So werden auf der anderen Seite die Generationsbeziehungen - wie übrigens auch die Ge­ schlechtsbeziehungen - enger und diffuser, affektbetont und zu­ gleich ambivalent. Es ist derselbe geschichtliche Prozeß, der in der Verselbständigung der familialen Lebenswelt Bedingungen jenes Lernfortschritts in den Eltern-Kind-Beziehungen hervor­ bringt (den de Mause für eine autonome Quelle sozialen Wandels hält) und der mit den Leistungsanforderungen an Erwachsene jenen Abstand zur psychischen Realität von Kindern hervorruft, der in der Interaktion Ängste und Ambivalenzen auslöst. Dieser Geschichtsprozeß bringt schließlich auch die pädagogische Insti­ tution hervor, die zunächst für das aufsteigende Bürgertum zu einem idealen Vermittlungsort zwischen den verselbständigten Lebenswelten wird: die Schule. Der hier skizzierte soziale Zusammenhang, in dem die Entste­ hung moderner Erziehungsverhältnisse zu verstehen ist, erscheint in der heutigen Lebenswelt zerrissen. Die antipädagogischen Geschichtskonstruktionen spiegeln m.E. die Schwierigkeit, den mit der bürgerlichen Lebenswelt zerfallenen Kontext aus heutiger Sicht zu rekonstruieren, wider. Bevor ich auf die sozialen Zu­ sammenhänge in ihrer heutigen Gestalt zurückkomme, möchte ich im folgenden Abschnitt etwas ausführlicher auf den positiven Kern der antipädagogischen Position eingehen, der ihrer Erzie­ hungskritik zugrundeliegt: Die Idee einer-nicht durch irgendwel­ che Absichten der Erwachsenen von vornherein verzerrten Inter­ aktion mit Kindern. Diese antipädagogische Idee ist zunächst auf dem Hintergrund der Geschichte des pädagogischen Denkens zu betrachten, zu dem sie sich als radikale Negation versteht.


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2. Die Umkehrung der pädagogischen Idee und die Vernachlässigung der psychischen Entwick­ lungstatsachen Die Geschichte der Erziehung ist nicht nur die Geschichte pädagogischer Intervention in den Generationsbeziehun­ gen, sondern auch eine Geschichte der Reflexion der Ent­ wicklungstatsachen. Pädagogische Intervention könnte keines ihrer Ziele erreichen, wenn sie nicht der Tatsache Rechnung trüge, daß Erziehung ein Wechselwirkungspro­ zeß zwischen Menschen ist. In diesem Prozeß werden nicht nur Kinder erzogen, sondern eben auch Eltern und Erzieher selbst. Diese Wechselwirkung ist eine Quelle der Einsicht in die Tatsachen psychischer Entwicklung. Die Antipädagogen behaupten allerdings, daß derartige Ei n­ sicht der Pädagogik stets zu nichts anderem gedient habe als der Manipulation und Instrumentalisierung der Ent­ wicklungsprozesse von Kindern für ihre äußerlichen Zwecke - seien diese nun durch moralische oder biogra­ phische Zwänge begründet. Als radikale Negation pädago­ gischen Denkens im Hinblick auf die Entwicklungstatsa­ chen wird dagegen zweierlei ve rlangt: 1. Die Anerkennung einer Autonomie des Indivi­ duums, die seiner Entwicklung zugrundeliegen und bereits beim Ne ugeborenen gegeben sein soll; 2. die Unterstützung der Entwicklungsbedürfnisse des Kindes durch Erwachsene, die in affektiver und kognitiver Hinsicht deren Empathiekompetenz vo r­ aussetzt. Die Autonomievorstellung der Antipädagogen stellt sich als eine Umkehrung all jener Au tonomievorstellungen dar, die die Geschichte des pädagogischen Denkens her­ vorbrachte. War Autonomie darin stets eine Zielvorstel­ lung, die durch pädagogisches Handeln der Verwirkli­ chung näher gebracht werden sollte, so erscheint Autono­ mie in antipädagogischer Sicht nicht als Ziel, sondern als Ausgangspunkt wirklicher Entwicklung und Interaktion. Betrachtet man die Geschichte pädagogischen Denkens etwas genauer, so erscheint diese Umkehrung allerdings