Kg 1988 intergenerativekommunikation

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Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation

Einleitung 1 1. Systemtheoretische Aspekte 3 2. Evolutionstheoretische Aspekte 4 3. Kommunikationstheoretische Aspekte

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4. Zur Codierung der intergenerativen Kommunikation 10 5. Wandel der Kindheit 12 6. Zum Körperbezug der intergenerativen Kommunikation 17 7. Wandel der Bildungsorganisation 19 8. Wandel der intergenerativen Kommunikation durch neue Kommunikationstechniken 24 9. Wandel der Generationsbeziehungen in funktional differenzierten Gesellschaften 28 10. Schlußbemerkung zur Frage des Nutzens der Theoriekonstruktion 31

Einleitung Die These von der zunehmenden Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation enthält eine Reihe von Abstraktionen - und damit Zumutungen an den Leser - , deren Berechtigung bzw. Plausibilität sich erst in den fol­ genden Abschnitten wird erweisen können. Kindheit, Bil­ dungsorganisation und Generationsbeziehungen werden hier unter dem Begriff der intergenerativen Kommunikation zusammengefaßt. Gegenwärtig vieldiskutierte Phänomene ihres Wandels werden als Erscheinungen funktionaler Dif­ ferenzierung interpretiert. Damit wird ein - insbesondere für diesen Gegenstand - bisher ungewohnter A. bstraktionsgrad der Theoriebildung angestrebt. Ich bediene mich zu diesem Zweck der von Niklas Luhmann vorgelegten Mittel einer soziologischen Verknüpfung von Systemtheorie, Evoluti­ onstheorie und Kommunikationstheorie.1 Dieser Interpretationsversuch impliziert, daß es Ent­ wicklungen im Gegenstand selbst sind, die eine höhere Auflösungsfähigkeit der Theorie gegenüber All­ tagsannahmen als bisher zu ihrer Beschreibung erfordern. Wie kaum ein anderer Bereich moderner Gesellschaften ist die intergenerative Kommunikation vom Zerfall tradierter Alltagsgewißheiten betroffen. Es handelt sich also nicht um eine willkürliche Abstraktion, wenn in der Theoriekon­ struktion Abstand von den diesbezüglichen Alltagsannah­ men gesucht wird. Die Titelformulierung zielt auf eine evolutionstheore­ tische Rekonstruktion. Bei einer solchen Konstruktion geht es nicht darum zu klären, ob intergenerative Kommunikati­ on sondern, wie sie möglich ist. Unsere Alltagswahrneh­ mung und damit alle praktischen Interessen an diesem Thema sind dabei gewissermaßen ausgeklammert. Sie sind aber nicht verschwunden sondern bleiben - als das ausge­ klammerte Dritte zwischen wissenschaftlicher Methodolo­ gie und Gegenstand - in der wissenschaftlichen Fragestel­ lung erhalten. In dieser Fragestellung zeigt sich, daß der 1

Die kürzeste Darstellung der drei Theoriestränge findet sich bei Luh mann 1975, S.193-203

methodologischen Infragestellung durchaus ein praktischer Zweifel in unserer Alltagswahrnehmung entspricht (und vorausgeht), ob denn intergenerative Kommunikation unter den gegenwärtigen Gesellschaftsbedingungen noch oder zureichend möglich ist. Dieser Zweifel hat sich in einer breiten wissenschaftlichen und diesbezüglich "ratgebenden" Literatur über den Wandel der Kindheit und Jugend in der Gegenwart niedergeschlagen.2 Da mein Beitrag aber ledig­ lich darauf zielt, den theoretischen Rahmen für die Interpre­ tation dieses Themas zu rekonstruieren, werde ich mich im Folgenden nur sehr selektiv auf diese Literatur beziehen.

0.1 Zur Theorielage Die Evolution bestimmter Ideen kann der gesell­ schaftsstrukturellen Evolution sowohl vorausgehen wie auch hinterherhinken.3 Für beide Fälle lassen sich am The­ ma der intergenerativen Kommunikation Beispiele finden. Der zur Beschreibung der Theorielage bemerkenswertere Fall ist zunächst das Hinterhinken der semantischen Ent­ wicklung. In den mit der intergenerativen Kommunikation be­ faßten Teilsystemen der Gesellschaft, in den entsprechen­ den Professionen der Lehrer und Erzieher und nicht zuletzt den damit befaßten Wissenschaftsdisziplinen scheint die Tatsache, daß wir in einer Gesellschaft mit den Struktur­ merkmalen funktionaler Differenzierung leben, noch gar nicht recht zur Kenntnis genommen worden zu sein. Zwar gibt es in der einschlägigen Semantik vielfältige Hinweise darauf, daß sich die pädagogische Reflexion durchaus auf die spezifischen Probleme eingestellt hat, die sich für die Evolution von Be wußtsein in einer funktional differen­ zierten Gesellschaft ergeben. Aber es fehlen ihr die gesell­ schaftstheoretischen Begriffe dafür. In den Reflexi­ onstheorien des Funktionssystems, das sich im Hinblick auf intergenerative Kommunikation ausdifferenziert hat, wird diese Ausdifferenzierung selbst noch als eine unbeab­ sichtigte und in der Sache eher hinderliche Entwicklung betrachtet (z.B. mit dem ehrwürdigen Postulat der Aufhe­ bung der Trennung von Schule und Leben). Dieses be­ griffliche Defizit wiegt umso schwerer, als die ge­ sellschaftlichen Kommunikationsstrukturen heute - im Zu­ sammenhang mit den neuen elektronischen Telebildmedien - einem Wandel von gravierendem Umfang (bei be­ schleunigtem Tempo) ausgesetzt sind, der vermutlich nur mit dem Wandel verglichen werden kann, der mit der Erfin­ dung des Buchdrucks zu Beginn der Moderne einherging. Während es inzwischen zur gängigen Auffassung in den damit befaßten sozialwissenschaftlichen Disziplinen geworden ist, daß Generationskonflikte heute nicht mehr vorrangig zwischen Personen bestehen, die in genetischer Abstammungslinie in einer Generationsfolgebeziehung ste­ hen, sondern zwischen altersabhängigen Gruppen, Kohorten o.ä., scheinen sich entsprechende Einsichten in den unper­

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Der diesbezügliche Zweifel ist also schon da, bevor er in wissenschaft­ lichen Theoriekonstruktionen auftaucht, und wird keineswegs aus dem Wissenschaftssystem in eine ansonsten heile Alltagswelt importiert, wie es im Einzelfall erscheinen mag. Die Diskussion über das Verhältnis von semantischer bzw. Ideen-Ent­ wicklung und der Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen hat eine lange Tradition in der Soziologie, auf die hier nicht eingegangen werden kann. S. den diesbez. Programm-Aufsatz Luhmanns im 1.Band der Rei­ he zu Semantik und Gesellschaftsstruktur, 1980.


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation sönlichen Charakter der Kommunikationsstrukturen für andere Aspekte der intergenerativen Kommunikation - hier v.a. die Bildung der Persönlichkeit selbst - noch nicht durchgesetzt zu haben.4 Jeder Versuch, Probleme der intergenerativen Kom­ munikation allein aus der Perspektive der Interakteure (ihrer Motive und Handlungen) zu rekonstruieren, ist heute zum Scheitern verurteilt. Auch diese Einsicht erscheint unter Soziologen und Sozialpsychologen, die die Familie als "System"5 und die Schule als "Institution"6 betrachten, als einigermaßen trivial. Weniger trivial ist schon die Fr age, warum den so betrachteten Einrichtungen der Gesellschaft die Durchführung ihres "Auftrags" im Hinblick auf den Wechsel der Generationen zunehmend Probleme bereitet. In der hier angestrebten Theoriekonstruktion wird nun diese Fragestellung zunächst umgekehrt: wie ist es überhaupt möglich, daß intergenerative Kommunikation trotz der beo­ bachtbaren Probleme gelingt ?

0.2 Zur theoretischen Rekonstruktion Die These von der zunehmenden Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation enthält einige theoretische Vorentscheidungen, die im Folgenden skizziert werden sollen. Sie gehen auf die erwähnte Verknüpfung von Sy­ stem-, Evolutions- und Kommunikationstheorie zurück. Zunächst ist die Verwendung des Begriffs der Un­ wahrscheinlichkeit vor dem Mißverständnis zu schützen, daß es sich dabei bereits um eine - und zwar negativ wer­ tende - Zeitdiagnose handele. Eine zeitdiagnostisch gemein­ te Aussage steckt allein in dem Attribut "zunehmend" und auch dies ist nicht wertend gemeint. Es soll also nicht be­ hauptet werden, daß intergenerative Kommunikation in dem umgangssprachlichen Sinne "unwahrscheinlich" geworden sei, daß sie vielleicht demnächst gar nicht mehr stattfände. Es handelt sich hier um die Verwendung des Un­ wahrscheinlichkeitsbegriffs der Evolutionstheorie, also um eine theoretische Konstruktion, in der die Frage gestellt wird, wie das, was tatsächlich stattfindet, überhaupt möglich (geworden) ist. In evolutionstheoretischer Perspektive ist alles, was geworden ist, unwahrscheinlich, weil es so und nicht anders ist, obwohl es unzählig viele andere Möglich­ keiten gäbe. Die Verwendung dieses Unwahr­ scheinlichkeitsbegriffs soll also nur die theoretischen Auf­ gabenstellung andeuten: daß es gerade gilt, das, was zwei­ fellos (dh. nicht: problemlos!) stattfindet, hier eben interge­ nerative Kommunikation, als Ergebnis von Evolution zu erklären. Die theoretischen Möglichkeiten dieser Betrach­ tungsweise sollen im 2. Abschnitt erörtert werden, nachdem zunächst einige systemtheoretische Vorentscheidungen bezeichnet worden sind, die auch den Umgang mit der Evo­ lutionstheorie festlegen. Zwei weitere erläuterungsbedürftige Termini im Titel

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Das hat vermutlich mit dem Motiv zu tun, Kommunikation immer schon auf Erfolgskriterien oder Einheitsvorstellungen zu bezie hen, sodaß Kon­ flikt gar nicht erst als eine Form der Ko mmunikation in Betracht kommt. S. dagegen Luhmann, 1984, S.529ff 5 S. die diesbez. Begriffsinflation bei den Familientherapeuten. 6 Nicht der Lehrer sondern die Schule als Institution "erzieht" - hieß die von S. Bernfeld (1925) entlehnte Einsicht soziologisch orientierter Bil­ dungsreformer Ende der 60er Jahre.

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- nämlich "intergenerativ" und "Kommunikation" - verwei­ sen darauf, daß die Beschreibung des gewählten Gegen­ stands mit den Mitteln der Evolutionstheorie allein nicht zu machen ist. Auch hier geht es zunächst darum, Abstand zu gewinnen von den alltagssprachlich gewohnten Verwen­ dungen der Begriffe Generation und Kommunikation. Daß zwischen Mitgliedern verschiedener Generationen kommu­ niziert wird, steht ja nicht in Frage. Auch daß es - aber nicht erst in der Gegenwart - Probleme in dieser Kommunikation gibt, ist nur der praktische Ausgangs punkt für den theo­ retischen Versuch, die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation ins Blickfeld zu rük­ ken. Bei diesem Versuch geht es zunächst darum, das all­ gemeine (gattungsuniverselle) Problem zu rekonstruieren, das der Evolution der intergenerativen Kommunikation zu­ grundeliegt, ein Problem, das durch Evolution "gelöst" wird um den Preis, daß die Kommunikation dadurch "un­ wahrscheinlich(er)" wird. Es handelt sich einerseits um ein Bewußtseinspro­ blem, nämlich das Problem der Evolution von Bewußtsein angesichts bereits evoluierter Strukturen der Kommunika­ tion in menschlichen Gesellschaften. Und es handelt sich andererseits um ein Gesellschaftsproblem, nämlich um das Problem der Evolution spezifischer Einrichtungen der Kommunikation, die die Evolution von Bewußtsein ange­ sichts bereits evo luierter gesellschaftlicher Strukturen er­ möglichen. Um die in dieser Problembeschreibung vorge­ nommene Unterscheidung genauer zu begründen, ist es zunächst notwendig, Bewußtsein und Kommunikation als Grundoperationen verschiedenartiger Systeme, nämlich psychischer und sozialer Systeme zu rekonstruieren, die sich als (autopoietische) Sinnsysteme selbst produzieren und wechselseitig füreinander Umwelt bilden. Die Vorzüge dieser Theoriekonstruktion für die Behandlung des Themas sollen im folgenden Ab schnitt umrissen werden. Diese theoretische Unterscheidung ist notwendig aber nicht hinreichend, um die Möglichkeitsbedingungen inter­ generativer Kommunikation aufzuklären. In evolu­ tionstheoretischer Hinsicht kommt die Beobachtung hinzu, daß psychische und soziale Systeme sich wechselseitig in ihrer Umwelt in bestimmter Strukturiertheit voraussetzen, um ihre jeweilige Autopoiesis fortsetzen (also evoluieren) zu können. Die coevolutionäre Beziehung ist Bestandteil ihrer (autopoietischen) Reproduktion. Es geht hier um die Unwahrscheinlichkeit der inter­ generativen Kommunikation und nicht um die der Entwick­ lung des menschlichen Bewußtseins. Die im Titel vorge­ nommene Spezifizierung soll anzeigen, daß der Schwe r­ punkt der theoretischen Untersuchung mit der sozio­ logischen Fragestellung verknüpft ist, wie intergenerative Kommunikation möglich ist - auch wenn bei ausführlicherer Behandlung die Ergebnisse psychologischer Untersuchung der Bewußtseinsentwicklung im Zusammenhang mit den Coevolutionsannahmen nicht ausgeklammert werden kön­ nen. Es geht also vorrangig um die Untersuchung der Ent­ wicklung von Einrichtungen der Kommunikation, die die Entwicklung menschlichen Bewußtseins angesichts bereits evoluierter Strukturen der Kommunikation - insbesondere auf dem Stand funktional hochdifferenzierter Gesellschaften - dennoch ermöglichen. Um diese Bedingungen genauer zu klären, bedarf es schließlich einer soziologischen Theorie der Kommunikation bzw. der Entwicklung der Kommuni­ kationsmedien in funktional differenzierten Gesellschaften,


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation deren Möglichkeiten ich im dritten Ab schnitt skizzieren möchte.

1. Systemtheoretische Aspekte Beobachtung von Wandel setzt die Unterscheidung von Kontinuität und Diskontinuität im Gegenstand bereits vor­ aus. Um zu klären, ob die intergenerative Kommunikation sich wandelt, und wenn, in welcher Richtung, muß zunächst der Standpunkt des Beobachters geklärt werden. Ich habe dafür Luhmanns gesellschaftstheoretische Rekonstruktion moderner Sozialsysteme herangezogen, die auf der Unter­ scheidung zwischen System und Umwelt aufbaut. Wandel ist damit nur entweder als Wandel des Systems oder seiner Umwelt zu be schreiben.7 Der Versuch einer soziologischen Rekonstruktion der intergenerativen Kommunikation setzt eine theoretische Vorentscheidung über das Objekt der So ­ ziologie voraus. Luhmanns Konstruktion weicht von der Theorietradition insofern ab, als nicht einfach Gesellschaft oder Soziales die Einheit des Gegenstandes ausmacht son­ dern eine Differenz: eben die Differenz zwi schen dem Ge­ sellschaftssystem und seiner Umwelt.8 Und nur insofern als die Einheit des Gegenstandes auch die Umwelt der Gesell­ schaft - aber eben aus der Perspektive der Gesellschaft ­ einschließt, gehören auch die Probleme des Generati­ onswechsels, die die Betrachtung psychischer und organi­ scher Systeme einschließen, zum Gegenstand der Soziolo­ gie.9

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Die systemtheoretische Rekonstruktion des Wandels verlangt nach einer Spezifikation der Systemreferenz: Was ist Strukturelement des Systems und was ist - von daher gesehen - "bloß" Umwelt. Selbstverständlich kann der wissenschaftliche Beobachter das System unter der Perspektive seiner Umweltabhängigkeiten beobachten. Aber das ist dann eben nicht die Perspektive des Systems. Ein Gedanke, den Luhmann in s. Vorlesung zur Gesellschaftstheorie im SS 1988 vorgetragen und auf Ökologie als Thema der Soziologie aber auch auf psychische Systeme und Menschen bezogen hat. Mit dieser Differenzbestimmung kann der me thodologische Soziozentrismus sozi­ alwissenschaftlicher Theoriebildung überwunden werden. Es kann so­ wohl eine Betrachtung von Rohstoffausbeutung unter der Perspektive preisregulierter Nachfrage im Wirtschaftssystem wie auch eine Soziali­ sationstheorie unter der Perspektive der Adaptiertheit ans Schulsystem (oder dem Wertsystem der Gesellschaft insgesamt) als einseitig erkannt werden. Im Unterschied zum mainstream der soziologischen Theorietradition, in dem die in der pädagogischen Reflexion des Bildungssystems gepflegte Theorietradition weitgehend ignoriert wird, ist die Theoriekonstruktion sinnkonstituierter autopoietischer Systeme m.E. geeignet, dieses gei­ steswis senschaftlich-subjektheoretische Erbe rekonstruktiv zu ver­ arbeiten. Die theoretisch entscheidende Innovation liegt allerdings in der Umstellung von Einheit auf Differenz - hier v.a. der Differenz zwischen psychischen und sozialen Systemen. Die Theorie autopoietischer Sy­ steme (Luhmann, 1988a, Typoskript S. 6ff) "zwingt dazu, die Selbstre­ produktion der Systeme durch ein Arrangement der Elemente der Sy ­ steme (Autopoiesis) von der Struktur, mit deren Hilfe dies geschieht, zu unterscheiden. Das ermöglicht es, Aussagen über Existenz und Aus­ sagen über Steigerbarkeit auseinanderzuziehen. Die Autopoiesis ist die geschlossene (zirkulierende) Reproduktion des Systems durch sich selbst; sie läuft ab oder hört auf. Die Struktur ermöglicht dagegen eine Steigerung der Komplexität diese Vorgangs und damit eventuell eine Erweiterung des Bereichs von Umweltzuständen, in denen er möglich ist. Die Autopoiesis definiert die Individualität eines Systems über die Ge schlossenheit seiner zirkulären Selbstreproduktion. Über Struktur­ entwicklung können die Bedingungen erweitert werden, unter denen dies möglich bzw. evolutionär hinreichend wahrscheinlich ist. Gegen­ über der klassischen Soziologie, insbesondere gegenüber ihrer Vorstel­ lung sozialisierbarer Individuen, sind damit die Ausgangspunkte grund­ legend verschoben. Anstelle der Einheit dessen, was man vordem Indi­ viduum nannte, tritt die Differenz von Autopoiesis und Struktur. Des­ halb muß man neu überlegen, was der Begriff der Interpenetration und

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Im Anschluß an Luhmann betrachte ich psychische Systeme als autopoietische Systeme, die einer eigenen Evo­ lution, nämlich Sozialisation (und i.e.S. Indivi duation) un­ terliegen. Bei der Beschreibung psychischer Entwicklung handelt sich immer noch um die Beobachtung psychischer durch soziale Systeme, also Kommunikation über Bewußt­ seinsphänomene. Die psychologische Konstruktion unter­ scheidet sich dadurch von der Soziologischen, daß sie sich nicht auf Soziales (Kommunikation) sondern auf Prozesse in der Umwelt sozialer Systeme, eben die Entwicklung psychischer Systeme (Bewußtsein) bezieht. Andererseits ist Bewußtsein immer schon beteiligt am Zustandekommen solcher Kommunikation. Und der Inhalt dieser Kom­ munikation reagiert auf die Beobachtung von besonderem Bewußtsein, zB. kindlichem Bewußtsein. Die hier the­ matisierte Evolution psychischer Systeme findet statt als Coevolution mit Sozialsystemen auf der Grundlage der Verwendung der gattungsevolutionären Errungenschaft Sinn. 10 Paradoxerwe ise zeigt sich der Charakter der interge­ nerativen Kommunikation als Bestandteil der Autopoiesis sozialer Systeme gerade daran, daß sie von ihren biophysi­ schen Voraussetzungen fast vollständig abstrahiert: sie leitet sich nicht aus ihren Voraussetzungen in der organischen Welt sondern nur aus sich selbst ab. Der Anfang der inter­ generativen Kommunikation ist in modernen Gesellschaften nicht die Einsicht in die Sterblichkeit der Menschen sondern

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was im Zusammenhang damit Inklusion und Sozialisation bedeuten sol­ len - Begriffe, mit denen Parsons am Ende der klassischen Soziologie deren Interesse an Vermittlung von Individuum und Ge sellschaft formu­ liert hatte." (S.6) "Interpenetration kann, wenn man das Konzept der Autopiesis zugrundlegt, nicht bedeuten, daß Elemente der interpenetrie­ renden System partiell identisch sind;.. Inklusion liegt, folgt man dieser Begriffsbildung, immer dann vor, wenn ein autopoietisches psychisches System, das auf der Basis von Bewußtheit operiert, seine Eigen­ komplexität zum Aufbau sozialer Sy steme zur Verfü gung stellt. Das psychische System wird dadurch nicht Teil (auch nicht teilweise) des sozialen systems. Aber es begründet die Möglichkeit, daß Kommunika ­ tion verstanden (nämlich auf gemeinten Sinn bezogen) und Handlung zugerechnet wird." - "Sozialisation ist der Gegenfall. Sie besteht darin, daß das autopoietische Sozialsystem Gesellschaft, das auf der Basis von Kommunikation operiert, seine Eigenkomplexität zum Aufbau psychi­ scher Systeme zur Verfügung stellt. Das Sozialsystem Ge sellschaft kon­ stituiert dadurch keine Enklave, keine besondere 'soziale Identität' im psychischen System." (S.7) - Inklusion definiert somit In dividuen nicht als eine Art Be standteil von Sozialsystemen sondern als bloße Teilneh­ mer i. S. eines - gerade für die Steigerung der Eigenkomplexität sozialer Systeme - konstitutiven Zurverfügungstellens von psychischer Komple ­ xität. Ohne solche Teilnahme würden soziale Systeme gar nicht anlau­ fen. Durch diese Inklusion psychischer Komplexität wird jedoch kei­ neswegs über die Selbstreproduktion der psychischen Systeme verfügt ­ wird also z.B. nicht schon sozialisiert sondern nur Sozialisation (die immer auch anders verlaufen kann) ermö g licht. (s.S.8) Meine Darstellung basiert auf der (keineswegs originellen, daher hier einzugrenzenden) These, daß die gesellschaftlichen Vorstellungen über menschliche psychische Entwicklung diese Entwic klung beeinflussen. Die These darf nicht in soziologistischer Manier generalisiert werden, als ob das psychische System bloß leerer Be hälter sei, in den die Gesell­ schaft ihre Inhalte kippt. Sie gilt vielmehr nur in der spezifischen Zu­ spitzung auf die wechselseitige Adaptiertheit funktional hochdifferen­ zierter Gesellschaften und hochindividualisierter psychischer Systeme. Es handelt sich also um eine Behauptung über eine evolutionär höchst unwahrscheinliche Verknüpfung zwischen bestimmten Einrichtungen der Kommu nikation und bestimmten Entwicklungen des Bewußtseins. Auf einer allgemeineren, gattungsuniversellen Ebene der Darstellung psychischer Entwicklung muß aber zunächst die basale Tatsache der wechselseitigen Adaptiertheit psychischer und menschlicher Organsy­ steme (hier v.a. das neurale System) hervorgehoben werden (eine Tats a­ che, die auch in der diesbezüglichen Kommunika tion noch ihren symb o­ lischen Ausdruck finden muß).


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation die Existenz von Generationsdifferenzen.11 Die Tatsache, daß die leiblichen Träger gesellschaftlichen Wissens sterben und eben deshalb überhaupt das Problem der Tradierung dieses Wissens auftaucht, kann aus der Beobachterperspek­ tive 12 gewußt, braucht aber nicht mitkommuniziert zu wer­ den. Die in der Moderne fast ausschließliche Thematisie­ rung der sozialen Bedeutung des Generationsbegriffs13 darf freilich nicht darüber täuschen, daß die Abhängigkeit der intergenerativen Kommunikation (also letztlich der Au­ topoiesis der Gesellschaft) vom biologischen Genera­ tionswechsel erhalten bleibt. Nur handelt es sich dabei eben um ein Problem in der Umwelt der Gesellschaft, auf das sie intern so oder auch anders und - wie im Folgenden zu zei­ gen sein wird - in der Moderne eben durch Differenzierung der Sozialsystemebenen und Ausdifferenzierung eines dafür spezialisierten Kommunikationsmediums reagieren kann. 1.1 Sozialisation und Individualisierung Das menschliche Individuum läßt sich systemtheoretisch als Letzteinheit, als nicht weiter Teilbares, nicht fassen. Der menschliche Körper besteht aus vielen Teilen, die wenig voneinander wissen - das wußte man schon immer. Die alteuropäische Konstruktion der Seele, als dem Teil, der die Einheit repräsentieren sollte, ist unter dem Angriff moder­ ner Ideen (z.B. der Psychoanalyse) zerbrochen. Dennoch hat die Idee der menschlichen Individualität gerade in der Mo­ derne eine unerhörte Steigerung und Bestätigung erfahren: Individuum ist man nicht mehr einfach - Individualität ist keine feste Substanz des Neugeborenen - man wird es erst. Diese Steigerung gehört zur Semantik des modernen Bil­ dungsmediums, worin menschliche Entwicklung und In­ dividualisierung fast zum Synonym verschmolzen sind. In der soziologischen Theorietradition sind allerdings nur we nige Anstrengungen unternommen wo rden, diese Entwicklung des modernen Selbstverständnisses im Hin­ blick auf die sozialen Bedingungen seiner Möglichkeit zu rekonstruieren. Entweder wird der moderne Individualismus als bloßes Selbstmißverständnis abgetan (und durch Rück­ führung auf soziale Determination "korrigiert") oder norma­ tiv als eine Auflösungserscheinung tradierter Gruppen­ bindungen beklagt. Als wesentliche Bedingung der Entste­ hung individualistischer Orientierungen in der Moderne wird die Eigentumsstruktur der Gesellschaft bzw. die Tauschförmigkeit sozialer Beziehungen diagnostiziert. Die­ se Diagnose ist zumindest als unvollständig zu bezeichnen. Es bleibt unklar (oder behavioristischen Annahmen über die Entwicklung des Bewußtseins überlassen) wie die moder­ nen Eigentums- und Austauschverhältnisse - abgesehen von der Auflösung traditioneller Gruppenorientierungen - posi­ tiv zum Aufbau indivi dualisierten Bewußtseins beitragen 11

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Und auch diese müssen nicht wahrgenommen, können geleugnet werden wie zB. in radikalisierten Partnerschaftsideen der fami lialen Kommuni­ kation heute zu beobachten. Es wäre kaum zweckmäßig, von intergenerativer Kommunikation zu reden - eher von Kommunikationsproblemen, die aufgrund divergenter Wahrnehmung von Zeitereignissen entstehen - wenn das Problem nicht nach wie vor auch darin bestünde, daß Menschen als Teilnehmer an die­ ser Kommunika tion sterblich sind, und daß ihre psychischen Systeme in bestimmten Lebensphasen (wiederum in Abhängigkeit von organischen Prozessen) für die Verarbeitung sozialer Ereignisse besonders emp ­ fänglich sind. Der Bruch mit dominant biologisch-verwandtschaftlichen Kon­ struktionen ist in der entsprechenden Semantik seit der Französischen Revolution nachweisbar.

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können sollen. Diese Verhältnisse - die Interaktionen im ökonomischen und beruflichen, politischen und rechtlichen System der Gesellschaft - zeichnen sich dadurch aus, daß sie jedes Individuum nur unter systemspezifisch funktiona­ len Aspekten involvieren, also ganzheitliche, auf das Ge­ samtspektrum der individuellen Persönlichkeit bezogene Interaktionen gerade ausschließen. Der "Marktin­ dividualismus" selbst ist kein Beitrag zur Individualisierung sondern - qua Auflösung tradierter Bindungsmöglichkeiten ­ allenfalls der Auslöser für eine Entwicklung, die ihre evo lu­ tionären Stabilitätsbedingungen in anderen funktionellen Kontexten hat. Der moderne Individualitätsglaube ist in negativer Hinsicht durch die Exklusion der Gesamtpersönlichkeit aus der Teilnahme an der Kommunikation zentraler Funktions­ systeme der Gesellschaft bestimmt.14 Er hat seine positiven Bedingungen komplementär in Interaktionssystemen, die funktional gerade darauf spezialisiert sind, die Inklusion der Persönlichkeit zu ermöglichen (Familie, Freundschaft, pädagogische Dyade). Diese Systeme unterscheiden sich gravierend von traditionalen Gruppenstrukturen, die die Inklusion der Gesamtperson auf einem eher niedrigen Stand der Individualisierung des Bewußtseins und der Beziehun­ gen der Beteiligten untereinander implizieren. Es handelt sich im wesentlichen um die Ermöglichung von Intimbezie­ hungen - bei zunehmender geschlechts- und gene­ rationsspezifischer Spezialisierung der Funktionen, worauf im Folgenden näher einzugehen sein wird.

