Kg 1991 entwicklungkind

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DIE ENTWICKLUNG DES K INDES Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation Ich beziehe mich auf den von NIKLAS LUHMANN vorgegebe­ nen Theorierahmen der Analyse von Funktionssystemen der mo­ dernen Gesellschaft und mache bezüglich seiner Analyse des Bildungssystems einige abweichende Vorschläge. Ich beschreibe die Umstellung der pädagogischen Kommunikation auf ein symbo­ lisch generalisiertes Kommunikationsmedium in sachlicher, sozia­ ler und zeitlicher Hinsicht und skizziere historisch-semantische Entwic klungen, die zur gegenwärtigen Codierung dieses Me diums geführt haben.

1. Zur Bezeichnung des Systems: Erziehung oder Bildung? 1 2. Zur Konstruktion des Mediums 4 - Die System/Umwelt-Konstellation - Die Ego/Alter-Konstellation 6

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- Die Vorher/Nachher-Konstellation

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3. Zur Codierung des Mediums 11 - Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen 12 - Der Präferenzcode Anlage/Umwelt 13 - Der Entwicklungscode 15 - Der Zusammenhang von Erst- und Zweitcodierung 17 Literaturhinweise 18

"Vergebens wird man geistreiche Theorien schaffen, verge­ bens wird man, um die Kindheit zu bilden und zu unterrich­ ten, vollendete Methoden entwerfen - all dieses wird in den Primärschulen immer in der Ausführung mangelhaft blei­ ben; mit einem solchen Mittel ist es unmöglich etwas ande­ res zu erreichen als entweder gar nichts, oder nur Partielles oder, was nur für einen kleinen Teil der Menschen nützlich ist. In der öffentlichen Erziehung dagegen gehört die ganze Existenz der Kinder uns an, die Materie, wenn ich mich so ausdrücken darf, kommt nie aus der Form heraus, kein Ge­ genstand von außen kann die Gestalt, die Ihr ihm gebt, ver­ ändern. Schreibt vor, und die Ausführung ist gewiß; erfindet eine gute Methode, und auf der Stelle ist sie befolgt; schafft einen nützlichen Plan, und gleich und vollständig und ohne Anstrengung ist er realisiert." Bei diesem 1792 verfaßten Plädoyer für die ganztägige Überwachung aller 5 bis 12-Jährigen in Erziehungshäusern (Erziehungsprogramme der Französischen Revolution, 1949, S. 135f) handelt es sich offenkundig um ein frühes Beispiel für jene Behandlung des Zöglings durch den Erzie­ her nach dem Modell der "Trivialmaschine", das NIKLAS LUHMANN für eine (trotz besserer Einsichten) bis heute unvermeidliche Prämisse aller pädagogischen Kommuni­ kation hält.1 Allerdings weiß man heute, daß die Vo rschrif­ 1

Vgl. NIKLAS LUHMANN, Das Kind als Medium der Erziehung, ZfPäd 1/91 S.20f und S.30. S. schon LUHMANN, Sozialisation und Er­ ziehung, in: Soziologische Aufklärung 4, S. 179f - Gegen das Maschinenmodell wurde übrigens schon 1796 protestiert, das "Naturgesetz" gestatte keine andere Bildung als jene, "die in jedem einzelnen Menschen von innen heraus ... geschieht. Allein der Despo­

ten, Methoden und Pläne der Pädagogik nicht so leicht zu realisieren sind. Nach LUHMANN weist das Erziehungssystem gravie­ rende Abweichungen von den bei anderen modernen Funk­ tionssystemen beobachteten Strukturen auf.2 Als tieferen Grund dafür hat L UHMANN immmer wieder angeführt, daß pädagogische Kommunikation - wegen der operativen Ge­ schlossenheit und Verschiedenheit lebender, sozialer und psychischer Systeme3 - gar nicht bewirken kann, was sie doch intendiere: die Veränderung von menschlichem Ver­ halten und Bewußtsein. LUHMANN beschreibt also eine pädagogische Intention, an der gemessen die Resultate defizitär erscheinen müssen.4 Transponiert auf die Ebene der theoretischen Rekonstruktion eines symbolisch generalisierten Mediums folgt daraus, daß es kein er­ folgversprechendes Medium der pädagogischen Kommu­ nikation geben kann. Das Defizit ergibt sich allerdings m.E. nicht aus der Eige nart pädagogischer Kommunikation sondern aus einer spezifischen Engführung in L UHMANNs Beschreibung. Ich möchte mich im Folgenden auf zwei konkurrierende semantische Traditionen in der Selbstbeschreibung des modernen Bildungswesens beziehen, die seine Entwicklung von Anfang an begleitet haben und deren sachliche, soziale und zeitliche Referenzen periodisch in veränderter Form - manchmal mit überraschendem Seitenwechsel - wiederkehren.

1. Zur Bezeichnung des Systems: Erziehung oder Bildung? Wenn man mit LUHMANN in der funktionalistischen Theo­ rietradition die moderne Gesellschaft als funktional diffe­ renziert beschreibt 5, zeigen sich innergesellschaftliche Sy­ stem-Umwelt-Verhältnisse, die als ve rschiedene Operati­ onsebenen des Funktionssystems unterschieden werden können.6 Die Beziehung des Funktionssystems auf die Ge­ tismus forderte Automaten; - und Priester und Leviten waren fühllos ge­ nug, sie ihm aus Menschen zu schnitzen" (Annalen der leidenden Menschheit, hg. v. August Hennings 2 (1796), 224 zit. nach Rudolf Vierhaus in: Ge schichtliche Grundbegriffe a.a.O. S. 522). 2

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Ich schließe mich hier LUHMANNs induktiver Vorgehensweise mit Bezug auf die Beschreibung von Funktionssystemen der Gesellschaft an. Was für einige Funktionssysteme gilt, muß nicht für alle stimmen. Wenn nun aber in LUHMANNs (und SCHORRs) älteren Untersuchungen zum Erziehungssystem ein Code ohne Medium, in neueren Untersuchungen ein Medium ohne Code gefunden wird, so liegt die Frage nach fehlenden Verbindungsstücken nahe. Auf eine entsprechende Rekonstruktion zielt mein Beitrag. So wieder im jüngsten Aufsatz "Das Kind als Medium der Erziehung" .ZfPäd 1/91 S.20f.(s. auch die Hinweise dort). Ausführlicher dazu NIKLAS LUHMANN, Soziale Systeme, Kap.6, Interpenetration a.a.O. S 286 ff. Vgl. die in den ersten diesbezüglichen Arbeiten im Vordergrund stehen­ de Technologiedefizit hypothese für das Erziehungssystem. Später hat LUHMANN die Defizithypothese normalisiert. Vgl. NIKLAS LUHMANN Strukturelle Defizite, in OELKERS/TENORTH, Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie a.a.O.S.57 Ich weise in der folgenden Darstellung nicht immer aus, wo ich mich der von Niklas LUHMANN entwickelten Theorieinstrumente - insbe­ sondere der Verknüpfung von System-, Evolutions- und Medientheorie ­ bediene, da dies - soweit es mir gelingt - fast durchgehend der Fall ist. Ich beschränke meine Hinweise auf jeweils ausführlichere Darstellung bei LUHMANN sowie auf die Stellen bei LUHMANN, wo ich bewußt abweiche. Die Abweichungen liegen für die Zwecke der vorliegenden Darstellung nur im Themenbereich der Analyse des Bildungswesens. S. zu dieser Unterscheidung zB. Niklas LUHMANN, Karl-Eberhard SCHORR (1979) Reflexionsprobleme im Erzie hungssystem, Stuttgart, S. 34-38 Ausführlicher s. Theoretische und praktische Probleme der anwendungsbezogenen Sozialwissenschaften, in: Soziologische Aufklä ­ rung 3, S. 321-334


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation sellschaft als Ganze läßt sich als Funktionsebene beschrei­ ben. Beim Bildungssystem handelt es sich, wie ich im fol­ genden Abschnitt zeigen möchte, um die Funktion, So­ zialisations- und Individuationsprozesse zu ermöglichen, die mit den Inklusions- und Individualisierungsbedingungen der Gesellschaft kompatibel sind. Die Einheit des Systems wird in dieser Hinsicht durch eine Medium-Form-Beziehung, die Einheit der Differenz zwischen einem systemspezifischen Kommunikationsmedium und den symbolisch generalisier­ ten Formen pädagogischer Kommunikation definiert.7 Die Beziehung des Funktionssystems auf andere Funkti­ onssysteme läßt sich als Leistungsebene beschreiben. Hier handelt es sich darum, daß in der pädagogischen Kommuni­ kation Leistungen erbracht werden, die den verschieden­ artigen Erwartungen in Familien, Wirtschaft, Politik u.a. Rechnung tragen. Die Codierung des Mediums erlaubt eine leistungssteigernde interne Vereinfachung der Kommunika­ tion, seine Programmierung erlaubt es, auf die Verschie­ denartigkeit der Erwartungen zu reagieren. Die Einheit des Systems wird in dieser Hinsicht durch die Differenz von Codierung und Programmen definiert. Die Beziehung des Funktionssystems auf sich selbst als Einheit läßt sich schließlich als Reflexionsebene beschreiben. Im Falle des Bildungssystems handelt es sich darum, die hier skizzierten System-Umwelt-Verhältnisse zu reflektieren und von daher Anpassungsvorgänge des Systems in seiner Umwelt zu ermöglichen. Die Einheit des Systems wird in dieser Hin­ sicht durch die pädagogische Theoriebildung repräsentiert. Die Soziologie als externer Beobachter im Wissen­ schaftssystem kann hier nur Vorschläge machen. Ob sie Resonanz im Bildungssystem finden, entscheidet sich in der pädagogischen Selbstreflexion. Will man sich nicht ohne Not von der Alltagssprache entfernen, so stehen in der deutschsprachigen Tradition eigentlich nur zwei Bezeichnungen zur Verfügung, mit denen die Einheit des Systems der pädagogischen Komm­ munikation gegenüber anderen Funktionssystemen der Ge­ sellschaft bezeichnet we rden kann: Erziehung und Bildung. Gegen beide Begriffe kann eingewandt we rden, daß sie mit semantischen Traditionen belastet sind, die der Aufklärung über die gegenwärtigen Strukturen des Systems nicht gerade dienlich ist. Dies liegt daran, daß die Ausdifferenzierung des Funktionssystems an einen semantischen Vorlauf an­ knüpft, der älter als die entsprechende Differenzierungsform der Gesellschaft ist. LUHMANN verwendet in seinen Unter­ suchungen dieses Funktionssystems stets - unter Berufung auf die Unvermeidlichkeit "kausaltechnologischer" Prämis­ sen der pädagogischen Kommunikation und häufig mit ausdrücklicher Wendung gegen die Verwendung des Bil­ dungsbegriffs - die Bezeichnung Erziehung. 8 Ich bevorzuge 7

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Symbolische Formen werden überhaupt erst durch Medien wahrnehm­ bar. Das Medium für pädagogische Kommu nikation kann die Einheit des Systems aber nicht allein repräsentieren, weil Medien - zumindest im Vollzug von Sinnoperationen - sich der Wahrnehmung entziehen. Mehr dazu S. 7 Ich verzichte hier bewußt darauf, den Begriff der Erziehung anders als LUHMANN zu definieren - wofür es ja viele Anknüpfungspunkte in der pädagogischen Theorietradition gibt - sondern verwende den Bildungs­ begriff als Bezeichnung für die Einheit des Funktionssystems, um deut­ lich zu machen, daß sich meine Darstellung an diesem Punkt von der LUHMANNs unterscheiden soll, während ich ja zum größeren Theorie ­ rahmen LUHMANNs weitgehend Anschluß suche (s. Anm oben). Ich möchte zeigen, daß pädagogische Kommunikation durchaus in der Lage ist, "die Wahl des Verhaltens von der Selbstreferenz des psychischen Systems abhängig zu machen." (LUHMANN, Sozialisation und Erzie ­

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in dieser Alternative - in Übereinstimmung mit dem domi­ nanten Sprachgebrauch9 - die Verwendung des Bil­ dungsbegriffs. Gegen die Verwendung des Erziehungsbe­ griffs als Bezeichnung für die Einheit des Systems auf Funktionsebene sprechen m.E. zwei Arten von Gründen: Erstens Solche, die sich auf die Eigenart der pädagogischen Kommunikation (in der Sozialdimension) beziehen, und zweitens Solche, die sich auf die Reichweite der funktions­ systemspezifischen Operationen (in der Zeitdimension) be­ ziehen. Die Verwendung des althergebrachten Begriffs der Erziehung ist in der Alltagskommunikation zwar noch häu­ fig anzutreffen, erscheint jedoch zunehmend obsolet. Beein­ flußt durch die Ansichten der modernen Entwicklungspsy­ chologie wächst gerade in der Alltagskommunikation der Zweifel, ob der Begriff noch sinnvoll anzuwenden sei. Die­ ser Zweifel wird v.a. durch zunehmende Sensibilität gegen die - anscheinend schwer auflösbare - Assoziation des Er­ ziehungsbegriffs mit strafbewehrten Moralvorstellungen ge­ stützt. Genau an diesem Punkt scheint der Vorzug der Bil­ dungssemantik zu liegen. Mystisch-theologische Ursprünge der entsprechenden Semantik haben den Bildungsbegriff schon früh dazu prädestiniert, als Gegenbegriff zu der Ein­ griffssemantik der Aufklärungspädagogik zu dienen. Bei HERDER und P ESTALOZZI (nicht erst in der neuhumanisti­ schen Fassung) erfolgt die Abkehr vom Modell der fremdre­ ferentiellen Bewußtseinsverbesserung, die semantische Wende i.S. von Selbst-Bildung, die zum heute dominanten Verständnis geworden ist. Für die Entwicklung des Be­ wußtseins wurde damit jene Autonomie postuliert, die die kognitive Entwicklungspsychologie heute als dessen gene­ relle Eigenschaft beschreibt. Die Geschichte des Bildungsbegriffs wird von E. LICHTENSTEIN (Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1 S. 921-937) wiefolgt skizziert: "Der Begriff setzt sich in der zweiten Hälfte des 18.Jh. als in seiner pädagogischen und idealistischen Bede u­ tung neues Grundwort durch und wird zwischen 1770 und 1830 mit der Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutsch­ land zum Leitbegriff eines in der geschichtlichen Situation des Übergangs zu einer offenen Gesellschaft sozial ermöglichten Ideals geistiger Individualität, freier Geselligkeit und ideennor­ mativer Selbstbestimmung einer bürgerlichen Oberschicht, der «Gebildeten»... Der Ursprung des Bildungsbegriffs - an den in der Folgezeit immer wieder angeknüpft wird - ist jedoch my­ stisch-pietistisch:"Bildwerden ist hier reines Anwesen und Emp­ fangen Gottes, die Geburt des Sohnes in der Seele, ein transze n­ denter Vorgang «ohne Mittel»."...Im Säkularisierungsprozeß wird er durch HERDER - unter dem Einfluß rousseauscher Kul­ turkritik und gegen die normativistische kantische Geschichts­ auffassung - zum "Weltbegriff für die natürlich-geschichtliche

hung, a.a.O. S. 179). Dies gilt zunächst für die Primärcodie rung des Me­ diums. Im Hinblick auf die Zweitcodierung komme ich dann auf die Luhmannsche Argumentation zu rück. 9

Gegen die Verwendung des Bildungsbegriffs wird auch eingewandt, daß er - in der auf Selbstreferenz des Bewußtseins abstellenden Fassung ­ eine Spezialität des deutschsprachigen Raums sei, während zB. in angel­ sächsischen Ländern an entsprechender Stelle stets von "education" die Rede sei. (So auch Rudolf Vierhaus in seinem Beitrag zum Begriff der Bildung in: Geschichtliche Grundbegriffe a.a.O. Bd.1 S. 508f.) Dieses Argument trifft jedoch nicht ganz zu, Auch im angelsächsischen Sprachgebrauch wird der Terminus education offensichtlich als einseitig empfunden, wie sich in der häufigen Ergänzung oder Erweiterung durch den Terminus human development ausdrückt. (Vgl. auch die Bezeich­ nung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung als Institute for Human Development and Education.)


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation Geistigkeit des Menschen" gesteigert. ... "Zum Zielbe griff und zum Programm wird B. erst im 19.Jh. wesentlich durch HUM BOLDT s Idealsetzung der B., seine B.Politik und durch den schulpädagogischen Einfluß des von F. P AULSEN so genannten Neuhmanismus". Für Humboldt hat alle Bildung « ihren Ur­ sprung allein in dem Inneren der Seele und kann durch äußere Veranstaltungen nur veranlaßt, nie hervorgebracht werden». ..

Die Erziehungssemantik hat einen solchen Wandel anschei­ nend nicht mitgemacht. Zumindest konnten Versuche in der pädagogischen Theoriebildung, den Begriff der Erziehung von der Assoziation mit Ein- und Zugriffsvorstellungen zu lösen - zB. als Selbst-Erziehung, oder eingeschränkter als Erziehung des Erzieher durch den Zögling - nicht bis auf die Ebene der Alltagskommunikation durchdringen (Der Er­ ziehungs- und Bildungsbegriff im 20. Jahrhundert. Hg. E. WEBER, 1969). Die Ursprünge der Erziehungssemantik lassen sich in einer Semantik des Übergangs erkennen, in der die Selbst­ beschreibung der modernen Gesellschaft sich noch an alteu­ ropäischen Perfektionsidealen zu orientieren versucht. H.H. Groothoff (Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2 S. 733-735). weist darauf hin, daß der Terminus Erziehung, ursprünglich i.S. von Aufzucht für Mensch und Tier ge­ braucht, erst in der frühen Neuzeit seine diesbezüglich un­ terscheidende Bedeutung gewinnt. Dabei tritt E. zunächst "nur als Mittel der Unterwerfung unter das betreffende Sy­ stem und seine Repräsentanten auf. Hiermit harmonierte auch die biblische Überlieferung der Zucht. Daher hat sich die erste breite Erörterung der E. am Problem der Strafe entzündet". 10 Der Autor verweist hier auf H.J. CAMPE (1788) und die Philantropen. Die weitestgehende und mo­ ralisch anspruchsvollste Fassung des Erziehungsbegriffs findet sich bei Kant:«Der Mensch kann nur Mensch werden durch E. Er ist nichts, als was E. aus ihm macht». In der Folgezeit muß zwischen dieser weiten und engeren Fassun­ gen unterschieden werden, die sich nicht mehr auf den ge­ samten Umgang der älteren mit der jüngeren Generation sondern speziell auf die Handlungen beziehen, die "dem werdenden Menschen zu sich selbst" verhelfen. "Diesem Begriff von E. korrespondiert von etwa 1800 ab der deut­ sche Begriff der Bildung; er meint denjenigen Wachs­ tumsprozeß, der durch eine solche E. gefördert werden soll." (734) Der la tente Fundamentalismus des Erziehungsbegriffs wird deutlicher, wenn man seine Assozia tion mit der Idee der "Erzie­ hung des Menschengeschlechts" beobachtet, die von Kants Mo­ rallehre bis zu den sozialistischen Erziehungsdiktaturen stets ausdrücklich mitgemeint war. So beschreibt R. PIEPMEYER (Historisches Wör terbuch der Philosophie Bd. 2 S. 735-739) die Entstehung dieser Idee in der Aufklärungs theologie als "Ver­ such, die geschichtlich erlangte Position von der Tradition ab­ zusetzen und so als ne u zu sichern, zugleich aber die vergan­ genen Formen der Offenbarung als vernünftig anzusehen" ... "Das Denkmodell der E. findet sich nicht, wo die Kontinuität der Überlieferung ungebrochen ist, oder wo sie endgültig zer­ brochen ist. Es findet sich dort, wo die Beziehung zur Tradition zwar fragwürdig ist, doch noch zur Deutung der eigenen Posit i­ on und Zeit beiträgt."