weniger radikal als sie von Antipädagogen gemeint ist. Ausgehend von der Idee eines mündigen, aufgeklärten, seiner Selbst und der Welt mächtigen Individuums, hat die pädagogische Theoriebildung es stets auch als Paradoxie reflektiert, daß ein solches Individuum unter pädagogi­ scher Einwirkung von außen entstehen soll. Sie hat sich schon selbst gefragt, wie Autonomie unter heteronomen Bedingungen überhaupt zustande kommen könne. Die Geschichte pädagogischer Theoriebildung läßt sich reko n­ struieren als Geschichte von Versuchen, diese Paradoxie aufzulösen durch den Nachweis materialer Entfaltungsbe­ dingungen. Die meisten Versuche zur Positivierung bewe­ gen sich zwischen den theoretischen Extremen reiner An­ lagedetermination und reiner Umweltdetermination. Je radikaler die Umweltseite betont wurde, desto mehr führte die Theorie in das Dilemma, daß die Autonomievorstel­ lung sich ins Utopische verflüchtigte angesichts tausend­ fältig heteronomer Bedingungen. Je mehr die Anlageseite betont wurde, desto mehr führte die Theorie in das Di­ lemma, daß für die Autonomieentwicklung angesichts ihrer realen Beschränktheit bereits in der organischen Ausstattung der Menschen Unterschiede vorliegen müßten. Die antipädagogische Autonomiekonzeption entzieht sich nun allen Schwierigkeiten pädagogischer Theoriebildung gewissermaßen mit einem Schlag: indem sie prinzipiell jede Determinatio n - sowohl der Anlage- wie der Um­ weltseite - im Hinblick auf ihr Autonomiekonzept bestrei­ tet. Diese Radikallösung wird im Hinblick auf die Um­ welteinflüsse mit einem frappierenden Argument begrün­ det: Der soziale Wandel gehe in unseren Gesellschaften so rasch vonstatten, daß es keinen Sinn habe, bestimmte We r­ tund Weltvorstellungen von einer Generation zur anderen zu geben, da sie schon nicht mehr stimmen würden, wenn die neue Generation erwachsen ist. Im Gegenteil, wenn die ältere Generation es versuchte, so würde sie der nach­ wachsenden Generation ihre autonomen Entfaltungsmög­ lichkeiten und damit ein Stück Zukunft verstellen (v.

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Braunmühl unter Berufung auf M. Mead). Im Hinblick auf Anla­ geeinflüsse lautet das entsprechende Argument: daß die mensch­ liche Natur zwar in negativer Hinsicht bestimmbar sei - was ja schon die Geschichte der Erziehungszwänge zeigt - aber deshalb auch theoretisch nur als negativ bestimmt vorgestellt werden dürfe (v. Braunmühl unter Berufung auf Adorno u.a.). Eine posi­ tive Vorstellung von der menschlichen Naturbestimmtheit verbie­ te sich schon deshalb, weil sie wiederum in der Interaktion mit Kindern dazu führe, ihre autonome Lernfähigkeit im Hinblick auf eine prinzipiell offene Zukunft zu beschneiden. Die Radikalität des Autonomiekonzepts erweist sich als Zirkelschluß: die Vo r­ stellung von menschlicher Entwicklung muß inhaltslos sein, weil die Vorstellung von der Zukunft geschichtslos ist. Die Autonomiekonzeption ist allerdings nur die eine Seite der antipädagogischen Konzeption. Die andere wird bestimmt durch die Rolle, die Erwachsenen in der Interaktion mit Kindern zuge­ wiesen wird. Die Forderung nach empathischer Einstellung und unterstützendem Verhalten in bezug auf die Entwicklungsbedürf­ nisse des Kindes soll die Oberwindung all jener die Entwick­ lungsbedürfnisse negierenden Praktiken und Einstellungen er­ möglichen, die der Pädagogik angelastet werden. Die Antipäd­ agogik greift in dieser Hinsicht eine Kritik auf, die bereits vor über 50 Jahren auf der Grundlage psychoanalytischer Einsichten in unbewußte Dimensionen des Erziehungshandelns geleistet wurde, und radikalisiert sie zur Negation pädagogischen Denkens überhaupt. Es