2. Evolutionstheoretische Aspekte In der Coevolution psychischer und sozialer Systeme wirkt alle Kommunikation als Sozialisation. Solchermaßen mit­ laufende Sozialisation bewirkt normalerweise irreversiblen Strukturaufbau im psychischen System. Damit ist noch nicht die für die Reproduktion funktional differenzierter Gesellschaften vorausgesetzte Individuierung psychischer Systeme garantiert. Um die entsprechende Diffe­ renzierungsstruktur psychischer Systeme zu gewährleisten, bedarf es offernkundig spezifischer evolutionärer Arrange­ ments der Gesellschaft, um der entropischen Tendenz aller Sozialisation15 ein Stück Reversibilität, Offenheit der Per­ sönlichkeitsentwicklung für die Verarbeitung neuer Er­ fahrungen, einen immer wieder neuen Anfang des psychi­ schen Systems abzugewinnen. Daß Begriffe wie Kindheit, Bildung, Persönlichkeit etwas mit der Funktion des Generationswechsels in moder­ nen Gesellschaften zu tun haben, ist in der all­ tagssprachlichen Semantik und häufig auch in der wissen­ schaftlichen Literatur nicht mehr ablesbar. Zu sehr steht im Vordergrund die pädagogisch-kulturelle Bewertung der psychischen Folgeprobleme des Wandels, der Veränderung empathischer Fähigkeiten oder kognitiver Kompetenzen der beteiligten Individuen. Dies ist keine zufällige Blindheit sondern spiegelt die tatsächliche evolutionäre Ausdifferenzierung der intergene­ rativen Kommunikation. Die Tradierung des ge­ sellschaftlichen Sinnvorrats von Generation zu Generation 14 15

Vgl. Luhmann, 1988a

Ich greife hiermit eine Formulierung von J. Diederich mit Bezug auf das

Entropiegesetz auf - aus einem Papier, das er für das Symposion "Zwi­ schen Anfang und Ende..." in Hamburg, Juni 1988 erstellte.


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vollzieht sich bereits in traditionalen Hochkulturen nicht mehr allein in der "vertikalen" Interaktion zwischen Eltern und Kindern (durch Prägung und Konditionierung wie bei der Tradierung der Gene) sondern immer schon auch in der "horizontalen" Übertragung von Sinn zwi schen Zeitgenos­ sen (durch Beobachtung, Imitation, bewußtes Lehren und Lernen).16 In funktional hochdifferenzierten Gesellschaften ist die intergenerative Kommunikation allerdings soweit von der vertikalen Interaktion zwischen Personen abgelöst, die biologisch verschiedenen Generationen angehören, daß der funktionale Zusammenhang zwischen bestimmten Inter­ aktionen und dem Problem des Generationswechsels für die Gesellschaft nicht mehr ohne weiteres erkennbar ist.

der Dynamik sozialen Wandels selbst.17 Es handelt sich im Folgenden also darum, zwei paral­ lellaufende evolutionäre Vorgänge zu rekonstruieren: einer­ seits eine semantisch-kulturelle Evolution, die auf die Her­ ausbildung eines symbolisch generalisierten Kommu­ nikationsmediums mit binär schematisierten Codes hinaus­ läuft, und andererseits um eine sozialstrukturelle Evolution, die auf die Emergenz eines Funktionssystems für hochindi­ vidualisierte intergenerative Kommunikation hinausläuft. Beide Vorgänge können in manchen Erscheinungsformen konträr laufen. Allerdings muß eine vollständige Beschrei­ bung m.E. darauf hinauslaufen, daß es sich hier um wech­ selseitige Steigerung handelt.

2.1 Semantik der intergenerativen Kommunikation und Gesellschaftsstruktur

2.2 Moderne Probleme der intergenerativen Kommuni­ kation

In gattungsgeschichtlicher Perspektive sind mindestens zwei Ebenen der evolutionären Unwahrscheinlichkeit inter­ generativer Kommunikation zu unterscheiden: 1. die ele­ mentare Ebene der Konfrontation differenter kognitiver Entwicklungs stufen des Bewußtseins im Versuch zweier psychischer Systeme zu kommunizieren und 2. die kompli­ ziertere Ebene der Konfrontation differenter Selektionen des gesellschaftlichen Wissensvorats als Voraussetzungen des Bewußtseins im Versuch, An schluß an bereits evoluierte Strukturen der Kommunikation zu finden. Bei der Konfrontation differenter kognitiver Struktu­ ren - gewöhnlich aufgrund von Unterschieden im Lebensal­ ter - handelt es sich um die gattungsgeschichtlich ältere Konfliktdimension, deren Bedeutung in der Gegenwart in der einschlägigen Literatur als eher abnehmend aufgefaßt wird. Die Differenz kognitiver und emotionaler Entwick­ lungsstufen der Beteiligten verschwindet jedoch nicht aus den Interaktionsbeziehungen. Sie wirkt zB. fort über den Mechanismus der Wiederkehr des auf der höheren Entwick­ lungsstufe Verdrängten, der zu spezifischen Kon­ fliktformen, etwa Agressionen der kognitiv Weiterentwi k­ kelten gegen die An deren, führt. Dagegen nimmt die Bedeu­ tung der Differenz der Generationserfahrungen - nach eben­ falls übereinstimmender Aufassung in der einschlägigen Literatur - aufgrund des beschleunigten sozialen Wandels eher zu. Sie wirkt sich als (eher stummer) Verlust von An­ schlußmöglichkeiten in der familialen Interaktion und als (eher demonstratives) Konfliktpotential in und gegenüber den funktional spezifizierten Organisationsystemen der Gesellschaft aus. Die häufig zitierte Beschleunigung sozialen Wandels in der Moderne läßt sich auf eine Entwicklung der Kommu­ nikationsstrukturen zurückführen, die bereits mit der Schrifttechnik in tradierten Hochkulturen einsetzte. Es han­ delt sich um die evolutionäre Differenzierung zwischen Semantik bzw. der Welt menschlicher Ideen und Gesell­ schaft bzw. der Welt sozialer Strukturen. Die im Selbstver­ ständnis der Moderne ve rtraute Erscheinung, daß Ideen sich von den sozialen Strukturen entfernen - insbesondere von der allgemeinen Differenzierungsstruktur der Gesellschaft ­ und sowohl schneller als auch langsamer als diese verän­ dern können, bewirkt zunächst eine typische Verstärkung

Als eine wesentliche historische Bedingung der Möglichkeit zu der für die Moderne typischen Radikalisierung der Diffe­ renz zwischen Semantik und Gesellschaft und der damit bewirkten Folgen für intergenerative Kommunikation läßt sich die Erfindung des Buchdrucks und damit der massen­ haft ermöglichten temporalen Aufspaltung der drei zu jeder Kommunikation gehörenden Operationen: Information, Mitteilung und Verstehen ansehen. Es ist das Verdienst der vielzitierten Studie N.Postmans, auf den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Kindheit und der Ver­ änderung der Kommunikation infolge des Buchdrucks auf­ merksam gemacht zu haben. Postman verdinglicht aller­ dings diesen Umstand als Vorenthalten bzw. Verschlüsseln von kindheitsgefährdenden Informationen der Erwachse­ nengesellschaft, statt allgemeiner zunächst die Selektivi tät der dadurch ermöglichten kommunikativen Strukturen für Bewußtsein heranzuziehen, wie dies in seiner These, daß der Buchdruck die Gesellschaft in der frühen Moderne radi­ kal veränderte, durchaus angelegt ist. Es geht nicht bloß um eine durch den Buchdruck bewirkte Verschlüsselung von Informationsmöglichkeiten. Die Differenzierung der sozia­ len Kommunikation, die u.a. durch den modernen Schrift­ verkehr ermöglicht und gesteigert wird, bewirkt u.a. die Ausdifferenzierung eines spezifischen Mediums für die intergenerative Kommunikation. Die Verallgemeinerung der Schreib- und Lesetechniken in der Folge des Buch­ drucks ist in diesem Kontext nur eine - wegen ihrer Sinn­ fälligkeit häufig überinterpretierte - Restriktion der Ko m­ munikationsmöglichkeiten, die spezifische Anstrengungen zu ihrer Überwindung (durch Schulorganisation) auslöst.18 Erst an der Entwicklung des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums für intergenerative Kommunika­ tion läßt sich die dramatische Steigerung der Anschluß­ restriktionen für Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern in der Moderne angemessen rekonstruieren.

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Vgl. Bühl, 1984, S. 306f: Die Bedeutung dieser "horizontalen Trans­ mission ist umso größer, je komplexer eine Gesellschaft ist bzw. je bes­ ser die Sozialis ationsinstitutionen von Schule, Ausbildung und Massen­ kommunikationsmitteln ausgebaut sind."

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Die Möglichkeit hierzu läßt sich bereits im Modell der ele mentaren Verschiedenheit von Bewußtsein und Kommunikation in der Sinnevolu­ tion und ihrer wechselseitigen Steigerung als Coevolution rekosntruie­ ren. Semantische Entwicklungen sind zwar ebenso Bestandteile der Kommunikation wie Handlungen und Handlungserwartungen. Jedoch kann Bewußtsein mit den Mitteln der Sprache die Grenzen des Sozials y­ stems unterlaufen, sprachlich konstituierte Symbole anders verknüpfen, und mit die sen Verknüpfungen erneut Anschluß an Kommunikation fin ­ den. Ebenso aber kann es sich gegen sprachlich neu konstituierte Ko m­ munika tionsinhalte sperren und stattdessen an tradierten Ideen festhal­ ten. Zur Darstellung des 17. und 18. Jh. vgl. Snyders, 1971 s. auch dessen Rousseau-Darstellung gegen Ariés (und Folgen s.Postman).


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation Das zentrale Problem der intergenerativen Kommu­ nikation, für das die moderne Gesellschaft eine evolutionäre Lösung finden muß, ist die funktionale Differenzierung der Gesellschaft selbst.19 Diese Differenzierungsstruktur be­ deutet für die Evolution psychischer Systeme in der Coevo­ lution psychischer und sozialer Systeme die Anforderung, sich auf Heterogenität der Situationen einzustellen (von System zu System verschiedenartige Elementaroperationen zu vollziehen, um kommunikativ Anschluß zu gewinnen) und dabei die eigene Autopoiesis als Entwicklung (dh. strukturelle Steigerung von interner Komplexität) zu voll­ ziehen. Das Problem erhöhter Teilnahmeschwellen auf­ grund der Differenzierungsstruktur der Gesellschaft läßt sich mit Bezug auf die teilnehmenden psychischen Systeme beschreiben als Problem der Umstellung des Bewußtseins von Einheit auf Differenz20. Als Einheit fungiert in der Perspektive sich entwickelnder psychischer Systeme die frühkindliche Symbiose und ihre postsymbiotische Verar­ beitung im Bewußtsein, als Differenz die Differen­ zerfahrung zwischen Ego und Alter in frühkindlicher In­ teraktion, die als Exklusivi tät des Bewußtseins gegenüber Sozialsystemen konstitutiv für den Aufbau des individuellen Bewußtseins wird und die durch die anschließende Teil­ nahme an komplexeren Sozialsystemen i.S. eines individu­ ellen Bildungsprozesses gesteigert wird.21 Allgemein betrachtet sind für die Bewältigung dieses Problems sehr verschiedene Lösungen möglich. Sie sind so vielfältig wie die Kommunikationsmöglichkeiten selbst, an denen Personen unterschiedlicher Generation teilnehmen. Auch im Verhältnis zum Stand gesellschaftlicher Diffe­ renzierung retardierende Lösungsversuche wie zB. die Bil­ dung von entdifferenzierten Sozialsystemen in sozialen Gruppen oder Bewegungen können für die beteiligten psy­ chischen Systeme zu coevolutiven Bestandteilen ihres Bil­ dungspfades werden. In der tatsächlichen Entwicklung mo­ derner Gesellschaften haben sich jedoch nur wenige Lösungsmöglichkeiten evolutionär stabilisieren können.22 Es handelt sich nach meiner Vermutung tendenziell nur um je eine generalisierte funktionsspezifische Lösung auf jeder Ebene sozialer Systembildung: 1. auf der Ebene von Interaktionssystemen die Eltern-KindBeziehung, in der anstelle der tradierten Altersrollenbe­ ziehung (Erzieher/Zögling) eine hochindivi dualisierte Intimbeziehung (Entwicklungsdyade) tritt; 2. auf der Ebene von Organisationssystemen der schulische Unterricht, in dem anstelle der traditionellen Autoritäts­ stellung des Lehrers qua überlegenem Wissen ein neues Professionalitätsverständnis qua Vermittlung von Lern­ 19

"Gesellschaft wäre nicht möglich, wenn die Teilnehmer sich nicht vor­ stellen könnten, daß Handlungskonstellationen sich von Situation zu Si­ tuation ändern, und wenn sie die Anforderungen nicht bewältigen könn­ ten, die sich für die Konstitution des Sinnes der Handlungen daraus er­ geben." Luhmann, 1980, S.23. 20 Mit dieser Formel beschreibt Luhmann ein spezielleres Problem: den erforderlichen Paradigmenwechsel im Wissenschaftssystem, der zu einer adäquaten Beschreibung der Verhältnisse in funktional differenzierten Gesellschaften gefordert ist. Die Formel läßt sich jedoch auch auf die Probleme des Bewußtseins in mo dernen Ge sellschaften anwenden. Da­ mit kommen andere Mittel zur Problemlösung in den Blick. 21 Vgl. Gilgenmann, 1986 22 Den Gründen für diese Einschränkung kann hier nicht weiter nachge­ gangen werden. Es sind offensichtlich Dieselben, derentwegen die tra­ dierten Strukturen der Familie und Schule immer weniger Vorausset­ zungen für entsprechende Lösungen bieten.

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fähigkeit (Lernen des Lernens) tritt; 3. auf der Ebene der Gesellschaft das ausdifferenzierte Bil­ dungssystem, in dem anstelle der tradierten Verkoppe­ lung von Bildungs- und Berufschancen eine über Bil­ dungskarrieren vermittelte Individualisierung tritt.

2.3 Zum gegenwärtigen Wandel Meine Kernthese bezieht sich auf die Evolution eines Kommunikationsmediums für die intergenerative Kommu­ nikation als Lösung für das Problem funktionaler Dif­ ferenzierung der Gesellschaft für die Sozialisation (Evoluti­ on) von Bewußtsein. Als intergenerative Kommunikation bezeichne ich all jene Synthesen von Information, Mitteilung und Verstehen (zwischen Personen mit Bewußtsein) die die Funktion er­ füllen23, die Autopoiesis der Gesellschaft angesichts des biologisch/biographisch bedingten Wechsels der Generatio­ nen zu sichern. Die Probleme der intergenerativen Kommu­ nikation in funktional hochdifferenzierten Gesellschaften lassen sich zusammenfassen in der Frage, wie für die in steigendem Maße unwahrscheinlichen Selektionen der aus­ differenzierten Kommunikation die notwendige Annahme­ bereitschaft in der Evolution psychischer Systeme (entwick­ lungsstufenspezifisch) bereitgestellt werden kann. Ich ver­ mute, daß diese Verknüpfung von Motivation und Selektion nicht mehr zureichend über personale Interaktion - und schon gar nicht über pädagogische Intentionen - zwischen Mitgliedern verschiedener Generationen geleistet werden kann, und daß die Gesellschaft hierfür ein symbolisch gene­ ralisiertes Kommunikationsmedium ausdifferenziert hat. Ich nenne das entsprechende Medium in Anknüpfung an einen alteingeführten Sprachgebrauch - und trotz der Überladenheit der entsprechenden semantischen Tradition24 - Bildung. Diese Anknüpfung läßt sich m.E. durch em­ pirische Hinweise darauf rechtfertigen, daß die Evolution dieses Kommunikationsmediums in einer coevolutionären Beziehung zu einem Individualisierungsschub des Be­ wußtseins in der Umwelt funktional hochdifferenzierter Gesellschaften zu stehen scheint, wie er in der tradierten Bildungssemantik stets unterstellt war. Die empirischen Veränderungen der Gesellschafts­ struktur, in deren Kontext der angesprochene Individualisie­ rungsschub einerseits und die Ausdifferenzierung des funk­ tionsspezifischen Kommunikationsmediums Bildung ande­ rerseits zeitdiagnostisch zu verorten sind, lassen sich grob in drei Punkten skizzieren. 1. Wandel der Arbeitsrollen: Auflösung der tradierten Diffe­ renzierung zwischen Erwerbs- und Nichterwerbsarbeit und Indivi dualisierung durch biografisch häufigeren Wechsel zwi schen den entsprechenden Funktions­ 23

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Die aber keineswegs mit dieser In tention initiiert sein müssen wie im Falle von Erziehung. Die Be zeichnung Bildung für das hier rekonstruierte symbolisch genera­ lisierte Kommunikationsmedium knüpft an eine semantische Tradition an, die mit vielerlei Assoziationen belastet ist, die für die Deutung des spezifischen Gegenwartsphänomens aus soziologischer Perspektive nicht weiter dienlich sind. Dies gilt freilich in ähnlicher Weise für ande­ re Medienentwicklungen wie Wahrheit, Liebe, Eigentum, Geld, Macht und Recht, die allesamt vormoderne Traditionen aufweisen, die im ge­ genwärtigen Sprachgebrauch nachwirken und das Verständnis ihrer funktionsspezifischen Wirkung eher erschweren.


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation systemen. 2. Wandel der Geschlechtsrollen: Auflösung der tradierten Differenzierung zwi schen den Geschlechtern entlang Fa­ milienarbeit und Erwerbsarbeit und Individualisierung durch biografisch häufigeren Wechsel beider Geschlech­ ter zwischen den entsprechenden Funktionssystemen. 3. Wandel der Generationsrollen: Auflösung der tradierten Rollendifferenzierung (innerhalb und außerhalb der Fa­ milie) zwischen Personen, die verschiedenen Gene­ rationen angehören und Indivi dualisierung durch Auf­ lösung traditioneller Koppelungen zwischen Bildung und Beruf und biografisch häufigeren Wechsel zwischen entsprechenden Funktionssystemen (Bildungsphasen und Erwerbsarbeitsphasen). Der heute zu beobachtende Wandel der intergenerativen Kommunikationsstrukturen betrifft sowohl die kindlichen Entwicklungsbedingungen in der Familie als auch die orga­ nisierten Teile des Bildungssystems. Gefährdungen der Systemfunktion werden der gesteigerten Geschwindigkeit sozialer Evolution und der zunehmenden Komplexität und Ausdifferenziertheit von Kommunikationsangeboten zuge­ schrieben, mit der die Selektionsmittel pädagogischer Kommunikation nicht mitzuhalten vermögen. Zu beobach­ ten ist zunächst ein Auflösungsprozess tradierter Lö ­ sungsmuster des Generationsproblems: die Familie im Zuge der Auflösung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, die Schule im Zuge der Auflösung der Koppelung zwischen Bildungs- und Berufskarrieren. Familie und Schule erhalten schärfere System/Umwelt-Grenzen und erscheinen eben­ deshalb je für sich zunehmend untauglich, die Probleme psychischer Entwicklung in funktional differenzierten Ge­ sellschaften zu lösen.25 Die Individualisierung des Bewußtseins in funktional differenzierten Gesellschaften hat die allgemeine Folge, daß als stärkstes überindividuelles Band (anstelle von Klassen­ lage, Schicht, Familie etc. der jeweilige Generationszu­ sammenhang - also gerade der temporär geprägte Erfah­ rungszusammenhang - einer im Großen und Ganzen unter ähnlichen Bedingungen auf wachsenden Generation üb­ rigbleibt. Umso stärker wirkt andererseits die Differenz dieser - im Grundbestand der sozialen Orientierung sedi­ mentierten - Erfahrungen in der Zeitdimension als Moment zunehmender Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation. Der traditionelle (personale) Generationskonflikt26 ist kein Problem der intergenerativen Kommunikation in die­ sem Sinn, denn darin taucht das Problem des Nichtverste­ hens bzw. der Unwahrscheinlichkeit des Verstehens (i.S. der Anschlußfähigkeit von Selektionen Alters an die Moti­ vation Egos) noch kaum auf (wird nicht in der Kommunika­ tion selbst reflektiert bzw. durch institutionelle Ar ­ rangements berücksichtigt). Es geht bei der hier zu themati­

sierenden Unwahrscheinlichkeit nicht um Konflikt oder Konsens zwischen den Generationen ("Krieg" oder "Ver­ trag") sondern um die Anschlußfähigkeit dieser Art von Kommunikation überhaupt.

3. Kommunikationstheoretische Aspekte In der Entwicklung symbolisch generalisierter Kommunika­ tionsmedien zeigt sich generell eine Differenzierung zwi­ schen solchen, die ihren evolutionären Ausgangspunkt in der Entwicklung von Funktionsbereichen haben, in denen unpersönliche Beziehungen dominieren (wie im Falle der Wirtschaft, der Politik und des Rechts) und solchen, in denen die persönlichen Beziehungen dominieren (wie im Falle von Familie und Kunst). Im Fall der Ersteren wird durch die Medienentwicklung - insbesondere durch die binäre Schematisierung des Codes - die Unpersönlichkeit, dh. zB. die Austauschbarkeit der Personen im Machtbereich oder in Geldgeschäften, noch gesteigert. Im anderen Falle wird offensichtlich umgekehrt proportional dazu die Ab­ grenzung von den Erwar tungsstrukturen unpersönlicher Beziehungssysteme gesteigert.27 Zu den Letzteren ist m.E. auch Bildung zu zählen. Die Besonderheit des Bildungsmediums innerhalb der indi­ vidualitätszentrierten Medien besteht darin, daß zwar der Persönlichkeitsbezug unabdingbar, dieser aber als Selbstbe­ zug (Individualität) auch ohne Wechselseitigkeit (wie bei Liebe) gesteigert werden kann. Dies hat mit der spezifi­ schen Funktion des Mediums zu tun, in der es darum geht, die Indivi dualität gerade in der Auseinandersetzung mit den unpersönlichen Funktionssystemen zu stabilisieren. Für eine knappe vorläufige Charakterisierung des funktionsspezifi­ schen Bildungsmediums werden drei Punkte wichtig: Erstens das gesellschaftliche Sonderproblem, auf das die Entwicklung dieses Mediums reagiert, nämlich funktio­ nale Differenzierung der Gesellschaft selbst als Teilnahme­ problem für sich entwickelndes Bewußtsein. Ich bin darauf (im vorigen Ab schnitt) bereits eingegangen. Das ge­ sellschaftliche Sonderproblem, auf das die Evo lution eines funktionsspezifischen Kommunikationsmediums antwortet, ist das Problem funktionaler Differenzierung als Ent­ wicklungsbedingung für Persönlichkeitsstrukturen (die Evolution hochindivi dualisierter psychischer Systeme) selbst. Dieses Problem wird in dem Maße vi rulent, in dem die Bildung der Persönlichkeit qua Inklusion in gesell­ schaftlichen Funktionssystemen (bzw. qua mitlaufender Sozialisation in funktionsspezifischer Kommunikation) ausgeschlossen ist. Zweitens die kommunikative Konstellation zwischen Ego und Alter, in der eine funktionsspezifische Festlegung 27

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Die ökologische Sozialisationsforschung (Bronfenbrenner, 1981) die eine "Sozialpolitik für Kinder" (Lü scher u.a.) wissenschaftlich un­ terstützen will, reagiert mit der theoretischen Erweiterung der Umfeld ­ beobachtung in der Beschreibung der Entwicklungsbedingungen von Kindern offensichtlich bereits auf das Durchlässigwerden traditioneller Begrenzungen der kindlichen Er lebenswelt in Familie und Schule. Zur Entpersonalisierung des Generationenkonflikts s. Riedel, 1969. Die Auflösung des personal/familial bestimmten Genera tionskonflikts ist gleichbedeutend mit der Prolongierung von Bildungsprozessen. Denn das Ende des Konflikts war stets auch das Ende des jeweiligen Bil­ dungsprozesses der beteiligten Individuen (S. 39)

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Die für Mediengebrauch generell charakteristische Abstraktion von Personen steht nicht im Widerspruch zu der bei bestimmten Medien vorgegebenen funktionalen Spezialisierung auf hochindividualisierte Beziehungen bzw. Persönlichkeitsentwicklung. Das Medium ermö g licht sie gerade durch selektive Indifferenz gegenüber anderen Aspekten per­ sönlicher Beziehungen (im Falle des Bildungsmediums zB. gegenüber sonst üblicher persönlicher Verantwortungszuschreibung für kindliche Handlungen). Andererseits wäre eben diese individualitätssteigernde Leistung in der igK nicht möglich, wenn sie nicht durch das Medium symbolisch generalisiert (in Entwicklungsdaden jenseits der Interaktion mit spezifischen Bezugspersonen, in der Unterrichtsorganisation, in der funktionssystemischen Bezugnahme auf Massenkommunikationsmittel) kommunikativ zur Verfügung stünde.


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation auf Subjektität bzw. Indivi dualität des Erlebens (von Alter) gegeben ist. Hier geht es darum, wie das Kommunikati­ onsmedium mit einer spezifischen Konstellation der Be ­ ziehungen zwischen Ego und Alter in der Strukturierung der Kommunikation zusammenhängt und welche Restriktionen für mögliche Evolution sich daraus ergeben. Anders ausge­ drückt: wie Motivation und - evolutionär unwahrscheinliche - Selektion hier kombiniert werden. Drittens schließlich die Ausdifferenzierung der inter­ generativen Kommunikation entlang der drei Ebenen der Sozialsystembildung (Interaktion, Organisation, Gesell­ schaft). Unter diesem Gesichtspunkt komme ich auf die ­ bereits in 2.2 unter dem Gesichtspunkt evolutionärer Errun­ genschaften skizzierte - Beschreibung der Systemebenendif­ ferenzierung zurück. 3.1 Die Ego-Alter-Konstellation in der Genese des Bil­ dungsmediums Als semantische Evolution reagiert das Bildungsmedium auf dieselbe gesellschaftliche Problemlage wie das Liebes­ medium: auf gleichzeitige Zunahme persönlicher und un­ persönlicher Beziehungen - oder anders betrachtet: auf zu­ nehmende Individualisierung. Das Bildungsmedium hat je­ doch funktional eine andere Stoßrichtung: nicht auf Ausdif­ ferenzierung von hochindividualisierter In­ timkommunikation sondern auf Teilnahme an unper­ sönlicher Kommunikation trotz Individualisierung - oder genauer in doppelter Hinsicht: unter Wahrung der Indivi­ dualität (Exklusion des Bewußtseins) und unter der Vor­ aussetzung von Individualität (Bewußtsein als Repro­ duktionsbedingung komplexer Sozialsysteme). Ebenso wie Liebe gehört Bildung in den Kontext der Soziogenese von Individualität. Handelt es sich bei Liebe um ein Medium28, das hochindividualisierte und damit unwahrscheinliche Kommunikation gegen entsprechende Außendruck ermö glicht, so bei Bildung um ein Medium, das insofern einen komplementären Fall bearbeitet, als es darum geht, die Indivi dualität der Person (des Be­ wußtsein.s) bei der Teilnahme an strukturell unpersönlicher (Individualität nicht einschließender) Kommunikation zu ermöglichen. Beide Medien setzen die Differenzierung zwischen persönlicher und unpersönlicher Sphäre bereits voraus, und beide wirken asymmetrisch mit Bezug auf die Persönlichkeit. Liebe steigert diese Differenz, indem sie höchstpersönliche, intime Kommunikation ermöglicht. Bildung steigert sie, indem sie das Bewußtsein mit der Dif­ ferenz zwischen persönlicher und unpersönlicher Kommu­ nikation vertraut macht (also die Exklusivität der Persön­ lichkeit entwickelt und auf multiple funktionale Inklusion vorbereitet). Daß dies kein geringes Funktionsproblem war, zeigt die Geschichte der pädagogischen Reflexionstheorien, die die Versuche, Individualität der Persönlichkeit als Ziel von pädagogischen Interventionshandlungen zu bestimmen, nur in Paradoxien umschreiben konnten. Eine grundlegende Schwierigkeit im pädagogischen Verständnis der ig Kommunikation bestand (und besteht noch) in der Verkürzung auf (Interventions-)Handeln29. Pädagogik erscheint nur als eine Art von Machtlegitimation: 28 29

Luhmann, 1982c S.21 ff.

Das gilt selbstverständlich auch dann, wenn es abgelehnt wird, wie in der

sog. Antipädagogik.