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Zur Eingriffssemantik s. auch die polemische Auswahl: Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung (1977) Herausgegeben und eingeleitet von Katharina Rutschky, Frank­ furt, Berlin, Wien

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Die andauernde Verwendung des Erziehungsbegriffs wird ­ nicht zuletzt in der Wissenschaftsdisziplin, die sich so nennt - gerechtfertigt in Bezug auf Interaktion, insbesondere mit der Unabdingbarkeit des Personbezugs in der pädagogi­ schen Kommunikation.11 Leistungserwartungen aus anderen Funktionssystemen beziehen sich - selbstverständlich ohne angemessene Reflexion darüber, wie pädagogische Kom­ munikation sie bewerkstelligen könnte - direkt auf Verände­ rungen (des Bewußtseins und Verhaltens) der Person. Ist dafür aber eine Erzieherpersönlichkeit unabdingbar? Das zuständige Funktionssystem umfaßt offenkundig mehr als bloß Erziehungsoperationen. Im Organisationsbereich der Schule gibt es seit jeher Zeifel, ob Erziehung dazugehört. Dies gilt verstärkt für Hochschulen und Einrichtungen der beruflichen Bildung und Weiterbildung. Der Begriff der Er­ ziehung bezeichnet also allenfalls noch eine von verschie­ denen Leistungen des Systems für seine innerge­ sellschaftliche Umwelt. Vi eles deutet daraufhin, daß der alltägliche Sprachgebrauch unter den hochentwickelten Bedingungen funktionaler Differenzierung sich von der semantischen Kompakteinheit des Erziehungsbegriffs ablöst zugunsten einer Vielzahl von Begriffen, die unterschiedli­ che Leistungsdimensionen der pädagogischen Kom­ munikation bezeichnen wie zB. Betreuung, Unterstützung, Unterricht, Lehre, Qualifikations - und Wissensvermittlung etc. (Ich werde im dritten Abschnitt darauf eingehen, wie der in der Erziehungssemantik tradierte Aspekt der fremdre­ ferentiellen Persönlichkeitsveränderung auf Organisations­ ebene und in der Zweitcodierung des Bildungsmediums wieder auftaucht.) Wenn heute die Soziologie - z.T. gegen die pädagogi­ sche Theorietradition - die Übernahme von Selektionsent­ scheidungen als eine für die Selbststabilisierung des Bil­ dungssystems entscheidende Operation der pädagogischen Kommunikation beschreibt, kommt sie nicht umhin, den Primärvorgang, auf den sich die Selektion bezieht, als Bil­ dung zu be zeichnen.12 Nicht Erziehung (auch nicht deren Resultat) sondern Bildung wird in diesem System bewertet. Niemand verlangt ja nach "Erziehungsabschlüssen". Die semantische Tradition des Bildungsbegriffs hat - was immer ihre zeitgeschichtlichen Assoziationen gewesen sein mö­ gen13 - den Vorzug der größeren Kompatibilität mit den

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Auch LUHMANN hält die pädagogische Kommunikation nicht für ablösbar vom Personbezug der Interaktionssysteme. S. u.a. Schematis­ men der Interaktion in: Soziologische Aufklärung.3.,S. 87ff In dem Aufsatz "Codierung und Programmierung. Bildung und Selekti­ on im Erziehungssystem" (in Sozio logische Aufklärung 4 a.a.O. S.182) hat LUHMANN m.E. eine Argumentationslinie vorgezeichnet, um die semantische Kompakteinheit Erziehung in "Bildung" einerseits und "Se­ lektion" andererseits aufzulösen. Er hält jedoch am Erziehungsbegriff als Bezeichnung für die Einheit des Systems fest und kehrt auch in anderen Beiträgen immer wieder zu der Auffassung zurück, wo nach Erziehung und Selektion die zwei Seiten einer Form bilden, die gerade die am Bil­ dungsbegriff orientierte Reflexionstheorie nicht angemessen reflektieren könne. So z.B. die bildungsbürgerlich selektive Verwendung im Neuhumanis­ mus, die verdinglichende Assoziation mit Besitz ("Bildungsgüter") und die - aus heutiger Sicht - für die Selbstreflexion des Bildungssystems eher störende Assoziation mit Wissenschaft etc. Vgl. Die Bildung des Bürgers. Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und die Gebilde­ ten im 18. Jahrhundert (1982) Hrsg. Ulrich Herrmann, Weinheim und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert II Bildungsgüter und Bildungs­ wissen (1989) Hg. von Reinhart Koselleck, Stuttgart


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation Strukturen funktionaler Differenzierung der Gesellschaft.14 Das hat die weitere Entwicklung der pädagogischen Seman­ tik festgelegt.15 Mit dem Bildungsbegriff wird das Ziel pädagogischer Kommunikation so umschrieben, daß ein direkter Zugriff nicht möglich, andererseits aber auch die Wahl der Mittel nicht festgelegt erscheint. Wie kann ein so unbestimmter Begriff als Bezeichnung für die Einheit des Systems tau­ gen? Zunächst kann es irritieren, daß der Bildungsbegriff überhaupt keine Operation des Systems bezeichnet sondern - in der eher paradoxen Form der Selbst-Bildung des Indivi­ duums - eher ein Ziel, das jenseits systemspezifischer Ope­ rationen liegt. Diese Zielbeschreibung kann als eine zu­ sammenfassende Bezeichnung für die symbolisch ge­ neralisierten Formen dienen, die im Funktionssystem er­ zeugt werden.16 Allerdings sagt diese Bezeichnung nicht viel darüber, wie die Kommunikation im Funktionssystem funktioniert. Um das Funktionieren pädagogischer Kommu­ nikation zu beschreiben, bedarf es einer genaueren Be­ schreibung des Mediums, in dem sich diese Formen darstel­ len können. Schließlich ermöglicht erst die Codierung des Mediums kommunikative Strukturen, die nicht nur gegen­ über Persönlichkeitsentwicklung offen und für die Kon­ tingenz diesbezüglicher Möglichkeiten sensibilisiert, son­ dern auch pädagogisch programmierbar sind. Im Anschluß an L UHMANNS Vorgaben gehe ich im folgenden Abschnitt zunächst näher ein auf die Medium-Form-Beziehung päd­ agogischer Kommunikation und versuche im darauf­

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R. Stichweh hält (im Unterschied zu Luhmann und Schorr) den Bil­ dungsbegriff für die modernere semantische Konstruktion. "Die Umstel­ lung von 'Erziehung', 'Nachahmung', 'Einprägung', Unterricht' und den an diese älteren Begriffe geknüpften Transportvorstellung für die Gene­ se von Fähigkeiten auf die Vorstellung, daß eine individuelle Einheit, die sich entwickelt und verändert, dies immer nur im Selbstbezug tun kann, daß jede Rezeptivität notwendigerweise Aktivität ist, diese Ein ­ sicht ist die spezifische Leistung der Bildungsidee als Entwicklungstheo­ rie...". Stichweh verweist v.a. auf J.G. Herder: Auch eine Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774). R. Stichweh, (1991) Bildung, Indivi­ dualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung, in: J.Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.) Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, (W.Fink) München S. 106 In diesem Sinne beschreibt Rudolf Vierhaus (Geschichtliche Grundbe­ griffe, Bd.1 S.511ff) die Entwicklung der pädagogischen Semantik: "Quantitativ herrschte bis in die beiden letzten Jahrzehnte des 18. Jahr­ hunderts der Begriff 'Erziehung' vor, der so außerordentlich dem Be ­ wußtsein der Aufklärer und ihrer Neigung entsprach, ihr ganzes Wollen als Erzie hung zu verstehen." ... "Wenn seit der Mitte des 18. Jahrhun­ derts 'Bildung' immer mehr ein pädagogischer Begriff wurde, so war gerade hier die Verbindungslinie zum Pietismus offenkundig." Der Weg der Bedeutungssäkularisie rung führt "einerseits zur praktischen Tätig­ keit der Erziehung und des menschlichen Erziehers in ihren unterschied­ lichen anthropologischen Ansätzen, Methoden und Zielsetzungen, ande­ rerseits zur Aktivität der Selbstbildung, der Entwicklung des Indivi­ duums von innen heraus. Von Anhängern der Aufklärung wie von ihren Gegnern verwendet, konnte 'Bildung' synonym mit 'Erziehung' ge­ braucht ..., aber auch, in der Abweisung mehr oder weniger aufgezwun­ gener Ausbildung des Menschen zu bestimmten Zwecken, betont von 'Erziehung' abgehoben werden." ... "Die Ausweitung und Bedeu­ tungsaufladung des deutschen Bildungsbegriffs ist nicht die Folge da­ von, daß Erziehung zunehmend wichtiger genommen und die Frage nach dem Ziel der Er ziehung heftiger diskutiert wurde. Vielmehr war diese 'pädagogische Bewe gung' Ergebnis eines umfassenden Wandels des Bildes vom Menschen, aus dem eine neue Erziehungs- und Bil­ dungskonzeption hervorging,.." Ich beziehe mich hier auf dieselben Formen, die LUHMANN in Das Kind als Medium (a.a.O. S.29f) - mit einem weniger funktionssystem­ spezifischen Begriff - als "Wissen" bezeichnet.

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folgenden, letzten Abschnitt die Codierung des Mediums zu rekonstruieren.17

2. Zur Konstruktion des Mediums Im Anschluß an Konstruktionen der Wahrnehmungspsycho­ logie hat LUHMANN den Medienbegriff auf die Unterschei­ dung von lose und strikt gekoppelten Elementen ge­ gründet.18 Lose Koppelungen bilden das Medium, in dem sich Formen ausprägen lassen, dh. hier als sinnhafte Formen erkennbar werden. Die Operation der strikten Koppelung, die die Form erzeugt, verbirgt zugleich das Medium hinter der Form. Der Unterschied zwischen Medium und Form wird jeweils nur in einem anderen Medium beobachtbar.19 Die lose Koppelung bildet also gewissermaßen die unsicht­ bare Voraussetzung der sichtbaren Formen. Wenden wir nun diese Unterscheidung auf das symbolisch generalisierte Medium für pädagogische Kommunikation an, so gilt die Suche einer elementaren Operation der Kommunikation, die sich der pädagogischen Kommunikation normalerweise entzieht und ebendadurch eine lose Koppelung zur Verfü­ gung stellt, in der sich die Formen pädagogischer Kommu­ nikation (ihre Semantik, Programme und Reflexionsformen) ausprägen können. Eine solche vorpädagogische Operation der gesellschaftlichen Kommunikation besteht in der Unter­ scheidung zwischen Kindern und Erwachsenen.20 Wenn ich hier von einer "vorpädagogischen" Operation spreche, so meine ich gleichwohl eine Operation der Kommunikation und nicht etwa die biologischen Referenzen menschlichen Kindseins, an die diese Unterscheidung anknüpft. Vorpäd­ agogisch ist diese Unterscheidung im doppelten Sinne: Erstens bildet sie für die Wahrnehmung pädagogischer Formen ("kindgemäße" Kommunikation) eine Ausgangs­ operation, die sich der pädagogischen Selbstbeobachtung entzieht. Daß es sich hier um einen systemkonstitutiven "blinden Fleck" handelt, kann man u.a. daran erkennen, daß sich die andere Seite der Unterscheidung, der Erwachsene, der pädagogischen Wahrnehmung weitgehend entzieht. Zweitens kommt die Unterscheidung zwischen Erwachse­ nen und Kindern aber jenseits des Bildungssystems, in jeder Familie, bei jeder entsprechend differenzierten Ein­ trittsregelung, schon beim Kauf von Kinokarten regelmäßig und problemlos wieder vor. Die Operation der Unter­ scheidung zwischen Kindern und Erwachsenen setzt inner­ halb der Kommunikation gewisse Aspekte der strukturellen Koppelung zwischen psychischen und sozialen Systemen kontingent und eröffnet ebendadurch das Feld für pädagogi­ sche Kommunikation. Bei der Umstellung der pädagogischen Kommunika­ tion auf den Gebrauch eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums geht es nicht um den (mehr oder weniger vergeblichen) Zugriff auf das adressierte Be ­ wußtsein sondern um den besonderen Möglichkeitsraum für die strukturelle Koppelung von Bewußtsein und Kom­ 17 18 19

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Mehr zur Unterscheidung der Funktionen von Medium und Code dort und Anm. 52 S. u.a. Das Kind als Medium a.a.O. S.21f Deshalb läßt sich die Medium/Form-Unterscheidung im Medium der Wissenschaft für eine evolutionstheoretisch hierarchisierende Beschrei­ bung nutzen. Vgl. Das Kind als Medium a.a.O S.22 Vgl. LUHMANN, Das Kind als Medium a.a.O. S.23 f. S. meine Aus­ führungen zu den historisch-semantischen Ursprüngen der Unterschei­ dung zwischen Erwachsenen und Kindern im dritten Abschnitt.


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation munikation, der damit auf seiten der Gesellschaft eröffnet wird. 21 Diesbezüglich sind nun sachliche, soziale und zeitli­ che Aspekte zu unterscheiden. In der Sachdimension geht es um eine veränderte System-Umwelt-Konstellation der päd­ agogischen Kommunikation. Sie drückt sich aus in der Um­ stellung auf veränderte Inklusions- und Individualisierungs­ verhältnisse, die alteuropäische Perfektionsvorstellungen obsolet werden lassen. In der Sozialdimension geht es um eine veränderte Ego-Alter-Konstellation pädagogischer Kommunikation. Sie drückt sich aus in der Herstellung einer Sonderkonstellation, in der Egos Handeln an Alters Erleben anschließt und damit einen sanktionsfreien Raum für Alters Handeln schafft. In der Zeitdimension geht es um eine veränderte Vorher-Nachher-Konstellation pädagogi­ scher Kommunikation. Sie drückt sich aus in der Ablösung vom interaktiven Personbezug zugunsten einer Temporal­ struktur, die u.a. die schulische Organisation pädagogischer Kummunikation ermöglicht.

- Die System/Umwelt-Konstellation Kommunikationsmedien stellen semantische Errungen­ schaften dar, die spezifische Probleme der modernen Ge­ sellschaft verarbeiten.22 Historisch betrachtet können die semantischen Konstruktionen älter als das Problem (bzw. die funktionale Differenzierungsform der Gesellschaft) sein, auf das sie reagieren. Dies trifft nicht nur für die "klassi­ schen" Medien, das Wirtschaftsmedium Geld, das Politik­ medium Macht, das Wissenschaftsmedium Wahrheit, das Intimitätsmedium Liebe sondern auch für das Bildungsme­ dium Kindheit zu. Die historisch vorweglaufende Semantik stellt gewissermaßen den Variationspool für funk­ tionsspezifische Selektionen der gesellschaftlichen Kommu­ nikation und ihre Restabilisierung durch Ausdifferenzierung eines entsprechenden Funktionssystems dar. Eine Beschrei­ bung des spezifischen Problems, auf das die Gesellschaft mit der Evolution des Kommunikationsmediums reagiert, läßt sich aus der Semantik des Mediums nicht entnehmen. 21

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Ich betone, daß es nicht meine Absicht ist, von LUHMANNs Theorie­ konstruktion abzuweichen, wonach symbolisch generalisierte Medien funktionsspezifische Wirkungen allein in bezug auf Kommunikation (und nicht auf Bewußtsein) haben. Auch das Medium für pädagogische Kommunika tion sichert nichts als die operative Ge schlossenheit und Anschlußfähigkeit pädagogischer Kommunikation. Im Hinblick auf Be ­ wußtsein selegiert es, wie alle Kommunikationsmedien, lediglich sym­ bolisch generalisierte Teilnahmemotive. Wenn pädagogische Kom­ munikation dennoch regelmä ßig (auch) intendierte Wirkungen zeitigt, dann führe ich dies nicht auf das Selektionspotential des symbolisch ge­ neralisierten Mediums zurück sondern auf ein Zusammenwirken evolu­ tionärer Mechanismen, das sich der pädagogischen Intention weitgehend entzieht. Es handelt sich um die Va riation, Selektion und Restabilisie ­ rung des Bewußtseins durch Medien. Der Einfluß der pädagogischen Kommu nikation beschränkt sich auf Selektionen, die einerseits schon Va riation (durch Mitteilungsmedien) und andererseits Restabilisierung des Bewußtseins (durch Wahrnehmungsmedien) voraussetzen. Der Ein ­ fluß der Medienevolution auf die strukturelle Koppelung von Kommu ­ nika tion und Bewußtsein kann hier nur angedeutet werden. Ich beziehe den Medienbegriff evolutionstheoretisch auf Operationen, die auf die Strukturen der Koppelung zwischen Organismus und Be wußtsein, Be ­ wußtsein und Kommunikation, funktional differenzierter Kommunikati­ on und Ge sellschaft einwirken. Der Medienbegriff wird dadurch tiefer­ gelegt als in der auf Techniken der Mitteilung bezogenen Medien­ forschung und auch als in der auf Strukturen der Kommu nikation bezo­ genen funktionalistischen Medientheorie. S. LUHMANN (1975) Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommu nikationsmedien, Soziologische Auf­ klärung Bd. 2, Opladen S.170-192; Ders. (1984) Soziale Systeme, S.222f