lohnt sich, einmal den psychoanalytischen Ansatz der Kritik zu rekonstruieren - wie er z.B. von Bernfäld in die pädagogische Diskussion gebracht wurde - um zu prufen, was in der antipädagogischen Konzeption davon übriggeblieben ist. Die Behauptung war, daß allem Erziehungshandeln eine unbewußte Tendenz innewohnt, verdrängte Erfahrungen und Wünsche der eigenen Kindheit in die Interaktion mit Kindern einzuschmug­ geln. Die kulturell dominante Form dieses Agierens wäre eine Abwehrhaltung gegenüber den Lebensäußerungen der Kinder, die sich in Wirklichkeit gegen die Wiederkehr der verdrängten Wün­ sche aus der eigenen Kindheit richtet. Diese Abwehrhaltung be­ ruht jedoch nicht - wie die Antipädagogen meinen - bloß auf vergangenen Erziehungszwängen, den negativen Erfahrungen der Kindheit, sondern auf alltäglich wiedererfahrenen Zwängen. Der Erwachsene muß die lebendige Konfrontation mit der noch unge­ formten Triebnatur des Kindes abwehren, weil sie ihn zu sehr an die Anstrengungen erinnert, die er täglich vollbringen muß, um seine kulturell geforderte Rolle als Erwachsener durchzuhalten. S. Bernfeld hat noch eine andere Form des kulturell akzeptier­ ten Agierens von Verdrängtem im Erziehungshandeln aufgedeckt, die er gerade bei professionellen Erziehern häufiger anzutreffen meinte: Die Konfrontation mit der noch ungeformten Triebnatur des Kindes könne ja auch - statt sie abzuwehren - dazu benutzt werden, sich selbst den kulturellen Anforderungen des Erwachse­ nenlebens zu entziehen oder-ins Theoretische gewendet - eine Pädagogik zu postulieren, die die heimlichen Bedürfnisse nach einem Rückgang hinter den Zivilisationsprozeß artikuliert (wäre das nicht auch ein Motiv für Antipädagogik?). Wenn Eltern oder Erzieher Kindern Triebeinschränkungen auferlegen, so vollziehen sie nach Bernfeld zumindest ein Stück weit nur objektive Kulturzwänge nach - ob sie das wissen oder nicht, und unabhängig davon, welche biographischen Motive dabei mitspielen. Nach antipädagogischer Auffassung ist freilich schon die Annahme einer kindlichen Triebnatur, auf die der Er­ wachsene bloß reagiert, verkehrt. Die psychoanalytischen Trieb­ annahmen werden von A. Miller als Erfindungen derselben Ab­ wehrhaltung zurückgewiesen, die die Pädagogen treibt. So wie Kinder nur die hilflosen Opfer ihrer Eltern und Erzieher werden, sind diese auch nur die Opfer der selbst erlittenen Erziehung. Mit diesem antipädagogischen Zirkel wird zweierlei geleugnet: 1. die Existenz einer gattungsgeschichtlich vorgeformten, der kulturellen Triebeinschränkung sich in gewissem Umfang widersetzenden Triebnatur des Menschen, und 2. die soziokulturellen Zwänge selbst, die im Leben jedes Er­ wachsenen nicht nur biographisch vergangene, sondern all­ täglich gegenwärtige Anlässe bieten, die Wiede rkehr von Verdrängtem aus der eigenen Kindheit, das in der Interaktion mit Kindern aufbricht, als störend oder bedrohlich wahrzu­ nehmen. Eine überwindung der zwanghaften Abwehrhaltung von Erwach­ senen im Umgang mit Kindern soll durch das antipädagogische Empathiekonzept erfolgen. Durch Entwicklung der Fähigkeiten,


Klaus Gilgenmann: IST DIE GESCHICHTE DER ERZIEHUNG EIN IRRWEG ? sich in die jeweilige psychische Realität von Kindern zu versetzen, soll ein Erwachsenenverhalten ermöglicht we r­ den, das die Entwicklung des Kindes praktisch unterstützt, ohne in die autonome Entscheidung des Kin des über seine Entwicklungsbedürfnisse einzugreifen. Da nach ant ipäda­ gogischer Auffassung jede positive Annahme über die Struktur dieser Bedürfnisse schon eine schädliche Vo r­ wegnahme seiner Entwicklungsmöglichkeiten darstellt, kann sich die Unterstützung nur auf die