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der kommunikative Anschluß wird dadurch zu gewähr­ leisten versucht, daß Al ters Handeln Egos Handeln sele­ giert. Und eben dies gelingt nur unsicher, weil die psychi­ sche Entwicklung, die beeinflußt werden soll, sich diesem kommunikativen Zugriff stets entziehen kann. 30 Demge­ genüber läßt sich zeigen, daß in der intergenerative Kom­ munikation eine Codierung von Vorstellungen über kindli­ che Entwicklung sich durchsetzt, bei der nicht die dem Machtcode entsprechende Zurechnungskonstellation son­ dern eher eine dem Liebescode entsprechende Beziehung zwischen den Interakteuren gegeben ist: Alters Erleben (Wahrnehmung, psychische Struktur) selegiert Egos Han­ deln. Das Erwachsenen-Ego handelt mit pädago gisch rele­ vanten Unterstellungen über Kind-Alters Erleben (und nicht vorrangig seinen Handlungen). Selbst bei pädagogischen Bestrafungshandlungen sind nicht die Kindeshandlungen sondern seine Motive relevant. Die Evolution der pädagogi­ schen Semantik läßt sich also auch rekonstruieren als Ab­ grenzung pädagogischer Kommunikation vom Typ der Machtkommunikation zugunsten der Liebeskommunikation. Die Wahrnehmung eines Alter Ego ist nicht als Re­ sultat sondern als eine konstitutive Voraussetzung von Kommunikation zu rekonstruieren31. Das ist eine Folge des Umstands, daß jede Teilnahme an Kommunikation die Un­ terscheidung zwischen Information (Inhalt) und Mitteilung (Adresse) im Bewußtsein bereits voraussetzt. Wer eine Information nicht mitteilt, also an niemanden adressiert, kann auch nicht kommunizieren. Die dritte - hiervon zu unterscheidende - Operation, die zum Gelingen von Kom­ munikation gehört, nämlich das Verstehen, also die Annah­ me von seiten des Adressaten-Bewußtseins, ist bei der Konstitution des Alter Ego (in der Sozialdimension) eben­ falls bereits vorausgesetzt: als Adaptiertheit allen Bewußt­ seins für kommunikative Angebote. Diese Voraussetzung kommt aber erst durch intergenerative Kommunikation auf dem jeweiligen Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Kommunikation zustande. Intergenerative Kommunikation wird hier spezifiziert unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der Person dh. v.a. ihres Bewußtseins als kognitive oder motivationale Voraussetzung für Handlungsselektionen. Auch dort, wo es um Handlungen geht, die normalerweise der Person (i.S. der Verantwortlichkeit) zugerechnet würden, wird in der päd­ agogischen Sonderko mmunikation diese Zurechnung relati­ viert und die konkrete Handlung auf die Entwicklung ihres Erlebens bezogen. Die kindlichen Handlungen werden - und zwar im Bewußtsein aller Beteiligten - uminterpretiert im Hinblick auf das zugrundeliegende Erleben. Damit werden sie desaktualisiert, aus der aktuellen Situationsrelevanz (Verantwortung der handelnden Person) herausgenommen und eher unspezifisch auf Zukunft (die zukünftige Entwick­ lung des Bewußtseins der Person) bezogen. Alters Erleben wird zum Ausgangs- und Anschluß­ 30

Mit Bezug darauf meint Luhmann (1984 S.628; Luhmann/Schorr 1979, S.54f) daß für das Erziehungssystem ein entsprechender Mediencode nicht ausgebildet worden und Bildung nur als eine Kontingenzformel zu betrachten sei, mit der das System die Probleme seiner Selbstreferen­ tialität aus der funktionsspezifischen Kommu nikation ausblendet. Ich möchte in dieser auf die Darstellung des Theorierah mens beschränkten Zwischenfassung auf Erörterungen verzichten, die sich explizit mit der Differenz zu themenspezifischen Vorgaben bei Luhmann und Luh­ mann/Schorr befassen. 31 Luhmann, 1988b S.18


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation punkt für Egos Handeln wie im Falle des Liebesmediums. Ego erscheint jedoch nicht als Anbieter von Intimkommuni­ kation sondern mit einer Bildungsofferte. In beiden Fällen ist der Individualitätsbezug - gegen die Zumutungen anderer Sozialsysteme und entsprechend unpersönlicher Kommuni­ kation - relevant. Handelt es sich jedoch bei Liebe unmittel­ bar um Ermöglichung persönlicher Kommunikation, so bei Bildung um deren Ve rwendung für die Stabilisierung der Persönlichkeit gegenüber - und mit Bezug auf - un­ persönliche und funktionsspezifische Kommunikation. Die Abgrenzung vom Liebescode, der v.a. in geschlechts­ spezifischen Intimbeziehungen gilt, liegt gerade in jener eingebauten kognitiven Asymmetrie, die beim Erwachsenen und beim Kind jeweils ganz unterschiedliche Aus­ gangsleistungen verlangt, um Kommunikation zu ermögli­ chen. 3.2 Ausdifferenzierung der intergenerativen Kommuni ­ kation entlang der drei Sozialsystemebenen Die Wirkung des funktionssystemspezifischen Mediums er­ streckt sich auf alle drei Sozialsystemebenen32. Diese über­ greifende Wirkung bedeutet nun keineswegs, daß die bisher beschriebene Differenz der drei Systemebenen wieder ein­ gezogen würde. Im Gegenteil: Die Wirkung des Mediums basiert gerade darauf, daß die Ebenen gegeneinander diffe­ renziert sind und damit die Bedingung für ein kausal vo n­ einander unabhängiges Zusammenwirken der drei evo ­ lutionären Mechanismen: Variation in Interak­ tionssystemen, Selektion in Organisationssystemen und Restabilisierung im ausdifferenzierten Funktionssystem, erfüllt ist. Das Medium Bildung dient der Sicherung der An­ nahmebereitschaft für eine evo lutionär unwahrscheinliche Kommunikation, in der sich die Indi vidualität des Be­ wußtseins angesichts funktionaler Differenzierung be­ hauptet. Die tradierte Semantik der Erziehung ist dabei als vordifferenzielle Quelle der Medienentwicklung zu be­ trachten. Die alteuropäische Codierung der pädagogischen Semantik (erzogen/unerzogen oder Erziehung vs. mißlun­ gene Erziehung) zielte undifferenziert auf Verhalten, ohne zwischen dahinterstehendem Bewußtsein, Indivi dualität einerseits und Handlungen, kommunikativen Kompetenzen andererseits unterscheiden zu können. 33 Der Fortschritt der pädagogischen Kommunikation liegt in der Differenzierung zwischen einer Primärcodierung - dem Entwicklungscode - worin der Anspruch auf Se­ lektion von Verhalten (der aussichtslose Versuch gezielter Veränderung von Bewußtsein über Kommunikation) einer­ seits zurückgenommen wird zugunsten der Selbstreferenz der Bewußtseinsentwicklung und andererseits verlagert 32

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Auf zwei weitere Einrichtungen des Mediums ist an dieser Stelle nur hinzuweisen: Auf der Ebene der Interaktion wird diese un­ wahrscheinliche Konstellation abgesichert durch einen spezifischen Körperbezug, der sich in der pädagogischen Semantik unschwer ent­ schlüsseln läßt als symbolische Bezugnahme auf Aggressivität (als "symbiotischem Mechanismus"). Auf der Ebene der Organisation wird diese Konstellation abgesichert durch den gesellschaftlich sanktionierten Zwang zur Individuierung über die Auseinanderetzung mit vorhan­ denem Wissensvorrat ("Selbstbefrie digungsverbot"). Insofern differenziert sich die frühmo derne pädagogische Semantik auch - wie viele ihrer Kritiker schon bemerkt haben - nicht zureichend gegen­ über dem Medium Macht, worin nicht Alters Er leben sondern sein Han­ deln zum Anschlußpunkt für Egos Handeln wird.

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wird in die Selektivität der Organisation Schule mit ihrem Zweitcode Selektion, worin binär schematisiert wird nach Lob/Tadel, Bestanden/Nichtbestanden (bzw. entlang Zensu­ ren)34. Der für das Bildungsmedium primär relevante Ent­ wicklungscode differenziert sich noch einmal gegenüber jener anderen Leitdifferenz der pädagogischen Semantik, die im Organisationssystem Schule - gewissermaßen gegen das emphatische Selbstverständnis der Pädagogen - sich herausgebildet hat. Deren semantische Genese ist zunächst außerhalb der pädagogischen Semantik in Entwicklungen des Berufssystems - v.a. der Abschaffung der feudal-staatli­ chen Amtsappropriation zugunsten von Qualifikationsdi­ plomen - zu suchen. Historisch läßt sich die Entstehung dieses Schematismus aus der Funktion der höheren Bil­ dungsabschlüsse für bestimmte Berufsmonopole (Staatsbe­ amte, Akademiker) rekonstruieren.35 Im Zuge seiner Verall­ gemeinerung im Bildungssystem (funktionale Inklusion Al­ ler) und seiner Respezifizierung auf organisatorischer Ebene transformiert sich dieser Mechanismus zum Zweitcode des Bildungssytems, dessen selektive Funktionen sich aus­ schließlich auf bildungssysteminterne Prozesse beziehen. Seine Außenfunktion besteht nicht mehr in der lebensge­ schichtlichen Sicherung von Berufskarrieren sondern allen­ falls in deren Ausschluß.36 In dieser, den Individualisie­ rungsdruck erhöhenden, Negativfunktion steckt positiv die Funktion der Zweitcodierung für die Sicherung der Au­ topoiesis des Bildungssystems gegenüber seiner funk­ tionssystemischen Umwelt (v.a. dem Arbeitsmarkt des Wirtschaftssystems). Im theoretischen Nachvollzug dieser Differenzierung liegt die Lösung so mancher Probleme der pädagogischen Reflexion des Bildungssystems: Während der Ent­ wicklungscode sich ausschließlich auf die Individualität des Bewußtseins bezieht (ohne intentional auf es einzuwirken) bezieht der Selektionscode sich ausschließlich auf die Kompetenz des Handelns (ohne auf die Individualität des Bewußtseins Rücksicht zu nehmen). Bildung als symbolisch generalisiertes Medium der Kommunikation erfüllt ihre Funktion für die intergenerative Reproduktion der Gesell­ schaft, weil drei unabhängig voneinander wirkende Mecha­ nismen der Evolution (hier als Coevolution psychischer und sozialer Systeme) zusammenwirken: die Entwicklungs­ dyade als Variation, das Bildungsmedium als Selektion und das ausdifferenzierte Funktionssystem als Restabi­ lisierungsbedingung der intergenerativen Kommunikation. Ich habe die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerative Kommunikation zunächst zu beschreiben versucht als Problem des sich entwickelnden Bewußtseins angesichts funktionaler Differenzierung der Gesellschaft. Die für funktionale Differenzierung typische soziale Inklu­ sion der Individuen unter ausschließlich funkti­ onsspezifischen Aspekten führt zur Selbstbeschreibung des menschlichen Bewußtseins als extrafunktionale Individuali­ tät. Die Individualität des Bewußtseins ist zu ihrer coevolu­ tionären Realisierung als psychische Entwicklung angewi e­

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Luhmann und Schorr, 1979, S.300ff.

Mit der Ersetzung der adligen Amtsappropriation durch ein über Bil­

dungsdiplome ausgewiesenes Leistungsprinzip wurde je doch in bio­ graphischer Perspektive zunächst nur ein prästabilisierter Karrierepfad durch einen Anderen ersetzt. 36 S. entsprechende Ausführungen bei U.Beck, 1986, Kap.V und VI 35


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation sen auf funktionsspezifische Einrichtungen auf allen drei Sozialsystemebenen und ein diese Ebenen übergreifendes Medium der Kommunikation. Auf der Ebene der Interaktion handelt es sich um personalisierte Entwicklungsdyaden, in denen jedoch keine pädagogische Intention mehr Platz hat. Auf der Ebene der Organisation handelt es sich um (päd­ agogische) Formen des Unterrichts, in denen jedoch kein Platz mehr für externe Zweckbestimmungen ist. Auf der Ebene des Funktionssstems handelt es sich schließlich um die Stabilisierung dieser höchst unwahrscheinlichen Kom­ munikation in Abgrenzung zu den Erwartungen anderer Funktionssysteme und als Beitrag der intergenerativen Kommunikation zur Autopoiesis der Gesellschaft.

4. Zur Codierung der intergenerativen Kommuni­ kation Daß es sich bei der alltäglichen Bezugnahme auf die Vo r­ stellung kindlicher Entwicklung um die Verwendung eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums han­ delt, kann man u.a. daran feststellen, daß Gegen­ vorstellungen - nicht nur im Alltag sondern häufig sogar im Wissenschaftsbetrieb - kommunikativ nicht anschlußfähig sind, entweder als Bezug auf empirische Sonderfälle de­ thematisiert oder moralisch geächtet werden (zB. biologi­ sche Vorstellungen in der Soziologie). Bei der Beschrei­ bung als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedi­ um geht nicht um die Frage der Wahrheitsfähigkeit der Aussage sondern um ihren gesellschaftlichen Konstrukt­ charakter.37 Es handelt sich um historisch kontingente Va­ riationen einer Semantik, deren Entwicklung bis heute nicht abgeschlossen ist. Es lassen sich allerdings Rückwi rkungen auf die soziale Struktur der Kindheit, Schule und des Ge ­ nerationswechsels überhaupt beobachten: In der sozialen Dimension die Verschiebung von di­ rekter pädagogischer Intervention zu subtiler Reflexion ­ und versuchsweise pädagogisch-politischer Beeinflussung ­ aller sozialen und materiellen Umwelteinwirkungen (vom Erzieher-Zögling-Verhältnis zur sozialpolitisch motivierten ökologischen Sozialisationsforschung). In der temporalen Dimension die Tendenz zur Vo r­ verlegung der prägenden Einflüsse in die frühe und frühe­ sten Entwicklungsphasen des Kindes. Kindheit dauert inso­ fern länger im Vergleich zur frühbürgerlichen Version, die erst mit dem 7. Lebensjahr einsetzte, obwohl andererseits sich auch noch die Phasen der Jugend und Adoleszenz zwi­ schen Kindheit und Erwachsensein schieben. In der sachlichen Dimension die Tendenz zur Ausdif­ 37

In diesem Sinne erweist sich die symbolische Generalisierung gerade darin, daß ihre wesentliche Aussage noch in sehr verschiedenartigen - in der Wirklichkeit sozialer Auseinandersetzungen heftig umkämpften Positionen wiederzufinden ist : - in den Anfängen der modernen Päd­ agogik (Locke vs. Rosseau, vgl. Kagan, 1987 S.123)- in den wieder­ kehrenden Er neuerungsbewegungen der Pädagogik, insbesondere in Auseinandersetzung mit den wirklichen Effe kten der Schule ("vom Kin ­ de aus") - in den diesbezüglichen Reflexionen jenseits der Pädagogik, insbesondere der Entwicklungspsychologie im 20. Jh. (Freud, Watson, Pia get) - in den neueren "antipädagogischen" Tendenzen (zB. A. Miller) bis hin zu der Tendenz, Einflüsse auf die Charakterentwicklung bereits pränatal zu rekonstruieren - schließlich in all jenen kulturkritischen The­ sen, die ein Verschwinden der Kindheit prognostizieren (Postman). Es kommt hier nicht darauf an, die selbstverständlich vorhandenen Un­ terschiede herauszuarbeiten, die mit den genannten und vielen nicht er­ wähnten Reflexionstendenzen über Kindheit und kindliche Entwicklung zweifellos verbunden sind.

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ferenzierung der verschiedenen Lebensphasen, auf die der Mediencode für intergenerative Kommunikation An­ wendung findet, von der frühesten Kindheit bis zur Adoles­ zenz (und zunehmend auch darüberhinaus) entlang entspre­ chend differenzierter pädagogischer Programme. 4.1 Entwicklung als neue Leitdifferenz Zur Leitidee einer funktionalen Spezifizierung intergenera­ tiver Kommunikation wird die Idee menschlicher bzw. kindlicher Entwicklung selbst. Nicht Liebe, Nähe, Intimität bilden den semantischen Kern der funktionsspezifischen Codierung der intergenerativen Kommunikation, auch nicht das biologische Substrat kindlicher Entwicklung, jener kör­ perliche Reifungsvorgang, der immer schon eine Vorausset­ zung der intergenerativen Kommunikation war und in der Kommunikation in spezifischer Weise aufgenommen wird. Das alles sind Momente der Interaktion, die auch in anderen sozialen Kontexten (also auch im Funktionskontext der intergenerativen Kommunikation) vorkommen. Der seman­ tische Kern dieser Leitidee ist nicht neu, sondern entspricht einer alten Tradition aufklärerisch-pädagogischen Den­ kens 38. Neu ist allerdings die für die funktionssystemische Codierung entscheidende Transformation dieser Idee in eine Leitdifferenz. Hierauf ist nun näher einzugehen. Die für die Beobachtung und Beschreibung der Welt aus der Perspektive der intergenerativen Kommunikation in funktional differenzierten Gesellschaften relevante Leitdif­ ferenz ist nicht nur ständiger Evolution im Rahmen der sozialstrukturellen Entwicklung unterworfen. Die darin ent­ haltenen Vorstellungen werden auch durch die Sonderevo­ lution der Semantik im Wissenschaftssystem, insbesondere der Psychologie beeinflußt. Es handelt sich im wesentlichen um drei bereits durch wi ssenschaftliche Reflexion beein­ flußte Vorstellungen über kindliche Entwicklung, die im Übergang zur funktionssystemischen Codierung einer grundlegenden Revi sion unterliegen. Diese drei Vor­ stellungen, die sich - bis in die wissenschaftliche Literatur hinein - hartnäckig in der intergenerativen Kommunikation und Metakommunikation behaupten, lassen sich als - ge­ messen an der fortgeschrittenen Semantik im Funktionssy­ stem - obsolet gewordene Vorstellungen charakterisieren und mit einer an der Selbstreferenz psychischer Systeme orientierten wissenschaftlichen Rekonstruktion konfrontie­ ren: 1. Die Vorstellung von der menschlichen Psyche als einer substantiellen Einheit über alle Alterssstufen hinweg: In der alteur opäischen Vorstellung handelte es sich um die Einheit einer Differenz. Die Seele sollte gerade dadurch zur Identitätsgarantie beitragen, daß sie im Unterschied zum Leib nicht vergänglich war. Mit dem Zerfall religi­ ös-transzendentaler Weltbilder mußte diese Vorstellung in der intergenerative Kommunikation durch temporali­ sierte Identitätsunterstellungen der Entwick­ lungspsychologie ersetzt werden, die sich stärker auf die jeweilige Körperbasis rückbezogen.39 2. Die Vorstellung von der prinzipiellen Offenheit der men­ 38

Zur Rekonstruktion des Bildungsbegriffs in ideengeschichtlicher Per­ spektive s. v.Heydorn, 1972, insbes. zum Verhältnis von frühmo dernem Humanis mus der Aufklärung und bildungsbezogenem "Neuhu­ manismus" des frühen 19. Jahrhunderts, v.a. bei v. Humboldt und Schil­ ler. 39 s. hier v.a. die organisch fundierte Stadienlehre Freuds


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation schlichen Psyche: Die milieutheoretische Vo rstellung nach dem Modell einer unbeschriebenen Tafel (tabula rasa) - offenkundig in Anlehnung an die Erfindung des Buchdrucks - gehört zum ältesten Repertoire der Mo­ derne. Sie konkurrierte mit der eher romantischen Ge­ genvorstellung von der menschlichen Psyche als einer ­ allerdings mehr oder weniger veredelungsbedürftigen Pflanze, die alle Keime zur Entfaltung schon in sich ent­ hält. Entsprechend war entweder Anlagenar mut oder Anlagenreichtum die anthropologische Prämisse. Ob­ wohl beide Vorstellungen noch heute anzutreffen sind, hat doch die offenkundige Inkompatibilität dieser Mo­ delle mit den Erfahrungen ausdifferenzierter Funktions­ systeme der intergenerativen Kommunikation zu ihrer allmählichen Ersetzung durch ent­ wicklungspsychologische Modelle der Sequenzierung Wechsel zwi schen Phasen der Öffnung und Schließung ­ geführt.40 3. Die Vorstellung einer Determination der psychischen Entwicklung durch die jeweils vorhergehenden, insbe­ sondere die frühen Phasen: Hier handelt es sich um Vo r­ stellungen, die erst im 20. Jahrhundert - mit der psycho­ analytischen und kognitivistischen Ent­ wicklungspsychologie - für die Selbstreflexion der in­ tergenerativen Kommunikation dominant geworden sind und die eine mehr oder weniger irreversible Abfolge in der Sequentialität psychischer Strukturentwicklung be­ haupten. Die weitgehende Offenheit (Plastizität) psychi­ scher Entwicklung wird durch die Strukturiertheit vorge­ gebner Entwicklungsstufen eingeschränkt und zugleich die Bedeutung des Anfangs damit - jenseits aller päd­ agogischen Interventionsmöglichkeiten - immens ge­ steigert. Der Determinismus dieser Entwick­ lungsstufenlehren ist von seiten der tradierten geistes­ wissenschaftlichen Pädagogik41 zwar stets angegriffen worden, jedoch mit geringem Erfolg, solange das Funk­ tionssystem selbst noch wenig ausdifferenziert war. Erst auf der Grundlage einer relativ hohen Autonomie des Bildungssystems (aufgrund der in der zwe iten Hälfte des 20. Jh. erfolgenden Reformen v.a. gegenüber Einflüssen der Familie und des Arbeitsmarkts) finden in der päd­ agogischen Bildungstheorie schon längst vorhandene Vor­ stellungen in der sozialstrukturellen Wirklichkeit Rückhalt, die mit größerer Ko ntingenz (anstelle des entwicklungs­ stufenspezifischen Determinismus) operieren. So zeigen sich Konturen eines Entwicklungsmodells, das eher dem Stammbaum der Evolution ähnelt, worin neue Strukturen Vorausgehende zwar ersetzen (sie funktional ersetzen müs­ sen), durch diese Voraussetzung jedoch keineswegs deter­ miniert werden42. Die These, daß sich die gegenwärtig fortgeschritten­ ste Semantik in bezug auf kindliche Entwicklung als Di­

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stanzierung von Determination, von der Irreversibilität der Zeit überhaupt erweist, bedeutet nicht, daß die Gegenvo r­ stellung - die einer früher dominanten Auffassung determi­ nierter Entwicklung entspricht - verschwindet. Sie wird vielmehr als Kontrastprogramm in der intergenerativen Kommunikation reproduziert43. Nicht die Weiterent­ wicklung der pädagogischen Semantik auf der Ebene der Programme sondern ihre funktionssystemische Codierung ist die eigentlich interessante Innovation. Die Differen­ zierung zwi schen Code und Programmen trägt auf dieser Grundlage dann zur Entparadoxierung pädagogischer Kommunikation angesichts der zunehmenden Unwahr­ scheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation bei. Der Schematismus der Codierung steht nicht im Ge­ gensatz zu hochindividualisierter intergenerativer Kommu­ nikation sondern ermöglicht sie unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung erst durch Ausklammerung anders strukturierter Kommunikation. Die evolutionär un­ wahrscheinliche Individualisierung der intergenerativen Kommunikation wäre gar nicht anschlußfähig sondern wür­ de die kognitiven Leistungen der Teilnehmer ständig über­ fordern, wenn nicht der Code gewissermaßen in­ frastrukturelle Voraussetzungen für die Anschlußfähigkeit von Bewußtsein produzierte. 4.2 Differenzierung zwischen pädagogischem Code und Programmen Seit Beginn moderner pädagogischer Kommunikation stieß ihre Selbstbeschreibung auf eine grundlegende Paradoxie: als eine Operation im Sozialsystem kann sie das nicht be­ wirken, was sie funktional bewi rken soll, nämlich Änderung von Bewußtsein. Bewußtsein kann sich nur selbst ändern. Jede Intervention - als solche fungiert Pädagogik program­ matisch - bewirkt allenfalls Variation im Bewußtsein aber nicht schon eine Än derung im intendierten Sinne. Die Pa­ radoxie ergibt sich zunächst als Beschreibungsproblem von Bewußtsein in der Beziehung zu seiner Umwelt: Wenn Determiniertheit des Bewußtsein unterstellt wird, ist Bil­ dung nicht möglich.44 Wenn Nichtdeterminiertheit des Bewußtsein unterstellt wird, ist Bildung aber ebenso un­ möglich: Pädagogik kann nicht erfolgreich wirken, ohne das zu zerstören, was sie ereichen will. Daher versuchte Päd­ agogik, sich als paradoxe Intervention zu verstehen: Als Intervention durch Wachsenlassen (was ohne Intervention in die Umwelt keineswegs gewährleistet ist!) und als Wach­ senlassen durch Intervention. Was in der Selbstbeschreibung paradox erscheint, wird praktisch reguliert durch die Differenz zwischen Code und Programmen. Die in pädagogischen Programmen ent­ haltene Wert/Unwert-Hierarchie wird durch eine Binär­ schematisierung ohne oder mit nur noch schwacher WertPräferenz technisch aufgelöst.45 Die Teilnahme an dieser

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s. hier v.a. die kognitivistisch fundierte Entwicklungsstufenlehre Pia gets Anders als in den Sozialwissenschaften, die das umgekehrte Determi­ nationsmodell des Behaviorismus bevorzugten. 42 s. u.a. Kagan, S.158 - Es handelt sich im wesentlichen um Modelle der neueren, auf dem Autopoiesis -Konzept aufbauenden Systemtheorie. Ei­ nerseits wird auch in diesen Modellen dem empirischen Umstand Rech­ nung getragen, daß ein in der Evolution einmal eingeschlagener Weg nur mehr schwer änderbar ist, andererseits die Kontingenz dadurch hö­ her angesetzt, daß mit jeder neuen Entwicklung der Struktur des psychi­ schen Systems - von einer Stufe zu reden würde bereits zuviel substanti­ elle Einheit unterstellen - völlig neue, vorher nicht vorhandene Mög­ lichkeiten der Weiterentwicklung erwachsen. 41

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Möglicherweise läßt sich zeigen, daß diese Vorstellung sich in den Zweit code Selektion verlagert hat. Jedenfalls dominieren entsprechende Vo rstellungen jenseits der intergenerativen Kommunikation im Karrie ­ rebewußtsein. s. Kap.7. Sie ist zumindest im Hinblick auf die im pädagogischen Programm im­ plizierten Ideale der Emanzipation des Bewußtseins dann vergeblich. S. schon S. Bernfeld, 1925. Es gibt vielerlei Codes in der menschlichen Kommunikation. Hier zu­ nächst einige Ausführungen zur Spezifizierung des Begriffs des Me­ diencodes nach Luhmann (Typoskript Gesellschaftstheorie S.107ff): "Wir verstehen darunter eine Duplika tionsregel, die es erlaubt, jedem


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation codierten Kommunikation bewirkt damit auf jeden Fall eine Selektion entlang der im Code festgelegten Alternative. Zugleich lösen sich mit dieser Technisierung des Kommu­ nikationsmediums die Programme (der Pädagogik und der Gesellschaft) ab. Die durch Codierung ausgeschlossenen Zwecke tauchen in pädagogischen Programmen als Ver­ suche zur Programmierung der Kommunikation unter der Voraussetzung der Codierung wieder auf. Hier handelt es sich um eine Differenzierung ähnlich der zwischen Semantik und Gesellschaft, die die Evolution beschleunigt und die Übergänge zwischen Variation und Stabilisierung fließend macht. Pädagogische Programme wirken auf Bewußtsein nur als Auslöser von Variation, die Codierung hingegen wirkt als Selektionsmittel, dem sich das anschlußsuchende Bewußtsein schwer entziehen kann. Die im pädagogischen Code implizierte Selektion enthält heute keine - pädagogische oder gesellschaftliche - Vorgabe mehr in bezug auf eine bestimmte Richtung der Bewußt­ seinsevolution, aber die Festlegung auf die Al ternative Ent­ wicklung/Nichtentwicklung. Alle pädagogischen Ambitionen beruhen auf der im­ pliziten Annahme einer Reversibilität von Sozialisation. Diese Annahme drückt sich in der funktionssystemischen Kommunikation in entsprechenden Programmen aus, die die codespezifische Kommunikation zu konditionieren ver­ suchen. Frühmoderne Fassungen solcher Programme, die sich in personalen Perfektionszielen ausdrückten - also binär schematisierten nach erwünschter/unerwünschter Sozialisation - reflektierten nur die Ebene der In­ teraktionsbeziehungen - um der entropischen Tendenz aller Sozialisation im Lebenszeitverlauf ein Stück Reversibilität, einen immer wieder neuen Anfang, abzugewinnen. 46 Bei der für das ausdifferenzierte Funktionssystem charakteristischen heutigen Fassung der binären Schemati­ sierung der Entwicklungssemantik handelt es sich nicht einfach um die Alternative zwischen Entwicklung und Nichtentwicklung i.S. einer wertenden Kennzeichnung als Stagnation der psychischen Entwicklung47 sondern um die

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Ele ment eines Bereichs ein entsprechendes Ele ment eines anderen Be­ reichs zuzuordnen. Die allgemeine Ja/Nein-Codie rung der Sprache fällt unter diesen Begriff, ebenso aber auch die Codierung der mündlichen Sprache der Schrift, durch das Zeichensystem der Taubstummen, durch das Morse-Alhabet. Codierung kann also verschiedenen Zwecken dienen ... Auf der Ebene der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedi­ en haben wir es mit Präferenz-Codes zu tun. Sie stellen eine Wert/Unwert-Unterscheidung zur Verfügung, duplizieren also alle mög­ lichen kommunikativen Ereignisse in eine Wertfassung und eine Un­ wertfassung und entwickeln Kriterien, anhand deren festgelegt werden kann, ob der eine oder der andere Wert, ob zum Beispiel Wahrheit oder Unwahrheit zu grunde zu legen ist." - Es gehört zu den Eigentümlich­ keiten der semantischen Entwicklung, wenn sie in den Dienst eines funktionssystemischen, symbolisch generalisierten Kommu ­ nikationsmediums tritt, daß dieses Wert/Unwert-Schema sich technisch verselbständigt, dh. daß die Bewertungskriterien (mit Bezug auf Pro ­ gramme) sich von den Code-Werten trennen. "Zunächst reflektiert der Gegenwert nur die Präferenz, er macht am Gegenteil deutlich, was man eigentlich erreichen möchte. In dem Maße als man beides, Präferenzwert und Reflexionswert, im Auge behält, tendiert der Kommunikationsme ­ dium dann zur Abstraktion und zur Instrumentalisierung der Werte als Formen der Zugangs zum je weils anderen. ... Da absolute Wahrheit ... unerreichbar ist, kann ein Beweis nur über Ausschließung des Gegen­ teils geführt werden. Wahrheit ist ausgeschlossene Unwahrheit..." Inzwischen gehört die Unterscheidung zwischen Interaktion und Orga­ nisation zwar zum Gemeingut pädagogischer Selbstreflexion. Jedoch steckt die Reflexion des Funktionssystems noch in Anfängen. Eine solche Interpretation wäre auch zu bewußtseinszentriert - es geht aber um Kommunikation! In den hier skizzierten Überlegungen hin-

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Zuspitzung der entsprechenden intergenerativen Kommuni­ kation auf die Alternative mit und/oder gegen die Irreversi­ bilität der Sozialisation. Diese Alternative ist nicht (mehr) wertend zu verstehen. Zu der Freiheit der Wahl, jederzeit neu anfangen zu können, gehört die Freiheit, dies auch nicht zu tun, der Irreversibilität der Sozialisation ihren Lauf zu lassen, also die spezifischen Angebote des Funk­ tionssystems für den gegebenen Zeitpunkt abzulehnen. Nicht das pädagogische Programm ist das eigentlich Neue an der hier skizzierten Tendenz sondern der problemlose ­ ganz unemphatische - Übergang zwischen der Positivseite und der Negativseite in den semantischen Unterstellungen des Mediencodes.