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Das liegt nicht nur an alteuropäischer Traditionsbelastung der Semantik sondern an der Funktion des Mediums selbst. Auch für das Bildungsmedium gilt, daß es sich nicht in der pädagogischen Kommunikation selbst beobachten und zu­ gleich als Medium der Problemverarbeitung fungieren kann. Die Kindheitssemantik kann ihre einheitsstiftende Funktion nur gewissermaßen blind erfüllen. Die Beobachtung des Mediums für pädagogische Kommunikation verlangt also einen nichtpädagogischen Beobachterstandpunkt.23 Im Anschluß an eine sozialwissenschaftlich einge­ führte Begrifflichkeit läßt sich das Problem zunächst auf folgende Formel bringen: Dissoziation von Sozialisation24 und Individuation des menschlichen Bewußtseins unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung der Gesell­ schaft.25 System- und evolutionstheoretisch betrachtet han­ delt es sich um ein Problem der Coevolution verschiedenar­ tiger, operativ geschlossener Systeme - hier organischer, psychischer und sozialer Systeme - die die strukturelle Koppelung26 von Individual- und Gat tungsexistenz beim Menschen gewährleisten. Zur Beschreibung der Mechanis­

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Dieser Standpunkt muß nicht im Wissenschaftssystem, er kann auch im Wirtschaftssystem, im Familiensystem o.a. liegen. Allerdings kann eine Beschreibung des Problems, das der Evolution des Mediums und seinem Ein bau im Funktionssystem zugrundeliegt, nur aus der Beobachtung der Gesellschaft, der evoluierten Differenzierungsform und ihrer Folgen im Funktionssystem und in seiner Umwelt vollzogen werden, Zumindest auf den ersten Teil dieser Beobachtungsaufgabe hat sich im Wissen­ schaftssystem die Soziologie spezialisiert. Zum Stichwort Sozialisation in diesem Kontext: Der aus der sozio­ logischen Theorietradition stammende Begriff der Sozialisation ist ein fortgeschrittenes Konstrukt jener milieutheoretischen Wende, worin das menschliche Bewußtsein nicht mehr vorrangig durch seine - göttlichen oder natürlichen - Anlagen sondern vorrangig durch sein Verhältnis zur sozialen Umwelt bestimmt erscheint. Explizit zielt der Be griff darauf, die Einheit der Differenz von (insbesondere pädagogisch) intendierten und nichtintendierten Wirkungen auf Be wußtsein zu rekonstruieren. Wie diese Wirkungen im Bewußtsein selbst zustandekommen, in teressiert die Sozialisationstheorie gewöhnlich nicht mehr. Diese Aufklärung wird an die Psychologie delegiert. Das Beobachterproblem des soziologischen Sozialisationsbegriffs besteht wohl darin, einen (wie rudimentär auch immer entwicke lten) Zusammenhang des Bewußtseins unterstellen zu müssen, der sich von seiner Umwelt unterscheidet, bevor es sozialen Wirkungen ausgesetzt ist und andererseits alle Be wußtseinsentwicklung aus sozialen Wirkungen abzuleiten. Die moderne Entwick­ lungspsychologie hat (entgegen den milieudeterministischen Anfängen) viele Argumente dafür zusammengetragen, die Öffnung des men­ schlichen Bewußtseins für Lernprozesse als eine evolutionär besonders unwahrscheinliche Errungenschaft zu betrachten (die deshalb auch in hohem Maße störanfällig ist). Diese Relativierung kann wie derum zu der soziolo gischen Einsicht beitragen, daß die in der Alltagskommunikation verankerte - gewissermaßen kontrafaktische - Auffassung von der Um­ weltoffenheit des menschlichen Bewußtseins (in der Coevolution von psychischen und sozialen Systemen) selbst als Moment seiner Öffnung fungiert. Sozialisation und Individuation werden hier nicht als spezifisch moder­ ne Vorgänge aufgefaßt sondern als Operationen der strukturellen Koppe­ lung zwischen Einzelnem und Gesellschaft, die insoweit in allen Gesell­ schaften, ja sogar in Tiergesellschaften zwischen Einzelexemplar und Gattung zu beobachten sind. Freilich läßt sich in Tiergesellschaften nicht zwischen Sozialisation und Individuation unterscheiden, weil die Unter­ scheidung zwischen dem selbstreferentiellen Vorgang der Individuation und dem fremdreferentiellen Vorgang der Sozialisation eine erst auf der Ebene der Sinnevolution mögliche Reflexivität voraussetzt. Ich übernehme diesen Begriff aus der biologischen Theorie autopoieti­ scher Systeme von Maturana, ohne mich hier auf die (v.a. von Biologen bestrittene) Frage einzulassen, ob auch psychische und soziale Systeme als autopoietisch zu bezeichnen sind. Vgl. H.R. Maturana (1982) Erken­ nen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit: Ausgewähl­ te Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig, insbes, S.150ff, 251ff


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation men dieser Coevolution auf der Ebene der Sinnevolution27 bezeichne ich Operationen der strukturellen Koppelung zwi­ schen Individuum und Gesellschaft als Sozialisation und Individuation, soweit sie im psychischen System des Men­ schen ablaufen, und bezeichne sie als soziale Inklusion und Indivi dualisierung28, soweit sie im Gesellschaftssystem ablaufen. 29 Historisch betrachtet handelt es sich bei dem Problem der Dissoziation von Sozialisation und Individuation menschlichen Bewußtseins unter den Bedingungen funktio­ naler Differenzierung um ein Problem, das solange unbe­ achtet bleiben konnte, wie im Prozess der Ausdifferenzie­ rung der modernen Gesellschaft noch Ent­ wicklungsbedingungen für menschliches Bewußtsein in der ("ungleichzeitigen") Form tradierter (segmentär oder strati­ fikatorisch differenzierter) Subsysteme gegeben sind. Deren Koppelung an eine innergesellschaftliche Umwelt mit funk­ tionaler Differenzierung bleibt für das beteiligte Bewußtsein unauffällig und schlägt daher in der Ontogenese nicht durch. Das Problem, wird als Problem daher erst reflexiv und für die Selbstbeschreibung der Gesellschaft und insbe­ sondere des Bildungssystems relevant, wenn die So­ zialisations- und Individuationsbedingungen des Be­ wußtseins durch Formen der Inklusion und Individualisie­ rung der Kommunikation transformiert werden, die der funktionalen Differenzierungsform der Gesellschaft ent­ sprechen. Ebenso wie das Kommunikationsmedium für Intim­ kommunikation gehört das Medium für pädagogische Kommunikation in den Kontext der Soziogenese moderner Indivi dualität. Als semantische Evolution reagiert das Bil­ dungsmedium auf dieselbe gesellschaftliche Problemlage wie das Liebesmedium: auf gleichzeitige Zunahme persönli­ cher und unpersönlicher Beziehungen - oder anders be­ trachtet: auf die Kombination von Indivi dualisierung mit sozialer Teilinklusion. Der Individualisierungsprozeß selbst wird dadurch radikal verändert.30 Das Medium für pädago­ 27

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Die strukturelle Koppelung von Bewußtsein und Kommunikation läuft über die gemeinsame Er rungenschaft Sinn. Bewußtsein steuert zur Sinn­ evolution die primäre Wahrnehmung als symbolische Form im Medium der Koppelung von sensorischem Ereignis und neuronal gespeicherten Ereignissen bei. Kommunikation steuert zur Sinnevolution die Generali­ sierung symbolischer Formen im Medium der Koppelung von Wahr­ nehmu ngen mit externen Wahrnehmungsspeichern (mimisch-gestische Zeichen, Sprache, Schrift etc.) bei. Zum Begriff der Individualisierung vgl. LUHMANN (1989) Indiv i­ duum, Individualität, Individualis mus, in: Ge sellschaftsstruktur und Se­ mantik Bd.3 Frankf.M. S.149-258 - S. außerdem zu den Stichworten Individualismus und Individuation, sowie Individuum, Individualität die Beiträge im Historischen Wörterbuch der Philosophie a.a.O. Bd.3 S.289-323

gische Kommunikation hat deshalb funktional eine andere Stoßrichtung als das Liebesmedium. Nicht auf Ausdifferen­ zierung von hochindividualisierter Intimkommunikation sondern auf Teilnahme an unpersönlicher Kommunikation trotz Individualisierung. Bei Liebe handelt es sich um ein Medium (LUHMANN, 1982 S.21ff) das hochindividua­ lisierte und damit unwahrscheinliche Kommunikation gegen entsprechende Außendruck ermöglicht. Bei Bildung handelt es sich insofern um einen komplementären Fall als es darum geht, die Individualität der Person bei der Teilnahme an strukturell unpersönlicher (die Gesamtheit individuellen Erlebens nicht einschließender) Kommunikation zu er­ möglichen. Beide Medien setzen die Differenzierung zwi­ schen persönlicher und unpersönlicher Sphäre bereits vo r­ aus, und beide wirken asymmetrisch mit Bezug auf die Per­ sönlichkeit. Liebe steigert diese Differenz, indem sie intime Kommunikation ermöglicht. Bildung steigert sie, indem sie das Bewußtsein mit der Differenz zwischen persönlicher und unpersönlicher Kommunikation vertraut macht, also die Persönlichkeit gewissermaßen exklusiv entwickelt und auf multiple funktionale Inklusion vorbereitet. Aber wie ist das möglich? Gesucht werden evolutionär höchst unwahrscheinliche Be­ dingungen der Kommunikation, die dennoch eine strukturelle Koppelung der Kommunika tion mit Bewußtsein, also Sozia lisation und Individuation, ermöglichen. Inklusion unter den Bedingungen funktionaler Differenzie rung ist für die Person nur noch Teilinklu­ sion. Es gibt keine Inklusion der ganzen Person in ein Teilsystem der Gesellschaft mehr. Andererseits wird die Einheit der Person (als für Mitteilungen adressierbare Person) unabhängig von allen Teilinklusionen vorausgesetzt. Individualisierung wird also von Inklusion abgekoppelt. Es geht hier in der Sachdimension der pädagogischen Kommunika tion zunächst um eine Konstellation, die das gesellschaftlich Dissoziierte - die Bedingungen der Soziali­ sation und Individuation des Bewußtseins - thema tisch übergreift. Dies kann nur erreicht werden durch eine Kommunikation, die von der Selbständigkeit und Offenheit des Bewußtseins aus geht, m.a.W. das sich entwickelnde Bewußtsein als ein System auffaßt, das mit selbst- und fremdreferentiellen Operations- und Beobach­ tungsmöglichkeiten ausge stattet ist. Pädagogische Kommunikation übergreift, indem sie ihr Thema in dieser Weise spezifiziert, Sy­ stem- und Umwelt referenzen und ermöglicht ihre Justierung auf die Kombination von systemischer Geschlossenheit mit Umweltof­ fenheit des Bewußtseins. In welcher Weise sich nun das Kommu­ nikationsmedium auf Öffnung des Bewußtseins und in welcher Weise auf dessen Schlie ßung bezieht, soll in den folgenden beiden Abschnitten noch genauer ausgeführt werden

- Die Ego/Alter-Konstellation Eine grundlegende Schwierigkeit in der Unterscheidung der pädagogischen Kommunikation bestand stets (und besteht wohl noch) in der naheliegenden Verkürzung auf Interven­ tionshandeln31. Pädagogik erscheint dann nur als eine Legi­

Zur Komplementarität der Operationen von Sozialisation und Inklusion s. LUHMANN, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wis­ senssoziologie der modernen Gesellschaft Bd.3, Kap. 3 Individuum, In­ dividualität, Individualismus, ..S.162f. Ich erweitere dies im folgenden Schema zur Bezeichnung der symb olischen Operationen bei der struktu­ rellen Koppelung von Individuum und Gesellschaft: Psych. System SozialSystem fremdref. Sozialisation Inklusion selbstref. Bewußtsein Kommunikation selbstref. Individuation Individualisierung fremdref. Vgl. das Schema in o.a. Anm. Individualisierung wird hier nicht i.S. pädagogischer Ganzheitsvorstellungen verstanden werden. Bei dieser Individualität handelt sich um eine eine soziale Konstruktion, die kei­ neswegs eine, wie immer zu beschreibende Ganzheit psychischer Re­

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gungen meint sondern eher eine einheitliche Adresse für alle sozialen Teilinklusionen. Es handelt sich um den Zwang, sich als Individuum gewissermaßen ohne soziales Netz (jenseits der zersplitterten Inklusion) auszuweisen. Mißverständlicherweise werden Indivi­ dualisierungstendenzen in der Moderne auch negativ wertend als "Ent­ fremdung" bezeichnet. Merkwürdigerweise ist dabei so etwas wie "Ent­ nähung" gemeint, Vgl. In dividualisierung von Jugend (1989) Hg. WILHELM HEITMEYER, THOMAS OLK, München. Im Gegensatz zu die ­ sem Sprachgebrauch hatte Hegel Entfremdung noch mit Bildung in Ve r­ bindung gebracht. S. Phänomenologie des Geistes, Werkausgabe 3, S.359ff. 31

Das gilt selbstverständlich auch dann, wenn es abgelehnt wird, wie in der sog. Antipädagogik.


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation timation für Machtausübung. Die pädagogische Erfahrung lehrt zwar, daß das Gelingen solcher Kommunikation unsi­ cher ist, weil die psychische Entwicklung, die beeinflußt werden soll, sich diesem kommunikativen Zugriff entweder entziehen kann oder - schlimmer noch - mit unerwünschten Folgeproblemen behaftet ist. Jedoch hat die pädagogische Reflexionstheorie offenkundig Schwierigkeiten, sich von Machtkommunikation nicht nur negativ sondern durch eine positive (und nicht paradoxierende) Beschreibung ihrer spezifischen Kulturtechnik abzugrenzen. Mithilfe der soziologischen Unterscheidung (LUHMANN, 1975, S.175) von Ego-Alter-Konstellationen der Kommunikation32 läßt sich zeigen, daß in der pädagogi­ schen Kommunikation eine Konstellation sich herauskristal­ lisiert hat, bei der nicht die dem Medium Macht ent­ sprechende Zurechnungskonstellation - sondern eher eine dem Kommunikationsmedium Liebe entsprechende Bezie­ hung zwischen den Beteiligten dominiert. Handelt es sich bei Macht um eine Konstellation, in der der An schluß der Kommunikation dadurch gewährleistet wird, daß Ego Handlungen vollzieht, die Al ters Handlungen festlegen, so geht es in der Liebeskommunikation um Handlungen, die an Alters Erleben anschließen. Auch in der pädagogischen Kommunikation handelt Ego mit pädagogisch relevanten Unterstellungen über Alters Erleben und nicht seinen Hand­ lungen. Wertbezogene Reflexionen der pädagogischen Se­ mantik verstehen sich daher auch häufig als Abgrenzung pädagogischer Kommunikation vom Typ der Machtkom­ munikation zugunsten der Liebeskommunikation.33 Dabei werden allerdings Aspekte der pädagogischen Kommunika­ 32

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s. LUHMANN u.a. in: Soziologische Aufklärung 2, S.175 Drei Konstellationen, in denen eher unpersönliche Lösungen für ko m­ munikative Probleme prozessiert werden, steht nur eine Konstellation gegenüber, in der personbezogene Lösungen für Kommunikati­ onsprobleme der Gesellschaft sich herauskristallisieren: 1. Ae -> Ee = Wahrheit, Wertbeziehungen 2. Ah -> Ee = Eigentum/Geld, Kunst 3. Ah -> Eh = Macht/Recht, 4. Ae -> Eh = Liebe, Bildung Konstellation 1 u 3 sind per se unpersönlich, weil es nur um die überein­ stimmenden Momente des Er lebens oder des Handelns unter Absehung von allen anderen, eben die Persönlichkeit von Ego und Alter auch tan­ gierenden Momenten geht. Konstellation 2 setzt zwar Individualität beim Handeln Alters voraus, jedoch kann auch hier der kommunikative Anschluß an Egos Erleben sich auf die im Handeln objektivierte Struk­ tur unter Absehung von allen anderen Aspekten der Persönlichkeit stüt­ zen. Weder das Verstehen der Privatinteressen des Eigentümers oder oder Verkäufers einer Ware noch der Ge nialität des Künstlers ist für das Zustandekommen der Kommunikation unabdingbar. Nur Konstellation 4 verlangt die prinzipiell uneingeschränkte Bereitschaft des handelnden Ego, sich auf die besondere Persönlichkeit bzw. Erlebensstruktur Alters einzu lassen. Wobei das Medium selbst im Alltag dann die Rezepte lie ­ fert, diesen Aufwand zu vereinfachen. In allen Konstellationen, in denen Alter (handelnd oder erlebend) an Egos Handlungen anschließt, liegt eine Koppelung von Inklusion mit (Teil-) Individualisierung vor, die auf eine Anonymisierung der Ko m­ mu nikation hin ausläuft. Daß eine Handlung dieser oder jener Person zu­ geschrieben wird, ist zwar nicht unerheblich für die Fortsetzung der Kommunikation. Jedoch kann die Handlung wahrgenommen und in ih­ rer symbolischen Bedeutung verstanden werden ohne Kenntnis (des Er­ lebens) der Person. Eine Individualisierung findet nur in bezug auf die symbolisch objektivierte Struktur der Handlungen und nicht in bezug auf die Person Alters statt. Auch der Anschluß von Erleben an Erle ben ist eine anonymisie rende Konstruktion, weil sie sich nicht auf die je in ­ dividuellen Inhalte des Erlebens sondern nur auf die Gemeinsamkeit der Wahrnehmungsmedien - der kognitiven Strukturen - stützt. Vgl. H. NOHL (6 1963) Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankf.M. - Zur psychoanalytischen Kritik des Lie ­ besmotivs in der Pädagogik vgl. schon BERNFELD (1926) a.a.O.