unmittelbaren Lebensäußerungen des Kindes an der Kontaktgrenze zwi­ schen Organismus und Umwelt beziehen. D.h. das Ver­ ständnis der Entwicklungsbedürfnisse des Kindes be­ schränkt sich praktisch auf die Bedürfnisse, die das Kind im Rahmen dessen, was es über sich und seine Umwelt schon weiß, überhaupt nur zu artikulieren vermag. Der Erwachsene soll sich in der Interaktion mit Kindern nicht nur nicht von unkontrollierten Wünschen und Hoffnungen leiten lassen, die seiner eigenen Lebensgeschichte ent­ stammen. Er soll sich auch nicht darauf stützen können, was er über die psychische Entwicklung von Kindern weiß, oder doch wissen könnte, wenn er sich des vorhan­ denen gesellschaftlichen Wissens bediente. (Hier ist an­ zumerken, daß der Zugriff auf dieses Wissen zweifellos auch dadurch erschwert ist, daß es sich in einer Vielzahl theoretisch unverbundener Einzeluntersuchungen einer­ seits und andererseits in den nur z.T. konvergierenden Entwicklungskonzepten von Psychoanalyse, Humanetho­ logie, Kognitivismus und symbolischem Interaktionismus darstellt.) In dieser theoretischen Beschränkung liegen m.E. er­ hebliche praktische Risiken der antipädagogischen Ko n­ zeption fü die Entwicklung von Kindern. Die Bedeutung positiven Wissens über die psychischen Entwicklungstat­ sachen für den Umgang mit Kindern besteht zunächst gerade darin, etwas zu wissen, was das Kind n i c h t weiß, d.h. zu wissen, was es im Rahmen seiner jeweiligen orga­ nischen, sozialen und kognitiven Entwicklung noch nicht kann und versteht. Solches Wissen schließt die Fähigkeit zur Empathie im Umgang mit Kindern überhaupt nicht aus. Es ermöglicht aber erst, deren Bedürfnisse im Kontext von Organismus-Umwelt-Interaktionsbedingungen ange­ messen zu interpretieren. Aus wissenschaftlichem Wissen, das die alltagspraktische Erfahrung in der Interaktion mit Kindern korrigiert und erweitert, müssen keineswegs Ei n­ schränkungen der Interaktion im Hinblick auf vermeintlich pädagogische Ziele abgeleitet werden. Neuere Ansätze in der Sozialisationsforschung unterstützen sogar eine den antipädagogischen Intentionen naheliegende - wie ich meine jedoch alte pädagogische - Einsicht: daß gerade die 'kontrafaktische' Unterstellung von Handlungs- und Ver­ stehenskompetenzen in der sozialisatorischen Interaktion zu einer wesentlichen Bedingung der Entfaltung dieser Kompetenzen wird. Diese Einsicht wird jedoch im Gege n­ satz zu den antipädagogischen Prämissen nicht unter Ab­ straktion von sondern starkem Bezug auf soziale und psy­ chische Entwicklungstatsachen begründet (Oeve rmann). Eine Unterstützung der Entwicklungsbedürfnisse von Kindern, die sich auf die Verarbeitung der unmittelbaren Erfahrungen beschränkte, die das Kind an der Kontakt­ grenze zwischen seinem Organismus und seiner Umwelt macht - die also nicht die Unterschiede der Entwicklung von Handlungs- und Verstehenskompetenzen zwischen Kindern und Erwachsenen reflektiert - müßte auch hilflos bleiben gegenüber den mächtigen Sozialisationszwängen, die sich.jenseits dieser Unmittelbarkeit durch die gesell­ schaftliche Verflechtung ergibt. Angesichts von Umwelt­ strukturen, die das Kind auf der jeweiligen Stufe seiner Entwicklung weder unmittelbar erleben noch begreifen kann und die doch seine Individuation und Sozialisation nachhaltig beeinflussen, erhält das gesellschaftliche Wis­ sen über die Entwicklungstatsachen eine normative Bedeu­ tung. Es kann zur Grundlage einer pädagogischen Inter­ vention werden, die den praktischen Zweck verfolgt, die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes gegen Umwelten zu schützen, die in spezifischer Weise als nicht entwicklungs­ förderlich erkannt werden.