5. Wandel der Kindheit Die bisher verfolgte Fragestellung läßt sich im Hinblick auf Interaktionssysteme so zuspitzen: Wie ist Kindheit bzw. kindliche Entwicklung (i.S. der stets riskanten Öffnung für Lernen) möglich - angesichts der Auf lösung der traditionell ihre Stabilität verbürgenden Familienstrukturen ? Meine hypothetische Antwort weist zunächst in folgende Richtung: Durch Individualisierung der Eltern-Kind-Beziehungen, dh. zunächst: Auflösung jener familialen Systemstrukturen, worin kindliche Kommunikation über die Geschlechts- und Generationsrollen vorselegiert wird. Ich interpretiere den Wandel der Kindheit als evolutionäre Steigerung der Gene­ rationsrollendifferenzen in komplexen Sozialsystemen mit hochriskanter Binnen-differenzierung sowohl in Er­ wachsenen- wie Kinder-(und Jugendlichen-)rollen, die sich auf der Ebene von Interaktionssystemen in Entwicklungs­ dyaden niederschlägt.48 Die Entwicklungsdyade ist zunächst einmal die alte Bekannte der pädagogischen Lehrbücher. Erst in Ver­ bindung mit dem oben (in 4.) beschriebenen Code ist ihre besondere Eignung für die "Überschneidungsbereiche" 49 zwischen dem Bildungssystem und anderen Funkti­ onssystemen zu erkennen. Es geht darum zu zeigen, wie es möglich ist, zugleich an pädagogi scher Kommunikation und der Kommunnikation in anderen Funktionssystemen teilzu­ nehmen: Familie, Beruf, Wissenschaft - sogar Schule selbst, insofern sie Teil der staatlichen Verwaltung bzw. des politi­ schen Systems und des rechtlichen Systems ist. Dies geht m.E. aus zwei Gründen, 1. weil und insoweit Bewußtsein die Schranken von Sozial­ systemen unterlaufen, also gleichzeitig an zweien teil­ nehmen kann. Dies zu ermöglichen, ist die eigentliche Funktion des Entwicklungscodes auf der Ebene der In­ teraktion (Kernpunkt der Dyade). 2. weil sich die Funktionssysteme differenzieren entlang Leistungs- und Komplementärerwartungen in bezug auf

sichtlich der Implika tionen des Entwicklungscodes zeigt sich m.E. eine Lösung des theoretischen Problems, wie das Medium (der Code) auf Bewußtsein wirken kann, obwohl es sich bei Medien ja immer nur um eine Steigerung der Annahmefähigkeit von Kommunikation handelt . 48 Ich definiere den Begriff Kindheit hier mit bezug auf das jeweilige Interaktionssystem, in dem intergenerative Kommunikation stattfindet. Das kann, muß aber nicht immer die Familie (schon gar nicht die voll­ ständige) sein. Ich präzisiere den für diese De finition re levanten Aspekt mit dem Be griff der Entwicklungsdyade. Selbstverständlich gehört auch Schule, insoweit sie mit Interaktion unter Anwesenden operiert, zu den systemischen Bedingungen von Kindheit. 49 Luhmann/Schorr, 1979, S. 53 ff.


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation die teilnehmenden Personen .50 Die durch den Code er­ möglichte gleichzeitige Teilnahme am Funktionssystem und der Dyade funktioniert also nur, weil das sich ent­ wickelnde Bewußtsein des Kindes sich in beiden Syste­ men auf die Komplementärrrolle bezieht. Kindheit ist die symbolische Generalisierung einer Kommunikation, in der die "Welt" für das sich entwickeln­ de Bewußtsein von Menschen ausschließlich im Rahmen von Interaktionssystemen, über wechselnde In­ teraktionspartner, wahrgenommen wird. Der Code, der dies - in einer Gesellschaft, die sich durch weit darüberhinausrei­ chende Kommunikationsstrukturen reproduziert und alle Interaktionssysteme beeinflußt - ermöglicht, wirkt zunächst nur im Bewußtsein der Erwachsenen.51 5.1 Die pädagogische Entwicklungsdyade Die Differenzierungsstruktur moderner Gesellschaften, die das Bewußtsein zu häufigem Kontextwechsel (Wechsel der hochselektiven Anschlußbedingungen für systemspezifische Operationen) zwingt, bedeutet in der kindlichen Ent­ wicklung eine besondere Hürde für die Stabilisierung von Bewußtsein: Jeder Kontextwechsel produziert Dis­ krepanzerlebnisse und damit entweder Variation oder selek­ tive Schließung von Bewußtsein mit Anschlußverweige­ rung. Es bedarf also spezifischer Kommunikation, um diese Variation in eine der psychischen Entwicklung (Offenhalten des Systems für Lernen) dienliche Bahn leiten zu können. Eine Kommunikation, die geeignet ist, Verbindungen zwi­ schen zwei oder mehr Systemen herzustellen. Genau dies vermögen die traditionellen Systemkontexte für pädagogi­ sche Kommunikation - Familie und Schule - immer we­ niger, je mehr sie sich auf Intimkommunikation einerseits, kognitive Leistungsförderung und -kontrolle andererseits spezialisiert haben. Für kindliche Entwicklung relevant werden in Gesell­ schaften mit hochdifferenzierter funktionssystemischer Kommunikation gerade solche Interaktionssysteme, die es erlauben, die "ökologischen Übergänge"52 bzw. Grenzen zwischen zwei oder mehr Sozialsystemen durch eine spezi­ fische Kommunikation aufzunehmen, die dem sich entwi k­ kelnden Bewußtsein gerade durch die Distanzierung, durch die Verfügung über die Differenz beider (bzw. aller beo­ bachteten) Systeme erst die Komplexität dieser Umwelter­ fahrung erträglich macht.53 Hierzu bedarf es offenkundig einer stabilisierenden Nahwelt, einer Kommunikation unter Anwesenden - sei es auch oder gerade über Fernliegendes. Familie, Peer-group (Schule), Beruf (Ar beit) werden in modernen Gesellschaften als soziale Primärumwelten54 50

Luhmann/Schorr, 1979, S.31

Es handelt sich eben nicht um symmetrische sondern um Komplemen­

tärbeziehungen.

52 s. Bronfenbrenner a.a.O.

53 Vgl. Luhmanns ähnlich gelagerte Deutung des Liebescodes als Mittel zur

Verfü gung über die Differenz zwischen Nah- und Fernwelt in mo dernen Ge sellschaften. 54 "Primärsysteme" in Bronfenbrenners etwas abweichender Terminologie. Die Schule taucht bei Bronfenbrenner eigentüml icherweise nicht als Primärsystem auf. Wahrscheinlich entspricht dies der Tatsache ihrer ho­ hen funktionalen Spezialisierung - und Entpersonalisierung der In­ teraktionen. Auch die peer group wertet B. eher als ent­ wicklungsretardierendes Moment in Gesellschaften wie den USA. Hier muß allerdings zwischen Bewußtseinsretardation und Retardierung ge­ messen an sozialen Differenzierungsniveaus unterschieden werden: Der Rückgriff auf ein entdifferenziertes Interaktionssystem kann im größe­ 51

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betrachtet, weil die in ihren Grenzen stattfindende In­ teraktion besondere Sozialisationsrelevanz für psychische Systeme besitzt. Kindheit als Interaktionssystem jenseits von Familie und Schule erfüllt gerade für Erwachsene (für diese allerdings neben anderen funktional ähnlich gela­ gerten Systemen) einen Bedarf an Nahwelt-Kommunikation und damit zugleich für Kinder wichtige Stabilisierungs­ funktionen. "Entwicklungsdyaden" nenne ich im Anschluß an Bronfenbrenner Interaktionssysteme mit einem Erwachse­ nen (bzw. kognitiv Entwickelteren) und einem Kind, die aufgrund der engen Verbindung55 der beteiligten Personen über ihre organisch-physische Präsenz (nicht: der psychi­ schen Systeme - deren Autopoiesis bleibt davon unbe rührt) und Kommunikation (insbesondere körpernahe Kommu­ nikation56) die Funktion der Bewußtseinsentwicklung zB. durch Ausgleich der in der Kommunikation angelegten Einflußhierarchie oder (indirekt) durch Metakommunikation über differente Sozialsysteme (Kontextwechsel) wahrneh­ men.57 Die so beschriebene Entwicklungsdyade ist offen­ kundig kein direkter Abkömmling der frühkindlichen Sym­ biose (als gattungsuniverseller Errungenschaft) sondern Ergebnis jener spezifischen sozialen Evolution im Kontext funktionaler Differenzierung, die u.a. zur Auflösung tradier­ ter Geschlechtsrollen und damit der Familienkindheit ge­ führt hat. Während die frühkindliche Symbiose sich tradi­ tionell in das erweiterte Interaktionssystem der Verwandt­ schaft oder zumindest der Kleinfamilie auflöste und damit eine eher kollektiv gestützte Identitätsbildung ermöglichte, scheint die intergenerative Interaktion sich gegenwärtig auf eine hochindividualisierte Beziehung mit entsprechend personenbezogener Identitätsbildung zu konzentrieren.58 Das Problematischwerden auf Dauer gestellter intimer In­ teraktionen zwischen Erwachsenen beiderlei Geschlechts stellt offensichtlich das Variationspotential und Motive für die Individualisierung der Eltern-Kind-Beziehungen i.S. von Entwicklungs-Dyaden zur Verfügung. Die sekundäre Mutter-Kind- oder Vater-Kind-Dyade wird häufig sogar bewußt als Kompensation für den Verlust stabiler Intimbe­ ziehungen unter Erwachsenen angesehen.59 Die evolutionä­ re Funktion der Kindheit als Interaktionssystem ist nicht abhängig vom Fortbestehen tradierter Geschlechtsrollen­

ren Kontext durchaus entwicklungsfördernde Funktionen für das psy­ chische System in einer ansonsten überfordernden Umwelt haben. 55 Ich werde diese Verbindung in Analogie zu Erscheinungen im organi­ schen System als symbiotische bezeichnen. S. Ausf. im folgenden Kapi­ tel. 56 Im Rückgriff auf gattungsgeschichtlich angelegte Mechanis men wie fi­ liale Prägung. S. Ausf. im folgenden Kapitel. 57 Zur Funktion der Entwicklungsdyade im Hinblick auf die Ve rarbeitung der Grunderfahrung funktionaler Differenzierung habe ich noch keine empirisch fundierten Untersuchungen gefunden. Abgesehen von den eher normativ gerichteten Formulierungen Bronfenbrenners ist hinzu­ weisen auf: Plake, K., 1974, und Tyrell, H., 1987. In der psychologi­ schen Literatur wären Hinweise zu verfolgen auf die Therapiekonzepte der nondirektiven Psychologie ("Humanistische Psychologie", Rogers u.a.) mit dem Grundmuster der Be gleitung von Selbstfindungsprozessen 58 S. Beck-Gernsheim S.213, Badura 1981 S.23 59 Eine Entwicklung, die zunächst nur unter dem Aspekt der Pathogenese individuellen Bewußtseins beachtet wurde, aber eben auch auf rele vante Veränderungen der Sozialstruktur verweist. Vgl. Beck-Gernsheim S. 227, 230, Ulmann S.114.


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation auffassungen .60 Der Wandel von Kindheit besteht gerade in der Ablösung von diesen tradierten Voraussetzungen.61 Zweifellos können für die spezifische Funktion, Ve r­ bindungen zwischen verschieden strukturierten Sozialsy­ stemen im kindlichen Bewußtsein herzustellen, andere In­ teraktionssysteme als die Dyade infragekommen.62 Die verbreitetste Form ist der schulisch organisierte Unter­ richt.63 Die Dyade hat eine hervorragende Bedeutung im Funktionssystem v.a. deshalb, weil sie einerseits über be­ sondere Sicherungsmechanismen (in An knüpfung an die gattungsuniverselle Errungenschaft der frühkindliche Sym­ biose) und andererseits über besondere Steigerungsmög­ lichkeiten im Hinblick auf die Individualisierung verfügt. Bewußtsein kann die Grenzen sozialer Systeme un­ terlaufen bzw. reflektieren. Ebenso kann dies Kommunika­ tion, dann aber nur in einem Sozialsystem, das andere beo­ bachtet.64 Systeme werden nicht durch Bewußtsein mitein­ ander verknüpft.65 Ihre Verknüpfung ist stets eine Kon­ struktion, die entweder nur im Bewußtsein oder in einem anderen Sozialsystem stattfindet.66 5.2 Kommunikation unter Anwesenden Alle Interaktion ist zugleich Kommunikation, also Vollzug von Gesellschaft, aber in keiner menschl ichen Gesellschaft 60

Dies beinhaltet keine Aussage darüber, inwieweit geschlechtsspezifische Arbeitsteilung überhaupt verschwinden oder nur neu - eben mit mehr Subdifferen zierung - definiert werden kann. 61 Zur genaueren Beschreibung dieses Wandels gehören Untersuchungen über auf den ersten Blick gegenläufige Tendenzen: a. die in der ein ­ schlägigen Semantik sich niederschlagende Steigerung von Empathie für Kinder einerseits, b. die verschärfte Konkurrenz technischer mit päd­ agogischer Selektion von Kommunikation und c. das Vordringen funk­ tional organisierter Betreuung andererseits. 62 Jenseits der Beschreibung der Entwicklungsdyade kommen bei Bronfen­ brenner noch soziale Konstruktionen hinzu, deren Zweckbestimmung offenkundig ähnlich ist - nämlich Verb indungen zwischen verschieden strukturierten Sozialsystemen im kindlichen Be wußtsein herzustellen ­ die aber offenkundig über die Ebene der Interaktion unter Anwesenden hinausweisen. Die wichtigsten Verbindungen in diesem Sinne sind indi­ rekte Ve rbindungen über "Dritte", die an beiden Systemen teilhaben, Informationen darüber liefern etc. und "Soziale Netzwerke". Es handelt sich i.S. Bronfenbrenners um "systemübergreifende" Verbindungen in der Zeitdimension. Bronfenbrenner 1981, S. 200, 204. 63 S. ausf. in Kap. 7. 64 Anknüpfend an eine abweichende Konzeption bei Luhmann könnte man solche Netzwerk-Interaktionssysteme auch als Systeme beschreiben, die "parasitär" an mehreren Systemen teilhaben, wobei diese Teilhabe kei­ neswegs unabdingbare Umweltvoraussetzung für die Existenz des jewei­ ligen "Gast-Systems" sein muß. Eine solche Form von Entwicklungs­ netzen könnte also beschrieben werden als "parasitäres" Sozialsystem ähnlich dem von Luhmann beschriebenen Konflikttyp mit hoher Inter­ dependenz und eingeschränkter Umweltsensibilität (194, S.531). Die Ein schränkung läge hier nicht wie beim Kommunikationsmedium des Bildungssystems im Zukunftsbezug sondern wie im Familiensystem beim Personbezug. Auch die Entwicklungs-Dyade erfüllt ihre Funktion gerade dadurch, daß sie an anderen Funktionssystemen teilnimmt (so­ weit diese das zulassen) und nicht selbst zur Funktion des "gastge­ benden" Systems beiträgt. 65 Bronfenbrenners Terminologie ist mit der hier gewählten nicht kompa­ tibel, da er Systeme ausgehend von Personen und unter Ein schluß von Personen und Bewußtsein konzipiert. So sagt er, ein Mesosystem werde durch die sich entwickelnde Person, die einen Kontextwechsel durch­ macht, "geschaffen". B. kann dann nicht genügend klar machen, warum die Systeme bzw. Lebensbereiche sich gegen die - offenbar für psychi­ sche Systementwicklung wichtige - Transzendierung ihrer Grenzen sper­ ren. 66 Auf diesbezüglich erweiterte Möglichkeiten des Bildungsmediums komme ich gesondert für die Ebenen der Organisation und der Ge ­ sellschaft zurück.

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fallen die Grenzen des Kommunizierens mit den Grenzen des jeweiligen Interaktionsssystems zusammen. Interakti­ onssysteme sind zeitlich begrenzt, und zwar enger als alle andere Sozialsysteme und als die Lebensdauer der beteilig­ ten Personen (in der Regel sogar enger als psychische Sy­ steme). Normalerweise bezieht sich die Kommunikation in Interaktionssystemen bereits auf andere, frühere, parallel­ laufende oder künftige Interaktionen, die eine gemeinsame Grenze im Gesellschaftssystem haben. Die Differenz zwi­ schen Gesellschaft und Interaktion besteht also immer.67 Ihr Kriterium ist die Anwesendheit der an der jeweiligen Kommunikation beteiligten Personen. In gewissem Umfang verfügen die Interaktionssyste­ me selbst über die Grenzziehung, wenn sie anwesende Per­ sonen als nichtanwesend behandeln (zB. Kinder nicht in die Kommunikation einbeziehen) oder abwesende Personen als Anwesende behandeln (zB. als Geister). Andererseits sind Interaktionssysteme in hohem Maße für ihre Umwelt emp­ findlich - seien es andere soziale Systeme, psychische Sy­ steme, organische Systeme, geographische oder physikali­ sche Bedingungen - und damit auch störbar. Soziale Systeme können nur kommunizieren, aber nicht sinnlich wahr nehmen. Zur Sinnverarbeitung von Wahrnehmungen sind sie auf neurophysiologische Systeme in ihrer Umwelt angewiesen. Für die Betrachtung der inter­ generativen Kommunikation ist es also bedeutsam, daß psychische Systeme einen privilegierten Zugang zu solchen Wahrnehmungen über ihren coevolutionären Körperbezug haben. Die Gleichzeitigkeit von sinnlicher Wahrnehmung und sinnhafter Kommunikation, die Interaktionssysteme charakterisiert, bedeutet zugleich ein hohes Maß von Un­ kontrollierbarkeit in der Autopoiesis von In­ teraktionssystemen.68 Die Entwicklung symbolisch generalisierter Kommu­ nikationsmedien reagiert auf Kommunikationsprobleme in sozialen Systemen, die über die Interaktion unter Anwesen­ den hinausreichen. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Inan­ spruchnahme dieser Medien auf Kommunikation in großen Sozialsystemen (Organisationen, Funktionssystemen) be­ schränkt ist. Sie wirken vielmehr auf die Kommunikation in Interaktionssystemen unter Anwesenden zurück (wie ja auch die Probleme gesellschaftlicher Kommunikation jen­ seits der Interaktion unter Anwesenden auf diese zu­ rückwirken) und zwar in der Form einer Veränderung der Kommunikation unter Anwe senden, die dann noch möglich ist: Die Kommunikation in Interaktionssystemen muß sich semantisch profilieren gegenüber der symbolisch generali­ sierten und codierten Kommunikationsweise im jeweiligen Funktionssystem. Eine für die hier thematische Darstellung des Wan­ dels der Interaktionsbeziehungen in der intergenerativen Kommunikation relevante Folgerung aus der oben skizzier­ ten Differenz zwischen Interaktion und Gesellschaft bezieht sich auf die Frage, wie auf der Ebene von Interak­ tionssystemen zur Lösung des Problems des Gene­ rationswechsel in funktional differenzierten Gesellschaften beigetragen werden kann. Zur Beant wortung dieser Frage 67

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Wie in 7. noch zu behandeln, gibt es aber Gesellschaften ohne die Aus­ differenzierung von Organisationssystemen. Noch während ich spreche, nehme ich den zweifelnden Blick des Inter­ aktionspartners wahr und schränke mein Argument ein. Aber was ist hier Ursache, was Wirkung?


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation bediene ich mich zunächst der Konstruktion der pädagogi­ schen Dyade als einem funktionsspezifischen Interaktions­ system, das sich aus den tradierten Formen familialer Inter­ aktion (per Individualisierungsschub) ausdifferenziert hat. Als Besonderheit der Kommunikation in diesem In­ teraktionssystem läßt sich rekonstruieren, daß sie sich nicht auf beliebige andere Interaktionssysteme bezieht sondern auf Interaktionen, die in anderen Funktionssystemen ablau­ fen. Zwar ist es nicht möglich, (im engeren Sinne) gleichzeitig an Interaktionen in zwei verschiedenen Funktionssystemen (zB. Intimbeziehung und Berufsausübung) teilzunehmen, sehr wohl aber: die andere Interaktion zu beobachten. Und es ist möglich, die Perspektive des Beobachters und des Teilnehmers (in relativ kurzen Zeitabständen, oszillierend) zu wechseln. Die Ent­ wicklungsdyade ermöglicht die Beobachterrolle, das Funktionssystem eine dazu passende Teilnehmerrolle69. Soweit die intergenerative Entwicklungsdyade Interaktionen in anderen Funktionssystemen beobachtet, wird für das an der Dyade beteiligte, sich noch entwickelnde Bewußtsein des Kindes funktionssystemisch differente Kommunikation auch kognitiv wahrnehmbar und als Differenz verarbeitbar. 5.3 Wandel der Umwelt für intergenerative Interaktion In der soziokulturellen Evolution wirken Medien selektiv aber nicht schon stabilisierend - weder für die entsprechen­ den Sozialsysteme noch für die coevoluierenden psychi­ schen Systeme. Wenn hier also die Ansicht vertreten wird, daß die Evolution eines spezifischen intergenerativen Kommunikationsmediums Formen von Bewußtsein sele­ giert, dann ist damit noch nichts - abgesehen von den bereits gemachten Ausführungen über die Eigenbedürfnisse hoch­ entwickelter psychischer Systeme - über deren Stabilisie­ rungschancen (Zukunft, Verbreitung etc.) gesagt. Die sele­ gierten Formen müssen sich noch gegen ganz andere gesell­ schaftlich wirksame Selektionen durchsetzen. Die in verschiednen Untersuchungen konstatierten Wandlungen in den Umweltbedingungen für kindliche (psychische) Entwicklung sollen hier gedeutet werden als für moderne Gesellschaften typische Komplexitäts­ steigerungen, die zu der bereits dargestellten gesteigerten Unwahrscheinlichkeit des Gelingens intergenerativer Kommunikation beitragen. Die Darstellung folgte dem Luh­ mannschen Schema der Unterscheidung von drei Dimensio­ nen der Umweltkomplexität von Sinnsystemen in sachliche, zeitliche und soziale Komplexität. In sachlicher Hinsicht handelt es sich allgemein um gesteigerte Differenz zwischen dem (reifungsabhängigen) kognitiven Entwicklungsstand von Kindern und der in sei­ ner Umwelt bei Erwachsenen vorausgesetzten kognitiven Verfügung über Bestandteile des gesellschaftlichen Wis­ sensvorrats. In zeitlicher Hinsicht handelt es sich um die gestei­ gerte Differenz zwi schen der vom Kind in der Ve rfolgung seiner Handlungsentwürfe selbstbestimmten Zeit und der für Koordination mit seiner Umwelt zu berücksichtigenden Zeitzwänge. In sozialer Hinsicht handelt es sich um die gesteigerte 69

Dies ist natürlich nicht in allen Funktionssystemen und zu jeder Zeit der Fall, sondern setzt spezifische Arrangements der Komplementärrollen im jeweiligen Funktionssystem voraus.

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Differenz zwischen den Auffassungsperspektiven von Ego und Alter, insbesondere auf dem Hintergrund funk­ tionssystemisch differenzierter Kommunikation. In allen drei Dimensionen ist zu prüfen, inwieweit die Hypothese sich als zutreffend erweist, daß die Entwicklung des Funktionssystems mit dem dafür spezialisierten Ko m­ munikationsmedium Bildung und der entsprechenden Co­ dierung bereits als eine evolutionäre Anpassung an die ge­ steigerte Unwahrscheinlichkeit des Gelingens in­ tergenerativer Kommunikation interpretiert werden kann. Im Anschluß an Bronfenbrenner70 lassen sich die für die Stabilisierung kindlicher Entwicklung i.S. der vorskiz­ zierten evolutionären Mechanismen relevanten sozialen Umweltkontexte ebenfalls in den drei Sinn-Dimensionen gesondert beschreiben, die in der Entwicklung gesondert, im Ergebnis als Einheit wirken: Die soziale Dimension läßt sich am deutlichsten mit der Relevanz "primärdyadischer Beziehungen" be­ schreiben, also Erwachsenen-Kind-Beziehungen mit starker emotionaler Bindung (filiale Prägung) die von außen nicht gestört, sondern durch entsprechende Ro llenarrangements gestützt werden.71 Die zeitliche Dimension läßt sich im wesentlichen mit der Bedingung umschreiben, daß ansonsten reziproke Interaktionsbeziehungen die Tendenz zur Verschiebung der Kompetenz- bzw. Einfluß-Asymmetrie zugunsten des Kin­ des aufweisen müssen (was als Vorstellung im Entwick­ lungscode implementiert ist)72 Die sachliche Dimension läßt sich am besten mit der Relevanz reichhaltigen Angebots an Tätigkeiten umschrei­ ben, die als sinnhaft wahrgenommen werden können73. Die Komplexität dieses Angebots muß den entwicklungsge­ mäßen Pfad zwischen zuviel und zuwenig Diskrepanz für die kindliche Wahrnehmung treffen.74 5.4 Restabilisierung der intergenerativen Interaktion Wie läßt sich nun eine Stabilisierung der Wirkungen des Codes auf Bewußtsein rekonstruieren? Wenn Stabilisierung bei sinnkonstituierten autopoietischen Systemen mehr Of­ fenheit durch mehr selbstreferentielle Geschlossenheit (in­ terne Komplexität) bedeutet, dann läßt sich vermuten, daß die im Code implementierte soziale Erwartung an psychi­ sche Entwicklung durch Interpenetration folgende Wirkun­ gen auslöst: 1. Psychische Entwicklung wird erwartet (wird also refle­ 70

Die "ökologische Sozialisationsforschung" (Bronfenbrenner, Lang) die eine "Sozialpolitik für Kinder" (Lü scher) wissenschaftlich unterstützen will, reagiert mit der theoretischen Erweiterung der Umfeldbeobachtung in der Be schreibung der Entwicklungsbedingungen von Kindern offen­ sichtlich bereits auf den hier thema tischen Wandel - eben das Durch­ lässigwerden traditioneller Be grenzungen der kindlichen Lebenswelt in Familie und Schule. 71 Bronfenbrenner, 1981 S.75 - Hervorzuheben ist wiederum, daß kindliche Entwicklung in diesem Modell nur als unabhängig voneinander zustan­ dekommendes Zusammenwirken aller drei Mechanismen vorstellbar ist. Die meisten Entwicklungstheorien lassen stets einen Mechanismus (manchmal zwei) die anderen dominieren: zB. Kagan Variation, Bron­ fenbrenner Stabilisierung, die Humanethologie adapative Selektion. Mit diesem Modell werden auch falsche Polarisierungen aufgelöst wie zB. Reizarmut vs. Mutterentbehrung, Selbstbestimmung vs. Anpassung. 72 Bronfenbrenner, 1981, S. 72