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tion in der Zeitdimension übersehen, die die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien trotz der identi­ schen Ego-Alter-Konstellation in der Sozialdimension un­ terscheiden.34 Es handelt sich bei der soziologischen Beschreibung von Ego-Alter-Konstellationen um Typisierungen in der Beschreibung kommunikativer Strukturen, deren wesentli­ che Aussage nicht darin besteht, daß alle empirisch vo r­ kommenden Kommunikationsereignisse sich stets einem (und nur einem) Feld in diesem Schema zuordnen lassen. Der evolutionäre Normalfall ist das ständige Oszillieren zwischen Egos bzw. Alters Erleben und Handeln.35 Die typisierte Einfachzuordnung ist vielmehr die Ausnahme, der evolutionäre Sonderfall, der allerdings in der funktionssy­ stemischen Kommunikation aufgrund der darin gegebenen Sonderbedingungen zur Regel, also für An­ schlußkommunikation erwartbar, gemacht wird. Soziale Systeme lassen sich u.a. darin unterscheiden, ob die Um­ welterwartungen, auf die sie primär reagieren, auf der Seite der beteiligten Personen oder anderer Sozialsysteme liegen (NEIDHART, 1979, S. 658). Dementsprechend läßt sich in der Entwicklung symbolisch generalisierter Kommunikati­ onsmedien eine generelle Differenzierung zwi schen Sol­ chen beobachten, die ihren evolutionären Ausgangspunkt in der Entwicklung von Funktionsbereichen haben, in denen unpersönliche Beziehungen dominieren36 wie im Falle der Wirtschaft, der Politik und des Rechts und Solchen, in de­ nen persönliche Beziehungen dominieren. Im Fall der Erste­ ren wird durch die Medienentwicklung - insbesondere dann durch die binäre Schematisierung des Codes - Un­ persönlichkeit, dh. zB. die Austauschbarkeit der Personen im Machtbereich oder in Geldgeschäften, noch gesteigert. Im anderen Falle wird offensichtlich umgekehrt proportio­ nal dazu die Abgrenzung von den Erwartungsstrukturen unpersönlicher Beziehungssysteme gesteigert. Zu den Letz­ teren ist auch das Medium für pädagogische Kommunikati­ on zu zählen. Es kristallisiert sich um jene kommunikativen Konstellationen zwischen Ego und Alter, in denen eine funktionsspezifische Festlegung auf die Indivi dualität des Erlebens von Alter gegeben ist. 34

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Es handelt sich um den Unterschied, der sich dann in der Codierung der Medien niederschlägt: im Falle des Bildungsmediums im primärcodier­ ten Gebrauch von Entwicklungs- also Zeitschemata. S. meine Ausf. im 3. Abschnitt Die Wahrnehmung eines Alter Ego wird von LUHMANN als eine Unterscheidung eingeführt, die sich zwingend aus der bloßen Teilnahme an Kommunikation ergibt, (S. LUHMANN: Wie ist Be wußtsein an Kommu nikation beteiligt? in: Materialität der Kommunikation, Hg. H.U. GUMBRECHT und K.L. PFEIFFER Frankf.M. 1988, S.898f). Je ­ de Teilnahme an Kommunikation setzt die Unterscheidung zwischen Information (Inhalten, Sachen, Objekten) und Mitteilung (adressierbaren Personen, Subjekten) im Be wußtsein des Teilnehmers voraus. Wer eine Informa tion nicht mitteilt, also an niemanden adressiert, kann auch nicht kommunizieren. Die dritte Operation, die zum Gelingen von Kom­ munikation gehört, nämlich das Verstehen, also die Annahme von seiten des Adressaten-Bewußtseins, ist bei der Konstitution des alter Ego eben­ falls bereits vorausgesetzt: als Adaptiertheit allen Bewußtseins für kommunika tive Angebote. Dies gilt für den normalen Verlauf. Die evo­ lutionäre Unwahrscheinlichkeit des Zustandekommens dieser Vor­ aussetzung auf dem jeweiligen Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Kommu nikation gehört nun allerdings zum Ausgangsproblem für päd­ agogische Kommunikation. Anstelle der Bezeichnung durch unpersönliche Beziehungen wäre es wohl treffender, diese Funktionssysteme durch die asymmetrischen Be­ ziehungen zwischen Organisationen (korporativen Akteuren) und Pers o­ nen ("natürlichen" Akteuren) zu charakterisieren. Vgl. J.S. Coleman, Die asymmetrische Gesellschaft. 1986


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation Pädagogische Kommunikation spezifiziert sich unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der Person dh. v.a. ihres Bewußtseins als kognitive oder motivationale Voraus­ setzung für Handlungsselektionen. Auch dort, wo es um Handlungen geht, die normalerweise der Person (i.S. der Verantwortlichkeit) zugerechnet würden, wird in der päd­ agogischen Sonderkommunikation diese Zurechnung relati­ viert und die konkrete Handlung auf die Entwicklung ihres Erlebens bezogen. Die kindlichen Handlungen werden - und zwar im Bewußtsein aller Beteiligten - uminterpretiert im Hinblick auf das zugrundeliegende Erleben. Damit werden sie desaktualisiert, aus der aktuellen Situationsrelevanz (Verantwortung der handelnden Person) herausgenommen und eher unspezifisch auf Zukunft (die zukünftige Ent­ wicklung des Bewußtseins der Person) bezogen.37 Die so­ ziale Besonderheit der pädagogischen Kommunikation kann also zunächst darin gesehen werden, daß regelmäßig eine Situation hergestellt wird, in der dem sich entwickelnden Bewußtsein mitgeteilt wird, daß es von sonst zu erwarten­ den Risiken der Kommunikation (teilweise oder ganz) frei­ gestellt ist. Verhaltensfehler des Kindes werden nicht sei­ nem Handeln sondern seinem Erleben zugerechnet, also am Entwicklungsstand seines Bewußtseins relativiert38. An die Stelle der sonst - in der jeweiligen Kommunikation, im jeweiligen Funktionssystem - zu erwartenden Sanktionen treten spezifisch pädagogische Sanktionen.39 Bei pädagogi­ schen Sanktionen werden nicht die Kindeshandlungen son­ dern seine Motive relevant. Im Hinblick auf die rasche Erkennbarkeit 40 symbolisch ge­ neralisierter Kommunika tion stützen sich die Kommunikationsme­ dien auf spezifische, gattungsgeschichtlich verankerte Me­ chanismen der Primärwahrnehmung. Diese symbiotischen Mecha­ nismen41 erleichtern die interaktive Verknüpfung von Alters Sele k­ 37

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tion mit Egos Motivation durch körperbezogene Wahrnehmungs­ muster. Auch diesbezüglich handelt es sich bei pädagogischer Kommunikation nicht um dasselbe Muster wie im Falle der Lie­ beskommunikation. Die pädagogische Kommunikation kann zur Überwindung ihrer eigenen evolutionären Unwahrscheinlichkeit in dieser Hinsicht auf jenen gattungsgeschichtlich verankerten Me­ chanismus zurückgreifen, der in der Aggressionshemmung zwi­ schen älteren und jüngeren Lebe wesen derselben Spezies be steht. Zu den gattungsgeschichtlichen Grundlagen der aggressionshem­ menden Ego/Alter-Konstellation gehören einerseits das lange Nesthockertum aller höheren Arten42 und andererseits artspezifi­ sche Wahrnehmungsmechanismen, die an be stimmte körperliche Merkmale des Nachwuchses gebunden sind. Sie betreffen das Verhält nis zwischen Kopf- und Körpergröße, das sogenannte Kindchenschema; hinzukommen akustische Signale (Tonhöhe, Singsang) u.a. im Umgang mit Kindern. 43 Pädagogische Kommunikation hat keinen Zugang zu dem Bewußtsein, auf das sie sich bezieht. Daher wurde in alt herge­ brachter Manier stets der Körper als Geisel genommen. Die päd­ agogische Wende, die die gattungspezifische Errungenschaft der Aggressionshemmung pädagogisch rekonstruiert, liegt deshalb zunächst in der Ta buierung von Körperstrafen.44 Bei der Beschrei­ bung des symbiotischen Mechanismus des Bildungsme diums muß davon ausgegangen werden, daß die natür liche (motorische) Ag­ gressivität der Jüngeren normalerweise nicht auf die Toleranz der Älteren stößt, wenn dabei sozial evoluierte Verhaltensstandards verletzt werden. Aggressivität der Älteren gegenüber Jüngeren ist beim Menschen sogar in höherem Maße entwickelt als bei ver­ gleichbaren Lebewesen. 45 Der Vergleich mit gattungsge schichtlich wird zugleich die Ein heit der Differenz von Sinnsystemen und orga­ nisch-physischer Umwelt beobachtet. Handeln und Erle ben enthalten je verschiedene sinnhafte Referenz auf den "eigenen" Organismus als Me­ dium sinnhafter Wahrnehmung. 42

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LUHMANN sieht diese Konstellation (in: Soziologische. Aufklärung 3, Erleben und Handeln, S. 77) für Erziehung ähnlich und doch im Hin ­ blick auf die Ausbildung eines Kommunikationsmediums spezifisch an­ ders: Eine Refle xion, die nicht auf Handlungen sondern auf Biographien zurechnet, müsse den "Zurechnungsschematismus von Erleben und Handeln unterlaufen...".Es sei "eine Besonderheit gerade des Erzie ­ hungssystems, die Differenz von Erleben und Handeln in der Schwebe lassen zu müssen, um deren kognitive Integration fördern zu können, ferner: beein flussen und entschuldigen zu müssen.." Wie dies möglich ist, sollen meine Ausführungen zur Primärcodierung des Mediums im nächsten Abschnitt zeigen. Dies dann im Rahmen der Sekundärcodierung über pädagogisch ge­ rechtfertigte Selektionsentscheidungen - s. Ausf. im nächsten Abschnitt. Die generelle Frage, woran man pädagogische Kommunikation erkennt, verweist m.E. zunächst auf die mit der spezifischen Ego-AlterKonstellation verbundene Zurechnung auf Erleben, also die pädagogi­ sche Aussetzung von Sanktionen für normabweichende Handlungen. Vgl. LUHMANN, Symbiotische Mechanismen. in: Soziologische Aufklärung 3 a.a.O. S.228) Die folgenden Hinweise auf den biologi­ schen Mechanismus der Agressionshemmung sollten nicht mißverstan­ den werden als anthropologische Konstante der pädagogischen Kommu ­ nikation. Gerade weil es in den Erwachsenen-Kind-Beziehungen der Moderne keine anthropologische Garantie für Aggressionsfreiheit gibt, wird der symbolische Einbau des gattungsgeschichtlich verankerten Me­ chanismus in das Kommunikationsmedium notwendig. Evolu ­ tionstheoretisch handelt es sich um den Rekurs symbolisch generalisier­ ter Kommunikation auf präsymbolische Errungenschaften der menschli­ chen Wahrnehmung. Die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit des Auseinanderziehens von Handeln und Erleben, wie es in den verschiedenen Ego-AlterKonstellationen der Kommunika tionsmedien vorliegt, läßt sich auf die allgemeinere Ebene der Unterscheidung von Operation und Beobach­ tung von Sinnsystemen zurückführen. Nur (selbst-)beobachtungsfähige Systeme können in diesem Sinne unterscheiden. Mit der Unterscheidung von Handeln und Erleben auf der Ebene kommunikativer Operationen

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Vgl. A.Montagu, 1984, Zum Kind reifen, Stuttgart a.a.O. in Weiterfüh­ rung der These vom Menschen als "sekundärem Nesthocker". PORTMANN (1964) Diesbez. Verarbeitungshinweise bei Parsons, Gesell­ schaften S.58 Vgl. K. Lorenz, Das sogenannte Böse, Kap.5-7 Kap.XI; –Lorenz be­ schreibt insbes. die Aggressionshemmung durch familiäre Bindung Sie wirkt - bei einigen Tiergattungen, keineswegs allen - zunächst im Ver­ hältnis der Eltern gegenüber dem Nachwuchs. Der Nachwuchs erhält somit einen gewissen Schutz vor durch "falsches" Verhalten ansonsten automatisch ausgelösten Aggressionshandlungen. Das gilt - in gewissen Grenzen - sogar, wenn der Nachwuchs seinerseits sich aggressiv gegen die Eltern verhält. Das Elternteil (Ego) bestimmt also sein Handeln be­ reits in einer - freilich hochschema tisierten - Projektion des Erlebens des Nachwuchses, worin Diesem sein Verhalten nicht nach dem üblichen Reiz-Reaktions-Schema zugerechnet wird. Lorenz zeigt an einem Bei­ spiel bei Vögeln, wie die durch das Verhalten dennoch ausgelöste Ag­ gressivität dann auf ein Ersatzobjekt umgelenkt werden muß. Der Nachwuchs wird über diesen Mechanismus vorübergehend von den Fol­ gen des eigenen Verhaltens freigestellt, wie ich das - funktional äquiva­ lent jedoch unter anderen Systemvoraussetzungen - als Wirkung des Mediums in der pädagogischen Kommunikation re konstruiere. - Ich muß an dieser Stelle allerdings darauf hinweisen, daß andere Ethologen genau an diesem Punkt von den Auffassungen von LORENZ abweichen. So versucht Norbert Bischoff (unter Hinweis auf BOWLBY und SEARS), herauszuarbeiten, daß der Mechanismus der Aggressions­ hemmung eher für den Typ der Partnerliebe gelte und das Bindungsver­ halten von Eltern gegenüber Kindern aus anderen Antrieben zu erklären sei. Vgl. Norbert Bischoff (1985) Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie, München, Zü­ rich Vg l. dazu den Hinweis auf v.Campe oben und Emil Durkheim, Erzie­ hung, Moral und Gesellschaft, Vorlesung an der Sorbonne 1902/1903 (1984) Frankf.M. S.199-243 Vgl. die neuerdings zunehmende Literatur über Kindesmißhandlungen. - Für die beim Menschen häufig zu beobachtenden Probleme der Ag­ gressivität zwischen Geschwistern, bzw. älteren und jüngeren Kindern, gibt es in der außermenschlichen Natur - wohl aufgrund der schnelleren Adoleszenz - keine Entsprechungen. Aggressivität der Älteren gegen­ über Jüngeren ist - wie die Psychoanalyse lehrt - gewissermaßen die (an den zivilisaorischen Standards gemssen) mißlingende Abwehrreaktion


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation älteren Mechanismen, namentlich den aus der Verhaltensethologie bekannten Ritualisierungen des Verhaltens zwischen Eltern und Nachwuchs, macht erkennbar, daß es sich bei der pädagogischen Semantik (insbesondere des "Kindgemäßen") selbst um eine ho­ chunwahrschein liche Form der Aggressionshemmung handelt. Die Ablösung des entsprechenden symbiotischen Mechanismus von der natürlichen Eltern-Kind-Beziehung und seine funktiona le Disponibilisierung für pädagogische Kommunikation erfolgt auf dem Wege der sozial erlaubten ("sublimen") Regression des höher entwickelten Bewußtseins von Alter auf Egos niedrigere Ent­ wicklungsstufe. 46

Im Bildungsmedium wird Alters Erleben wie im Falle des Liebesmediums zum Ausgangs- und Anschlußpunkt für Egos Handeln. Ego erscheint hier jedoch nicht als Teilneh­ mer an Intimkommunikation sondern mit einer Bil­ dungsofferte. Handelt es sich bei Liebe unmittelbar um Er­ möglichung persönlicher Kommunikation, so bei Bildung um deren Verwendung für die Stabi lisierung der Persönlich­ keit gegenüber - und mit Bezug auf - unpersönliche und funktionsspezifische Kommunikation. Der Unterschied zum Liebesmedium liegt allerdings nicht nur in jener einge­ bauten kognitiven Asymmetrie, die beim Erwachsenen und beim Kind jeweils ganz unterschiedliche Aus­ gangsleistungen verlangt, um Kommunikation zu ermögli­ chen.47 Der Unterschied liegt im wesentlichen in der tempo­ ralen Beschränkung, in der sich hier Ego handelnd auf Al­ ters Erleben einläßt. Er tut dies eben unter der Vorausset­ zung, daß Alter Kind ist (i.e.S. dann mit Bezug auf den Entwicklungsstand seines Bewußtseins) und signalisiert zugleich, daß dieser Status zeitlich beschränkt ist. Ein weiterer Unterschied liegt m.E. in der durch das Medium ermöglichten Verkettung von Kommunikation auf der Ebene von Sozialsystemen mit höherer temporaler Ko n­ tinuität als sie Interaktionssystemen eigen ist.48 Gesteuert des zivilisatorisch disziplinierten Bewußtseins gegenüber der Wieder­ kehr des Ve rdrängten angesichts des Verhaltens der Jüngeren. 46

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Vgl. Parsons, Gesellschaften "... diese »Permissivitäte Religionen in ihren Moralisierungsbestrebungen zurückgreifen. Zur immer möglichen Fehlentwicklung dieses Mechanismus in der pädagogischen Kommuni­ kation s. schon S. Bernfeld Sisyphos a.a.O. S.134-149

durch das Medium Liebe findet eine Verkettung der Ko m­ munikation in der Form von Freundschaft, Intimbeziehun­ gen, Familienbildung statt. Es handelt sich also um eine Kettenbildung in der Form des personzentrierten Sozialsy­ stems der Gruppe. Die durch das Bildungsmedium gesteuer­ te Kommunikation findet bekanntlich auch in Familien statt. Allerdings ist die durch das Medium ermöglichte Verket­ tung von Kommunikation nicht konstitutiv für die Bildung des personzentrierten Sozialsystems der Familie sondern weist über sie hinaus auf die unpersönliche Inklusion in verschiedenen Funktionssystemen der Gesellschaft49. Die medienspezifische Verkettung der Kommunikation findet hier in der Form der Schule als Organisation statt. Zwar findet pädagogische Kommunikation in der Schule auch auf der Ebene der persönlichen Interaktion - dort aber keines­ wegs ausschließlich medienspezifisch - statt. Erst im Rah­ men der (für Organisationssysteme typischen) loseren Kop­ pelung von Personen und Kommunikationstrukturen kann der medienspezifische Bezug auf die Inklusions- und Indi­ vidualisierungsbedingungen der Gesellschaft aufgenommen und in der Zeitdimension verarbeitet werden.