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Bedeutet dies nun Rückkehr zur "pädagogischen Provinz" ­ jener alten idealistischen Vorstellung der Pädagogen, die im Zuge der "Verwissenschaftlichung" pädagogischen Handelns schon überwunden schien? Einerseits handelt es sich m.E. tatsächlich darum, eine alte pädagogische Idee auf einer geklärten Grundlage bezüglich der psychischen Entwicklungstatsachen nachzuvollziehen. Anderer­ seits haben sich jedoch die sozialen Ausgangsbedingungen päd­ agogischen Handelns weitgehend verändert, und auch dies muß reflektiert werden. Ich will daher noch auf einige wesentliche Aspekte der gegenwärtigen Entwicklung der Erziehungsverhält­ nisse eingehen, und daran zugleich einen Zusammenhang zwi­ schen der Vernachlässigung sozialer Tatsachen und der Ve rnach­ lässigung psychischer Entwicklungstatsachen in der antipädago­ gischen Auffassung aufzeigen.

3. Kritik der Erziehungsverhältnisse und Verteidigung der Erziehung Die radikale Erziehungskritik der Antipädagogen hat Äh nlichkei­ ten mit anderen kulturkritischen Strömungen, wie sie periodisch in der Geschichte der europäisch-abendländischen Gesellschaft und heute v.a. gegen das dominante Selbstverständnis von Na­ turwissenschaft und Technik sich manifestieren. Die Parallelen liegen nahe: derselbe grenzenlose Optimismus, der in den Natur­ wissenschaften in bezug auf die Beherrschung der äußeren Natur sich äußerte, erscheint im pädagogischen Optimismus in bezug auf die innere Natur des Menschen. Beide zusammen sollten für den Wohlstand und das Glück Aller eine solide technische Grundlage herstellen. Wie die Naturwissenschaften an die Ent­ wicklung der gesellschaftlichen Produktion, so erscheinen die Erziehungswissenschaften gebunden an die Entwicklung des Schulsystems. Zeigt sich nicht gerade an diese Entwicklung, daß jeder Schritt in der Entdeckung der inneren Natur instrumentali­ siert wird für einen äußeren Zweck, eingebunden in ein der tech­ nischen Naturbeherrschung analoges System der Bewertung menschlischer Fähigkeiten? Ich vermute, daß sich durchaus ein kultureller Zusammenhang der hier skizzierten Erscheinungen konstruieren läßt. Allerdings müßte die theoretische Konstruktion eines solchen Zusammenhangs m.E. zu einer Relativierung der Erziehungskritik führen. Die Verallgemeinerung des pädagogischen Denkens in der Moderne ist gebunden an die Institution der Schule. Die epochale Expansion des Schulsystems läßt sich kaum auf die Attraktivität der moralischen Ideen der Kircherlreformer und Humanisten zurückführen (die AriAs als Initiatoren benennt). Im Gegenteil: wenn man die Geschichte der Pädagogik als die ihrer Institutio­ nen rekonstruiert, wird man - parallel zur Säkularisierung der Gesellschaft - einen anhaltenden Prozeß der Zurückdrängung moralischer Vorstellungen aus den Erziehungsverhältnissen kon­ statieren müssen. Ein anderer Aspekt der Institutionsgeschichte macht die Expansion plausibler: Mit dem sozialen Aufstieg des Bürgertums wurde eine "gute Erziehung" zur Eintrittskarte in die "gute Gesellschaft". Sie