73 "molare" Tätigkeiten nach Bronfenbrenner, 1981, S.70f

74 zwischen Unsicherheit und Langeweile, s. Kagan, 1987


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation xiv). Das psychische System des Kindes weiß, daß es sich entwickelt. Und eben deshalb entwickelt es sich an­ ders, als wenn es das nicht wüßte. (Z.B. wird Diskonti­ nuität unter Bezug auf den Code als Kontinuität ausge­ legt etc.) 2. Die selbstreferentielle Schließung des psychischen Sy­ stems aufgrund von Umweltkontakten wird verhindert bzw. durch den codierten Bezug auf erwartete Wei­ terentwicklung immer wieder aufgehoben. Aktuelle Umwelterfahrung wird dadurch zwar nicht unmöglich, aber immer so weit entwertet, daß sie nicht zu (vo r­ schneller) struktureller Verfestigung des psychischen Systems führen kann. 3. Komplementär zu dieser Entwertung von Erfahrung er­ folgt eine Aufwertung des Selbstwertgefühls, soweit das Selbst sich mit den codierten Entwicklungserwartungen in Übereinstimmung wähnen kann (und diese sind dafür entsprechend leer gehalten, so daß normalerweise bereits das bloße Älterwerden, später dann das schulische Ver­ setztwerden etc. als Fortschrittsbestätigung perzipiert werden kann). Die tradierte Form der pädagogischen Kommunikati­ on war immer schon Intervention - basierte auf Intervention und begründete Intervention75 - in einer charakteristischen Zirkularität, deren systemtheoretische Auflösung den Blick auf eine andere Wirklichkeit psychischer Entwicklung frei macht: Diskontinuität, wo immer sich die temporale An­ schlußfähigkeit in der Coevolution psychischer und sozialer Systeme nicht bzw. nur um den Preis von neuen Systeme ­ mergenzen (Brüchen, "Fulgurationen") erreichen läßt. Wesentlich an der codierten Form der intergenerati­ ven Kommunikation ist nicht mehr der Personbezug - also die Interaktion unter Anwesenden - sondern die im Medien­ code implementierte Idee der Offenheit der Persönlich­ keitsentwicklung im Hinblick auf eine unkalkulierbar offene Zukunft, die fortlaufend eine kontingente (keineswegs aber notwendig mit pädagogischer Intervention verbundene) Respezifizierung der wirklichen Anschlußmöglichkeiten für Bewußtsein herausfordert. Letztlich geht es immer um die Sicherung der Autopoiesis intergenerativer Kommunikation trotz (wachsender) Überkomplexität (bzw. kognitiver Diffe­ renz). Die entscheidende Frage ist dabei nun: Wie wirkt der Bildungscode auf das Bewußtsein der an der interge­ nerativen Kommunikation Beteiligten? Oder anders formu­ liert: Wie gelingt es, für die ins Unwahrscheinliche gestei­ gerte Selektion der Informationen im Rahmen intergenerati­ ver Kommunikation eine Motivation zur Annahme (der Selektionen) zu sichern? Zu unterscheiden sind zunächst Wirkungen im Be­ wußtsein von Kindern (unterschiedlichen Entwicklungs­ standes) und Wirkungen im Bewußtsein von Erwachsenen. Wie der Code auf Kinder wirkt, läßt sich demonstrieren am Mißlingen der Kommunikation: Das Nichtzustandekommen oder der Abbruch der Kommunikation hat fast immer mit der Nichtberücksichtigung kindlicher Ent­ wicklungstatsachen zu tun. Von seiten des Erwachsenen wird das "störrische" oder "unerzogene" Kind geschlagen. Das Kind, das seine aktuelle Unfähigkeit zur Bewältigung von Umweltkomplexität nicht als ein Nochnichtkönnen relativiert sondern sich dauerhaft zuschreibt, bricht nicht nur 75

zB. explizit in Freuds therapeutischem Material

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diesbezügliche Kommunikation sondern auch seine eigenen Lernprozesse (eben kindliche Entwicklung) ab. Wirkungen der funktionssystemischen Kommunika­ tion finden keineswegs nur im Bewußtsein von Kindern statt, auf das sich der Selektionsmechanismus des Mediums bezieht, sondern im Bewußtsein aller Beteiligten, also gera­ de auch der Erwachsenen. Kindheit als Interaktionssystem eröffnet dem Bewußtsein von Erwachsenen spezifische Variations- und Korrekturmöglichkeiten gegenüber bio­ graphisch verfestigten Strukturen.76 Dieses Variationspoten­ tial ist zugleich idealtypischer Bestandteil der funktionsspe­ zifischen Kommunikation i.S. der Stabilisierung kindlichen Bewußtseins. Die Wirkungen des Codes im Bewußtsein von Kindern lassen sich zusammenfassend beschreiben als al­ tersspezifische Selektion eines entsprechenden - entwick­ lungsorientierten - Selbstbilds.77 Die Wirkungen im Er­ wachsenenbewußtsein zeigen sich eher indirekt in der selek­ tiven Verstärkung des funktionssystemischen Codierung der intergenerative Kommunikation - und damit des Funktions­ systems - selbst.78 In der Beschreibung der Kindheit als funktionsspezi­ fisches Interaktionssystem müssen gerade auch die (evolu­ tionär unwahr scheinlichen) Voraussetzungen im Erwachse­ nenbewußtsein thematisiert werden. Wenn es sich im Er­ wachsenenbewußtsein wesentlich um das Mobilisieren eines biographisch in der eigenen (symbiotischen) Kind­ heitserfahrung allemal angelegten Potentials handelt, so bedeutet ebendiese Bewußtseinsmobilisierung keineswegs einfach Regression (wie viele andere Tätigkeiten im Intim­ oder Freundschaftsbereich) sondern v.a. das Ausbalancieren dieses regressiv verfügbaren Potentials mit anderen funkti­ onsspezifischen Kommunikationsanforderungen des Er­ wachsenenlebens. Diese Balance ist nicht nur für die psychische Stabili­ tät des an intergenerativer Kommunikation beteiligten Er­ wachsenen wichtig sondern auch für diese Kommunikation selbst, sofern sie für das Bewußtsein des beteiligten Kindes oder Jugendlichen entwicklungsfördernde Funktionen haben soll (was nicht bedeutet, daß jeder diesbezügliche Balance­ akt an sich schon förderlich wäre). Nicht in der Regression sondern in dieser Balancierung liegt die beim Erwachsenen vorauszusetzende Kompetenz für die Beteiligung an der intergenerativen Kommunikation.79 Diese Kompetenz wird in umso höherem Maße gefordert, je mehr der tradierte Rahmen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in der inter­ generativen Kommunikation zugunsten individualisierter Beziehungen aufgelöst wird. 76

Womit die paradoxe Redeweise aufzulösen ist, daß Erwachsene von Kin­ dern "erzogen" werden. 77 vgl. Kagan, S.159 78 Diese Wirkungen im Erwachsenenbewußtsein - Selektion der Idee kind­ licher Entwicklung zB. durch Erwachsenenkommunikation, Zeitschrif­ tenlektüre etc.- sind zu unterscheiden von anderen Wirkungen der inter­ generativen Kommu nikation, in der der Entwicklungscode ja nur ein, wenngleich funktional sehr relevanter Bestandteil ist, wie zB. die ler­ nende Veränderung des Erwachsenenbewußtseins durch die Konfronta­ tion mit kindlichem Bewußtsein. Vgl. Doehlemann, 1979 s. 11. 79 Auf der Ebene der Interaktion muß diese Balance als individuelle Ko m­ petenz von Erwachsenen beschrieben werden, über die zweifellos nicht jeder Erwachsene verfügt. Es gehört jedoch gerade zu den Leistungen des symbolisch generalisierten Mediums, die an der igK beteiligten Er­ wachsenen von solchen persönlichen Kompetenzanforderungen zu ent­ lasten. Dies geschieht zB. auf der Ebene der schulischen Organisation von Bildungsprozessen bereits durch die Differenzierung zwischen Erst­ und Zweitcodierung des Bildungsmediums. S. 7.3


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation Hierin liegt wohl die spezifische Leistung des Ent­ wicklungscodes, die trotz der gesteigerten evolutionären Unwahrscheinlichkeit ein Stück weit vom individuellen Erwachsenenbewußtsein unabhängige An­ schlußbedingungen ermöglicht. Es handelt sich um ein Zusammenwirken von Code und Dyade: Der Code - wie­ wohl funktionssystemisch binär strukturiert - steht nicht im Gegensatz zu hochindividualisierter Kommunikation son­ dern ermöglicht sie gerade durch Ausklammerung aller an­ deren Kommunikation. 5.5 Vorläufige Zusammenfassung Die Ausdifferenzierung der Entwicklungsdyade auf der Ebene der intergenerativen Interaktion ist eine evolutionäre Errungenschaft der intergenerativen Kommunikation in funktional hochdifferenzierten Gesellschaften. Typisch für die Entwicklungsdyade ist die Zurückdrängung der pädago­ gischen Intentionalisierung von Sozialisation unter Wah­ rung eines sozialisationswirksamen Personbezugs. Die Ent­ wicklungsdyade ist prinzipiell nicht beschränkt auf den Umkreis traditioneller Familienkindheit sondern ermöglicht die Teilnahme an funktionssystemischer Kommunikation qua Bildung eines intimisierten Subsystems im Funktions­ system bei Ausschaltung pädagogischer Intervention auf der Ebene der Interaktionen. Die Entwicklungsdyade erfüllt so die Aufgabe, die Motivation zur Aneignung komplizierter Kommunikationscodes im Bewußtsein durch Personbezug zu stabilisieren, ohne den Ernstcharakter der Kommunikati­ on in anderen Funktionssystemen "pädagogisch" zu stören. Demgenüber bewahrt das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Bildung auf der Ebene funktions­ spezifischer Organisationssysteme typische Merkmale päd­ agogischer Intervention, allerdings wiederum ohne den tradierten Personbezug. Personbezug ist damit nicht aus den Interaktionen im Bildungssystem verschwunden, jedoch nicht mehr allein konstitutiv für die Bildung der Persön­ lichkeit. Die pädagogische Konstruktion der Wirklichkeit verlagert sich im Funktionssystem vom Personbezug - dem ausdifferenzierten Erzieher/Zögling-Verhältnis - auf den Zukunftsbezug: die Ausdifferenzierung des Mediencodes mit Unterstellungen über Alters Erleben, die die Zurechen­ barkeit von Kommunikation als Handlung deaktualisiert. Das Medium selegiert im Kern die bloße Selbstreferenz des (sich entwickelnden) Bewußtseins gegen alle Inhalte, die dem Bewußtsein über Themen der funktionsspezifischen Kommunikation zugänglich werden. In der Dyade kommt der pädagogische Code so zur Anwendung, daß "Erzieher"-Handeln stets nur an "Zög­ lings"- Erleben anschließt und alle Kommunikation entwe ­ der im Hinblick auf Entwicklung (Öffnung des Bewußtsein. für Lernen) oder Nichtentwicklung (Selektive Schließung des Bewußtseins im Hinblick auf Stabilisierung des Ge ­ lernten) binär schematisiert. Dagegen entfällt hier weitge­ hend jede Intentionalisierung (pädagogische Zweckset­ zung). Pädagogische Programme werden nicht auf der Ebe­ ne des Interaktionssystems sondern auf der Ebene des Funk­ tionssystems (in der Reflexion der Beziehung zwi schen Funktionssystem und ge sellschaftlicher Umwelt) implemen­ tiert und diskutiert (variiert). Das symbolisch generalisierte Kommunikationsme­ dium Bildung macht die Selbstreferenz des Bewußtseins als ausgeschlossenes Drittes in der jeweiligen funktionsbezo­

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genen Kommunikation zum Thema (zum pädagogischen Programm). Zum einen erlebt sich das gewöhnliche Be­ wußtsein als ausgeschlossen in der funktionssystemischen Kommunikation, weil die funktionsystemische Kommuni­ kation strukturell unpersönliche Beteiligung selegiert. Zum anderen erlebt sich das Bewußtsein als ausgeschlossen, weil die funktionelle Differenzierung das Bewußtsein für multi­ ple und hochdivergente Kommunikationsweisen voraus­ setzt. Das Bildungsmedium steigert diese Erfahrung - über verschiedene Mechanismen - zur Subjektivität des Bewußts­ eins. Dieser Steigerungsvorgang ist biografisch immer auch ein Leidensvorgang80 der nicht ohne Umformung tiefsitzen­ der menschlicher An triebspotentiale. Unter diesem Ge­ sichtspunkt wird im Folgenden die symbolische Verwen­ dung des menschlichen Aggressionspotentials als Teil des Kommunikationsmediums betrachtet. Bildung als Kommu­ nikationsmedium ist gerade nicht das, als was es in der kleinbürgerlichen Karikatur erscheint: die An häufung von gesellschaftlichem Wissen im Bewußtsein, sondern sie ist Bildung der Persönlichkeit in der Konfrontation mit den Zumutungen dieser funktional differenzierten Wissensbe­ stände.

6. Zum Körperbezug der intergenerativen Kom­ munikation Wie gelingt es, für die ins Unwahrscheinliche gesteigerte Selektion der Informationen im Rahmen intergenerativer Kommunikation eine Motivation zur Annahme zu sichern? Die Relevanz dieser Fragestellung ergibt sich aus der Verschiedenartigkeit der sinnhaften Grundoperationen so­ zialer und psychischer Systeme. Psychische Systeme grei­ fen zu ihrem eigenen Strukturaufbau gegen die temporale Diskontinuität auf bestimmte Interpenetrationen der je ei­ genen Körperumwelt zurück. Wenn es die Funktion des Mediums ist, die intergenerative Kommunikation trotz ge­ stiegener Unwahrscheinlichkeit zu ermöglichen, dann muß der Verwendung dieses Mediums ein spezifischer Mecha­ nismus zugrundeliegen, der den Körperbezug des menschli­ chen Bewußtseins in der jeweiligen Kommunikation sym­ bolisiert und damit zugleich die Anschlußfähigkeit von kindlichem und erwachsenem Bewußtsein an diese Kom­ munikation (trotz der Unwahrscheinlichkeit der ent­ sprechenden Sinnselektionen) sichert. Ich nenne ihn in An­ lehnung an Luhmann einen symbiotischen Mechanismus. Eine Eigentümlichkeit der semantischen Evolution insbesondere der Idee individueller kindlicher Entwicklung ist es, daß diese zwar einerseits - schon im Um­ gangssprachgebrauch - sich ableitet von den leicht beob­ achtbaren Tatsachen organischer Entwicklung beim Kind, daß andererseits aber gerade dieser Zusammenhang in der semantischen Entwicklung immer mehr ausgedünnt wird zur bloßen Analogie (bis hin zur Verleugnung eines Zu­ sammenhangs in bestimmten soziologisierten Versionen). Dies kennzeichnet eben die Beziehung von me­ dienspezifischen Generalisierung zur organischen Umwelt: einerseits eine ganz eindeutige Bezugnahme - hier auf die Entwicklungstatsachen des Organismus - und andererseits die symbolische Vereindeutigung als Verdrängung des diffusen Störpotentials dieser organischen Umwelt für die

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wie Heydorn, ... zu Recht hervorhebt.


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation kommunikativen Zwecke.81 Symbiotische Mechanismen repräsentieren in der Kommunikation moderner Sozialsysteme - metaphorisch gesprochen - die Unterwerfung des menschlichen Körpers unter den menschlichen "Geist". Es handelt sich um sprach­ liche (z.T. auch außersprachlich-gestisch-mimische) Sym­ bole für die Interpenetration zwischen Organismus und Bewußtsein, die als solche zunächst das Bewußtsein und über das Bewußtsein eben das Interpenetrationsverhältnis selbst beeinflussen, indem sie die Aufnahmebereitschaft des psychischen Systems für die Reize des Organismus vorfor­ men.82 Jenseits der historisch-semantischen Rekonstruktion läßt sich dasselbe in einer funktionalistischen Analyse der intergenerativen Kommunikation zeigen: Die kommunikati­ ve Erfüllung der Funktion - Tradierung des gesellschaftli­ chen Sinnvorrats (unter sich verändernden Bedingungen) ­ ist ab ovo unwahrscheinlich deshalb, weil es stets nur unter Verarbeitung von gesellschaftstypischen (etwa dem VaterSohn-Konflikt ums Erbteil in einer Agrargesellschaft) und coevolutionär bewußtseinstypischen Konflikten ablief.83 6.1 Aggressivität als symbiotischer Mechanismus Liegt dem Kommunikationsmedium Liebe die symbolische Repräsentation und Regulierung der Sexualität zugrunde, so dem Bildungsmedium nach meiner Einschätzung die der menschlichen Aggressivi tät.84 Dies läßt sich - im Unter­ schied zum verschleiernden Sprachgebrauch der ideali­ stischen Pädagogik - gerade an den frühen Formen der ent­ sprechenden Semantik unschwer nachweisen. Wenn die Regulierung der Aggressivität stets ein Moment der pädagogischen Semantik war, so wandelt sich diese symbolische Repräsentanz zum funktionsspezifischen symbiotischen Mechanismus im Kontext der Verdichtung zum Kommunikationsmedium: als kulturelle Affirmation der Aggressivität zur Absicherung der Individualität (als Exklusion des Individuums) angesichts multipler Inklusion in divergente Sozialsysteme. Das Kommunikationsmedium überformt die Aggres­ sivität in der Al ter/Ego-Konstellation doppelt: bei Alter i.S. der Zurückhaltung von Aggression gegenüber dem anderen (andersartigen) Bewußtsein (hier greifen ontogene­ tisch/phylogenetisch geschützte Mechanismen ein wie zB. 81

Vgl. Luhmann, Typoskript Gesellschaftstheorie Kap. Ko mmunikations­ medien, S.136 82 Vgl. Luhmann, 1984, S. 331-341 sowie 1981a S.228-244 83 Vgl. Luhmanns Konflikttheorie (1984) als Gegenstück zur Medientheo­ rie. Material dazu s. DeMause Psycho-Historio-graphie der Eltern -KindBezie hungen 84 Für Kenner der Luhmannschen Medientheorie sei angemerkt, daß es sich bei dem hier skizzierten symbiotischen Mechanismus keineswegs um dieselbe Art von symbolisch repräsentiertem Körperbezug handelt wie sie von Luhmann für das Kommu nikationsedium Macht rekonstruiert wurde. Dort handelt es sich um Gewalt (welcher Art auch immer) die den menschlichen Körper beeindrucken kann, hier um das Aggressions­ potential, das dem menschlichen Körper selbst (in seiner Motorik und v.a. im Stammhirn) gattungsgeschichtlich zur Verfügung steht. Die Verwechslung liegt nahe, weil speziell den Funktionsträgern des politi­ schen Systems (im Unterschied zur funktionalen Inklusion als Bürger) auch eine persönliche Befriedigung an der Machtausübung zugeschrie­ ben wird. In diesem Fall handelt es sich aber gar nicht um den symbioti­ schen Mechanismus des politischen Systems sondern gewissermaßen um einen Aspekt des Bildungsprozesses von Politikern, in dem ihr Ag­ gressivitätspotential ihnen zugute kommt.

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die Aggressionsblockierung im sogenannten Kindchen­ schema) - bei Ego i.S. der kanalisierten Zulassung von Ag­ gressivität i.S. der sozial erwünschten Individualitität. Das Schamgefühl ist ein - von der frühen Pädagogik hochgeschätztes Derivat des aggressiven Körperpotentials, das in anderen Formen und symbiotischen Mechanismen auch im Liebescode und im Machtcode auftaucht. Indivi­ dualität und Schamgefühl gehören insofern zusammen, als Letzteres die kognitiv-emotionale Verarbeitung einer Kommunikation ist, in der ein sozial mißbilligtes Verhalten exklusiv auf ein Selbst - genauer: mangelnde Selbstkontrol­ le - zurückgeführt wird. Nun wird freilich solche Kommu­ nikation - schon gar mit der Intention auf In­ dividualitätsentfaltung - heute differenzierter beurteilt als in der pädagogischen Tradition. Die multiple Inklusion in differenten Funktionssystemen läßt einen moralisch so ver­ bindlichen Zugriff der Kommunikation auf die Selbstbewe r­ tung nicht mehr als angemessen erscheinen. Aber welche Regulierung des Körperverhaltens tritt in der - auf Indvidua­ lisierung ange legten - Kommunikation an die Stelle ? Ich vermute, es ist ein subtiler Umgang mit der körperlichen (v.a. motorisch fundierten) Aggressivität, der auf eine Regu­ lierung der aggressiven Motive im Bewußtsein für die Selbstbehauptung als - sich selbst reflektierendes - Indi­ viduum gegenüber jeglicher sozialer Kontrolle hinausläuft. Während die intergenerative Entwicklungsdyade ih­ ren evolutionären Ursprung in der frühen Mutter-KindBindung (Symbiose) hat85 - und damit an die Stelle tradier­ ter Fortentwicklungen im Familismus tritt - sind die Quellen des symbiotischen Mechanismus, der das Bildungsstreben von sich entwickelnden psychischen Systemen in der ent­ sprechenden Kommunikation absichert, weniger offen­ kundig. Die Humanethologie lehrt, daß es neben dem Fami­ lismus wenigstens eine zweite Wurzel des menschlichen Sozialverhaltens gibt: die Dominanzordnung. Der mit der Regulierung von Über- und Unterordnungsbeziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe verknüpfte symbo­ tische Mechanismus ist die menschliche Aggressivität. Bereits für einfache Gesellschaften gilt, daß die Do­ minanzordnung relativ zur jeweiligen Funktion - Revierver­ teidigung, Jagd, Kult - variieren kann bzw. sich ver­ schiedene Rangordnungen überschneiden können (z.B. kann im Falle der Revierverteidigung die gebündelte Aggressivi­ tät nach außen abgelenkt werden). Bereits in traditionalen Gesellschaften beginnt der Umbau der Dominanzordnung zur funktional differenzierten Verbandsordnung, der die menschlichen Aggressivitätspotentiale aus der Gruppenbin­ dung (der Bindung an eine bestimmte Struktur der Interak­ tion unter Anwesenden) entläßt und an abstraktere Normen bindet.86 In modernen Gesellschaften schließlich, in denen das Prinzip der funktionalen Differenzierung zur dominanten Struktur wird, wird die Aggressionsbindung vollständig von Gruppenbeziehungen (einschließlich Verbänden, Orga­ nisationen) auf das staatliche Gewaltmononopol und seine rechtliche Codifizierung verlagert. Andererseits ver­ schwindet damit natürlich nicht die in der biologischen 85

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Einerseits i.S. von Erinnerungsspuren an frühere Zustände, die dem psychischen System über Körperkommunikation zugänglich werden, an­ dererseits i.S. von Energiequellen, die dem emergenten System aus sei­ ner Körperumwelt zufließen. Vgl. Bühl, 1984, S.327


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation Antriebsstruktur des Menschen gattungsgeschichtlich einge­ lagerte Aggressivität. Dieses menschliche Potential wird vielmehr (nach inzwischen gängiger freudianischer Auffas­ sung) freigesetzt für verschiedenartigste kulturelle Aktivitä­ ten (bzw. Abweichungen von der jeweiligen kulturellen Norm). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß die kul­ turellen Verwendungen des symbiotischen Mechanismus Aggressivität auch in modernen Gesellschaften an die Dif­ ferenzierungsstruktur der Gesellschaft gebunden bleiben. Da diese Struktur nun eben nicht mehr mit der Dominanz­ ordnung von kleinen Gruppen oder stratifizierten Teilsy­ stemen zusammenfällt, entsteht die Frage, wo in funktional differenzierten Gesellschaften die äquiva lente Stelle für die Einbindung der Aggressivität in die Differenzie­ rungsstruktur entsteht. Ich vermute, daß diese Schnittstelle in der Gege n­ überstellung von individualisierter Person und funktionssy­ stemisch differenzierter Kommunikation, also zwischen Individuum und Gesellschaft (und nicht mehr in irgendeiner Beziehung zwischen Personen) entsteht. Der symbiotische Mechanismus Aggressivität setzt gerade dort seine Absiche­ rungsfunktion für entsprechende Kommunikation ein, wo sich die funktionssystemisch differenzierte Kommunikation als Zumutung an die Individualität i.S. der Lernfähigkeit des Individuums präsentiert - und das heißt: in der in­ tergenerativen Kommunikation.

7. Wandel der Bildungsorganisation Die grunlegende Paradoxie der pädagogischen Kommunika­ tion ist theoretisch aufzulösen als Problem der Coevolution von psychischen und sozialen Systemen. Die funktional er­ forderlichen Bewußtseinsentwicklungen bei der nachwach­ senden Generation in modernen Gesellschaften sind immer weniger möglich als Kommunikation zwischen Personen, die unterschiedlichen Generationen angehören. Z.B. sind die Personen, die der älteren Generation angehören, von ihrem Bewußtseinsstand her gar nicht kompetent, solche Kommunikation zu initiieren, die durch diejenigen Se­ lektionen des gesellschaftlichen Wissens strukturiert sind, die für die Bewußtseinsstrukturen der nachwachsenden Generation relevant wären. 87 Es handelt sich also jetzt um eine Kommunikation mit weitgehend unpersönlichen Aspekten: Der gesellschaft­ liche Wissensbestand (einschließlich Fähigkeiten und Kenntnisse) der als Bewußtseinsstandard die An­ schlußfähigkeit an etablierte Kommunikationsstrukturen gewährleistet, ist nicht von einzelnen Erwachsenen sondern nur durch Teilnahme an entsprechenden Kommunikations­ strukturen erwerbbar, denen auch die Erwachsenen als Indi­ viduen gegenüberstehen. (Wiederum doppelt: qua Ex­ klusion des Individuellen durch multiple Inklusion und als lernende Individuen selbst). 7.1 Schule als Organisationssystem Für alle menschlichen Gesellschaften gilt die Unterschei­ dung zwischen Interaktionssystemen (mit dem Kriterium der Anwesendheit) und dem umfassenderen Ge­ sellschaftssystem. Aber nicht alle Gesellschaften weisen die 87

Programmatisch dazu: Maragaret Mead, Der Konflikt der Genera tionen. Jugend ohne Vorbild, Olten 1971

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für moderne Gesellschaften typische Ausdifferenzierung eines dritten Typs sozialer Systeme, nämlich Orga­ nisationssysteme auf.88 Die Kommunikation in Organisati­ onssystemen erstreckt sich typisch über den Kreis von je­ weils Anwesenden hinaus. Als (minimales) Abgrenzungs­ kriterium kann die systemspezifische Disposition über die Mitgliedschaft der beteiligten Personen gelten. D.h. aber, daß niemals alle Personen nach Maßgabe eines zugeschrie­ benen Kriteriums wie Alter oder Geschlecht Mitglied einer Organisation sein können. Nur so kann die Organisation selbst über die Kriterien der Mitgliedschaft disponieren, zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern unterscheiden. Die Grenzen dieser Kommunikation fallen daher niemals mit denen des umfassenden Gesellschaftssystems zusam­ men.89 Interaktionssysteme haben es fortlaufend mit der Di f­ ferenz von Anwesendheit und Abwesendheit zu tun. Die Kommunikation stellt sich darauf ein, daß, das Verhalten Abwesender nicht durch die Interaktion beeinflußt werden kann, und sie fragt sich, welche Rücksichten auf Ab­ wesende zu nehmen, was von ihnen zu befürchten ist. An­ dererseits ist es für Anwesende fast unmöglich, sich der Suggestion der Kommunikation zu entziehen.90 Eine späte Errungenschaft der Differenzierung zwischen Gesellschaft und Interaktion besteht darin, daß Abwesenheiten legiti­ miert werden können. Diese Freisetzung wird dann wieder­ um korrigierbar durch Anwesenheitsverpflichtungen von Organisationssystemen. Für Organisationssysteme läßt sich mithilfe des Be­ griffs der losen Koppelung die Bildung von "Indifferenzzo­ nen" für organisationsspezifische Operationen erklären.91 Die Teilnahme der handelnden Personen im Organisati­ onssystem wird reguliert über die Abkoppelung der Teil­ nahmemotive - etwa durch Bezahlung und sozialen Status, aber auch: Zensuren, Bildungs- und Berufschancen - von den Zwecken der Organisation. Die Verknüpfung des lose gekoppelten Mediums mit der strikteren Form erfolgt in Organisationssystemen über Programme (die die Richtigkeit von Entscheidungen konditionieren), über Ämter (denen hierarchisch differenziert Aufgaben zugeordnet sind) und über die Zuordnung von Personen (nach Kompetenzmerk­ malen) zu diesen Ämtern.92 Diese Unterscheidung zwi­

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Nicht nur in modernen Gesellschaften: Unter dem Stichwort Bü rokratie wurde dieser Typ bekanntlich von Max Weber auch vormodernen und außereuropäischen Hochkulturen als Erweiterung traditionaler Herr­ schaftsstrukturen zugeschrieben. 89 Allerdings gehört eine solche Vorstellung zum althergebrachten Inventar sozialistischer Utopien der Moderne. 90 also nicht zu kommunizieren, vgl. Watzlawick 91 In neueren Arbeiten versucht Luhmann die organisationssoziologische Theorietradition im Anschluß an M. Weber mithilfe der Unterscheidung zwischen Medium und Form zu reformulieren. Der Begriff des Medi­ ums entspricht system- und evolutionstheoretisch einer "losen Koppe­ lung". Z.B. ändert sich an der Substanz des Geldes nichts dadurch, daß mehr Geld hinzukommt. Aber dieses Mehr kann für den Besitzer den Unterschied zwischen Fortgang der Geschäfte oder Bankrott bedeuten. Letzteres folgt aus einer "strikten Koppelung", die sich aus einem Netz­ werk streng definierter Anschlußbedingungen im Wirtschaftssystem er­ gibt. Luhmann bezieht sich (Vorlesung zur Gesellschaftstheorie, 1988) auf Passagen aus "Der Prozess des Organisierens" von Karl Weick und verknüpft den dort gebrauchten Medienbegriff mit dem der Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. 92 In der empirischen Organisationssoziologie wird eine systemtypische Drift zur "Institutionalisierung", bürokratischen "Erstarrung" etc. i.S. einer Auflösung der losen Koppelung zwischen Personenmotiven und


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation schen Medium und Form auf der Ebene der Struktur von Organisationssystemen läßt sich nach Luhmann auf der Ebene systemspezifischer Operationen - das sind bei Orga­ nisationssystemen "Entscheidungen" - wiederholen: Jede Entscheidung wird zur Prämisse weiterer Entscheidungen, jedoch nur i.S. einer losen Koppelung, die die folgenden Entscheidungen keienswegs determinativ festlegt, sondern auch neue Kontingenzen eröffnet. Auch Bildung ist ein Medium, das - entgegen den Suggestionen der emphatischen Bildungstheorie - nur lose mit der Form gekoppelt ist, in der sie sich verwirklicht: der Persönlichkeit oder Indivi dualität des psychischen Systems in einer funktional differenzierten Gesellschaft. Nur im alteuropäischen Bildungsve rständnis war Bildung noch eng mit dem Geburtsstand verknüpft: Man hatte sie (i.S. einer Perfektion des Verhaltens) oder man hatte sie nicht. Ein solches Verständnis ist jedoch völlig unbrauchbar, um die Entwicklungsprobleme psychischer Systeme in einer funk­ tional differenzierten Gesellschaft zu beschreiben. Das schließt nicht aus, daß gerade hier auch Tendenzen zu einer "Refeudalisierung" i.S. der Ineinssetzung von Bildungskom­ munikation und Persönlichkeitsentwicklung beobachtet werden können. Bezieht man das referierte Modell Luhmanns auf das Organisationssystem Schule, so läßt es sich keineswegs bloß auf die bezahlten Amtsträger in der Schulhierarchie anwenden sondern - mit erst auf der Ebene von Program­ men relevanten Unterschieden - auch auf die anders zur Teilnahme motivierten Schüler. Gleichgültig, ob als Teil­ nahmemotiv nun die sanktionsbewehrte Schulpflicht, der durchgesetzte Elternwille oder schon die eigene Einsicht des Schülers in die Abhängigkeit seiner Lebenschancen von schulisch geprüfter Leistung einsetzt: Offenkundig handelt es sich auch hier um eine lose Koppelung 93 von Teilnah­ memotiven an die Zwecke des Organisationssystems. Dies ist der Ausgangs punkt für Analysen der Schule als organi­ siertem Bestandteil der intergenerative Kommunikation.94 - Relativierung von Moralgesichtspunkten Eine Eigentümlichkeit hat die symbolische Generalisierung intergenerativer Kommunikation mit allen funktionssyste­ mischen Medienentwicklungen gemein: die systematische Ausgrenzung der Kommunikation aus den sonst geltenden Moralvorstellungen. In der frühmodernen Pädagogik war es

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Organisationszwecken beobachtet. Dem entsprechen dann regelmäßige Bemühungen zur Re flexibiliiserung wie Ämterro tation o.ä. Und nicht etwa um die pädagogisch erwünschte "intrinsische" Motiva­ tion, eher trotz oder unabhängig von der Organisationsstruktur im Schul­ system sich behaupten kann! Für weitere Beispiele der losen Koppelung von Bildung und Per­ sönlichkeit läßt sich das in der neueren Bildungssoziologe (und -öko­ nomie) - im Rahmen von Flexibilisierungstrategien in der Abstimmung zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem vertre tene Konzept der "Schlüsselqualifikationen" anführen. Vgl. Mertens, D. Schlüsselqualifi­ kationen In: MittAB 4/1974, S.36-43. Hier wird unterschieden zwischen "Basisqualifikationen" wie zB. der Fähig keit, durch Über- und Unter­ ordnung von Phänomenen zu klassifizieren, und "Horizontalqualifika ­ tionen" wie der Fähigkeit, sich über Informationsmöglichkeiten zu in ­ formieren; ferner wird unterschieden zwischen "Breitenelementen" der Qualifikation, die sich auf praktische Anforderungen am Arbeitsplatz beziehen, aber gleichzeitig für viele Tätigkeitsfelder in Frage kommen, und "Vintage-Faktoren", das sind spezielle Bildungsangebote, die helfen sollen, Bildungsdifferenzen auszugleichen, die sich zwischen Personen verschiedener Generationen aufgrund des Wandels schulischer Stan­ dardanforderungen ergeben.