- Die Vorher/Nachher-Konstellation Die für die Moderne typische Differenzierung von sozialer Inklusion und Indivi dualisierung hat auf höchster Beobach­ terebene paradoxe Beschreibungen hervorgebracht. So fo­ mulierte Kant: "Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung" und nicht viel anders Hegel: "Der Mensch ist, was er sein soll, nur durch Bildung"50. Im Unterschied zur Philosophie kann die Pädagogik jedoch nicht davon absehen, daß der Mensch schon etwas ist, bevor er eine Erziehung oder Bildung genossen hat. Es wäre wenig er­ folgversprechend, wenn Pädagogen ihre Klienten mit der Formel ansprächen: "Ihr seid nur, was Ihr sein we rdet!" Oder - wie es im Alltag häufiger vorkommt - umgekehrt: "Ihr seid nicht, was Ihr sein sollt!" Ein Problem der pädago­ gischen Kommunikation besteht offenbar darin, ihre Mittei­

LUHMANN sieht den Unterschied einfach so: "während im Falle von Liebe das Handeln Egos so gewählt werden sollte, daß es das Erleben Alters bestätigt, muß es im Falle der Erziehung nicht auf Bestätigung sondern auf Korrektur abzielen." Das Kind als Medium, a.a.O. S. 29.Ich komme im folgenden Abschnitt unter temporalen Aspekten auf diesen Unterschied zurück, Für die folgende Argumentation ist Luhmanns theoretische Unterschei­ dung zwischen Interaktions- und Funktionsystemen der Gesellschaft wichtig, Kommunikationsmedien steuern zwar die jeweilige funktions­ systemische Kommunikation auf Interaktionsebene, jedoch bilden Inter­ aktionssysteme deshalb noch nicht Subsysteme des jeweiligen Funkti­ onssystems. Vgl. N.LUHMANN: Interaktion, Organisation, Gesell­ schaft, in: Ders. (1975) Soziolo gische Aufklärung 2, Westdt.Verlag Op ­ laden, S.9-20 Ich schließe mich darüberhinaus der Argumentation von Neidhardt und Tyrell an, die auf der intermediären Ebene temporal extendierter Sozial­ systeme neben dem von LUHMANN angeführten Typ des Organisati­ onssystems als weiteren eigenständigen Systemtyp die soziale Gruppe einfügen. S. F. Neidhardt, Das Innere System sozialer Gruppen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (1979) Jg.31, S.612ff; H.Tyrell (1983) Zwischen Interaktion und Organisation I: Gruppe als Systemtyp, S.75-87 sowie: Zwischen Interaktion und Organisation II: Familie als Gruppe, S.362-390 in: Gruppensoziologie, Sonderheft 25 der Kölner Zeitschrift für Soziolo gie und Sozialpsychologie, (1983) hg. von F.Neidhart, Opladen Wenn LUHMANN herausstellt, daß die Form der Organisation, also die anomysierende Form, den eigentlich neuen Typ eines zeitlich extendier­ ten Systemtyps darstellt, so ist zu ergänzen, daß die (printmedienabhän­ gige) Evolution dieses Typs die ältere Form der Gruppe ("Gemein ­

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schaft" etc.) nicht zum Verschwinden gebracht sondern ihr eine funkti­ onssystemisch spezifizierte Form zugewie sen hat. Diese läßt sich rekon­ struieren entlang der Unterscheidung personzentrierter und unper­ sönlicher Kommunikation, die durch die entsprechenden Kommu ­ nikationsmedien gesteuert wird. Aber weder Familie noch Schule sind Interaktionssysteme. Sie enthalten in verketteter Form (einerseits der Gruppe und andererseits der Organisation) auch mediengesteuerte Kommunikation auf Interaktionsebene. Deshalb können sich die Interak­ tionssysteme jeweils in ihrer Themen wahl von der Orientie rung am Kommunika tionsmedium lösen. 49

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So schon HEGEL: "Zunächst ist die Familie das substantielle Ganze, dem die Vorsorge für diese besondere Seite des Individuums sowohl in Rücksicht der Mittel und Geschicklichkeiten, um aus dem allgemeinen Vermö gen sich [etwas] erwerben zu können, als auch seiner Subsistenz und Versorgung im Falle eintre tender Unfähigkeit angehört. Die bürger­ liche Gesellschaft reißt aber das Individuum aus dieser Bande heraus, entfremdet dessen Glieder einander und anerkennt sie als selbständige Personen; ...So ist das Individuum Sohn der bürgerlichen Gesellschaft geworden,...Sie hat in diesem Charakter der allgemeinen Familie die Pflicht und das Recht gegen die Willkür und Zufälligkeit der Eltern, auf die Erziehung, insofern sie sich auf die Fähigkeit, Mitglied der Gesell­ schaft zu werden, bezieht, vornehmlich, wenn sie nicht von den Eltern selbst, sondern von anderen zu vollenden ist, Aufsicht und Einwirkung zu haben, - ingleichen, insofern gemeinsame Veranstaltungen dafür ge­ macht werden können, diese zu treffen." G.W.F. HEGEL (1970) Grund­ linien der Philosophie des Rechts, §§ 238,239, Werke 7 S.386f I.Kant: Vorlesung über Pädagogik, hg. F.Th.Rink. Akad.-A. 9,443; Hegel, Werke, hg. Glockner 10, 94


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lungen überhaupt so zu formulieren, daß die Adressaten sich nicht diskriminiert fühlen. Auch für die Kommunikation im Bildungssystem gilt wie für alle funktionssystemische Kommunikation, daß sie als solche nur eine Teilinklusion im jeweiligen Funktions­ system der Gesellschaft bewirkt, in der Art der Adressie­ rung der Person also keine Rückmeldung darüber enthält, wie diese Person sich jenseits der jeweiligen Teilinklusion zu orientieren habe. In der Ego/Alter-Konstellation der personzentrierten Medien der pädagogischen Kommunika­ tion und der Intimkommunikation liegt nun (wie oben ge­ zeigt) eine Koppelung von Inklusion mit Individualisierung vor, in der der Adressat der Mitteilung nicht nur als Person identifiziert wird, sondern von seiner jeweiligen Erlebens­ struktur her verstanden werden soll. Eine individuelle Struk­ tur des Erlebens - wie immer sie zustande gekommen sein mag - muß also in jeder Mitteilung schon unterstellt werden können. Die Besonderheit des Bildungsmediums besteht of­ fenbar darin, die individuelle Erlebensstruktur des Anderen nicht bloß wechselseitig51 wahrzunehmen, sondern gerade auch die Asymmetrie in dieser Beziehung symbolisch ve r­ arbeiten zu können. Wie ist das möglich? Die Selektion pädagogischer Mitteilungen trifft zu­ nächst auf eine Motivlage, in der das kindliche Ego seine Individualität (sein Selbst) durch Identifikation mit dem eigenen Körper bestimmt. Das sich entwickelnde Bewußt­ sein gewinnt seine Einheit in der Zeitdimension in der strukturellen Koppelung mit dem jeweiligen Organismus. Die Gleichzeitigkeit (zwangsläufige Synchronisiertheit) der Operationen der verschiedenen Organsysteme bildet die Ausgangsbasis für jede Zeitwahrnehmung des Bewußtseins. In der Wahrnehmung des eigenen Körpers gewinnt das Be­ wußtsein temporalen Halt. Man wacht jeden Tag mehr oder weniger mit dem selben Körper wieder auf. Man erinnert "sich" und entwickelt (wie rudimentär auch immer) ein Selbstkonzept, das über Kommunikation (durch Inklusion und Individualisierung) allmählich angereichert wird. Ande­ rerseits bildet nun gerade die äußere Erscheinung des Kör­ pers des Kindes in der Zeitdimension - das Wachstum des Körpers, die Veränderung der mimisch-gestischen Aus­ drucksmöglichkeiten - den sinnlichen An haltspunkt für eine Kommunikation, die speziell auf Entwicklung konditioniert, indem sie zwischen der Aktualität des Kindes und der (darin eingeschlossenen) Aktualität seiner zukünftigen Möglich­ keiten unterscheidet. Weder anderes noch eigenes Bewußtsein ist sens o­ risch direkt wahrnehmbar. Die wechselseitige Wahrneh­ mung anderen Bewußtseins vollzieht sich als eine durch Kommunikation bestätigte Unterstellung, die ihre primären Anzeichen in der interaktiven Wahrnehmung des anderen Körpers (in seiner Gestik und Mimik, in der lautsprachli­ chen Symbolisierung) findet und die Selbstwahrnehmung reflexiv steigert. Diese Steigerung der Selbstwahrnehmung bleibt jedoch unter den Bedingungen mündlicher Mit­ teilungen prinzipiell beschränkt auf die symbolischen Gene­ ralisierungsmöglichkeiten, die durch die Gedächtnisleistun­ gen von Personen in der Interaktion zur Verfügung gestellt werden. Erst Schriftlichkeit der Mitteilungen und für die moderne Gesellschaft deren Verallgemeinerung durch Drucktechnik überwindet diese Schranken. Nicht nur die

Kommunikation sondern auch die entsprechende Selbst­ wahrnehmung der Beteiligten kann sich damit von der In­ teraktion unter Anwesenden lösen. Mit der temporalen Reichweite der Mitteilungen verändert sich der Zeithorizont in der Selbstwahrnehmung des Bewußtseins. Während die Individuation des Bewußtseins unter der Dominanz mündli­ cher Kommunikation sich v.a. als Einheit der Differenz zwischen der Aktualität des Bewußtseins und der Erinne­ rung an vergangene Ereignisse (Herkunftskonstruktionen) vollzieht, kommt mit den Schriftmedien ein symbolisch generalisierter Zukunftshorizont hinzu. Das individuelle Bewußtsein kann sich nun als prozessierende Einheit der Differenz seiner Festlegungen durch vergangene Ereignisse und seiner Möglichkeiten im Hinblick auf künftige Erei­ gnisse verstehen. Diese durch die Evolution der Mitteilungsmedien er­ wachsene Möglichkeit wird in der pädagogischen Kommu­ nikation auf zwei Ebenen aufgegriffen und funktionsspezi­ fisch verarbeitet: Auf der Ebene des Unterrichts werden dem Schüler die universellen Inklusionsmöglichkeiten der Gesellschaft qua Aneignung des gesellschaftlichen Wis­ sensbestands vorgeführt. Auf der Ebene der schulischen Organisation vollzieht sich eine Temporalisierung pädago­ gischer Kommunikation, die einer Individualisierung der Person im Zukunftsbezug vorarbeitet. Gerade weil die Welt nicht bloß qua Primärwahrnehmung des Bewußtseins kon­ struiert werden kann sondern in wachsendem Maße aus schon symbolisch generalisiertem Wissensvorrat nachkon­ struiert werden muß, ist das wahrnehmende Bewußtsein zur diesbezüglichen Reflexion seiner Wahrnehmungen ge­ zwungen. Bildungsprozesse sind Reflexionsprozesse des Bewußtseins.52 Das Bildungsmedium ermöglicht diese Reflexivität, indem es eine Kommunikation ermöglicht, die von den üblichen Handlungszwängen dispensiert und sie durch bildungssystemspezifische ersetzt. Als vorrangiges Bildungsmittel gilt seit jeher die me­ thodische Vermittlung der Schriftsprache ("Alphabetisie­ rung") 53. Die Umstellung der pädagogischen Kommunika­ tion auf schulisch organisierten Unterricht trägt dazu bei, die Wahrnehmung von Ereignissen zu synchronisieren, die in psychischen und sozialen Systemen prinzipiell, durch die Evolution der Mitteilungsmedien aber in gesteigertem Maße asynchron verläuft. Der Untericht ist nicht mehr an die zeitgleiche Produktion von Mitteilungen gebunden sondern ermöglicht die diachrone Weitergabe von Information unter Verwendung von Büchern als externen Speichern. Das Curriculum der Schule zielt auf eine Orientierung des sich entwickelnden Bewußtseins an der epochalen Ver­ vielfältigung und Heterogenisierung der Kommunikation, die mit der Verallgemeinerung der Schriftkultur seit der Er­ findung der Druckerpresse eingetreten ist. Man weiß ja, daß Individuationsprozesse des Bewußtseins unter diesen Be­ dingungen nicht mehr allein durch persönliche Interaktion unter Anwesenden (z.B. als Vater-Sohn-Kommunikation in

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S. zur Reziprozität des Persönlichkeitsbezugs im Liebesmedium, LUHMANN, Liebe als Passion a.a.O.S.29f.

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Vgl. die Definition von KLAFKI: "Bildung ist der Inbegriff von Vo r­ gängen, in denen sich die Inhalte einer dinglichen und geistigen Wirk­ lichkeit 'erschließen' und dieser Vorgang ist - von der anderen Seite her gesehen - nichts Anderes als das Sich-Erschließen bzw. Erschlossen­ werden eines Menschen für jene Inhalte und ihren Zusammenhang als Wirklichkeit." KLAFKI (1967) in: Der Erziehungs- und Bildungsbegriff im 20. Jahrhundert. Hg. E. WEBER (1969) Bad Heilbrunn, Obb.S.80 S. dazu ausführlicher LUHMANN, Das Kind als Medium der Erzie­ hung a.a.O. S.31


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der Familie) abgeschlossen werden können. Aber auch im schulischen Unterricht wird der gesellschaftliche Wissens­ bestand, der die Anschlußfähigkeit an etablierte Kommuni­ kationsstrukturen gewährleisten soll, nur vorgeführt. Die universellen Inklusionsmöglichkeiten der Kommunikation werden - wie häufig beklagt wird - nicht real vollzogen sondern nur thematisiert. Auch schulisch organisierte Kommunikation bleibt Spezialkommunikation, die nur eine Teilinklusion bewirkt. Wie ist es ihr dennoch möglich, da­ rüberhinausgehend Einfluß auf Individuation auszuüben?

zwi schen Gegenwart und Vergangenheit gewinnt, werden in der pädagogi schen Kommunikation einerseits durch metho­ dischen Einbezug der Schriftmedien erweiterte Mög­ lichkeiten geschaffen, seine Einheit als temporale Kontinui­ tät in die Zukunft zu projizieren und werden andererseits durch die temporalisierte Form der schulischen Organisa­ tion erweiterte Möglichkeiten geschaffen, die Selektivität pädagogischer Selektionsentscheidungen im Hinblick auf Individuationsprozesse reversibel zu hal ten.

Schulisch organisierter Unterricht besteht zwar zum gr oßen Teil aus Interaktion. Aber deren Funktion liegt hier weitgehend in der Stabilisierung der Motive für die Aufnahme der Unterrichtsin­ halte. Jenseits dieser Funktion hat sich die pädagogische Kommu­ nikation vom tradierten Personbezug - dh. sowohl von den persön­ lichen Absichten des Erziehers wie von der Wahr nehmung seiner Person als Vorbild durch den Zögling - längst abgekoppelt. Auf der Ebene der Organisation verändert sich die Form pädagogischer Mitteilungen: aktive Unterrichtsteilnahme sichert zukünf tige In­ klusionsmöglichkeiten. Diese Einsicht wird vermittelt durch ein Aufsteigen in Jahr gangsklassen, das fast automatischen Fortschritt signalisiert, und altersspezifisch zunehmend über Selektionsent­ scheidungen, die Berufs- und Lebenschancen vorwegnehmen. Die umfangreiche Literatur über Probleme der Sozialisation und Individuation (unter Bezug be reits auf frühkindliche Entwic k­ lung) ist auch ein Gradmesser für die epochale Transformation der Inklusion und Individualisierung unter den Bedingungen funktio­ naler Differenzierung der Gesellschaft. Dieser evolutionäre Pro­ zess führt - soweit sich dies heute absehen läßt - nicht zu einer (gewissermaßen ersatzlosen) Auflösung tradierter Formen der Inklusion und Individualisierung sondern zu deren funktionaler Respezifikation: An die Stelle der traditionellen Inklusion in Fami­ lien treten zunehmend individualisierte Eltern-Kind-Dyaden, die ebenfalls segmentär differenziert sind. Wenn Inklusion und Indivi­ dualisierung von stratifikatorischer auf funktionale Differenzie­ rung umgestellt werden, fällt schichtspezifische Sozialisation offenkundig nicht weg. Diese genügt aber nun nicht mehr, damit das sich entwickelnde Bewußtsein Anschluß an die evoluierten Strukturen der Kommunikation finden kann. An die Stelle der traditionellen Inklusion in sozialschichtspezifischen Le bensformen treten veränderte Statuszuweisungen, die ebenfalls stratifikatorisch differenzieren, aber zunehmend reversibel gehalten werden müs­ sen. Im Falle der schulischen Inklusion wird die Reversibilität in der altersspezifischen Organisation und in der pädagogischen Form der Selektion verankert.

3. Zur Codierung des Mediums

In der Temporaldimension erweist sich die Umstellung der pädagogischen Kommunikation auf Mediengebrauch in der spezifischen Weise, in der sie auf den Zeithorizont des sich entwickelnden Bewußtseins bezugnimmt. Die Adressierung pädagogischer Mitteilungen teilt sich auf in jene Person, die in der Interaktion anwesend ist und die das kommunikative Ereignis auch sofort im psychischen System verarbeiten kann, und eine in die Zukunft projizierte Person, die sich infolge der pädagogischen Kommunikation erst herausbil­ den soll (ohne daß diese Folgen durch die Kommunikation kontrollierbar wären). Pädagogische Kommunikation bietet also Inklusion sofort bei aufgeschobenen Folgen der Kom­ munikation für die individuelle Zuordnung im Gesell­ schaftssystem. Die pädagogische Kommunikation operiert ­ auf der sozialen Ebene abgesichert durch die Ego-AlterKonstellation - mit offenen Zukunftsbezug. Damit werden dem sich entwi ckelnden Bewußtsein des Kindes besondere Möglichkeiten der Sozialisation bei aufgeschobener Indivi­ duation (i.S. der Schließung des psychischen Systems ge­ genüber weiterem Lernen) eröffnet. Während das sich ent­ wickelnde Bewußtsein (spontan) seine Einheit als Differenz

Ich habe bisher versucht, die Umstellung der pädagogischen Kommunikation auf ein symbolisch generalisiertes Ko m­ munikationsmedium - zugespitzt auf die dafür typische Konstellation und unter weitgehender Abstraktion von der historisch-semantischen Entwicklung - zu beschreiben. Wie der pädagogisch angestrebte Zustand eines der funktionalen Differenzierungsstruktur angepaßten, individualisierten Be­ wußtseins erreicht werden kann, ist damit aber noch nicht hinreichend klargestellt. Das Bildungsmedium schreibt es ja in keiner Weise vor. Es regelt nicht den Abwei­ chungsspielraum von diesem Zustand, es legt weder Ziele noch Methoden der Bewußtseinsbeeinflussung fest. Deshalb kann unterschieden werden zwi schen dem Bildungsmedium Kindheit und pädagogischen Programmen. Um nun genauer zu klären, wie das Medium funktioniert, müssen weitere (von L UHMANN für die Analyse von Funktionssystemen eingeführte) Unterscheidungen aufgenommen werden. Zwi­ schen Medium und Programmen liegt die Ebene der Codie­ rung 54 des Mediums, ohne die alle Programme leerlaufen würden. Mediencodes legen nicht auf bestimmte gesell­ schaftliche Ziele fest. Das ist dann die Funktion codespezi­ fischer Programme, auf die hier nicht weiter einzugehen ist.55 In der historischen Entwicklung, die zur Herausbil­ dung eines Mediums für pädagogische Kommunikation geführt hat, ist eine allmähliche Auflösung der oben skiz­ zierten konkurrierenden Traditionen pädagogischer Seman­ tik zugunsten einer Differenzierung zwischen Erst- und Zweitcodierung des Bildungsmediums zu beobachten. In 54

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Die Funktion des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums liegt zunächst in der Unterscheidungsoperation, die die Struktur der Koppelung zwischen Bewußtsein und Kommunikation verändert und damit zur Verknüpfung zwischen Teilnehmer-Motivation und kommu ­ nikativ unwahrscheinlicher Selektion beiträgt. Die Funktion der Medi­ encodierung liegt hingegen in der technischen Vereinfachung des Me­ diengebrauchs innerhalb des Funktionssystems. Vgl. zur evolutionären Bedeutung von Mediencodierung S. LUHMANN, Das Kind als Medium der Erziehung, a.a.O. S.23. Ausführlicher zu dem dahinterstehenden Theorieprogramm s. Ders. "Distinctions di­ rectrices". Über Codierung von Semantiken und Systemen, Sonderband Kultursozio logie der Kölner Zeitschrift für Sozio logie und Sozial­ psychologie, S.145-161 Auf Programme - gewissermaßen das tägliche Brot pädagogischer Reflexionstheorien - gehe ich nicht weiter ein, da es hier darum geht, wie ein pädagogischer Mediencode beschrieben werden kann. Darin ist eingeschlossen die Frage, welche Voraussetzungen das Funktionieren der pädagogischen Programme überhaupt ermöglichen (oder nicht, wenn sie nicht passen). Die Differenz von Codierung und Programmierung er­ möglicht nach LUHMANN zugleich Geschlossenheit und Offenheit der Kommunikation. S. Ders. Codierung und Programmierung. S. 187, 198 Die evolutionäre Funktion der Programme liegt in der Va riation der pädagogischen Kommunikation. Die Selektionsfunktion liegt beim Me­ dium selbst. Die Restabilisierungsfunktion für diese unwahrscheinliche (und doch weltweit expandierende) Form der Kommunika tion kommt der Ausdifferenzierung des Funktionssystems selbst zu.