eröffnete spezifische, von der Herkunfts­ familie relativ unabhängige, dafür zunehmend mit dem Schulab­ schluß verknüpfte Berufs- und Lebenschancen. Dieser instrumen­ telle Aspekt der Erziehung erscheint zunächst untrennbar ve r­ knüpft mit dem moralischen Aspekt, der die Interessen der Ge­ sellschaft an der nachwachsenden Generation bezeichnet. Ohne die Betrachtung der instrumentellen Seite jedoch, d.h. all jener Mechanismen der schulischen Konkurrenz und der Statusdiffe­ renzierung, die das Eigeninteresse stimulieren, wäre die Expansi­ onsdynamik des Schulsystems nicht erklärbar. Da in der Entwicklung des Schulsystems das durch morali­ sche Vorstellungen von der Persönlichkeitsentwicklung bestimm­ te Denken und Handeln von Pädagogen institutionell gebrochen und sukzessive zurückgedrängt wird durch das System der in­ strumentellen Stimuli, überrascht es nicht, daß die Antipädagogen das Schulsystem weniger fundamental angreifen als das pädago­ gische Denken und Handeln selbst. Kritisiert wird z.B. noch der Zwang zur Schule zu gehen, nicht jedoch die institutionalisierte Selektionsmacht, die Trennung von kogni'tiven und Erlebnis­ gehalten etc.. Die instrumentelle Seite der Sozialisation erscheint für sich genommen nicht durch pädagogische Intervention, son­ dern durch Freiwi lligkeit, eben durch die Struktur der lebenswelt­ lich verankerten Eigeninteressen begrundet. Die moralische Seite wird im schulischen Kontext der instrumentellen zunehmend


Klaus Gilgenmann: IST DIE GESCHICHTE DER ERZIEHUNG EIN IRRWEG ? untergeordnet. Sie reduziert sich schließlich auf die Regeln der Konkurrenz um die Erfüllung kognitiver Leistungsan­ forderungen. Eine pädagogische Interaktion, in der die kognitiv-moralischen und die affektiv-empathischen Kom­ petenzen professioneller Erzieherpersönlichkeiten gefor­ dert wären, hat im Schulsystem keinen Ort. In dieser Hin­ sicht hat also die antipädagogisch postulierte Abschaffung der Erziehung längst stattgefunden. als Ersetzung pädago­ gischer Professionalität durch eine unpersönlich wirkende Sozialisationstechnokratie. Der moralische Aspekt der Erziehung verschwindet je­ doch nicht mit dieser Entwicklung, sondern taucht in dis­ soziierter Gestalt wieder auf im vor- und außerschulischen Bereich. Er wird dort zur freiflottierenden Idee, zur Irrita­ tion der Eltern und aller Erwachsenen, die noch außerhalb von Erziehungsinstitutionen mit Kindern konfrontiert werden. Er taucht auf in der Frage: soll man die Kinder für die Belange der Schule erziehen oder soll man eher gegen deren Maßstäbe erziehen? Und auch in der Frage: soll man überhaupt erziehen, wo doch in der Schule bereits so mächtige Zwänge im Gange sind? Erst durch die epochale Expansion des Schulsystems über die bürgerlichen Schich­ ten - und die industriellen Gesellschaften hinaus und durch seine Transformation zur fast totalen Vermittlungsagentur von Berufs- und Lebenschancen diffundiert die pädagogi­ sche Idee: aus der Schule verdrängt dringt sie in alle Rit­ zen und Nischen der soziokulturellen Lebenswelt. In dieser