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keineswegs selbstverständlich, daß für Kinder andere, päd­ agogisch moderierte Moralprinzipien gelten sollten, als für Erwachsene. In der heute weithin psychologisierten Päd­ agogik erscheint es selbstverständlich, daß für kindliche Entwicklung andere Maßstäbe gelten sollen. Es gibt sogar prononcierte Tendenzen zur Verbannung jeglicher Moral­ aspekte aus den Erwachsenen-Kind-Interaktionen. Diese Tendenz findet ihren Ausdruck in der Codierung des Kom­ munikationsmediums selbst. Moral ist ein unauflösbarer Bestandteil von Interakti­ onssystemen. Das heißt natürlich nicht, daß Abweichen von Moralprinzipien unmöglich ist, sondern nur, daß es gegebe­ nenfalls den Beteiligten als Abwe ichung bewußt wird ­ während solche Ab weichungen bekanntlich schon bei Or­ ganisationssystemen nicht mehr eindeutig auf Personen zurechenbar sind. Deshalb müssen spezielle Zurechnungen codifiziert werden. Alle Interaktion ist Gesellschaftsvollzug, aber die Grenzen der Gesellschaft umfassen stets mehr als ein Interaktionssystem. Die Durchsetzung funktionaler Dif­ ferenzierung in der Gesellschaftsstruktur bedeutet eine Ent­ lastung von moralischen Gesichtspunkten aus der funktions­ systemischen Kommunikation. Diese moralische De­ regulierung wird z.T. durch organisationsspezifische Hand­ lungsnormen (Ethiken) und z.T. durch positives Recht auf­ gefangen.95 Für Kommunikationsmedien - im Zusammenhang mit der Ermöglicung von Kommuni kationsketten, die die Inter­ aktion unter Anwesenden überschreiten - typisch ist die Relativierung von Gesichtspunkten wechselseitiger Achtung und Rücksichtnahme, wie sie für Interaktion unter An­ wesenden gelten. Beim Bildungsmedium liegt die Amoralität in der Einräumung von Entwicklungsspielräumen qua Nichtsank­ tionierung von Moralverstößen i.S. der Reduktion von Handlungen (die Verantwortungszuschreibung ermögli­ chen) auf Bewußtsein i.S. der Annahme, daß es zu seiner Entwicklung des Verzichts auf Sanktionen oder zumindest einer entwicklungsspezifisch angepaßten Weise der Sank­ tionierung bedarf. Dies geschieht zum Einen bereits in der pädagogisch codierten Kommunikation in der Dyade: Das Kind wird für sein Handeln moralisch gerade nicht verantwortlich ge­ macht, die Handlungsfolgen am Entwicklungsstand seines Erlebens relativiert. Dies geschieht in ganz offenkundiger Weise dann in der zweitcodierten Kommunikation im Hin­ blick auf Bildungskarriere mit dem eingebauten Zwang zur Leistungskonkurrenz: Dem Mitschüler in Schwierigkeiten darf nicht geholfen werden, weil dies den Vergleich verzer­ ren würde. 7.2 Die pädagogische Codierung schulischer Kommuni­ 95

Diese Beschreibung ist insofern unvollständig als sie davon absieht, daß jenseits der Regulierung funktionssysstemischer Kommunika tion über symbolisch generalisierte Medien und Mediencodes (und über in­ stitutionalisierte Handlungsnormen) Interaktion in Funktionssystemen weiterhin vorkommt und damit auch interaktionsbezogene Moralisie­ rung. Die Mediencodes können nur den Anwendungsbereich der Moral auf die unmittelbare Interaktion beschränken und die Kommunika tion gegen eine weiterreichende Anwendung immunisieren, sie können je ­ doch die mit jeder In teraktion wiederkehrenden moralischen Motive nicht verschwinden lassen. Daher gibt es wohl auch typische Auslöse­ punkte für die Re moralisierung funktionssystemischer (und organisati­ onsspezifischer) Kommunikation in modernen Gesellschaften.


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation kation - Umstellung von Person- auf Zukunftsbezug Die Umstellung der intergenerativen Kommunikation von Person- auf Zeit- (bzw. Zukunfts-)bezug durch ihre Codie­ rung darf nicht als zeitliche (biografische oder historische) Sequenz der Bewußtseinsentwicklung verstanden werden etwa in dem Sinne, daß das sich entwickelnde Bewußtsein zu irgendeinem Zeitpunkt die Personorientierung völlig hinter sich ließe.96 Die Umstellung auf Zukunftsbezug meint nicht Bewußtsein sondern Kommunikation: der the­ matische Kern des Mediums und seiner Codierung97 ist nicht mehr personale Bindung, Vorbildhaftigkeit etc. son­ dern die pure Selbstreferenz des Bewußtseins, durchbrochen bloß in der Zeitreferenz auf seine künftige Entwickeltheit und damit Entwertung seiner Aktualität für Hand­ lungszurechnungen. Es handelt sich also nicht einfach um einen Aus­ tausch von Personbezug durch Zukunftsbezug sondern um die für evoluierende Sinnsysteme typische Steigerung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit in dem Sinne, daß das System an Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Ab­ hängigkeiten gewinnt. Im Falle des Bildungsmediums heißt dies zunächst, daß die Ab hängigkeit von Personen bei der Sozialisation des Bewußtseins nicht verschwindet sondern nur von ihr abstrahiert wird.98 Was das Medium ermöglicht, ist die generalisierte (also gerade nicht an bestimmte Perso­ nen, zu denen etwa eine filiale Prägung besteht!) gebundene Bereitstellung von Motiven zur Teilnahme an einer Kom­ munikation, die wechselnden Personen die vorübergehende Einbindung in eine dyadische Interaktion erlaubt, deren Funktion gerade das Erlernen des Umgangs mit funktionaler Differenzierung ist. Mit der technischen Zugespitzung im Entwicklungscode wird ebendiese Funktion zunehmend un­ abhängig nicht nur vom Gesamtsystem der Familie - auch wenn weiterhin Teilbeziehungen aus diesem System sich vorrangig für Entwicklungsdyaden anbieten - sondern auch vom Organisationssystem der Schule - auch wenn die Schu­ le weiterhin ein bevorzugtes Feld für die Bildung von Ent­ wicklungsdyaden sein kann. Die Steigerung der Unabhängigkeit - und zwar gerade nicht nur altersabhängig sondern gegenüber der geringeren Unabhängigkeit Gleichaltriger in we niger entwickelten Sozialsystemen - besteht hier also in der zunehmenden Wahlfreiheit gegenüber Personen. Die für die Beschreibung dieser Medienentwicklung ebenso wichtige Steigerung der Abhängigkeit besteht aber in der Dimension der Individua­ lisierung des Personbezugs. Zwar trägt alle Teilnahme an Kommunikation zur Sozialisation des Bewußtseins bei. Aber nur eine hochindividualisierte Kommunikation (wie ich sie als Strukturmerkmal der Entwicklungsdyade zu be­ schreiben versucht habe) kann zu der für die Teilnahme an

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Diese Beschreibung von Kommunikation ist nicht zu verwechseln mit der von mir eingangs im Blick auf die Coevolution psychischer und so­ zialer Sy steme gebrauchte Formel von der (ontogenetischen) Umstel­ lung des Bewußtseins von Einheit (Sy mbiose) auf Differenz (Personen, Umwelt). 97 Nach Luhmann (1975a S. 177) ermöglicht Codierung: in der Sach­ dimension das Übergreifen heterogener Situationen, in der Zeitdimen­ sion progressive Ve rknüpfung und in der Sozialdimension die Zuspit­ zung auf harte Alternativen. 98 Zu diesem Abstraktionsvorgang vgl. schon Anm. 25 und 26

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einer funktional hochdifferenzierten Gesellschaft adäquaten Bewußtseinsbildung beitragen. - Lernen des Lernens In der schulischen Organisation von intergenerativer Ko m­ munikation stellt das bloße Lernen gesteigert als "Lernen des Lernens" eine neuere Kontingenzformel der intergenera­ tiven Kommunikation dar, die in einer durchaus paradoxen Beziehung zu der Realität des Bewußtseins steht, dessen Veränderung durch diese Kommunikation bewirkt werden soll. Das Bewußtsein (des Schülers) soll sich nicht für etwas Bestimmtes öffnen, sondern soll schlicht offen für "alles" oder zumindest so unvorhersehbar viele Sinngehalte sein, daß die Schule von vornherein darauf verzichtet, sie schon zu benennen. Aber gerade dies ist unmöglich. Wie gezeigt, setzt alles Lernen schon Schließung voraus, wird also Öff­ nung psychischer Systeme stets durch Aufbau von Selekti­ onskompetenz erst ermöglicht. Nicht zufällig läßt sich daher auch in historisch-semantischer Rekonstruktion eine starke Ambivalenz des Lernbegriffs bis heute nicht verbergen. Nur emphatische Bildungstheoretiker können ignorieren, daß Lernen-Müssen in der Alltagskommunikation als etwas Demütigendes empfunden wird - d.h. eben nur im Rahmen spezifischer kommunikativer Arrangements akzeptiert we r­ den kann. Bildung ist eine Funktion des ausdifferenzierten Sy­ stems, die eine Codierung der entsprechenden Kommunika­ tion voraussetzt, in der keineswegs von vornherein festge­ legt ist - sondern eben das Bewußtsein selbst entscheidet ­ wann Entwicklung/Lernen stattfinden soll und wann nicht. Es gehört gerade zu der Technizität (der leichten Handhab­ barkeit) des Codes, daß dieser Übergang vom Positiv- zum Negativwert jederzeit möglich ist. Wann und nach welchen Kriterien dies möglich ist, entscheiden Programme, die jederzeit geändert werden können. Unterrichtstechnisch formuliert: Zwar wird für Unterricht nicht nur ein Anfang und Ende sondern auch ein Lernziel festgelegt. Aber dies geschieht in dem pädagogischen Wissen, daß es sich um eine Vorentscheidung handelt, der sich der tatsächliche Bildungsprozess jederzeit entziehen kann. Das Programm hat nur eine Realisierungschance, wenn es im Rahmen der codierten Kommunikation nach dem binären Schema Ler­ nen/Nichtlernen (oder überhaupt erst: Zuwendung des Be­ wußtseins oder Abwe ndung) selegiert wird. - Verbot der Individuierung ohne Wissen Während der Begriff der Individualität auf Ganzheitlichkeit (eigentlich: Unteilbarkeit) des Bewußtseins bzw. der Person abstellt, muß der Begriff der Bildung die Last der tatsächli­ chen Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Wissens tra­ gen und dh. auf funktionale Differenzierung der Gesell­ schaft reagieren, sie für das Indivi duum konsumierbar ma­ chen. Wie kann das gehen ? Sinnsysteme sind selbstreferentiell organisiert und produzieren entsprechende Paradoxien und Tautologien. Ein für den modernen Alltag typisches Beispiel ist die Rede von der "Selbstverwirklichung" als Ziel der Persönlichkeitsent­ wicklung. Auch diese Rede ist paradox, wenn man bedenkt, daß sich etwas verwirklichen soll, das noch kein Selbst ist sondern es erst werden soll oder will. Oder sie ist tauto­ logisch, wenn man davon ausgeht, daß ein Selbst schon


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation existiert, also auch schon verwirklicht (emergentes psyc hi­ sches System) ist. Derartiger Sprachgebrauch ist offenbar codiert und meint eben ein anderes Selbst, als das, das sich entwickelt, ohne zu benennen, wie dieses Selbst (bzw. das Ziel der Entwicklung) aussehen soll. Tatsächlich gibt es auf der Organisationsebene des Bildungssystems eine Reihe von Vorrichtungen, die nicht nur die Tautologie des Selbstverwirklichungskonzepts auf­ lösen sondern als Sanktionen gegen eine Individualisierung ohne Auseinandersetzung mit der "Welt" wirken. Luhmann hebt hervor, daß bei einer Reihe von Medien (paradig­ matischer Fall ist hier die Liebe mit ihrem symbiotischen Mechanismus Sexualität) gewissermaßen "Selbstbefriedi­ gungsverbote" errichtet werden müssen, damit die beteilig­ ten Individuen überhaupt (oder in für die Stabilisierung des Funktionssystems zureichendem Umfang) motiviert we r­ den, den "Umweg" zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse über Kommunikation zu wählen. Damit eine so unwahrscheinli­ che Kommunikation wie die in der Schule Geforderte über­ haupt möglich werden kann, bedarf es offenkundig einer Reihe zusätzlicher Vorkehrungen des (jeweiligen) Funk­ tionssystems. Der analoge Fall eines Verbots im Bildungsbereich dürfte im Verbot (bzw. der Negativsanktionierung) einer Individuierung des Bewußtseins ohne Entwicklung (i.S. der jeweiligen Programmierung des Entwicklungscodes) liegen. Der radikalste Fall eines solchen Verhaltens dürfte im Rückzug aus aller Kommunikation, also aus der Gesell­ schaft liegen. Näher an der tradierten Bidungssemantik liegen alle Abstufungen solchen Rückzugs, die sich als mangelnde Umstellung des Bewußtseins von Einheit auf Differenz i.S. der empirischen Differenzierungsstruktur der Gesellschaft diagnostizieren lassen. Gebildet ist erst, wer seine Individualität gegenüber den Zumutungen funktions­ systemisch differenzierter Kommunikation wahren kann, in­ dem er über zureichende Komplexität verfügt, um sich se­ lektiv öffnen zu können. 99 7.3 Selektion als Zweitcodierung - Respezifizierung der pädagogischen Leitdifferenz Das Bildungssystem als Funktionssystem der Gesellschaft fällt nicht zusammen mit den diesbezüglichen Organisati­ onssystemen (Schule, Hochschule etc.). Viele Bil­ 99

Abweichend von dieser Interpretation ließe sich derselbe Sachverhalt im Anschluß an Luhmann (1987c S. 131ff) auch als bloßes Wachstum der Anspruchshaltungen und als Vergewisserungstechnik gegenüber einer anders nicht faßbaren Komplexität der Gesellschaft beschreiben: Die Orientierung an Ansprüchen ..."setzt nicht voraus, daß man die Gesell­ schaft kennt und weiß, was sie zu bieten hat; und sie setzt nicht voraus, daß man sich selbst kennt. Ansprüche können zum Sondieren in unbe­ kanntem Terrain benutzt werden, und an den Resultaten, an Erfüllungen und Enttäuschungen, formt sich dann die Person und ihr Gesellschafts­ bild. Komplexität ist für das Individuum nur die Information darüber, daß ihm die Information darüber fehlt, die nötig wäre, um das Ganze zu begreifen. Neuere systemtheoretische Analysen betonen, daß diese Be­ dingung einer unbegreiflich komplexen Umwelt den Systemaufbau kei­ neswegs ausschließt, man muß nur die Formen der »Morphogenese« der Strukturbildung, der Selbstreproduktion darauf einstellen. Damit ist auch gesagt, daß die Formen, die als Resultat herauskommen, durch die Art der Informationsgewinnung nicht determiniert sind. Wenn Ansprüche als Sondierungstechnik benutzt werde», hat das sicher Auswirkungen, bedeutet aber nicht, daß nun ein habgieriges, »anspruchsvolles« bzw. ein resignierendes Individuum entsteht.“

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dungsprozesse finden außerhalb der dafür spezialisierten Institutionen, angesichts der Komplexität der Kommunika­ tionsanforderungen aber wohl kaum ohne Rückgriff auf das funktionsspezifische Kommunikationsmedium statt. Für die Organisationseben des Bildungssystems hat sich ein spezifi­ scher Code herausgebildet, der seine Aufgabe in spezifi­ schen Leistungen des Bildungssystems für andere Funkti­ onssysteme hat. Ich bezeichne ihn als Zweitcode, weil er in seiner funktionsspezifischen Wirkung auf die Produktion hochindividualisierter Persönlichkeiten von den selektiven Effekten des Primärcodes (Entwicklung/Nichtentwicklung) abhängig bleibt. Als Zweitcodierung des funktionssystemi­ schen Kommunikation stellt er eine evolutionäre Errungen­ schaft der intergenerativen Kommunikation dar, die Defizite des Primärcodes kompensiert und zugleich die Mög­ lichkeiten systeminternen Komplexitätsaufbaus erhöht. Diese Defizite bestehen offensichtlich in der Sicherung der Autonomie des Funktionssystems selbst gegenüber den Er­ wartungen in seiner Umwelt (v.a. im Wirtschaftssystem).100 Während im Entwicklungscode die pädagogische Programmierung in dem Versuch besteht, festzulegen, wo r­ an Entwicklung bzw. Nichtentwicklung eigentlich zu mes­ sen sei, also z.B. bestimmte Kompetenzen zur Teilnahme an gesellschaftlich differnzierter Kommunikation als Ziel der Entwicklung zu benennen, operiert der Zweitcode schuli­ scher Selektion von vornherein auf der Basis überprüfbarer Kompetenzen (wobei von deren je individuellen Entwick­ lungsbedingungen um der Objektivität der Selektion willen bereits abstrahiert werden muß). Damit löst der Zweitcode die spezielle Paradoxie schulischer Kommunikation auf, daß Fragen gestellt werden, deren Antworten schon bekannt sind. Da Ego/Lehrer die Information schon kennt, die Al­ ter/Schüler mitteilen soll, wäre es einigermaßen un­ wahrscheinlich, ihn zu solcher Kommunikation zu mo­ tivieren. Die eigentliche Information, um die es in dieser Konstellation geht, ist aber nicht durch die Frage sondern im Code festgelegt: nämlich ob der Schüler über die erfrag­ te Information bzw. Antwo rtkompetenz verfügt oder nicht. Die Selektivität schulischer Kommunikation bede u­ tet, daß das anschlußsuchende Bewußtsein des Schülers lernt, sich die Teilnahme als Erfolg oder als Mißerfolg (des eigenen Verstehens) zuzurechnen. Die Zurechenbarkeit wird über bestimmte Programme definiert und (v.a. nach Noten) symbolisch differenziert. Normalerweise wird das wiederholte Mißlingen der Teilnahme an irgendeiner außer­ schulischen Kommunikation vom anschlußsuchenden Be­ wußtsein - gleichültig, ob es sich das Mißlingen als Mißer­ folg oder dem Sozialsystem als dessen Intransigenz zurech­ net - dahingehend verarbeitet wird, es nicht wieder zu ver­ suchen. Das Spezifikum schulisch-pädagogischer Selektion (auch die Kunst oder der Kunstfehler in der pädagogischen Handhabung von seiten des Lehrers) ist es demgegenüber, gerade eine solche Verarbeitung des Mißlingens zu ver­ hindern. Soweit dies geschieht - das ist bekanntlich nicht 100

Bekanntlich wird die Selektionsfunktion der schulischen Organisation von Bildungsprozessen in pädagogischen Reflexionstheorien gewöhn­ lich als ein Zwang aufgefaßt, der dem Bildungssystem von Außen zu­ kommt und mit dem emphatischen Selbstverständnis der pädagogischen Funktion unvereinbar sei. Die systemtheoretische Beschreibung zeigt hingegen, daß nicht das Wirtschaftssystem die Schule mit Selektionsan­ forderungen für seine Zwecke "mißbraucht" - die kann es offenkundig selbst erledigen! - sondern daß die Schule die Selektionsfunktion braucht, um ihre pädagogische Autonomie in der Umwelt des Wirt­ schaftssystems zu wahren.


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation immer der Fall - geschieht es auf dem Hintergrund der Pri­ märcodierung der Kommunikation als immer wieder offen für erneute Teilnahme. Die auf den ersten Blick irritierende Bezeichnung Se­ lektionscode ist zu verstehen auf dem Hintergrund der Un­ terscheidung zwischen psychischen und sozialen Systemen und ihrer Coevolution. Der Selektionscode bewirkt (ebenso wie der Entwicklungscode) allemal nur Variation in bezug auf Bewußtsein. Die Selektion bezieht sich nicht auf Be­ wußtsein sondern nur auf die Anschlußfähigkeit weiterer Kommunikation. Bewußtsein, das vom schulischen Selekti­ oncode negativ betroffen ist, setzt seine Autopoiesis unter anderen Voraussetzungen fort. Im Extremfall - die Härte des Binärschematismus der Selektion wird durch Notendif­ ferenzierung nur modifiziert - findet es überhaupt keinen Anschluß mehr an die schulische Kommunikation. Und wie dieser Fall verarbeitet wird, ist dann immer noch Sache des Bewußtseins.101

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scher Systeme. Die Entwicklungssemantik arbeitet ja mit dem Versprechen, daß gegenwärtig auftretende Diskrepan­ zen - v.a. zwischen kommunikativen Anschlußbedingungen und kognitiven Kompetenzen des Anschlußsuchenden - in der Zukunft von selbst sich auflösen werden, wenn das Bewußtsein sich nur dafür offen hält. Einmal getroffene Entscheidungen erscheinen hier - bis auf weiteres (und das kann bis ins hohe Alter gehen!) - revidierbar. Es ist offen­ kundig, daß diese Semantik mit der Karrieresemantik nicht vereinbar, also an die Produktion einer innergesellschaftli­ chen Sonderumwelt gebunden ist. Tatsächlich deutet manches daraufhin, daß in glei­ chem Maße, wie die Karrieresemantik in das Funktionssy­ stem Schule eindringt, dieses an pädagogischer Autonomie verliert und auf der anderen Seite pädagogische Semantik in andere Funktionssysteme diffundiert103. Auf der anderen Seite verteidigt das Bildungssystem seine Autonomie auf der organisatorischen Ebene gerade mithilfe des Zweitcodes Selektion.

- Bildungs- vs. Karrieresemantik Die soziale Konstruktion kindlicher bzw. überhaupt menschlicher Entwicklung ist keineswegs die einzige se­ mantische Form der Umsetzung des Differenzschemas Er­ wachsener/Kind in der Zeitdimension. Eine mindestens ebenso geläufige - wenn auch mit weniger positiven Wer­ tungskonnotationen behaftet - ist die der Karriere102. Aller­ dings stammt der Terminus Karriere nicht aus der pädagogi­ schen Semantik, sondern aus der Berufsdifferenzierung des Wirtschaftssystems und den damit tradierten Statushierar­ chien. Eine Annäherung der Semantik ergibt sich jedoch von beiden Seiten. Das Karrieremotiv löst sich von den tradierten Stratifikationsmerkmalen und wird sozialisations­ wirksam bereits in der schulischen Selektion verankert. Der Gedanke kindlicher bzw. menschlicher Entwicklung löst sich von der Herkunftsfamilienbindung und diffundiert zu einer altersunspezifischen Qualität der Individualität des Bewußtseins. Instruktiv für das Verständnis sozialisatorischer Pro­ zesse in funktional hochdifferenzierten Gesellschaften ist gerade die Auseinanderentwicklung dieser beiden Formen der semantischen Behandlung von Bewußtsein bzw. Indivi­ dualität in der Zeitdimension: In der Karrieresemantik er­ scheint die Zukunft - hier v.a. als soziale Plazierung - be­ sonders unsicher und dafür gegenwärtige Leistung als die angebrachte Form, Sicherheit bzw. Vorteile zu gewinnen. In der Entwicklungssemantik erscheint die Zukunft - freilich eingeengt auf eine sozial exklusive Form der Persönlich­ keitsentfaltung - eher offen und der Weg, diese Offenheit zu wahren, ist ganz und gar nicht von Leistung sondern eher von einer günstigen Umwelt in der Gegenwart abhängig. In der Karrieresemantik finden wir eine Akzentuie­ rung der Ir reversibilität der Zeit für das sich entwickelnde Individuum: Einmal ge troffene Entscheidungen haben ho­ hen Selektionswert für folgende Optionen, Erfolge erzeugen Erfolge, Mißerfolge Mißerfolge etc. In der Entwick­ lungssemantik finden wir dagegen eine Akzentuierung der Reversibilität der Zeit für die Selbststrukturierung psychi­ 101

Daß dem Bewußtsein Spielraum für Variation gelassen wird, verweist wie derum auf die evolutionäre Selektionsleistung des Mediums: als Se­ lektion einer Kommunikation, in der das Bewußtsein seine Selektionen im Horizont einer offenen Zukunft selbst treffen kann und muß. 102 Vgl. Luhmann, 1988a 38ff

- Verkettung von Kommunikationen Wie erfolgt die für symbolisch generalisierte Kommunikati­ onsmedien typische Kettenbildung104 im Medium Bildung? Die Codierung der intergenerativen Kommunikation in der Ego-Alter-Konstellation (Anschluß von Handeln an Er­ leben) wirkt zunächst auf der Ebene von Interaktionssyste­ men (insbes. der Entwicklungs-Dyade) und bildet dort An­ schlußmöglichkeiten für Organisation. Die für Funktions­ systeme wesentliche Verkettung erfolgt im organisierten Bildungswe sen über die Zweitcodierung als Selektion: als interne Verknüpfung der Bildungsprozesse über Zugangsbe­ rechtigungen. Wichtig zur Charakterisierung des Wandels auf der Funktionsssystemebene wird nun allerdings die epochale Verschiebung dieses Selektionsmechanismus von der ex­ ternen Verknüpfung mit Zertifikaten und Be­ rufs/status/zuweisungen zur weitgehend bloß noch Internen. Dadurch zeigt sich: Die individualisierte Karriere ist - an­ ders als tradierte Statusvererbung - nicht mehr Bestandteil intergenerativer Kommunikation. Ich komme darauf im letzten Abschnitt zurück. - Schule und neue Kommunikationstechniken Unter dem Druck funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung, die zur Auflösung nicht funktionssystemisch fundierter sozialer Unterschiede (d.h. keineswegs: Egalisierung) führt, werden traditionelle Verknüpfungen von Schulorganisation und Berufsorganisation aufgelöst. Zugleich mit der schuli­ schen Realisierung von Chancengleichheit wird die Be­ schränkung der funktionssystemischen Kommunikation über den Selektionscode operativ verschärft. Damit wird die selbstreferentielle Geschlossenheit des Schulsystems bis in die Interaktionssysteme (Unterricht) hinein gesteigert. Die Funktion von Bildungsprozessen zur Vo rbereitung des be­ teiligten (Schüler-)Bewußtseins auf die Teilnahme an ande­ ren Funktionssystemen (als dem Bildungssystem) wird dadurch eher geschwächt. Die schulische Organisation von Bildungsprozessen sozialisiert nicht für das Leben in einer 103 104

S. zB. die Rede von der kinderfeindlichen Gesellschaft.

Vgl. Typoskript Gesellschaftstheorie, Kap. Kommunikationsmedien, ca.

S.140


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation funktional hochdifferenzierten Gesellschaft sondern zu­ nächst für das Überleben in der Schule mit ihren spezifi­ schen Selektionsmechanismen (und allenfalls einigen struk­ turverwandten Funktionssystemen). Etwaige Transfer­ effekte sind zumindest ungewiß. Diese funktionssystemische Verengung des Schulsy­ stems wird von vielen pädagogischen Kritikern gesehen und mit vielfältigen Al ternativvorsschlägen bedacht. Was die meisten Kritiker des gegenwärtigen Schulsystems aber nicht sehen - oder aber explizit abwehren - ist die Transformation (teilweise bereits funktionale Substitution) der tradierten Formen der Wissensvermittlung im Unterricht im Zuge der Evolution der neuen elektronischen Bildmedien. In der pädagogischen Verarbeitung dieser Entwicklung liegen m.E. die größten noch ungenutzten Chancen für die Weiter­ entwicklung des Schulsystems.