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation der Erstcodierung des Mediums werden die Aspekte der Selbst- und Fremdreferenz in der pädagogischen Vorstel­ lung von Bewußtseinsentwicklung kombiniert. Mit der Zweitcodierung des Bildungsmediums wird die Autonomie pädagogischer Kommunikation gegenüber den Einflüssen anderer Funktionssysteme gesichert. Meine diesbezügliche These ist, daß sich eine kulturtechnisch wirksame Codie­ rung des Mediums für pädagogische Kommunikation erst durchsetzen kann mit der Ablösung der pädagogischen Kommunikation von der Ebene der Interaktion zugunsten der Schule als Organisation. Das funktionale Äquivalent für die pädagogische Intention bildet auf Organisationsebene der Selektionscode. Anstelle der pädagogischen Intention tritt der Zweck der schulischen Organisation, dem Schüler zu einem Abschluß zu verhelfen. Deshalb ist es kein Zufall, daß der durchschlagende Erfolg der pädagogischen Selbst­ referenzsemantik (die sich im deutschen Sprachraum am Begriff der Bildung kristallisiert) seinen Ausgangspunkt bei den höheren Bildungsanstalten nimmt, die über Selektion mit Berufs- und Lebenschancen gekoppelt sind. Die Imple­ mentierung von Selektion in der schulischen Kommunikati­ on ermöglicht überhaupt erst die Autonomisierung der Schule als Organisation gegenüber den Organisationen anderer Funktionssysteme und schafft damit Voraussetzun­ gen für die we itere Ausdifferenzierung des Systems. Unter der Form (gewissermaßen dem Latenzschutz) der Bildungssemantik setzt dann eine Differenzierung zwi schen Erst- und Zweitcodierung des symbolisch generalisierten Mediums für pädagogische Kommunikation ein. Die evolutionäre Ausgangslage, in der sich spezifi­ sche Semantiken zu Kommunikationsmedien ve rdichten, kann im Europa des 18. Jahrhunderts angesetzt werden mit der technisch unterstützten Diversifikation einer Kommuni­ kation, die in ihren Wirkungen über die Interaktion unter Anwe senden hinauszielt (sei es mit Schrift, Gedrucktem oder neuerdings elektronischen Medien). Der historische Zeitpunkt, zu dem sich im Bildungswesen ein binär schema­ tisierter Primärcode durchsetzt, muß wohl - im Vergleich nicht nur mit anderen Funktionssystemen sondern auch mit der Etablierung eines funktionierenden Zweitcodes im Sy­ stem selbst - relativ spät angesetzt werden: Erst im zwan­ zigsten Jahrhundert und unter dem Druck der modernen Entwicklungspsychologie56 lösen sich die endlosen Präfe­ renzlisten pädagogischer Intention zugunsten einer "offe­ nen" (und daher alters- und situationsspezifisch ausleg­ baren) Idee der Entwicklung auf. Ich bezeichne den in diesem Kontext sich herausbil­ denden Primärcode der pädagogischen Kommunikation im Folgenden als Entwicklungscode (im Unterschied zu dem schon aus LUHMANNS Untersuchungen bekannten Selekti­ onscode, den ich als Zweitcode bezeichne). Es geht mir bei dem Hinweis auf den Einfluß der modernen Entwicklungs­ psychologie auf die Herausbildung des Entwicklungscodes im Bildungssystem - das muß an dieser Stelle betont werden - nicht um die Frage der wissenschaftlichen Wahrheit oder Richtigkeit der Auffassungen vom menschlichen Be­

wußtsein.57 Aus der Sicht der fortgeschrittenen Humanbio­ logie kann die Idee der Umweltoffenheit des menschlichen Bewußtseins sogar als eine kontrafaktische Idee bezeichnet werden.58 Es geht hier allein um die Beschreibung einer semantischen Evolution, über deren Richtigkeit ohnehin nur weitere Evolution entscheidet. Die semantischen Wurzeln der Entwicklung des Primärcodes lassen sich zumindest bis in die Anfänge der modernen Pädagogik im 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Diese Entwicklung soll im Folge nden skizziert werden, wobei v.a. deutlich werden soll, warum es solange gedauert hat bis zur Etablierung eines funktionsfä­ higen Primärcodes.

- Die Unterscheidung von Kindern und Erwachse­ nen Die Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern kann wohl als älteste semantische Form betrachtet werden, die zur Ausdifferenzierung des Bildungssystems beige­ tragen hat. Wie LUHMANN bezeichne ich die semantische Konstruktion der Kindheit als das symbolisch generalisierte Medium der pädagogischen Kommunikation. Ob es sich bei der Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen bereits um einen frühen Reflex der durch funktionale Diffe­ renzierung veränderten Inklusionsverhältnisse der Gesell­ schaft handelt, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls liegt die Eignung dieser Unterscheidung als Medium für pädago­ gische Kommunikation gerade in ihrer außerpädagogischen Herkunft. Es handelt sich ursprünglich um alter­ sunspezifisch ansetzende christliche Ideen, die im Ausgang des Mittelalters einerseits auf die Schaffung eines neuen Menschentyps ("alter und neuer Adam") zielten, anderer­ seits gerade die Simplizität des kindlichen Bewußtseins zum Vorbild erklärten.59 Vor jeder Mediatisierung für pädagogi­ sche Kommunikation ging es in dieser Unterscheidung um die besondere Empfänglichkeit des Kindes für die An­ wendung der christlichen Heilslehre.60 Die andere Seite 57

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Entwicklungspsychologische Konstruktionen dringen spätestens in der Mitte des 20. Jh. mit der verbreiteten Freud-Rezeption, in USA schon früher, in die Alltagsauffassungen ein.

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S. die Einwände gegen verbreitete Annahmen der Entwicklungspsycho­ logie bei Jerome Kagan (1987) Die Natur des Kindes, München, Zürich, insbes. zur Frage der Kontinuität S.110-159 Dies gilt v.a. angesichts der basalen, selbstreferentiellen Geschlossen­ heit der Operationen der neuronalen und cerebralen Systeme des Men­ schen, die mit der pädagogischen Idee der "Beschreibbarkeit" des Be­ wußtseins (s. mein Einstiegszitat) kaum zu vereinbaren ist. Diese Asso­ ziation steigert zunächst eher noch das Perfektionsstreben. Vgl. LUHMANN, Das Kind als Medium der Erziehung a.a.O. S. 27ff Zum Stichwort Kindheit s. den Beitrag von R. Mühlbauer im Histori­ schen Wörterbuch der Philo sophie Bd. 4 S. 827-834 "Für Descartes ist das K. ein Gegenstand des Erschreckens; denn daß der Mensch, ehe er Mensch wird, K. ist, ist das nicht aufzuhebende Unglück, durch das es dem Menschen fast unmöglich wird, sich je ganz zum reinen Menschsein, dh. zur vernünftigen Selbstbestimmung zu erheben." (830) Für F. Fénelon wird "das Spiel des K. zum Analogon der christlichen Existenz. «Zum K. werden» ist das Thema seiner geistlichen Lehre, «Simplicité» und Esprit d’enfance» sind die zentralen Be griffe. Der Ge ­ danke einer wiederzugewin nenden Naivität, der später bei Herder und Goethe eine so bedeutende Rolle spielt, hat hier, dh. in jener Spiritualität seine Wurzeln, in deren Tradition Fénelon selbst steht und die er zur Vollendung bringt: in der asketisch-mystischen Verehrung der Kindheit Jesu. Sie lenkte mit ihrer Betonung der menschlichen Einfalt als «Geist der Kindheit» die Aufmerksamkeit auf das K. selbst und wurde so zur unmittelbaren Vorbereitung jener «Entdeckung des K.», die in Rousseau ihren eigentlichen Urheber sieht."(830) Schon lange vor dem eingangs zitierten Jakobiner LEPELETIER for­ mulierte JOHN LOCKE: "Die winzigen, fast unmerklichen Ein drücke, die wir im zarten Kindesalter empfangen, haben sehr gewichtige und nachhaltige Folgen; auch dort braucht man wie beim Ursprung mancher


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation dieser Unterscheidung, der Erwachsenenstatus, blieb schon in der theologischen Reflexion eher unterbelichtet, da dies­ bezüglich wenig auszurichten war. Die in pädagogischen Reflexionstheorien (der bildungstheoretischen Tradition) anschließenden Versuche, Kindheit als Positivwert dem Er­ wachsensein gegenüberzustellen, blieben allerdings ebenso problematisch wie der aufklärungsorientierte Rekurs auf Erwachsensein als Positivwert für Kinder (in der erzie­ hungstheoretischen Tradition). Seit Freud weiß man, daß jeder Erwachsene seine Kindheit mit sich schleppt. In der pädagogischen Begeisterung über diese Entdeckung wollte man vergessen, daß die Semantik der Kindheit als ihren latenten Gegenpol auch immer das Erwachsensein mit sich schleppt.61 Die Verallgemeinerung der Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen ist - wie v.a. POSTMAN im Anschluß an ARIÉS gezeigt hat 62 - ein Resultat des Buch­ drucks. Die Semantik der Kindheit ist inzwi schen so tief in unserer Kultur verankert ist, daß ihr Charakter als soziales Konstrukt sich der Wahrnehmung im alltäglichen Gebrauch entzieht. Deshalb eignet sie sich als Medium für pädagogi­ sche Kommunikation. Sie ist jedoch als eine Unterschei­ dung, die sich auf außerpädagogische (organische und psy­ chische) Ereignisse bezieht, gerade nicht geeignet, zur we i­ teren Evolution des Mediums i.S. der kommunikationstech­ nischen Ausformung eines Mediencodes beizutragen.63 Die Herausbildung eines Mediencodes setzt voraus, daß beide Seiten der Unterscheidung als Codewerte frei zugänglich sind. Der pädagogische Gebrauch der Unterscheidung zwi­ schen Kindern und Erwachsenen kann nur zu einer Ko m­ munikation führen, in der sich Kinder und Erwachsene auf der jeweils anderen Seite einordnen und genau damit die freie Zugänglichkeit beider Seiten für eine Codierung des Bildungsmediums blockieren. Damit sich eine erfolg­ versprechende Primärcodierung des Bildungsmediums her­ ausbilden konnte, mußte die alltagssprachliche Unterschei­ dung zwischen Kind und Erwachsenem als bloßem Ge Flüsse nur leicht Hand anzule gen, um das formbare Wasser in Kanäle zu lenken, die sie einen ganz entgegengesetzten Verlauf nehmen lassen; und durch diese kleine Ausrichtung, die sie am Anfang, an der Quelle erhalten, nehmen sie verschiedene Richtungen an und münden schließ­ lich an weit voneinander entfernten Orten. Ich denke, daß der Geist der Kinder sich ebenso leicht wie das Wasser selbst in diese oder jene Rich­ tung lenken läßt." JOHN LOCKE, Gedanken über Erziehung, Leipzig (Reclam) 1920 (Zit. nach J. Kagan a.a.O S. 123 ) 61

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J.H. VAN DEN BERG (1960, S.21-50) hat wohl zuerst darauf hinge­ wiesen, daß sich hinter der pädagogischen Konstruktion der Kindheit die Reaktion der Gesellschaft auf einen veränderten Erwachsenenstatus ver­ birgt. S. NEIL POSTMAN, (1983) Das Verschwinden der Kindheit, Frankf. M. Vgl. LUHMANN, Das Kind als Medium der Erziehung. a.a.O. S.33 - POSTMAN macht die Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern v.a. am "Wissen" bzw. an den "Geheimnissen" fest, die durch die Litera ­ litätsschwelle altersabhängig vorenthalten und durch die neuen Bildme ­ dien wieder unspezifisch zugänglich würden. Abgesehen von dem psy­ chologischen Einwand, daß auch durch die neuen Medien altersabhängi­ ge kognitive Entwicklung nicht aufgehoben wird, übersieht Postman hier auch, daß der historisch-semantische Kern der pädagogischen Co­ dierung nicht im intendierten Nichtwissen (Schamgefühl, Geheimnisse etc.) sondern in der spezifischen Zurechnung von Handeln und Erleben liegt. Für die Zurechnung von Verantwortung für Handeln ist die Zu ­ rechnung von Wissen zwar ein notwendiger, keineswegs aber zurei­ chender Aspekt. Ich schließe mich hier LUHMANNs Aufassung an, daß die Semantik der Kindheit nicht codierbar ist, Dies schließt jedoch m.E. die Bildung eines Mediencodes im Bildungssystem nicht aus, Vgl. LUHMANN, Das Kind als Medium der Erziehung. a.a.O. S. 35

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gensatz pädagogisch aufgelöst, also die Einheit der Diffe­ renz unabhängig von ihren beiden Seiten kommunizierbar werden. Hier liegt zunächst die historische Funktion des Selektionscodes64, der die Ausdifferenzierung des Bildungs­ systems gegenüber der innergesellschaftlichen Umwelt, insbesondere den beiden großen Funktionssystemen der Politik und Wirtschaft, unterstützt. Mit dieser Differenzie­ rung wird es möglich, die bloße Differenz von Erwachse­ nem und Kind temporal auseinanderzuziehen zu einer ei­ genständigen Lebensphase.65 In der historischen Perspektive handelt es sich bei der Dissoziation von Sozialisations - und Individuationsprozes­ sen um ein Problem, das typischerweise gerade nicht zuerst in dem Bereich auftaucht, der alltagssprachlich als Kindheit bezeichnet wird. Das Problem wird vielmehr zuerst bemerkt auf der (pädagogisch latenten) andereren Seite der in der Kindheitssemantik enthaltenen Unterscheidung: dem Status des Erwachsenen (als Berufsrollenträger und Staatsbürger). Topographisch betrachtet finden die Veränderungen nicht zuerst im Leben des Kindes (der Orientierung des kindli­ chen Bewußtseins) zwischen Familie und Schule, sondern gewissermaßen an den Rändern des Systems, im Verhältnis zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem statt.66 On­ togenetisch betrachtet wirken sich die historisch veränderten Strukturen der Inklusion und Individualisierung nicht zuerst in der frühkindlichen Entwicklung sondern zuerst an den erwarteten Endpunkten der Entwicklung aus - und zwar als Korrektur der traditionellen Erwartung (an den Er­ wachsenenstatus) mit allmählich sich verstärkenden Rück­ wirkungen auf den vorhergehenden Bildungsprozeß.67

- Der Präferenzcode Anlage/Umwelt Als einen Indikator für die Evolution des Bildungsmediums habe ich die Ablösung der pädagogischen Kommunikation von den konkurrierenden semantischen Traditionen be­ zeichnet, worin das Kind entweder seine Natur selbstrefe­ rentiell entfaltet oder fremdreferentiell durch Gesellschaft "veredelt" wird. 68 Bei näherer Betrachtung dieses Ablöse­ prozesses zeigt sich allerdings keine direkte Entwicklungs­ linie zur kulturtechnischen Ausreifung eines Mediencodes. Es entsteht zunächst ein Präferenzcode, der die praktische Handhabbarkeit des Bildungsmediums solange nicht ent­ scheidend erhöht, wie die darin enthaltenen Präferenzen nicht austauschbar - sondern im Gegenteil sogar in hohem Maße wertbezogen wahrgenommen werden. Es handelt sich

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Ich beschränke im Folgendem meine Ausführungen zum Selektionsco­ de weitgehend darauf, seine Stellung als Zweitcode (dh. sein Verhältnis zum Entwicklungscode) zu klären. Seine Funktion und Wirkungsweise werden von LUHMANN ausführlich dargestellt in: Codierung und Pro­ grammierung, Bildung und Selektion im Erzie hungssystem, Soziologi­ sche Aufklärung 4, Opladen 1987, S. 187ff In diesem temporalen Auseinanderziehen der Differenz zum sozialen Moratorium (Jugend) ist auch schon die wesentliche Funktion des Ent­ wic klungscodes, also der Primärcodierung des Bildungsmediums zu er­ kennen. Diese Aspekte der Beschreibung des modernen Bildungssystems ­ insbesondere die historische Entwicklung der Leistungsbeziehungen zu anderen Funktionssystemen - können hier nur sehr verkürzt angedeutet werden. Ich nehme diesen Aspekt wieder auf im letzten Absatz bezüglich des Verhältnisses zwischen Erst- und Zweitcodierung. S. den ersten Abschnitt dieses Beitrags


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation um die Kontroverse über Anlage- und Umwelteinflüsse in der Entwicklung des Kindes. Die Ursprünge dieser Kontroverse liegen bereits in den romanti­ schen Gegenvor stellungen zur Moralpädagogik der Aufklärung. Hier wird mit ROUSSEAU die Vorstellung von Selbstentfaltung der Individualität auch gegen die Gesellschaft unter Bezug auf natürli­ che Anlagen gepflegt, während auf der anderen Seite mit LOCKE und KANT die Vorstellung der Erziehung des Menschen durch gesellschaftlichen Eingriff als Überwindung aller Naturgeschichte gefeiert wird. Beide Seiten gehen aus von alteuropäischen Perfek­ tibilitätsvorstellungen: die Eine arbeitet mit einer überhöhten Idee von der Natur des Menschen, die Andere mit einer überhöhten Idee von der Ge sellschaft. Das Anlage/Umwelt-Schema transfor­ miert die älteren Deutungsschemata i.S. einer "Entgeistigung" des Natur- bzw. Anlagenbegriffs und ebenso einer "Entgeistigung" des Umwelt begriffs. Die Aufklärungspädagogik kann sich nun da­ hingehend verstehen, die Perfektion nicht mehr im direkten Zugriff auf die Person (ihr Bewußtsein) sondern auf deren Umwelt zu suchen. Die romantische Gegenposition kann sich nun als Verte i­ digung der Autonomie der kindlichen Entwicklung gegen Um­ weltdetermination verstehen. Mit der Zurechnung der menschlichen Entwicklung auf An­ lage 69 oder Umwelt beginnt die Ablösung der Pädagogik von den Einflüssen der Religion, Politik, Wirtschaft, Familie etc. und die Autonomisierung als Funktionssystem. Andererseits wird die pädagogische Reflexion über Anlage- und Umwelteinflüsse in die politische Auseinandersetzung hineingezogen, je weniger es noch überzeugen kann, wenn mangelnde Perfektion der Individuen den Fesseln der tradierten Gesellschaftsordnung zugeschrieben wird. Auf der Umweltseite des Schemas können sich nunmehr die po­ litisch progressiven Intentionen der Pädagogik einordnen. Einer­ seits obliegt es nun der Pädagogik, perfekte Umweltbedingungen für Bewußtseinsentwicklung zu schaffen, andererseits kann sie sich von der gesteigerten Verantwortung dadurch entlasten, daß sie der innergesellschaftlichen Umwelt (Politik, Wirtschaft, Familie) vorwirft, sie daran zu hindern. Auf der Anlagenseite können sich