diffusen Gestalt wird pädagogisches Denken aufgegriffen von der antipädagogischen Kritik: Je mehr soziale Handlungen pädagogisch rationalisiert werden, und je kurzlebiger die pädagogischen Konstruktionen durch immer größere Lebensnähe sich zu übertreffen suchen, desto näher liegt der antipädagogische Umkehrschluß, worin alle gesellschaftlichen Zwänge auf Erziehungs­ zwänge sich reduzieren lassen. Und doch gerät eine Vo r­ stellung, worin noch jene typischen Kinderschicksale, die sich heute zwischen öffentlichem Krippenplatz und heimi­ schem Fernsehapparat abspielen, als Ergebnisse eines Erziehungswahns gedeutet werden, selbst in die Nähe eines Wahnsystems. Nach dem unausgesprochenen Motto "was fällt, das muß gestoßen werden!" wird der durch mächtigere Sozialisationstechniken schon fast erdrückten Pädagogik noch ein fröhliches "Nein Danke" nachgerufen. In der Unfähigkeit zu unterscheiden zwischen historisch kontingenten Ursachen des Zerfalls pädagogischen De n­ kens und Handelns einerseits und den für die Entwicklung der gattungsgeschichtlich erreichten Handlungs- und Ver­ stehenskompetenzen menschlicher Subjekte unabdingba­ ren Strukturen pädagogischer Interaktion zeigt sich eine Einstellung, die sich auch gegenüber anderen Aspekten der zerfallenden bürgerlichen Lebenswelt - Familie, Kindheit, Mütterlichkeit, aber auch Individualität, Rationalität etc. verbreitet und wenig Aussicht auf eine humane Entwick­ lung verspricht. Auf der anderen Seite könnte in der sozialen Diffusion pädagogischen Denkens - im Gegensatz zur antipädagogi­ schen Konzeption eine Chance zu seiner Erneuerung lie­ gen. Diese Chance liegt zunächst in einer Neukonzeptuali­ sierung des Verhältnisses zwischen pädagogischem Exper­ ten und dem aufgeklärten pädagogischen Laien. Da der moralische Despotismus der frühen Pädagogen durch die "amoralische" Sozialisationstechnokratie gebrochen ist, muß die pädagogische Profession ihre Kompetenzen neu begründen. Ihre kritische Potenz kann und muß sich nach wie vor in der Intervention gegen entwicklungsfeindliche Sozialisationsumwelten erweisen. Sie kann sich dabei nicht mehr naiv auf tradierte Ideale beziehen, aber sie kann sich erfahrungsgesättigt auf Entwicklungstatsachen bezie­ hen, für die gleichwohl ideale Bedin gungen zu ihrer Rea­ lisierung konzipiert werden können. Es wäre die Verbin­ dung zwischen den empathischen und den moralischen Kompetenzen des Pädagogen auf neuer Stufe zu finden: Die empathische Fähigkeit des Pädagogen, auf die Ent­ wicklungsstufe des Kindes zu regredieren, um seine Be­ dürfnisse aus der konkreten Erfahrungssituation heraus zu verstehen und sie - im Bündnis mit dem Kind - biogra­ phisch zu rekonstruieren und sprachlich zu verdeutlichen,

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könnte in der Person des Pädagogen balanciert werden durch das erweiterte Arbeitsbündnis mit aufgeklärten Laien, die ihre objek­ tiven, sozialen und subjektiven Ansprüche eingebunden im kom­ munikativen Rahmen pädagogischen Handelns in der Lebenswelt des Kindes geltend machen.