8. Wandel der intergenerativen Kommunikation durch neue Kommunikationstechniken Jede Kommunikation besteht aus der Einheit von drei Ope­ rationen, nämlich Information, Mitteilung und Verstehen. Die Operationen finden in den drei Sinndimensionen sach­ lich, zeitlich und sozial statt. In der Sachdimension voll­ zieht sich die eigentliche Information105 , die sich aus der spezifischen Selektivität der Kommunikation angesichts der Komplexität möglicher Bezüge ergibt. In der Sozialdimen­ sion vollzieht sich die Operation des Verstehens in der je­ weiligen Ego-Alter-Konstellation. Hier liegt der Anschluß­ punkt für die Evolution symbolisch generalisierter Kommu­ nikationsmedien, die in der Moderne noch zur Annahme hochunwahrscheinlicher Selektion motivieren. In der Zeit­ dimension vollzieht sich die Operation der Mitteilung und zwar in Abhängigkeit von der jeweiligen Kommunikations­ technik (oral, print, tv etc.) als Parallelisierung, Ausein­ anderziehen oder Komprimieren der Zeit, in der eine In­ formation als Mitteilung beim Empfänger zum Verstehen gelangt. Es handelt sich also bei der Evolution der intergenerativen Kommunikation - wie bei sozialer Evolution überhaupt - um eine kommunikative Distanz überwindende Steigerung in den drei Sinndimensionen: - Erweiterung der sachlichen Komplexität auf der Ebene der Gesellschaft, viele verschiedene Kommunikatio­ nen finden gleichzeitig statt; - Erweiterung der sozialen Heterogenität auf der Seite der Adressaten: nicht bloß immer ein Interaktionssystem wird adressiert; - schließlich Erweiterung und Verkürzung der Zeit­ spanne zwi schen Information und Verstehen, einerseits durch Plato-Lektüre, andererseits durch Telekommunika­ tion; In allen drei Sinndimensionen sind evolutionäre Stei­ gerungen der Kontingenzen für intergenerative Kommuni­ kation unter den Bedingungen moderner Gesellschaften beobachtbar. Für die Sachdimension habe ich die entspre­ chende Steigerung vorläufig mit der Ausdifferenzierung des Funktionssystems selbst (unter Verwendung eines symbo­ lisch generalisierten Mediums für die intergenerative Kom­

munikation) benannt. Für die Sozialdimension habe ich die entsprechenden evolutionären Errungenschaften zur Stabili­ sierung der intergenerative Kommunikation in der Form der Entwicklungsdyade und der Schulorganisation. Das Gelin­ gen der entsprechenden Kommunikation in der Zeitdimen­ sion war in der bisherigen Darstellung immer vorausgesetzt (zB. Oralität in der Dyade, Bücherlesen in der Schule). Im Folgenden geht es nun darum, die zunehmende Unwahr­ scheinlichkeit der intergenerative Kommunikation auch in der Zeitdimension zu analysieren und - im Hinblick auf evolutionäre Errungenschaften, die das Unwahrscheinliche dennoch möglich machen - zu prüfen. 8.1 Zum Einfluß der technischen Entwicklung der Kommunikationsmittel auf die intergenerative Kommu­ nikation Es hat lange gedauert, bis in der Selbstreflexion von Gesell­ schaften eine semantische Unterscheidung zwischen Inter­ aktionssystem und Gesellschaft gemacht wurde. Bis in die Moderne hinein wurde Schrift nicht als Kommunika­ tionsmittel sondern nur als ein Gedächtnisspeicher aufgefaßt und Gesellschaftlichkeit noch mit oraler Kommunikation gleichgesetzt. Es kann daher nicht verwundern, daß die Wirkungen der neuen elektronischen Tele/Bild-Kommuni­ kationsmittel für die Autopoiesis der dieser Gesellschaften noch kaum reflektiert werden, und daß eher angstbesetzte Thesen wie die vom Verschwinden der Kindheit auf diesem Hintergrund stark rezipiert werden. Während die bisher beschriebenen Veränderungen106 im Zusammenhang mit der Individualisierung des Bewußt­ seins in der Umwelt funktional hochdifferenzierter Gesell­ schaften in der einschlägigen soziologischen Literatur zu­ reichend beschrieben und empirisch belegt sind, ist eine weitere Veränderung der Gesellschaft, die ich im Zu­ sammenhang mit der Evolution des funktionsspezifischen Kommunikationsmediums für intergenerative Kommunika­ tion für relevant halte, zwar viel diskutiert aber empirisch noch wenig untersucht: Ich meine die Veränderung der gesellschaftlichen Kommunikation durch die neuen elektro­ nischen Kommunikationsmedien, die die tradierten Be­ schränkungen der Transzendierungsmöglichkeit von Kom­ munikation unter Anwesenden durch die Printmedien (Schriftkultur, Buchdruck) auflöst 1. zugunsten einer Beschleunigung der Information, die den geographischen Raum als Beschränkung der Kommuni­ kation (zB. nationale Grenzen) weitgehend beseitigt und 2. die komplexeren Informationsmöglichkeiten des (bewe g­ ten) Bildes einsetzt, die an ontogenetisch und gattungs­ geschichtlich elementare Annahmevoraussetzungen im Bewußtsein anknüpfen können107. In Stammesgesellschaften (segmentär differenzierten Ge­ sellschaften) ist die intergenerative Kommunikation be­ schränkt auf Kommunikation unter Anwesenden. Die Ge­ sellschaft umfaßt zwar immer mehr als bloß An wesende, je­ doch ist die Kommunikation mangels anderer Kommunika­ tionsmittel als dem gesprochenen Wort oder der gesehenen Geste auf die Anwesenden - einschließlich der hier sehr 106 107

105

"Informationen bestehen aus Unterschieden, die einen Unterschied machen.", G. Bateson, 1982, S.123

24

Zusammenfassend in 2.3

Zur Diskussion über die Wirkungen der neuen elektronischen Medien

im Folgenden s. v.a. N. Postman, 1983; H. Hengst, 1981 ; P. Greenfield, 1987.


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation wichtigen Erzählkultur über vergangene Ereignisse mit nicht mehr Anwesenden - beschränkt. Für traditionale Hochulturen (stratifikatorisch diffe­ renzierte Gesellschaften) gilt weitgehend noch dasselbe, weil Schriftliches nur als Aufbewahrungsform des Wissens und nicht schon als Kommunikationsmittel fungiert. Diffe­ renziert wird über die soziale Schichtung und gesellschaft­ liches Wissen über diese Struktur kanalisiert (vgl. Rolle der Kirche im Mittelalter). Damit findet zumindest für Teile der Gesellschaft schon eine Abkoppelung der intergenerativen Kommunikation vom bloßen Mitvollzug der gesellschaftli­ chen Reproduktion zugunsten funktional spezifizierter In­ teraktionssysteme - Meister-Schüler-Verhältnisse etc. - statt. In modernen Gesellschaften findet mit der Verbrei­ tung schriftlicher Kommunikation durch den Buchdruck zum ersten Mal breitenwirksam eine Entkoppelung der in­ tergenerative Kommunikation von der Kommunikation unter Anwesenden statt. Die Erweiterung erfolgt zunächst v.a. in der Zeitdimension: Die intergenerative Kommuni­ kation ist mit einem Male nicht mehr auf die Kommunikati­ on mit Lebenden (oder die höchst unsichere Vermittlung von Mitteilungen Verstorbener über die Erzähltradition) beschränkt. Bücher ermöglichen die Ausdehnung der inter­ generativen Kommunikation in der zeitlichen Dimension: die Kommunikation über mehrere Generationen hinweg. Im europäischen Mittelalter war trotz der Verwe n­ dung der Schrift in Gelehrtenkreisen die gesellschaftliche Kommunikation fast auschließlich oral geprägt. Das Ge­ schriebene diente im wesentlichen nicht als Kommunikati­ onsmittel sondern als Konservierungsmittel von Wissen. Erst der Buchdruck ermöglichte die Durchbrechung der hierarchischen Kanalisierung des Wissens. Die Autorität des Originals wurde allmählich (und heute beschleunigt durch die neuen Medien) durch die Aktualität des jeweils Neuesten ersetzt. Wie ist es auf diesem Hintergrund zu verstehen, daß durch die Erfindung des Buchdrucks, die die Vermittlung von Wissen massenhaft von der unmittelbaren Interaktion unabhängig macht, die spezifisch pädagogische Interaktion nicht etwa aufhört, sondern - im Sinne der modernen Päd­ agogik - allererst beginnt? Schon die Frage zeigt, daß die Entfaltung der Schule und Kindheitsvorstellung nicht unmittelbar als eine Reaktion auf die durch den Buchdruck gesteigerten Differenzen des Wissens - zwischen Erwachse­ nen, die lesen können und Kindern, die es noch nicht kön­ nen108 - sondern in einem viel umfassenderen Sinn als Re­ aktion auf die durch den Buchdruck ermöglichte funktionale Differenzierung der Gesellschaft darstellt, also auf Proble­ me, die sich für das individuelle Bewußtsein durch die Stei­ gerung der Differenzen zwischen verschiedenartigen Ko m­ 108

Wie bei Postman (1983) konzipiert. In Auseinandersetzung mit Postman wäre zunächst, der naive Realismus seiner wissenssoziologischen The­ sen zugunsten einer konstruktivistischen Auffassung der Entwicklung kindlichen Bewußtseins zurückzuweisen und entsprechend seine Um­ kehrthese bezüglich des Verschwindens der Kindheit aufzunehmen. Hier ist einerseits die Verkürzung des Printmedieneinflusses auf Info­ mationen ("Geheimnisse") und andererseits die Dramatisierung des Te­ le-Bild-Medien-Einflusses als Mitteilung ohne kontrollierbare Infor­ mation zu kritisieren. Die (gerade nicht mehr exklusive) In klusion in einem Funktionssystem hängt zwar von "Literalität" aber nicht bloß von bestimmten Informationen ("Geheimnissen") sondern u.a. vom Er lernen der funktionssystemspezifischen Codes ab. Dies bedingt einen hohen kognitiven Standard, der mit dem der tra dierten Printmedien-Literalität nicht zusammenfallen muß.

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munikationsweisen ergeben. In der technischen Vervielfältigbarkeit von Informa­ tion über Bücher und Druckmedien scheint eine Tendenz zur Bevorzugung der Aktualität (gegenüber der Originalität des handgeschriebenen Texts) angelegt zu sein. Diese Te n­ denz zur Aktualität des Neuesten, die gleichzeitige Aus­ dehnung der intergenerative Kommunikation auch in der sozial-räumlichen Dimension, radikalisiert sich heute offen­ kundig mit den Mitteln der elektronischen Telekommunika­ tion (die zugleich Emanzipation des Telefons vom gespro­ chenen Wort und Renaissance des Bilds als Kom­ munikationsmittel impliziert). Intergenerative Kom­ munikation wird zur Kommunikation im Rahmen einer geographisch entgrenzten Weltgesellschaft. 8.2 Wirkung der neuen elektronischen Bildmedien auf die intergenerative Kommunikation Die folgenden Überlegungen gehen aus von der überra­ schenden Beobachtung, daß sich auf allen drei Ebenen so­ zialer Systembildung kommunikative Operationen nachwe i­ sen lassen, die an einer spezifischen Ego-Alter-Konstel­ lation - nämlich Anschluß von Alters Handeln an Egos Erleben - ansetzt: 1. in personalen Interaktionssystemen neben dem Medi en­ code Liebe das Bildungsmedium - hier spezifiziert durch den funktionsbezogenen Gebrauch des Ent­ wicklungscodes in der intergenerativen Entwicklungs­ dyade, 2. in Organisationssystemen mit der klassischen Funktion des welt- und wissensbezogenen Unterrichts ebenfalls das Medium Bildung - hier respezifiziert in Verbindung mit der Zweitcodierung Selektion und 3. schließlich unabhängig von jeder personalen oder organi­ satorischen Intentionalisierung die für jeden Welt- und Wissensbezug offenen neuen Kommunikationstechniken (TV u.a.), die möglicherweise dazu ge eignet sind, inter­ generative Kommunikation im Rückgriff auf gattungs­ geschichtlich verankerte Präferenzen für Bild­ kommunikation stabilisieren. Wenn der gesellschaftliche Wandel durch die neuen elek­ tronischen Medien thematisiert wird, so steht im Vorder­ grund meist die Beobachtung von Wirkungen auf menschli­ ches Bewußtsein, insbesondere auf den Aufbau des Be­ wußtseins beim Kind. Dies ist selbstverständlich auch für die vorliegende Analyse von großem Interesse. In der sozio­ logischen Perspektive der theoretischen Rekonstruktion (der Evolution) eines symbolisch generalisierten Kommu­ nikationsmediums geht es jedoch zunächst nicht um die Wirkung der neuen elektronischen Mitteilungstechnologien (etwa des Fernsehens) auf Bewußtsein sondern auf die Kommunikation - dh. auf die Autopoiesis der Gesellschaft oder ihrer Teilsysteme - selbst.109 In dieser Hinsicht ist nun festzustellen, daß die Telekommunikation die An­ nahmevoraussetzungen für unwahrscheinliche Selektionen von sozialem Sinn zu steigern und damit auch intergenerati­ ve Kommunikation zu stabilisieren vermag. Und zwar kann 109

Luhmann scheint diesbezüglich ähnliche Gefahren - nämlich durch Auflösung der Differenz von Information und Mitteilung und damit Re ­ duktion von Egos Erleben auf bloße Wahrnehmung, zu sehen, wie die eher bewußtseinsorientierten Kritiker des Fernsehens. Typoskript Ge ­ sellschaftstheorie, Kap. KM, XVIII


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation sie dies anscheinend aufgrund von zwei sehr spezifischen Voraussetzungen: 1. durch den Rückgriff auf das bewegte Bild bzw. die Kom­ bination von Geschwindigkeit der Übermittlung, Ton­ und Bildfolge110 und 2. durch die spezifische Anschlußreduktion von Alters Handlung auf Egos Erleben Beide Voraussetzungen zusammen bewirken eine gattungsgeschichtlich nie zuvor dagewesene Konstellation einer Kombination extrem komplexer (bildhafter) In­ formation (auf seiten Alters als Sender) mit extremer Ent­ lastung von Handlungsdruck (auf seiten Egos als Empfän­ ger). Eine Kommunikation, die bloß an Erleben anschließt, war und ist gesellschaftlich stets sehr voraussetzungreich: im Falle der Liebe ist es die Ausdifferenzierung von Intimi­ tät, im Falle der pädagogischen Intervention die Unter­ richtsorganisation, im Falle der wissenschaftlichen Re ­ flexion die Wissenschaftsorganisation etc. In jedem Fall gehört einige Mitarbeit des Empfängers dazu, um die Vo r­ aussetzungen für eine entsprechend von Handlungsdruck entlastete Kommunikation zu ermöglichen. Im Falle des Fernsehens genügt anscheinend ein Apparat im Wohnzimm­ mer. Man könnte einwenden, daß bereits beim Lesen eines Buches eine vergleichbare Konstellation mit geringerem technischen Aufwand hergestellt würde. Daß gerade dies nicht richtig ist, kann man aus dem diesbezüglich treffenden Medienvergleich Postmans entnehmen. Nicht nur beim Lesen, sogar schon beim Hören von Gesprochenem in der mündlichen Kommunikation muß zunächst ein Code, das sprachliche Verstehen erlernt werden - und dh. eine fürs Lernen geeignete, handlungsentlastete Situation geschaffen gewesen sein. Die Fernsehkommunikation aber (die selbst­ verständlich dies Erlernte mitverwendet) kann ihre erhöhten Annahmechancen beim Empfänger offensichtlich auf eine gattungsgeschichtlich "vorcodierte" Empfänglichkeit für das bewegte Bild stützen.111 Sie ist eben dadurch konkurrenzlos als technisches Mitteilungsmedium für die motivations­ wirksame Kombination von an sich unwahrscheinlicher Selektion von Informationsfülle und Handlungsentlastung der Rezeption - was immer man über die Wirkungen auf den Aufbau von Bewußtsein, der durch solche Entlastung offenbar nicht stimuliert (vielleicht sogar destabilisiert) wird, noch beobachten mag. 8.3 Wirkung der neuen elektronischen Bildmedien auf die Entwicklung von Bewußtsein Daß die neuen elektronischen Bildmedien und insbesondere das Fernsehen bereits massenhaft als Bestandteile der inter­ generativen Kommunikation fungieren, dürfte unumstritten sein. Damit ist jedoch noch nicht klar, ob das Fernsehen auch (ebenso massenhaft) einen Beitrag zum individuellen Aufbau des Bewußtseins leistet. Es handelt sich hier um die Differenz und die wechselseitige Abhängigkeit zwi schen dem Beitrag zur Autopoiesis der Gesellschaft (intergenera­ tive Kommunikation) und zur Autopoiesis des Bewußtseins 110

In dem Zusammenhang "tv-action"/Handeln vs. tv-relaxedness/Erleben ergeben sich dann auch für die Interpretation des symb iot. Mechanismus Aggressivität neue Perspektiven. 111 s. dazu ethologische Literatur und Anm. 112

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(hier: Lernen). Der spezifische Beitrag der intergenerativen Kommunikation zur Autopoiesis der Gesellschaft setzt Lernprozesse des individuellen Bewußtseins voraus. Von einem funktionsspezifischen Beitrag des Fernsehens (z.B.) kann also nicht die Rede sein, wenn nicht auch entspre­ chende Lernprozesse vorausgesetzt oder speziell durch TV ermöglicht wären. Wenn das aber so ist - wie ist es mög­ lich?112 Erstens ist davon auszugehen, daß es sich um Kom­ munikation handelt - und nicht etwa irgendeine Art von Interaktion zwischen Mensch und Maschine - wenn auch eine, die sich (in einiger Hinsicht) mehr als die über Schrift­ medien verbreitete, vom evolutionären Ausgangsmedium mündlichen Sprechens entfernt hat, in anderer Hinsicht Visualität - aber auch daran wieder annähert. Zweitens ist davon auszugehen, daß Bildkommunika­ tion als solche den spontanen Strukturbildungen des Be­ wußtseins nähersteht, als die schriftliche Kommu­ nikation.113 Daher wohl auch der häufig geäußerte Manipu­ lationsverdacht. Manipuliert werden kann nur, wenn eine besondere Adaptiertheit zwi schen psychischem und sozia­ lem System besteht, die die Kommunikation gewissermaßen schwer ablehnbar macht. Und daher dann die kulturpessimi­ stischen Thesen, die sich am Vergleich mit der Entfaltung kognitiver Kompetenzen über Schriftmedien orientieren.114 Vor einer (wertenden) Einschätzung der praktischen Bedeutung der neuen elektronischen Kommuniklationstech­ niken für die intergenerative Kommunikation - soweit diese aus der gegenwärtigen Nahsicht überhaupt schon zu er­ kennen ist - bedürfen m.E. v.a zwei Problemkreise genaue­ rer Analyse: 112

Alle empirischen Hinweise im Folgenden s. Patricia M. Greenfield, 1987. Die Studie zielt vorrangig auf die Revision printmedienorientie rter und kulturpessimistischer Vorurteile gegen die neuen elektronischen Medien, wobei im Hinblick auf die Wirkungen in der Bewußtseinsent­ wicklung von Kindern entwicklungspsychologisch fundierte Annahmen in lockerer Form Verwendung finden. (Vgl. diesbezüglich strenger: Charlton/Neumann 1986) Die Grundthese ist, daß es hier wie bei an­ deren Medien auch, nicht um die Wirkung des Mediums an sich sondern um das WIE und WOFÜR seiner Nutzung geht. Die Autorin plädiert am Ende für ein Medienmix in der in tergenerativen Kommunikation. Sie weist daraufhin, daß die alten Medien - aber auch zB. die Schule als Or­ ganisationsform von Bildungsprozessen - ihre Stellung im Kom­ munikationsprozess ändern müssen mit dem Auftreten der Neuen. (S.5) Ihr wesentlicher Beitrag besteht m.E. in der Er kenntnis, daß die neuen Medien - jeweils verschieden für das "passive" Medium TV und die eher interaktiven Medien Videospiele und Computer - Leistungen im Ent­ wicklungsprozess stimulieren, die die alten Medien (oral, print) so nicht zu erbringen vermö gen. 113 Vgl. Greenfield, 1987. Visuelle Bewegung hilft beim Lernen: Sie er­ leichtert es, Information über Handlung ins Gedächtnis zurückzurufen (S.23). "Bewegung zieht also erstens die Aufmerksma keit eines Kindes auf sich; zweitens hilft sie Kindern, sich an die Handlung einer Ge ­ schichte zu erinnern; drittens hilft Bewegung Kindern, Veränderungs­ vorschläge zu verstehen - vorausgesetzt sie sind im entsprechenden Al­ ter dafür -, und viertens kann sie auch bei der Vermittlung körperlicher Fertigkeiten eine Hilfe sein." (S. 26) "Kinder entwickeln ihre visuellen Fähigkeiten sehr stark im ersten Lebensjahr, bevor sie sprechen lernen. Ihr Wissen über die sichtbare Welt verwenden sie dann für das richtige Dekodieren - Erlernen - ihrer Muttersprache ... Das visuelle Verstehen ist eine frühere und deshalb grundlegendere Verstehensform, als es die Sprache darstellt...Schom im Alter von sechs Monaten wird die Auf­ merksamkeit von Kindern länger gefesselt durch einen Fernsehapparat, bei dem Bilder ohne Ton zu sehen sind, als durch einen, der Ton ohne Bild bietet..." (S.80) 114 Greenfield, 1987, zum Medienvergleich: Lernleistungen, die häufig den Printmedien zugeschrieben werden, lassen sich bei einer Differential­ analyse (S.62ff) auf das organisierte Unterrichtssystem, genauer: auf die Lehrer-Schüler-Kommunikation im Unterricht, zurückführen. (S.71)


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation 1. Das Problem der Diffusität der Information im Rahmen der neuen Kommunikationstechniken und (damit zu­ sammenhängend) 2. das Problem der Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung auf der Seite des Adressaten der Kom­ munikation - Zum Problem der Diffusität der Information Der informative Tempogewinn durch die neuen Kommuni­ kationstechniken wird häufig auch wertend als Verlust von Raumerleben beschrieben. Dabei wird übersehen, daß Raum immer auch Grenze 115 für weitere Welterfahrung sondern auch eine Entwicklung, die Weltverluste ausgleicht - in gewisser Weise verstärkt und kompensiert - die durch die Auflösung tradierter Bindungsstrukturen entstehen. Milieu, Beruf, Betrieb als Weltbezüge, die brüchig werden und für die es Kompensation über das gleichzeitige Erleben eines durch die neuen elektronischen Bildmedien expandierten Welthorizonts gibt.116 Zweifellos hat die Informationsvermittlung über das passive Massenmedium Fernsehen - gemessen an den aus­ differenzierten Strukturen gesellschaftlicher Kommunikati­ on - eine eher diffusen Charakter, der die etablierten Diffe­ renzierungsstrukturen der Kommunikation nicht angemes­ sen wiedergibt sondern eher unterläuft. Die Möglichkeit, die Strukturen sozialer Systeme zu unterlaufen oder nicht zur Kenntnis zu nehmen, besteht für Bewußtsein schlechthin, allerdings um den Preis, dann auch keinen Anschluß an das jeweilige ausdifferenzierte Funktionssystem bzw. die spezi­ fisch codierte Einheit von Information, Mitteilung und Ver­ stehen zu gewinnen. Hier nun bieten die neuen elek­ tronischen Verbreitungsmedien vielleicht gerade aufgrund ihres Abweichens von und Unterlaufens der etablierten Differenzierungsstruktur der Gesellschaft die spezifische Chance für sich entwickelndes Bewußtsein, sich Informatio­ nen über die Welt gewissermaßen quer zur etablierten Struktur der Informationsgewinnung anzueignen. Der diesbezügliche Vorteil der neuen Kommunikati­ onstechniken hat sich nach den bei Greenfield zitierten Untersuchungen - und entgegen den noch vorherrschenden pädagogischen Deutungen - bereits bei der Kompensation von Lernbehinderungen erwiesen, die auf die Reproduktion schichtspezifischer Ungleichheiten zurückzuführen sind.117 Daß ein vergleichbarer Vorteil der neuen Medien sich auch im Hinblick auf das Problem der Bewußtseinsentwick­ lung angesichts funktionaler Differenzierung erweist, kann vorerst nur vermutet werden. Die quer zu den etablierten Strukturen erfolgende Wissensaneignung ersetzt zweifellos 115

s. zB. den Nationalismus, der im TV-Zeitalter so nicht mehr möglich ist. In einem neugefaßten Bildungsbegriff müßte diese Ambivalenz zwi­ schen zerfallenden Bindungsstrukturen und spezifisch anderem Welt/Informationsbezug rekonstruiert werden. Vgl. Hengst, 1981. - Zur Verknüpfung von Individualisierung und Weltgesellschaft als Mora­ lisierung fernster Anliegen: ("Fernmoral" und Fernsehen!) vgl. U. Beck, 1986, S.219 117 Fernsehen ist nach Greenfield besser als jedes andere Massenmedium geeignet, schichtspezifische Lernunterschiede auszugleichen, wenn auch nicht völlig zu überwinden: auch MS-Kinder profitieren vom TV, nur Unterschicht-Kinder relativ mehr. (S.58) "Computer scheinen bei Men­ schen mit ganz unterschiedlichem sozioökonomischen Hintergrund gleich gut anzukommen und wirksam zu werden. Darüberhinaus erwei­ sen sich Computer als wert volle Hilfsmittel bei der Erziehung von Kin­ dern mit unterschiedlichen Lernbehinderungen ..." (S.124) 116

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nicht das Erlernen der Teilnahmebedingungen an funktions­ systemischer Kommunikation. Daß es sie vielleicht sogar verzögert, ist für die Entwicklung des Bewußtseins zwar ein Risiko - die intergenerative Kommunikation wird auch dadurch unwahr scheinlicher - aber im Sinne der Ver­ hinderung vorzeitiger Schließung eben auch ein Gewinn. Die Diffusität der Informationsgewinnung über die neuen Medien impliziert also die Möglichkeit einer Progression durch Regression.118 - Zum Problem der Selektionsmöglichkeiten des Bewußt­ seins Damit überhaupt Kommunikation zustande kommen kann, müssen die drei sinnhaften Operationen, aus denen die Ein­ heit der Kommunikation besteht - nämlich Information, Mitteilung und Verstehen - für die beteiligten psychischen Systeme unterscheidbar sein. Selbstverständlich bleiben auch bei den neuen Techniken sowohl beim Sender (Alter) wie beim Empfänger (Ego) Selektionsmöglichkeiten beste­ hen. Alle technischen (Verbreitungs-)Medien verändern ja nur die Selektion der Ereignisse in der Zeitdimens ion, in der die Information übertragen wird, und damit die Erfolg­ schance der Kommunikation im Hinblick auf die Selektion von Anschlußmöglichkeiten. Beim Sender werden diese Selektionsmöglichkeiten aufgrund der Printmedienorientie­ rung aber überschätzt, beim Emfänger eher unterschätzt (er kann wegsehen, oder einfach abschalten!). Es ist zunächst der Frage nachzugehen, inwieweit das Selektionspotential beim Empänger - über die grobe Alter­ native der Annahme/Ablehnung/Ignorierung hinaus - sozia­ lisiert und dh. in einer der differenzierten Stellungnahme zu schriftlichen Informationen vergleichbaren Weise verfeinert werden kann. Dies steht zumindest insofern in Frage, als die Bildsequenz eine irreversible Folge höchst komplexer (und im Hinblick auf die Komplexitätsreduktion vom Sender kaum festlegbarer) Ereignisse darstellt. Wahrscheinlich muß sich sowohl auf der Sender- wie auf der Empfängerseite die Steigerung der Selektivität (Annahme/Ablehnung) eher auf die Sequenz als auf die Komplexität (die Ge ­ staltwahrnehmung) des Bildereignisses beziehen. Es fehlen gesicherte Erkenntnisse darüber, ob die Schwierigkeiten, die die neuen Verbreitungsmedien im Vergleich zu Oralität und Buchdruck für die Unter­ scheidung zwischen Information und Mitteilung bereiten, bei sich entwickelndem Bewußtsein von Kindern und Ju­ gendlichen generell eher dazu führen, die Sensibilität für diesen Unterschied zu steigern oder herabzusetzen - mit entsprechenden Transfereffekten auf kommunikative Kom­ petenzen überhaupt 119. Nach den bei Greenfield zitierten Untersuchungen kann aber davon ausgegangen werden, daß es zumindest bei entsprechender pädagogischer Verarbei­ tung möglich ist, daß die Selektivi tät des Bewußtseins auf­ 118

Dies ein in der Entwicklungspsychologie durchaus vertrauter Mecha­ nismus. 119 "Der visuelle Realismus von Film oder Fernsehen ist von Vorteil, wenn es darum geht, etwas Neues zu erlernen. Aber es kann von Nachteil sein, wenn das, was geboten wird, den emo tionalen Entwicklungsstand des Kindes übersteigt oder wenn man die Vorstellungskraft des Kindes an­ regen will." S.85 "Das Übergewicht von Fernsehen und Film im tägli­ chen Medien-Menü der Kinder bedeutet also, daß diese kaum Modelle menschlichen Denkens kennenlernen, denn der Film ist gezwungen, in­ nere Prozesse, Ge danken, Ideen durch äußere Handlungen, durch Beob­ achtbares darzustellen." S.86


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation grund dieser Herausforderung gesteigert wird.120 Diese Frage kann selbstverständlich auch nicht für al­ le neuen elektronischen Kommunikationsmittel in gleicher Weise beantwortet werden. Es ist zu berücksichtigen, daß bei Videospielen und Computern im Vergleich zum Fern­ sehen völlig verschiedene Erlebens-Handelns-Konstellation zwischen Ego und Alter vorliegen.121 Ich vermute, daß ein funktionsspezifischer Beitrag der neuen Kommunikati­ onstechniken zur intergenerativen Kommunikation im Falle des Fernsehens gerade dadurch möglich wird, daß die an­ sonsten unwahrscheinliche Reduktion auf Erleben massen­ haft und damit eine gattungsgeschichtlich nie dagewesene Sensibilisierung von Bewußtsein für Erleben122 erzeugt.