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Zum Stichwort Anlage, s. den Beitrag von J. Ritter aus dem Histori­ schen Wörterbuch der Philosophie, a.a.O. Bd. 1 S.322-325 Die ursprüngliche Bedeutung des Worts A. liegt - als Übersetzung von lat. dis positio - ganz im sozialen Be reich, als "Bezeichnung des planen­ den Entwurfs etwa eines künstlerischen Werks". Unter dem Einfluß von Leibniz bezeichnet das Wort noch Beides: "die angeborenen, von Natur gegebenen, aber auch die erworbenen Fähigkeiten und Möglichkeiten" von Menschen. Joh. Nic. Tetens spricht dann unter Hinweis auf Rous­ seau "von der als bestimmtem, das beim neugeborenen Kind, beim noch nicht, aber als in diesen ist." (S.322) Die Naturalisierung des A.begriffs erreicht ihre bis heute wirksame Ge ­ stalt bei Kant: Im Un terschied zur Tierwelt lasse sich das Ziel der Men­ schengattung "nicht a priori aus den uns von ihr bekannten Natur-A., sondern nur aus Erfahrung und Geschichte erschließen. Natur und Na­ tur-A. sind nur Voraussetzungen; der Mensch ist zwar durch seine «technisch» A. (zur «Handhabung der Sachen»), durch seine «pragma­ tische» («andere Menschen zu seinen Absichten geschickt zu brauchen») , durch seine mo ralische A. («nach dem Freiheitsprinzip unter Gesetzen ... zu handeln») von allen übrigen Lebewesen «kenntlich» unterschie­ den." Doch die "Kultivierung, Zivilisierung, Moralisierung schafft sich der Mensch nicht als Individuum, sondern als Gattung nur im Hinausge­ hen aus dem Naturzustande ... und im tätigen Kampf mit den «Hinder­ nissen, die ihm von der Rhheit seiner Natur anhängen», indem er sich den ihm selbst gegebenen Ge setzen unterwirft, sich so «veredelt» und zu einer bürgerlichen Verfassung als zu dem «höchsten Grad der künstli­ chen Steigerung der guten A. in der Menschengattung» erhebt."(S.323f) In dieser naturalisierten Fassung wird der Anlagebegriff in den Diszipli­ nen der Biologie, Physiologie und Psychologie angewendet auf Erbanla­ gen (insbesondere als Genkombinationen) und den Einflüssen der Um­ welt gegenübergestellt. Während sich die Naturwissenschaften zuneh­ mend mit den Wechselwirkungen von Anlage und Umwelt beschäftigen, bleibt die kontroverse Rezeption dieser Er kenntnisse in den sog. Ge i­ steswissenschaften noch lange Zeit fixiert auf eine kausaldeterminative Zurechnung der Entwicklung menschlicher Eigenschaften auf Anlage oder Umwelt.

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nunmehr die neukonserva tiven Intententionen (nicht nur) der Pädagogen einordnen, die tradierte Besitzstände durch Bildungs­ expansion gefährdet sehen. Man kann nun sagen, daß Denjenigen nicht zu helfen ist - ja durch pädagogische Eingriffe in seine Um­ welt sogar geschadet werden kann - denen die Anla gen für ent­ sprechende Bewußtseinsentwicklung fehlen. Allerdings wächst die Beweislast für die konservative Argumentation (bezüglich der Inflexibilität der Anlagen) dadurch, daß der Anlagebe griff na­ turalisiert (Differenzbegriff zur Gesellschaft) wird. Die konserva­ tive Position braucht (pseudo-)naturwissenschaftliche Fundierung ("Sozialdarwinismus") während die progressive Position sich zunächst auf die breite Verankerung von Milieutheorien in der Alltagskommunikation stützen kann. 70

In der Unterscheidung von Anlage und Umwelt als zwei Seiten, die beide an der Entwicklung von Bewußtsein beteiligt sind, kann der Beginn einer binären Codierung der pädagogischen Kommunikation gesehen werden. Aber beide Seiten blockieren sich durch die andauernde Wertkon­ troverse, in der die jeweils andere Seite der Differenz nur unter Einheitsgesichtspunkten wahrgenommen werden kann. Die Präferenzcodierung des Bildungsmediums zeigt eine Art Nullsummenspiel der entwicklungsrelevanten Fak­ toren: Je mehr Umweltfaktoren beschrieben we rden - und das ist der dominante Erkenntnisgewinn seit Beginn der Aufklärung - desto weniger können Anlagefaktoren im Spiel sein - und umgekehrt, wie dann die Gegenaufklärung meint. Eingeschlossen in diese Dichotomisierung ist die Annahme, daß Anlagefaktoren i.S. einer genetischen Mitgift bloß Konstanten der menschlichen Natur repräsentieren, während der Bezug auf Umwelt die Wandelbarkeit der men­ schlichen Natur, also alle seit Beginn der Moderne und speziell durch die Pädagogik hochbewerteten Eigenschaften repräsentiert. Dabei wird übersehen, daß auch die menschli­ che Lernfähigkeit, also Wandelbarkeit, Umweltoffenheit eine biologische Basis hat und somit gewissermaßen eine Konstante darstellt. Erst in jüngerer Zeit - wohl auch nur im Wissenschaftsbereich und kaum im Bildungssystem - kom­ men Vorstellungen auf, die Anlage- und Umweltfaktoren in der menschlichen Entwicklung nicht in einem Ausschlie­ ßungs- sondern eher in einem Steigerungsverhältnis sehen: Je mehr Anlagen, desto mehr Umwelt! Gerade seine Anla­ gen machen die Lernfähigkeit des Menschen aus.71 70

71

Eine weitere Erklärung für das Andauern dieses Streits in den Geistes­ und Sozialwissenschaften mag die Überlagerung mit der Unterscheidung von Herkunft und Leistung aus der bürgerlich-antifeudalen Revoluti­ onssemantik sein, die in der funktionalistischen Theorietradition noch als "ascribed vs. achieved" fortgeschrieben wird. Die Beobachtung von Anlagefaktoren kann als Le gitimationsmittel für herkunftsabhängige, die Beobachtung von Umweltfaktoren dagegen als Legitimation für lei­ stungsabhängige Selektion gewertet werden. In diesem Sinne muß wohl auch die latente Wertpräferenz für Umwelt (Kultur, therapeutischen Ein­ griff etc.) in der Sozialisationstheorie von Parsons gedeutet werden. Dieser Gedanke ist kompatibel mit der bei LUHMANN auf Sinnsy­ steme angewandten Konstruktion der Offenheit durch Geschlossenheit. Die Steigerung der Wahrnehmungsleistungen des Menschen im Ver­ gleich zu allen anderen Lebewesen beruht gerade auf seiner höheren Ge­ schlossenheit, der durch die Evolution des Hirns (und dann in Korre­ spondenz mit externen Speichern) ermöglichten Ablösung von der 1:1Beziehung seiner Wahrnehmung zu Umwelteindrücken. Vgl. E.W. COUNT, (1970) Das Biogramm, Anthropologische Studien, Frankf.M. : "Der Mensch unterscheidet sich von den anderen Wirbeltieren - genauer gesagt von den Alloprimaten - nicht durch magelnde Übereinstimmung mit dem Rahmenwerk des Bio gramms sondern durch den besonders rei­ chen Inhalt, den er in dieses eingefügt hat. Der Inhalt zeigt die Wirkung der Symbolbildung auf basalere psychoneurale Mechanismen, jedoch ohne daß diese Mechanismen zerstört werden. »Instinkte« sind im Men­ schen so vital und mächtig wie bei irgendeinem anderen Wirbeltier. Aber während seiner Phylogenese wurde etwas hinzugefügt. Diese The-


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation Der auf der Ebene pädagogischer Reflexion über Bil­ dungsprogramme ausgetragene Streit über Anlage- oder Umweltverursachung menschlicher Bewußtseinsentwick­ lung hat lange Zeit verdeckt daß es sich hier um eine prinzi­ piell unlösbare Kontroverse72 handelt. Solange jeweils die eine Seite der Differenz programmatisch gegen die Andere gekehrt wurde, konnte nicht gesehen werden, daß gerade die Einheit dieser Differenz einer adäquaten Beschreibung der Entwicklungsbedingungen menschlichen Bewußtseins zug­ rundezulegen wäre. Nun sind solche Beschreibungen, die in der neueren Entwicklungspsychologie, Ethologie und Hu­ manbiologie an Konturen gewinnen, wohl zu kompliziert, um direkten Einfluß auf die pädagogische Kommunikation zu gewinnen. 73 Für die Evolution des pädagogischen Medi­ encodes mag es genügt haben, daß zunehmende Ermüdung über die Dauerkontrove rse über Anlage oder Umwelt (oder wie auch immer quantifizierte Anteilsverteilung) den Platz geschaffen hat für eine diesbezüglich eher neutrale Ent­ wicklungsvorstellung. Nach der Ablösung des Anlagebegriffs aus der tra­ dierten Schöpfungslehre74 war es v.a. dessen Naturalisie­ rung als Verweis auf gesellschaftlich unbeeinflußbare Fak­ toren menschlicher Bewußtseinsentwicklung, der den Einen Sicherheit (vor zuviel Änderung) und den Anderen Skandal (wegen Unveränderlichkeit) bedeutete. Im um­ gangssprachlichen Kontext der Entwicklungsvorstellung verliert der Anlagebegriff seinen feststehenden Bezug auf Natur (als Differenzbegriff zur sozialen Umwelt des Kin­ des) und wird zu einer Formel für die Potentialität der Ent­ wicklung (i.S. von "Lernfähigkeit"). Anlage besagt also nicht viel mehr, als daß da etwas ist, das sich von der Um­ welt unterscheidet, das zur Person des Kindes gehört, ohne daß es schon "gebildet" wurde (sei es i.S. pädagogischer oder anderer Intentionen der Kommunikation). Anlage wird so zu einer Formel für die Selbstbezüglichkeit des kindli­ chen Bewußtseins (was immer an organischen Vorausset­ zungen noch dahinter stehen mag) wie Umwelt andererseits zur Formel für seine (soziale) Fremdbezüglichkeit wird. Damit entsteht - formelhaft verkürzt - eine für die pädagogi­ sche Kommunikation handhabbare Beschreibung der Ein­ heit des sich entwickelnden Bewußtseins. Zwar werden noch immer Kontroversen über Anlage- oder Umweltverur­ sachung in der Entwicklung des kindlichen Bewußtseins ausgetragen. Man kann aber auch sehen, daß diese Kontro­ verse kaum noch interessiert.75

- Der Entwicklungscode Weder moralische Perfektion noch Liebe zu Kindern, weder menschliche Nähe noch Weltoffenheit bilden den semanti­ schen Kern der funktionsspezifischen Codierung der päd­ agogischen Kommunikation. Das alles sind Bestandteile der pädagogischen Semantik, die auch in anderen sozialen Kon­ texten vorkommen. Zur Leitidee pädagogischer Ko mmuni­ kation im ausdifferenzierten Bildungssystem wird die Idee menschlicher Entwicklung (des Lernens schlechthin mit seinen Steigerungsformen wie "Lernen des Lernens"). Der semantische Gehalt des Entwicklungscodes ist nicht neu sondern eine Synthese pädagogischer Denktraditionen.76 Das Neue ist der Einbau dieser Semantik in einen binär schematisierten Code. Die alltagssprachliche Differenz77 zwischen Erwachsenem und Kind wird mit dieser Codie­ rung temporal auseinandergezogen zu einer eigenständigen Lebensphase und damit überhaupt erst pädagogisch bear­ beitbar. Dazu mußten zunächst die in der tradierten Semantik ent­ haltenen Wertpräferenzen abgebaut werden. Es handelt sich im wesentlichen um drei Vorstellungen über die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins, die in der fortgeschrittenen Semantik des Funktionssystems einer grundlegenden Revision unterliegen: 1. Die Vorstellung von der menschlichen Psyche als einer sub­ stantiellen Ein heit über alle Alterssstufen hinweg; 2. die Vorste l­ lung von der prinzipiellen Offenheit der menschlichen Psyche; und 3. die Vorstellung einer Determination der psychischen Ent­ wicklung durch die jeweils vorhergehenden, insbesondere die frühen Phasen.

Die Vorstellung einer substantiellen Einheit des menschlichen Bewußtseins geht wohl auf alteuropäische Vorstellungen von der menschlichen Seele zurück. Die Seele konnte gerade dadurch zur Identität beitragen, daß sie im Unterschied zum Leib nicht vergänglich war. Mit dem Zerfall religiös-transzendentaler Weltbilder mußte sich diese Vorstellung zugunsten des Anlage-Umwelt-Dualismus auflösen. Die Vorstellung von der Umweltoffenheit der menschlichen Psyche gehört zum Bestand der Aufklärungs­ pädagogik. Sie konkurriert mit der älteren - in romantischen 76

se ist etwas ganz anderes als die alte Anschauung, daß »Intelligenz« und »Lernen« den archaischen »Instinkt« verdrängt hätten.“ S.143. Ebenso argumnetiert K. LORENZ a.a.O. 72 73

74 75

Ähnlich dem Streit über Gleichheit und Freiheit als Le itideen der Politik Vgl. zuletzt noch mit deutlicher Umweltpräferenz, die von Heinrich Roth (1969) für den Deutschen Bildungsrat herausgegebene Aufsatzsammlung: Begabung und Lernen, Stuttgart Der in der Pädagogik bevorzugte Begriff der Begabung verrät diese Herkunft noch deutlicher: Nur ein Schöpfergott kann "begaben". Jedenfalls nicht als pädagogische Kontroverse - interessanterweise lösen aber auch spektakuläre Ergebnisse der neueren Zwillingsfor­ schung, die eine weithin unterschätzte Bedeutung von Anlagefaktoren zeigen, kaum noch Diskussionen jenseits des Wissenschaftssystems aus. S. u.a. Jerome Kagan (1987) Die Natur des Kindes, München, Zürich, Jens AsendorpF (1988) Keiner wie der Andere. Wie Persönlich­ keitsunterschiede entstehen, München, Zürich,

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Zur Geschichte des Entwicklungsbegriffs, s. die Beiträge von K. Wey­ and und G. Mühle, im Historischen Wörterbuch der Philosophie, a.a.O. Bd.2 S. 550-559. Vor Darwin war Entwicklung zunächst ganz i.S. der Entfaltung schon vorgegebener Anlagen verstanden worden. Seit Kant wird dann normativ zwischen der Entwicklung der Natur und beim Menschen unterschieden. Beim Menschen müßten mancherlei Keime und natürliche Anlagen bereit liegen, um gegelegentlich entweder aus­ gewickelt oder zurückgehalten zu werden.» (533). Die heutige Verwen­ dung des Entwic klungsbegriffs ist bestimmt durch die Ausein­ andersetzung mit Darwins Evolu tionstheorie und dh. v.a. mit der durch­ schlagenden Idee der Umwelteinflüsse. In der Entwicklungspsychologie wird die andauernde Kontroverse zwischen Nativismus und Empirismus ansatzweise überwunden durch PIAGETs kognitiven Konstruktivismus. Systemtheoretisch steht m.E. eine angemessene Beschreibung von Be­ wußtseinsentwicklung, die die Elemente der Kontinuität und Diskonti­ nuität angemessen relationiert, noch aus. –Irgendeine Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern gibt es - mit variie render Altersfestlegung - in allen Gesellschaften. Die hier relevante evolutionäre Errungenschaft liegt in der sozialen Form des Übergangs. Der ist in segmentären und traditionalen Gesellschaften weitgehend bestimmt durch einen einmaligen Akt der Kommunikation (Initiationsriten, Feste etc. wie sie heute noch nachwirken in Konfirma ­ tion, Ko mmunion etc.) Dagegen wird heute niemand aus dem Stichtag des Volljährigwerdens mehr als ironischerweise eine entsprechende Fei­ er mit der Unterstellung ma chen, daß mit diesem Tag eine andere Per­ sönlichkeit gegeben sei. Dazu ist unsere Kommunikation viel zu sehr schon psychologisiert, dh. sie referiert auf Bewußtseinsentwicklung und nicht auf den Akt der Kommunikation selbst.