4. Vorläufiges Resümee Die Intervention in den Lebensprozeß der nachwachsenden Gene­ ration für Zwecke der älteren Generation oder der Gemeinschaft insgesamt ist ein gattungsgeschichtliches Erbe, dessen Rekon­ struktion sich auf eine unaufgearbeitete Psychodynamik zwischen den Generationen nicht reduzieren läßt. Was in den Generations­ beziehungen der Moderne typisch hinzukommt, ist auch keines­ wegs bloß eine institutionelle Verschärfung der Intervention mit den Mitteln der Pädagogik, sondern zunächst die Entdeckung der Kindheit als einer autonomen Entwicklungsphase des Menschen. Diese Entdeckung ermöglicht es, zwischen instrumentellem Zugriff von außen und einer kommunikativ strukturierten Eigen­ entwicklung zu unterscheiden. Die Pädagogen machen sich diese Entdeckung zunutze, ohne sich aus den gesellschaftlich tradierten Zwängen zur Instrumentalisierung von Kindern für externe Zwecke lösen zu können. Diese Ambivalenz läßt pädagogische Handlungen zum,Inbegriff unaufrichtiger Kommunikation we r­ den. Ich habe allerdings im vorstehenden Beitrag zu zeigen ve r­ sucht, daß die antipädagogische Kritik der Geschichte der Erzie­ hung nicht gerecht wird, wenn sie alles pädagogische Handeln als Instrumentalisierung deutet und die kommunikativen Aspekte als bloße Täuschung bewertet. Es ist m.E. für die historische und aktualgenetische Rekonstruktion notwendig zu unterscheiden zwischen einer pädagogischen Intervention, die der Freisetzung der kommunikativ strukturierten Entwicklungslogik der Kind­ heitsphase von externen Zwängen dient, und einer pädagogischen Intervention, die sich nur als verlängerter Arm dieser Zwänge betätigt. Der entscheidende Einwand gegen die Antipädagogik besteht darin, daß diese Zwänge mit der Abschaffung der Päd­ agogik nicht verSchwänden, ja, daß sich vielfältig bereits zeigen läßt, wie ihr Destruktionspotential in einer entpädagogisierten Lebenswelt zunimmt. Es bleibt jedoch das Verdienst der Antipädagogen, die de­ struktiven Aspekte in der Geschichte der Erziehung, die Unve r­ söhntheit der menschlichen Natur mit pädagogischen Handlungs­ systemen, in denen menschliche Entwicklung für nicht kommuni­ kativ erzeugte Zwecke instrumentalisiert wird, so deutlich ge­ macht zu haben, daß die Erziehungswissenschaften sich damit gründlicher als bisher auseinandersetzen müssen. LITERATURVERZEICHNIS ARIES, Philippe, Geschichte der Kindheit, München-Wien 1975 BERNFELD, Siegfried, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Ffm., 1979 (Leipzig, Wien, Zür ich 1925) BRAUNMOHL, Eckehard von, Antipädagogik. Studien zur Abschaffung der Erziehung, Weinheim und Basel 1975 ELIAS, Norbert, Ober den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Ffm. 1979 DE MAUSE, Lloyd, Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Ffm. 1980 MILLER, Alice, Am Anfang war Erziehung. Ffm. 1980 RUTSCHKY, Katharina (Hrsg.), Schwarze Pädagogik, Quellen zur Naturgeschichte bürgerlicher Erziehung, Ffm., Berlin, Wien 1977 OEVERMANN, Ulrich, Programmatische Oberlegungen zu einer Theo­ rie der Bildungsprozesse und zur Strategie der Soziallsationsfor­ schung, in: K. Hurrelmann (Hrsg.), Sozialisation und Lebenslauf, Reinbek 1976 Hinweis auf zwei Veröffentlichungen, die mir nach der Vorlesung be­

kannt wurden und die sich kritisch mit der Antipädagogik auseinander­

setzen:

FLITNER, Andreas, Konrad sprach die Frau Mama ... Ober Erziehung

und Nichterziehung, Berlin, 1982 WINKLER, Michael, Stichworte zur Antipädagogik. Elemente einer histor isch-systematischen Kritik, Stuttgart, 1982 Publiziert 1983, in: Sozialwissenschaften und Gesellschaft, Schriftenrei­ he des Fachbereichs Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück Band 6 Dirk Axmacher, Bernd Dewe, Wilfried Ferchhoff, Günter Frank, Klaus Gilgenmann, Wolfgang Motzkau-Valeton, Dieter Otten, Bildungs­ soziologie zwischen Wissenschaft, Politik und Alltag. Sozialhistorische, wissenschafts- und kulturtheoretische Beiträge zur Bildungsthe orie, S.9­ 30


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