9. Wandel der Generationsbeziehungen in funktio­ nal differenzierten Gesellschaften Ich habe eingangs die Bezeichnung des symbolisch genera­ lisierten Kommunikationsmediums für intergenerative Kommunikation mit dem althergebrachten Begriff der Bil­ dung mit der Behauptung gerechtfertigt, daß es sich bei der Evolution dieses Mediums um einen Vorgang handele, der coevolutionär mit Individualisierungsschüben des Bewußt­ seins im Bereich der Arbeits-, Geschlechts- und Generati­ onsbeziehungen verläuft. Der Zwang zur Individualisierung selbst ist eher beiläufig als Folge der Exklusion des Be­ wußtseins (als "unteilbarem" Ganzen) aus sozialen Bin­ dungsstrukturen angesichts funktionaler Differenzierung der Sozialstruktur charakterisiert worden. Stattdessen war im Zusammmenhang mit der These der zunehmenden Unwahr­ scheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation immer wieder deutlich zu machen, daß Individualisierung als Er­ gebnis nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern ein spezifisches Funktionssystem mit dem entsprechenden Kommunikationsmediums ausdifferenziert werden muß, um angesichts des gesellschaftsstrukturellen Zwangs zur Indi­ vidualisierung in der Coevolution psychischer Systeme tatsächlich Indivi dualisierung i.S. einer entsprechenden Selbstwahrnehmung des Bewußtseins zu ermöglichen123. Es 120

"Fernsehen beeinflußt Haltungen und Kenntnisse dann nachhaltig, wenn Kinder über das fragliche Thema noch keine unmit telbaren Er ­ fahrungen besitzen. Kinder, die darüber Erfahrungen aus erster Hand haben, vermögen strikter zwischen Wirklichkeit und Fernsehwelt zu un­ terscheiden." (S.54) Was die Schule tun kann: die im Fernsehen ge­ zeigte soziale Wirklichkeit im Hinblick auf die im Medium getroffene Selektion zu hinterfragen. Das funktioniert offenbar bereits bei Fünf­ jährigen. Greenfield, 1987 S.55. 121 Greenfield weist auf die im Vergleich zum Fernsehen prinzipiell andere Ego-Alter-Konstellation bei Videospielen und Computern hin, "Video­ spiele sind das erste Medium, das visuelle Dynamik mit einer aktiven Teilnehmerrolle für das Kind verbindet" (Greenfield, 1987, S.95) Wo­ bei m.E. wichtig hinzuzufügen, daß diese Teilnehmerrolle sich in der Definition der Risiken wesentlich von der Teilnahme an sozialer Interaktion unterscheidet. Darin dürfte ihr spezifischer Vorzug für Lernsteigerungen liegen: "Die Rückmeldung des Computers erfolgt di­ rekt und vollkommen unpersönlich. Dies erweist sich als psychologi­ scher Vorteil: ein Fehler, eine falsche Antwort erwe ist sich als etwas, von dem man lernen kann, und nicht etwas, vor dem man Angst haben muß. Mit den Worten eines Siebenjährigen: 'Der Comp uter schreit dich nicht an.' Und der Computer hat keine Lieblingsschüler. tatsächlich verringern sich mit der Anwendung des Computers die faktischen und psychologischen Kosten gemachter Fehler ..."(S.125). 122 D.h. im besten Falle Kontempla tion, zumindest aber nicht: Handeln ­ und das ist u.U. auch schon ein Gewinn! 123 Eine solche Beschreibung impliziert nicht nur den Hinweis auf die Unwahrscheinlichkeit, also Riskiertheit solcher Evolution, sondern auch vielfältige Möglichkeiten des "Mißlingens" i.S. der Nichtfort setzbarkeit

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kommt nun darauf an, nicht nur die funktionalen Errungen­ schaften des Bildungssystems im Hinblick auf die Ermögli­ chung von Individualisierung (Entwicklungs dyade, pädago­ gischer Code, symbiotischer Mechanismus etc.) sondern den Zwang zur Individualisierung selbst als einen funktio­ nalen Bestandteil der intergenerativen Kommunikation zu rekonstruieren. Bei der Evolution der intergenerativen Kommunika­ tion waren kommunikative Distanz überwindende Steige­ rungen in den drei Sinndimensionen zu rekonstruieren: Es handelte sich um : die Erweiterung der sachlichen Komplexität, in der Schule und im Bildungssysstem finden viele ve rschiedne Kommunikationen gleichzeitig statt die Erweiterung und Verkürzung der Zeitspanne zwi­ schen Information und Verstehen, einerseits durch PlatoLektüre, andererseits durch Telekommunikation; und schließlich die Erweiterung der sozialen Hetero­ genität auf der Seite der Adressaten. Letzteres, die Heterogenität der Kommunikation in einer funktional differenzierten Gesellsachaft war das Aus­ gangsproblem. Individualisierung läßt sich nun als genau jene Errungenschaft in der Evolution der intergenerativen Kommunikation beschreiben, die das Übergreifen heteroge­ ner Situationen generell ermöglicht 124. 9.1 Noch einmal zur Geschichte der Kindheit In der sozialhistorischen Diskussion finden sich unverein­ bare Hypothesen darüber, ob der in Frage stehende Wandel eher als Annäherung oder als Entfernung zwischen Erwach­ senen und Kindern zu deuten ist: Folgt man der Be­ schreibung von Aries125, so erscheint die Geschichte der Kindheit als eine Geschichte mehr oder weniger willkürli­ cher Trennungen zwi schen Kindern und Erwachsenen. In­ terpretiert man dasselbe historische Material unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Reaktion auf (bewußt­ seinskonstituierte) kindliche Entwicklung, so sieht man eher eine Annäherung im Vergleich zu der sozialen Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern im Mittelalter und in der frühen Moderne.126 Ich vermute, daß beide Vorstellun­ gen zu einfach sind: Es handelt sich um eine gesteigerte Differenzierung, die durch wechselseitige Interpenetration zugleich die Differenzen in das jeweilige System - die Dif­ ferenz zwischen kindlichem und Erwachsenenbewußtsein im Bewußtsein, die Differenz zwi schen Kindheit und Er­ wachsenenwelt in der intergenerativen Kommunikation ­ wiedereinführt und damit zugleich zunehmende soziale Differenz und wechselseitiges Verstehen ermöglicht. Angesichts der zunehmenden Komplexität und Spe­ zialisierung funktionssystemischer Kommunikation kann die Diagnose nicht auf eine abnehmende Differenz zwi­ dieser Coevolution. Hierauf kann im Rahmen die ses Aufsatzes nicht ausführlicher eingegangen werden. 124 Eine solche Beschreibung steht selbstverständlich im Gegensatz zu vielen kulturkritisch gemeinten Beschreibungen der Individuali­ sierungsprozesse in der Moderne, so zB. auch noch bei U.Beck, 1986. Deren Berechtigung auf der Grundlage bestimmter Wertannahmen soll hier aber gar nicht bestritten werden. 125 Das tun auch Autoren wie Postman, die Aries' implizite Wertungen umzu kehren versuchen. 126 Vgl. DeMause. D.Lenzen, 1985, (S. 15-23, 349) hält sogar umgekehrt die Entdifferenzie rung für die bestimmende Tendenz.


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation schen der kognitiven Struktur von Kindern und der von Erwachsenen hinauslaufen. Was sich auflöst, ist nicht die psychische bzw. (temporale) Entwicklungs-Differenz son­ dern eine soziale Differenz, nämlich die der Inklusion von Kindern (der Indivi dualität des kindlichen Bewußtseins) in funktionsspezifischen Sozialsystemen wie Familie und Schule. Dieser Prozess folgt derselben Logik wie die Auflö­ sung stratifikatorischer (ständischer) und geschlechtsspezi­ fischer (Mann:Beruf und Frau:Familie) Differenzierung. Das Prinzip funktionaler Differenzierung erzwingt die gleichzeitige Inklusion in mehreren Sozialsystemen. Ein Funktionssystem bietet eben keine "Lebenswelt" sondern nur eine spezifische Funktion. Familie und (z.T.) Schule (ggf. noch tradierte Elemente von Nachbarschaft, Straße etc.) erscheinen traditionell als Bestandteile einer "Welt" für Kinder. Die Transformation von Kindheit im Funktionssy­ stem der intergenerativen Kommunikation bietet eben keine geschlossene Welt, in der sich genügsam leben läßt, sondern erzwingt (in Coevolution mit der Entwicklung des kindli­ chen Bewußtseins) die Inklusion in anderen Funkti­ onssystemen, also die Exklusion der Individualität des kind­ lichen Bewußtseins. 9.2 Individualisierung im Bildungssystem Bildung wird zum symbolisch generalisierten Kommunika­ tionsmedium - statt eines klassenspezifisch-ständischen Instituts für die männlichen Nachkommen des höheren Bürgertums - erst im Zuge fortgeschrittener funktionaler Differenzierung der Industriegesellschaften in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Zwar gab es einen funktionalen Bezug der Bildungsinstitutionen bereits zu Beginn der Modernisie­ rung: mit der Ersetzung der feudalen Amtsappropriation durch bildungsvermittelte Leistungsfähigkeitsnachweise. Jedoch blieb diese Einrichtung ständisch beschränkt durch die (familiale) Herkunftsabhängigkeit der bürgerlichen Bildungszugänge. So reproduzierten sich die frühbürgerli­ chen Ansätze funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung zunächst gerade in Abhängigkeit von andauernder stratifi­ katorischer Differenzierung. Während diese Abhängigkeit, unter dem Aspekt der sozialen Ungleichheit zum Dauer­ thema der Selbstkritik der Moderne wurde, wurde sie ande­ rerseits im Fortgang durch weitere funktionale Differenzie­ rung tatsächlich aufgelöst - und zwar in immer weiterge­ henden Individualisierungsschüben (die allerdings nicht die erhoffte Auflösung aller damit verbundenen Ungleichheiten implizieren). Gerade die epochale Angleichung der institutionali­ sierten Bildungszugänge zeitigt einige aus der Perspektive der individuellen Bildungsnachfrage paradoxe Effekte: eine Entwertung der höheren Bildungsabschlüsse mit der Te n­ denz zu einer weitgehenden Entkoppelung von Bildungs­ und Beschäftigungssystem.127 Die funktionale (von Ge­ schlecht und sozialer Herkunft absehende) Universalisie­ rung der Selektion im Bildungssystem wird erst möglich in­ 127

s. U. Beck, 1986, Kap.VI. Mit anderer Stoßrichtung s. die entspre­ chenden Thesen von U. Teichler, der die Statusdistributionsfunktion (des Selektionscodes) im Hinblick auf die Autonomiesicherung und Evolution des Bildungssystems im Unterschied zu Beck verteidigt, al­ lerdings ohne erkennbar zu machen, daß es sich hierbei nicht mehr um dieselbe Funktion handelt wie etwa im absolutistischen Staat, als mit Bildungsdipomen ein Teil des Hofadels durch bildungs-bürgerliche Lei­ stungsträger ersetzt - und dabei aber nach Erreichen des Bildungsdi­ ploms in ihrem Status dem Adel gleichgestellt - wurden.

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folge der Auflösung der tradierten Verknüpfungen von Bildungs- und Berufsstatus. Damit wird der Selekti­ onsmechanismus dem stärker auf die Selbstreferenz des Bewußtseins (Entwicklung des Bewußtseins bzw. der Per­ sönlichkeit) bezogenen Primärcode des Bildungsmediums untergeordnet. Die funktionale Ausdifferenzierung von Bildung in diesem Sinne verknüpft die Verallgemeinerung von Bil­ dungschancen mit der Auf lösung von (bildungs vermittelten) Berufsmonopolen. Bildung wird zu einer - in höherem Ma­ ße als je zuvor - notwendigen, keineswegs aber hinreichen­ den Bedingung für die Reproduktion der Individuen in der Gesellschaft. Die Selektion verschwindet we der aus dem Bildungssystem noch aus dem Beschäftigungssystem. Aber sie differenziert sich funktionsspezifisch in den Zweitcode des Bildungssystems einerseits und Berufskarrieren im Beschäftigungssystem andererseits. Was sich auflöst, ist nicht nur ihre tradierte Verknüpfung. 128 Der Bezug noch stabiler Berufsmonopole auf etablierte Bildungsgänge ver­ liert sich im Zuge des Überangebots qualifizierter Absol­ venten. Und der Bezug noch stabiler Bildungsgänge auf eta­ blierte Berufe verliert sich im Wandel des Beschäfti­ gungssystems zu einem System flexibler Unterbeschäfti­ gung (Teilzeit, Job-Rotation, Weiterbildungsphasen etc.).129 Bildung sichert überhaupt keinen "Status" mehr auf (Le­ bens-) Dauer sondern nur temporalisierte (dh. für eine Marktkonstellation gegebene) Chancen.130 Bei dieser "Bildungsrenaissance" handelt es sich (wie stets bei Renaissancen) tatsächlich um etwas nie Dagewese­ nes: eben um die Evolution des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Bildung. Bildung wird so - aus einer Leitidee für eine ständisch organisierte soziale Min­ derheit - zum ersten Mal zu einem allgemeinen Medium selbstreferentieller Individualitätsentfaltung. Freilich han­ delt es sich bei dieser Entwicklung wiederum um Stei­ gerung von Autonomie und Abhängigkeit zugleich: einer­ seits Chance, andererseits aber auch universeller Zwang zur Aneignung des Wissens, das erst zur Teilnahme an gesell­ schaftlich relevanter Kommunikation in funktional diffe­ renzierten Gesellschaften befähigt. Es besteht damit (ten­ denziell) keine Chance mehr, mit dieser Bildungsaneignung einen Zugang auf bestimmte Berufsmonopole, Sozialstatus etc. noch garantiert zu bekommen. D.h. es handelt sich eben nicht mehr um Stratifikation sondern um funktionale Diffe­ 128

Das Veralten beruflichen Wissens aufgrund sich wandelnder Ar­ beitsstrukturen, das bereits für die Auflösung tradierter Autoritäts­ strukturen in der familialen Interaktion sorgte, beschleunigt sich in ei­ nem Maße, daß auch in den organisierten Teilen des Bildungswesens auf Wissensvorsprung basierte Hierarchisierung sich auflösen muß. 129 Tendenzen zur "Entberuflichung" (Beck, 1986) der Arbeit (Flexibilisie­ rungsstrategien) einerseits und zum wiederholten Wechsel von Bil­ dungs- und Berufsphasen ("recurrent education") verhalten sich kom­ plementär. 130 Nach Meinung vieler Autoren ist es v.a. diese aus der funktionalen Differenzie rung zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem resultie­ rende (und im Zusammenhang mit demographischen Faktoren verstärk­ te) Kollektiverfahrung eingeschränkter Lebenschancen, die das Bewußt­ sein der heranwachsenden Generation heute nachhaltig prägt. - Solche Diagnosen sind steigerbar: Es lassen sich noch andere, gewissermaßen noch katastrophalere Ge nerationserfahrungen benennen oder vorausse­ hen, die der im pädagogischen Code implementierten Vorstellung von psychischer Entwicklung im Hinblick auf eine offene Zukunft entgegen­ zustehen scheinen. Dies ist allerdings kein logischer Widerspruch, denn der Code enthält keine Tatsachenbehauptungen sondern normative Vo r­ stellungen, die sich auf die - auch unter den einschränkenden Generati­ onserfahrungen dann noch mögliche - Kontingenz auswirken.


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation renzierung. Indivi dualisierung ist die Normalform der Ve r­ gesellschaftung in dieser Struktur. - Neue soziale Ungleichheit ? Soziale Ungleichheit war stets ein hervorragendes Thema der intergenerativen Kommunikation und fast alle pädago­ gischen Programme seit Beginn der Moderne beruhen dar­ auf, daß soziale Ungleichheit im Wechsel der Generationen als ungerecht empfunden wurde bzw. traditionelle Rechtfer­ tigungen diesbezüglich zerfielen. Das gilt zunächst in bezug auf die Ungleichbehandlung der Söhne als Erben (viel spä­ ter auch der Töchter). Das Problem konnte erst im Bürger­ tum und mit der entwickelteren Geldwirtschaft durch Ent­ koppelung der Bildungs- und Berufskarrieren vom konkret häuslichen Produktionsmitteleigentum gelöst werden. Eine Verallgemeinerung dieser Lösung für die Nachkommen der nichtbesitzenden Schichten konnte erst mit einer weiterge­ henden Ausdifferenzierung des politischen Systems (mit allgemeinen Partizipationsrechten und Interven­ tionsmöglichkeiten) in Gang gekommen. Nicht soziale Ungleichheit an sich, sondern daß sie von einer Generation zur Anderen vererbt würde, war der Skandal, der bis heute im Funktionssystem fortwirkt, wenn Bildungsvorteile über Einkommensvorteile der Eltern oder sogar nur über das familiale Sozialisationsmilieu sich re­ produzieren131. Auch wenn die naturrechtliche Ausgangs­ behauptung, daß der Mensch frei und gleich geboren sei, heute nicht mehr überzeugt: das Motiv hat sich von der Prä­ misse gelöst. Selbst wenn es von Geburt an Unterschiede geben mag, so wird es doch als Verpflichtung der Gesell­ schaft (Funktion der Sozialpolitik) empfunden, hier ko m­ pensatorisch einzugreifen und einen Ausgleich für unglei­ che Startchancen herzustellen, egal ob es sich um soziale oder natürliche (zB. bei Behinderungen) Ungleichheit han­ delt. Die bei Greenfield u.a. zitierten empirischen Untersu­ chungen zur Wirkung der neuen elektronischen Kommuni­ kationstechniken auf die Entwicklung kindlichen Bewußt­ seins haben gezeigt, daß gerade die funktionsspezifische Verarbeitung diese Kommunikationstechniken im Bildungs­ system - entgegen der in der pädagogischen Reflexion noch dominanten kulturpessimistischen Deutung - hervorragende Möglichkeiten zur Kompensation der "neuen" sozialen Ungleichheiten bieten, die mit den beschriebenen Individua­ lisierungsschüben reproduziert werden.132 9.3 Individualisierung als Steigerung von Anpassungs­ und Widerstandspotentialen

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Dies übrigens ein Gesichtspunkt, der in der funktionalistischen Theorie sozialer Ungleichheit in der Parsons-Tradition weitgehend unterbelichtet bleibt. Soziale Ungleichheit erscheint als Resultat der jeweiligen funk­ tionalen Beiträge der Einzelnen zur Reproduktion der Ge sellschaft und deshalb unproblematisch, weil von ihrer intergenerativen Reproduktion abstrahiert wird. 132 Dies gilt für das "passive" Erleben des Fernsehens, wenn es in pädago­ gischen Dyaden und Unterricht gewissermaßen aktiv weiterverarbeitet wird, und es gilt in besonderem Maße für die aktivierende Kommunika ­ tionstechnik der Videospiele und Computer: "Vielleicht wird sich spä­ ter, wenn sich die Entwic klung überblic ken läßt und alle Argumente überprüft worden sind, herausstellen, daß der entscheidende Beitrag der Computer zur Erziehung in seinem Motivationspotential besteht. Com­ puter fesseln das Interessen von Schülern, die normalerweise aus dem Bildungssystem ausscheiden würden." Greenfield, 1987, S.145

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Mit Individualisierung habe ich zunächst eine Anforderung an (sich entwickelndes) Bewußtsein umschrieben, das sich der intergenerativen Kommunikation angesichts hochgetrie­ bener funktionaler Differenzierung stellt: Es sind die Medi­ en der großen Funktionssysteme (Geld, Recht), die einer­ seits die Individualisierung des Bewußtseins (qua Substitu­ tion tradierter Sozialsysteme mit Kollektivbindung) und andererseits eine erhöhte Abhängigkeit des indivi ­ dualisierten Bewußtseins von diesen (meist hoch­ organisierten und standardisierenden) Funktionssystemen produzieren. Es handelt sich bei dieser Entwicklung des Bewußtseins - wie stets bei komplexitätssteigernder Evolu­ tion - um eine komplementäre Steigerung von Autonomie und Umweltabhängigkeit zugleich. Die Individualisierung des Bewußtseins geht einher mit zunehmender Homogenisierung der Generationserfah­ rung. 133 Als eine Folge der Individualisierungsschübe der Moderne wird die Verlagerung der sozialisationswirksamen Erfahrungen einer Generation aus typischen Gemein­ schaftserfahrungen einer sozialen Gruppierung ("Klasse", "Schicht") zugunsten der individualisierten Wahrnehmung von herausragenden oder kontinuierlich wirkenden Zeiter­ eignissen beobachtet. Typische Erfahrungen einer sozialen Gruppe weisen eher generationsübergreifenden Gehalt auf, weichen stärker von den Erfahrungen Jugendlicher in ande­ ren sozialen Gruppierungen ab als von den Vorerfahrungen der eigenen Elterngeneration. Typische Zeitereignisse we r­ den zwar von individuellen Mitgliedern verschiedener Ge­ nerationen gleichzeitig erfahren, jedoch je nach Lebensalter (Entwicklungsstand und Aufnahemfähigkeit ihres psychi­ schen Systems) sehr ve rschieden verarbeitet. Dieselben Erfahrungen, die für Heranwachsende zum Kristallisations­ punkt aller weiteren Sinnverarbeitung werden, erscheinen für die ältere Generation allenfalls als Bedrohung ihrer bisherigen Weltwahrnehmung und werden daher eher ab­ wehrend verarbeitet. Da nun aber derart prägende Zeiterei­ gnisse in immer rascherem Tempo folgen (und ihren Cha­ rakter wechseln) läßt sich auch hieraus wiederum auf zu­ nehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation schließen. Im Prozeß der Ausdifferenzierung der Funktionssy­ steme moderner Gesellschaften werden repäsentativ­ substitutive Ordnungsmerkmale (Teil/Ganzes) ersetzt durch nichtsubstituierbare Interdependenzbeziehungen zwischen Teilsystemen. Die in Stammesgesellschaften dominanten und in traditionellen Gesellschaften innerhalb der segmentä­ ren (Schichten-)Differenzierung sich noch reproduzierenden Leitdifferenzen Alter und Geschlecht werden für die gesell­ schaftliche Ordnung funktionslos. Sie verschwinden damit nicht aus der gesellschaftlichen Kommunikation sondern fungieren als das ausgeschlossene Dritte in den funk­ tionsspezifischen Kommunikationscodes. Das durch den Code Ausgeschlossene wird zum expliziten Systembestand­ teil in entsprechenden Funktionsprogrammen (zB. muß man ein bestimmtes Alter haben, um ein Geschäft zu eröffnen, muß dem Arbeitsmarkt uneingeschränkt zur Verfügung stehen etc.) Die Kommunikation in den ausdifferenzierten Funktionssystemen enthält also vorprogrammierte - aller­ dings auf der Ebene der Programme auch angreifbare und änderbare - alters- und geschlechtsspezifische Anschlußre­ 133

In Abgrenzung zur igK auch als intragenerative Kommunikation zu be­ zeichnen.


Klaus Gilgenmann:. Die zunehmende Unwahrscheinlichkeit der intergenerativen Kommunikation striktionen. Als positive Ordnungsmerkmale fungieren Alter und Geschlecht dann nur noch in zwei Teilsystemen: Fami­ lie (hier bzw. in der Ehe tendenziell nur noch das Ge­ schlecht) und Schule (in Letzterer funktionsspezifisch schließlich nur noch das Al ter). Charakteristisch für diesen Reduktionsprozess scheint es zu sein, daß sich die in den tradierten Leitdifferenzen (Alter und Geschlecht) angelegte Asymmetrie (Höherran­ gigkeit des Älteren und Männlichen) zunächst in den ent­ sprechenden Interaktionssystemen z.T umkehrt - Familie und Kindheit als Domäne des Weiblichen, Schule und Kindheit als Domäne des Jüngeren, sich noch Entwickeln­ den - und schließlich durch eine ins Unwahrscheinliche ge­ steigerte Individualisierung der Interaktion sogar aufgelöst werden. Ist der Prozeß der Umkehrung noch als unmittelbar abhängig von der funktionalen Differenzierung in anderen Bereichen zu verstehen, so setzt die durch den Prozess der funktionalen Differenzierung insgesamt (durch Entlastung von den entsprechenden Funktionen im Alltagsvollzug) ermöglichte Individualisierung kommunikative Potentiale frei, die über die Interaktionssysteme Familie und Schule (in denen Alter und Geschlecht ihre Funktion als Leit­ differenz modifiziert gewahrt haben) hinaus diffundieren. Sie dringen als Programme wiederum in die funkti­ onssystemische Kommunikation ein und stellen die vorpro­ grammierten Anschlußrestriktionen (z.B. für Frauen und Kinder) in Frage. Was wir als Wandel der intergenerativen Kommuni­ kation beobachten können, ist also zunächst die evolutionär unwahrscheinliche Steigerung des Individualisierungsgrads intergenerativer Kommunikation selbst. Deren Beschrei­ bung läßt sich unter zwei Aspekten weiterverfolgen134: Erstens das Vordringen binär codierter Komunikation auf Kosten jeglicher nicht funktionssystemischer Kommu­ nikation, also auch als Eindringen dieser Kommunikation in die mehr oder weniger geschlossenen Interaktionssysteme Familie, Unterricht, Nachbarschaft, Freundschaft etc. und zweitens dann die gegenläufige Diffusion der in inti­ men und hochindividualisierten Interaktionssystemen auf­ gebauten Kommunikation einschließlich normativer Erwar­ tungen in die Gesellschaft, insbesondere auch als Wi­ derstand gegen die vorhandene Programmierung der Funkti­ onssysteme (dh. aber zunächst nur: als Variation der Pro­ gramme). 134

Was einer ausführlicheren Behandlung als im vorliegenden Skript vorbehalten bleiben muß. Für dieses Thema gibt es in der Litera tur v.a. persönlichkeitstheoretische Vorgaben, die eher kulturpessimistische Zü­ ge tragen, von denen die hier verfolgte Argumentation abzusetzen wäre: zB. Adorno/Horkheimer mit ihrer Trauer über den Untergang der trad. Bürgerfamilie mit ihren ichstarken Charakteren und die RiesmanVersion mit der Diagnose zunehmend außengelenkter Charaktere; dann die neueren Versionen von Lash und Sennett sowie die hiesige Diskus­ sion (Ziehe u.a.) über den "neuen (narzißtischen) Sozialisationstyp". Die hier verfolgte Argumentation setzt zunächst weniger individualpsy­ chologisch sondern eher kommunikationstheoretisch (und dann soziali­ sationstheoretisch-coevolutionstheoretisch) an. Dabei geht es einerseits darum, Individualisierung als Anpassungspotential in einem nicht pole­ misch gemeinten Sinne, nämlich als höchst unwahrscheinliche Voraus­ setzung des Funktionierens funktional differenzierter Sy steme zu zeigen. Anderseits läßt sich - gewissermaßen als entropisches Beiprodukt dieser Evolution - zunehmende Diffusion der hochindividualisierten (ehemals auf Intimbereiche beschränkten) Kommunikation in die Gesellschaft beobachten. Und auch diese Entwicklung könnte evolutionäre Vorteile mit sich bringen: indem sie das Variationspotential der Gesellschaft (al­ lerdings um den Preis aktueller Destabilisierung) für künftige Entwick­ lungen erhöht.

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10. Schlußbemerkung zur Frage des Nutzens der Theoriekonstruktion Was die theoretische Rekonstruktion m.E. lehren sollte, ist zumindest dies: daß intergenerative Kommunikation als Summe der Operationen des Gesellschaftssystems, die dar­ auf funktional eingestellt sind, die Autopoiesis der Gesell­ schaft im Wechsel der (biologischen) Generationen zu voll­ ziehen, nur gelingt, weil und soweit eine Vielzahl komplex miteinander verzahnter, aber kausal voneinander unabhän­ giger Faktoren zusammenkommen: pädagogische Dyaden, schulische Unterrichtsorganisation und ein ausdiffe­ renziertes Funktionssystem, in dem ein symbolisch gene­ ralisiertes Kommunikationsmedium mit Erst- und Zweitco­ dierung, symbiotischem Mechanismus und anderen Ein­ richtungen sich darauf einstellt, die durch die neuen elek­ tronischen Bildmedien erweiterten Kommunikationstechni­ ken für die intergenerative Kommunikation zu nut zen. Es wäre m.E. kein geringer Nutzen der Theorieko n­ struktion, wenn einigermaßen überzeugend dargelegt we r­ den könnte135, daß von praktischen Interventionen, die ohne Berücksichtigung dieses komplizierten Zusammenspiels betrieben werden, mehr Schaden als Nutzen zu erwarten ist. - Literaturangaben Ariès, Philippe, Geschichte der Kindheit, München: Hanser, 1975 Bateson, Gregory, Geist und Natur. Eine notwendige Einheit, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankf.M.: Suhr kamp 1986 Beck-Gernsheim, Elisabeth, Von der Liebe zur Beziehung? Ver­ änderungen im Verhältnis von Mann und Frau in der indivi­ dualisierten Gesellschaft, in: J. Berger (Hg.) Moderne oder Postmoderne, Sonderband 4 der Sozialen Welt, Göttingen, 1986, S.209-233 Bernfeld , Siegfried, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (1925), Ffm.: Suhrkamp, 1967 Bronfenbrenner, Urie, Ökologische Sozialisationsforschung, Stutt­ gart: Klett, 1976___ Bronfenbrenner, Urie, Die Ökologie der menschlichen Entwic k­ lung. Natür liche und ge plante Experimente. Stuttgart: Klett, 1981 Bühl, W.L.: Gibt es eine soziale Evolution, ZfP 31, Jg3, 1984 De Mause, Lloyd (Hg.) Hört ihr die Kinder weinen. Eine psycho­ genetische Geschichte der Kindheit. Frankf.M.: Suhrkamp, 1977 Doehlemann, Martin: Von Kindern lernen. Zur Position des Kin­ des in der Welt der Erwachsenen, München: Juventa, 1979 Gilgenmann, Klaus: Sozialisation als Evolution psychischer Sy­ steme, in: H.J. Unverfehrt (Hg.) System und Selbstproduktion. Zur Erschließung eines neuen Paradigmas in den Sozialwis­ senschaften. Frankf.M u.a.: Peter Lang, 1986 Gloger-Tippelt, Gabriele und Tippe lt, Rudolf, Kindheit und kindli­ che Entwicklung als soziale Konstruktionen, in: Bildung und Erzie hung 39. Jg. H.2 Juni 1986 S. 149-164 Greenfield, Patricia M.: Kinder und neue Medien. Die Wirkung von Fernsehen, Videospielen und Computern. (Übersetzt, he­ rausgegeben und mit Anmerkungen versehen von H.J. Ka­ gelmann.) München - Weinheim: Psychologie Verlags Union, 1987.

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Nach entsprechender Ausarbeitung des vorliegenden Konzepts - s. meine Vorbemerkung.


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