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation Gegenvorstellungen wiederaufgenommenen - Vorstellung von der menschlichen Psyche als einer Pflanze, die alle Keime zur Entfaltung schon in sich enthält. Entsprechend wird entweder Anlagenarmut oder Anlagenreichtum die anthropologische Prämisse. Bei der Vorstellung einer Determination der psychischen Ent­ wicklung durch die je weils vorhergehenden, insbesondere die frühen Phasen handelt es sich um eine Weiterentwicklung milie u­ theoretischer Vorstellungen unter dem Einfluß der ent­ wicklungspsychologischer Ansätze im 20. Jahrhundert, die eine mehr oder weniger irreversible Abfolge in der Sequentialität ps y­ chischer Strukturen be haupten. Die Annahme der Offenheit (Pla­ stizität) psychischer Entwicklung wird durch die Strukturiertheit vorge gebner Entwicklungsstufen einge schränkt, zugleich aber die Bedeutung des Anfangs damit - jenseits aller pädagogischen Inter­ ventionsmöglichkeiten - immens gesteigert. Der Determinis mus dieser Entwicklungsstufenlehren ist von seiten der tradierten ge i­ steswissenschaftlichen Pädagogik zwar stets angegriffen worden, jedoch mit geringem Erfolg, solange das Funktionssystem selbst noch wenig ausdif ferenziert war. Erst auf der Grundlage einer relativ hohen Autonomie des Bildungssystems finden in der päd­ agogischen Bildungstheorie längst vorhandene Vorstellungen in der sozialstrukturellen Wirklichkeit Rückhalt, die mit größerer Kontingenz (anstelle des entwicklungs stufenspezifischen Deter­ minismus) ope rieren. 78 So zeigen sich Konturen eines Ent­ wicklungsmodells, das eher dem Stammbaum der Evolution äh­ nelt, worin neue Strukturen Vorausgehende zwar ersetzen (sie funktional ersetzen müssen), durch diese Voraussetzung jedoch keineswegs determiniert werden. 79

Unterhalb der Ebene pädagogischer Refle­ xionstheorien in den alltäglichen Operationen auf Interakti­ ons- und Organisationsebene des Bildungssystems hat sich ­ mit dem Binärschema des Selbst- und Fremdbezugs menschlichen Bewußtseins - eine wertneutrale Codierung der pädagogischen Kommunikation längst als notwendige Vereinfachung ihres Funktionierens durchgesetzt. Mit dem Auslaufen der Anlage-Umwelt-Kontroverse kann sich nun­ mehr - auch auf der Ebene der Reflexionstheorien - eine Pri­ märcodierung des Bildungsmediums etablieren, die tech­ nisch variabel wird für pädagogische Programmierung i.S. einer sachlichen, zeitlichen und sozialen Abstimmung der Kommunikation auf die jeweilige Situation des sich ent­ wickelnden Bewußtseins. Die Öffnung des menschlichen Bewußtseins für Um­ weltwahrnehmungen i.S. von Lernen ist gerade pädagogisch kein Wert an sich. Nicht minder wichtig ist seine selbstre­ ferentielle Geschlossenheit. Diese grundlegende Einsicht drückt sich im Binärschema des Entwicklungscodes als Selbst- und Fremdbezug des Bewußtseins aus. Ohne Selbst­ bezug keine Schließung, also kein System - ohne Fremdbe­ zug keine Öffnung, also keine Entwicklung, kein Lernen! Die binäre Codierung des Entwicklungscodes ermöglicht die lose (pädagogisch programmierbare) Koppelung von

78

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Diese Autonomiesteigerung v.a. gegenüber Einflüssen der Familie und des Wirtschaftssystems erfolgt durch die Bildungsreformen in der zwei­ ten Hälfte des 20. Jh. S. u.a. Kagan a.a.O S.158 - Es handelt sich im wesentlichen um Mo­ delle der neueren, auf der Beobachtung lebender Systeme aufbauenden Systemtheorie. Einerseits wird auch in diesen Modellen dem empi­ rischen Umstand Rechnung getragen, daß ein in der Evolution ein mal eingeschlagener Weg nur mehr schwer änderbar ist, andererseits die Kontingenz dadurch höher angesetzt, daß mit jeder neuen Entwicklung der Struktur des psychischen Systems - von einer Stufe zu reden würde bereits zuviel substantielle Einheit unterstellen - völlig neue, vorher nicht vorhandene Möglichkeiten der Weiterentwicklung erwachsen.

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Selbst- und Fremdreferenz des Bewußtseins, die wir in der Zeitdimension als Bildungsprozeß bezeichnen.80 Die Positivseite des Entwicklungscodes enthält die unspezifische Erwartung des Offenhaltens des Bewußtseins gegen (vorze itige) Schließung. Dies erscheint paradox, da Bewußtsein gerade durch seine systemische Geschlossenheit und dann stets nur selektiv Öffnung bewerkstelligen kann. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß diese Funktion des Codes nur wirksam werden kann durch den technisch entproble matisierten Übergang von Öffnung und Schlie­ ßung (Lernen/Nichtlernen) und duch die temporale Terminie rung der Lernanforderungen. Der in der Binärcodierung des Kommuni­ kationsmediums angelegte Übergang der pädagogischen Kommu­ nika tion von Lernen zu Nichtlernen darf nicht verwechselt werden mit den Öffnungs- und Schließungs funktionen psychischer Syste­ me. Für Bewußtseinsoperationen gilt, daß Öffnung nur auf der Basis selbstreferentiell geschlossener Verwendung von Sinn mög­ lich wird. Zwischen dem Sozialsystem, in dem der Entwicklungscode verwendet wird, und den teilnehmenden psychischen Systemen findet eine Interpenetration statt, in der wechselseitig bestimmte Komplexität zur Verfügung gestellt wird. Die in der päd­ agogischen Kommunikation selektiv eingebaute Erwartung an Lernen (Selbstveränderung des teilnehmenden Bewußtseins) stellt eine Gefährdung für die selbstreferentielle Geschlossenheit des Bewußtseins - und damit wiederum für seine Öffnung für weiteres Lernen - dar. Das lernende Bewußtsein signalisiert diese Ge­ fährdung (oder auch nur Ermüdung) und das codeverwendende System terminiert seine Lernerwartung. Um die Lernbereitschaft zu stabilisieren, muß Lernen (genauer: die kommunizierte Lerner­ wartung) terminiert und ein problemloser (instutionell geregelter, psychisch entlastender) Übergang zwischen Lernen und Nicht­ lernen geschaffen werden

Auch bei Verwendung des Mediencodes hält die päd­ agogische Kommunikation an ihrer Präferenz für Ent­ wicklung des Bewußtseins fest. Aber Bewußtseinsentwick­ lung ist kein Wert, aus dem sich Kriterien für pädagogisches Handeln ableiten lassen. Entwicklung ist nicht moralisch wertvoller als Nichtentwicklung des Bewußtseins. Nichtent­ wicklung i.S. von Lernhindernissen stellt überhaupt erst die pädagogische Herausforderung dar. Die pädagogische Rat­ geberliteratur handelt allein davon. Würden Probleme der Nichtentwicklung moralisch bewertet, wären sie pädago­ gisch nicht mehr behandelbar. Was in der pädagogischen Kommunikation richtig oder falsch ist, bestimmt die jewe i­ lige Programmierung des Entwicklungscodes. Aus der pro­ grammatischen Zuordnung der Codewerte (Selbst- versus Fremdbezug) kann zB. folgen, daß eine Kommunikation, die eben noch der Bewußtseinsentwicklung zu dienen schien, aus Gründen fortgeschrittener Entwicklung des Bewußtseins eine nicht mehr zumutbare Form der Komm­ munikation sein kann. Die Aufhebung tradierter Moralvorstellungen und die Ausdifferenzierung funktionssspezifischer Normen zeigt sich gerade im Verhältnis von Codierung und pädago­ gischer Programmierung. Aufgrund des Primärcodes gilt: 80

Vgl. meinen Hinweis auf KLAFKI und Bildungsprozesse als Reflexi­ onsprozesse des Bewußtseins (im 2, Abschnitt, Zeitdimension). Bildung realisiert die (unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung pro­ blematisch gewordene) Verknüpfung von Sozialisation und Individuati­ on in der Form einer Bewußtseinsentwicklung, in der die fremdreferen­ tiellen Wahrnehmungen zu reflexiv gesteigerter Selbstrefe renz des Be­ wußtseins führen. Eine detailliertere Analyse der Mechanismen der psychischen Entwick­ lung müßte zeigen, wie gerade die binäre Codierung des Bildungsmedi­ ums es dem Bewußtsein ermöglicht, die Probleme seiner Selbstreferen­ tialität (angesichts der Welt des Wissens) zu überwinden.


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation Du darfst tun, was Du willst - Dein Tun wird pädagogisch akzeptiert (Sonderinklusion) und nicht sanktioniert, die Folgen werden Dir nicht zugerechnet (aufgeschobene Indi­ vidualisierung). Aufgrund des Sekundärcodes gilt dann aber auch (abweichend von jeder Alltagsmoral): Du darfst Dir nicht helfen lassen und selbst nicht anderen Schülern helfen (weil das die individuelle Zurechenbarkeit der pädagogi­ schen Selektion infragestellt). Allgemeinere Bewertungs­ maßstäbe setzen innerhalb der pädagogi schen Kom­ munikation nur dort ein, wo die Codierung der pädagogi­ schen Kommunikation unterlaufen wird. Dh. im Falle des Entwicklungscodes, wenn das sich entwickelnde Bewußt­ sein des Kindes für andere als pädagogische Zwecke ge­ braucht wird, wenn also pädagogische Kommunikation vorgetäuscht wird, um Macht, Liebe, Geld o.a. zu erlangen.

- Der Zusammenhang von Erst- und Zweitcodie­ rung Aus dem Umstand, daß der Modernisierungsprozeß des Bildungswesens gewissermaßen von der Peripherie zum Zentrum des Systems (von den Selektionsentscheidungen der höheren Bildungsanstalten zu den Bildungs­ voraussetzungen Aller) voranschreitet, erklärt sich, daß in der Evolution des Mediums für pädagogische Kommunika­ tion zunächst die Technik der Selektion sich herausgeschält hat, während der dazugehörige Primärcode noch latent ­ durch pädagogische Kontroversen über Wertpräferenzen blockiert - blieb. Hieraus erklärt sich auch das unglückliche Bewußtsein der Pädagogen, worin einerseits die schulische Selektion nicht mit dem pädagogischen Selbstverständnis vereinbar (zumindest nicht zur Pädagogik i.e.S. zugehörig) und andererseits die emphatisch ve rstandene Pädagogik technisch so wenig handhabbar erscheint. Erst mit der Ve r­ allgemeinerung der Selektion (über tradierte sozialschicht­ spezifische Begrenzungen hinweg) und der damit ermö g­ lichten Stabilisierung des Systems als Funktionssystem läßt sich eine Ausreifung des Primärcodes beobachten, die dann der Selektion die Rolle eines Zweitcodes zuweist. Die Eingriffsorientierung81 der pädagogischen Kom­ munikation verschwindet nicht durch ihre Ablösung von den Perfektionsidealen der Aufklärungspädagogik. Sie ver­ lagert sich aber von der Ebene der pädagogischen In­ teraktion auf die Ebene der Organisation82 und wird dort unterstützt durch die Zweitcodierung des Kommunika­ tionsmediums als pädagogische Selektion.83 Der Möglich­ 81

82

83

–Es handelt sich hierbei jedoch nicht mehr um Eingriffe, wie sie der progressiven Pädagogik seit der Aufklärung vorschwebten, sondern um eine prinzipiell eher konservative Funktion - worauf schon S.Bernfeld hingewiesen hat (S. Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, zuerst 1926) Die Selektionsfunktion ähnelt auf der Ebene der Sinnevolution der variationsbeschränkenden Funktion des Ge npools in der biologi­ schen Evolu tion. LUHMANN hebt sicher zu Recht hervor, daß angesichts der Offenheit der Mitteilungsmedien - er bezieht sich v.a. auf Schriftmedien - alles Lernen in der Schule korrespondierende Lernverbote voraussetzt. (Vgl. Das Kind als Medium der Erziehung a.a.O. S. 33) Aber gerade diesbe­ züglich gerät die Selektionsfunktion des Mediums (in seiner schulischen Institutionalisierung) heute unter neuen evolutionären Druck angesichts der wachsenden Präferenz für elektronische Bilder verwendende Tele­ medien. Man wird im Folgenden unschwer die alte Fragestellung nach dem Verhältnis zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung wiedererken­ nen. Sie ist jedoch in dem hier skizzierten Verhältnis der Funktionen von Erst- und Zweitcodierung abgelöst von der Kontroverse zwischen Neu­

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keit nach kann zwar jede Kommunikation zur pädagogi­ schen Kommunikation gemacht werden und damit von den normalen Kommunikationsrisiken entkoppelte Entwick­ lungsmöglichkeiten des Bewußtseins bieten.84 Strukturell bietet die Gesellschaft aber im organisatorischen Rahmen des Bildungssystems stets nur eine beschränkte Auswahl von pädagogisierten Kommunikationsmöglichkeiten an. Dies hebt die Wirkungen des Entwicklungscodes auf der Ebene der pädagogischen Interaktion nicht auf. Allerdings werden diese Wirkungen respezifiziert auf der Ebene der organisationsspezifischen Programme des Systems. Die durch den Entwicklungscode gesteigerte Variationsbereit­ schaft des Bewußtseins wird - zu einem lebensgeschichtlich hinausgezögerten Zeitpunkt - durch den Selektionscode wieder begrenzt.85 Symbolisiert der Primärcode die unbegrenzten Möglic hkeiten menschlicher Entwicklung in der pädagogischen Kommunikation, so symbolisiert der Sekundärcode auf Organisationsebene fortla u­ fend das Ende dieser Möglichkeiten. Dies ist kein Widerspruch, denn der Selektionscode bezieht sich normalerweise nur auf be­ stimmte (curricular festgelegte) Aspekte der Be­ wußtseinsentwicklung und gerade nicht auf die Gesamtheit der Persönlichkeitsentwicklung. Wo das Mißverständnis (zB. durch moralische Interpretation der Noten von seiten der Eltern) entsteht (oder zB. durch sog. Gesamtnoten gefördert wird) daß eine schuli­ sche Bewertung auf die Ge samtpersönlichkeit bezogen wird, ist etwas in der Schullaufbahn schief gelaufen. Es handelt sich bei der Zweitcodierung des Bildungsmediums durch schulische Selektion um den pädagogisch institutionalisierten Vor griff auf jene Formen der multiplen Inklusion und Individualisierung, die dem sich ent­ wickelnden Bewußtsein von seiten der großen Funktionssysteme der Gesellschaft zugemutet werden. Diese Formen der Kommuni­ kation setzen aber auf der Seite des Bewußtseins der adressierten Person bereits eine Individuation voraus, die sich je nseits der Teilinklusionen behauptet, um der Zersplitterung der Adressen zu entgehen. Innerhalb des Bildungssystems gibt es keine nichtpädagogi­ schen Operationen. Alle kindlichen Bewußtseinsentwic klungen, die im Zusammenhang pädagogischer Kommunikation beobachtet werden - egal ob sie den Erwartungen entsprechen oder nicht ­ gelten als pädagogisch verursacht. Gerade deshalb ist es wichtig zu bemerken, daß weder die Individuen noch ihr Bewußtsein selbst Elemente des Systems sind. Sie sind für das System Umweltbe­ standteile, die zudem nur in temporal höchst vergänglic her Form mit dem System gekoppelt ist. Dieser Umstand wird in der schuli­ schen Organisation der pädagogischen Kommunikation insofern berücksichtigt, als sie die temporale Koppelung nicht allein dem Zufall der Operationen des Bewußtseins überläßt, das seine Auf­ merksamkeit stets auch anderen Dingen zuwenden kann. Im Un­ terschied zu der temporalen Unbestimmtheit des Primärcodes wird die pädagogische Kommunikation auf Organisationsebene tempo­ ral scharf markiert. Die Zumutung an Bewußtseinsentwicklung, die sich als Unterricht präsentiert, ist durch einen bestimmten

humanismus und Utilitarismus und damit offen für pädagogische Pro­ grammierung. 84

85

LUHMANN diskutiert derartige Medienentwicklungen im Anschluß an PARSONS unter dem Gesichtspunkt inflationärer vs. deflationärer Ten­ denzen. Im Falle des Bildungsmediums läßt sich der paradoxe Effekt beobachten, daß Pädagogen gerade mit Deflationsabsichten (pädagogi­ sche Kommunikation soll immer möglichst "lebensnah" sein!) zur Infla ­ tionierung i.S. der Pädagogisierung vieler Lebensbereiche beitragen. Vgl. LUHMANN, Codierung und Programmierung, in Soziologische Aufklärung 4 S.188f. Vgl. Burton R. Clark, Zur "Abkühlungs"-Funktion in den Institutionen höherer Bildung, in: Soziologie der Erziehung (1974) KLAUS HURRELMANN (Hg.) Weinheim und Basel, S.379­ 391


K.G.. Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung der pädagogischen Kommunikation Anfang und ein bestimmtes Ende terminiert. 86 Dies gilt sowohl für die tägliche Zeit wie für die Lebenszeit. Damit wird auch die pädagogische Verantwortung für die Bewußtseinsentwicklung beschränkt. Was im Elternhaus, was auf der Straße, was in den Öffentlic hkeitsmedien passiert, hat Folgen für Bewußt­ sentwicklung, die die pädagogische Kommunikation sich nicht zurechnen muß.

Der Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitcodierung des Bildungsmediums entzieht sich der Beobachtung auf Inter­ aktionsebene. Im Selbstve rständnis von Pädagogen, das sich emphatisch an der Interaktion orientiert, muß die Selektion als nicht zur pädagogischen Kommunikation gehörig inter­ pretiert werden. Die soziologische Beobachtung kann zwar zeigen, daß die pädagogische Autonomie gerade darauf basiert (bzw. anderenfalls verloren gehen kann) daß die Selektion im Bildungssystem stattfindet. Aber mit der von außen leicht nachvollziehbaren Einsicht in die Abhängigkeit von Selektionsentscheidungen gerät der Beobachter ebenso in Gefahr, den Zusammenhang von Erst- und Zweitcodie­ rung des Kommunikationsmediums und damit gerade das einheitsstiftende Moment aller systemspezifischen Opera­ tionen zu übersehen. In der Einheit der Differenz von Erst­ und Zweitcodierung des Bildungsmediums läßt sich eine evolutionär fortgeschrittene Lösung für das Problem der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins unter den Be­ dingungen funktionaler Differenzierung der Gesellschaft erkennen.

Literaturhinweise Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen (1989) Hg. von REINHART KOSELLECK, Stutt­ gart Die Bildung des Bürgers. Die Formierung der bürgerlichen Gesell­ schaft und die Ge bildeten im 18. Jahrhundert Hg. ULRICH HERRMANN , Weinheim, 1982 Der Erziehungs- und Bildungsbegriff im 20. Jahrhundert. Hg. E. WEBER Bad Heilbrunn, Obb. 1969 Erziehungsprogramme der Französischen Revolution. MIRABEAU, CONDORCET , LEPELETIER Eingeleitet und erläutert von ROBERT ALT , Berlin, Leipzig, 1949 Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch­ sozialen Sprache in Deutschland, Hg. von OTTO BRUNNER, WERNER CONZE, REINHARD KOSELLECK, Stuttgart 1972 ff Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hg. von H.J.RITTER, Darmstadt, 1971 ff Individualisierung von Jugend, Hg. WILHELM HEITMEYER, THOMAS OLK , München, 1989 KAGAN, JEROME: Die Natur des Kindes, München, Zürich, 1987 LORENZ , KONRAD: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Wien, 1963 LUHMANN, NIKLAS: Soziologische Aufklärung Bd. 2, Opladen, 1975 LUHMANN, NIKLAS: Soziologische Aufklärung 3, Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen, 1981 LUHMANN, NIKLAS: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimi­ tät, Frankf.M. 1982 LUHMANN, NIKLAS: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankf.M., 1984

86

Vgl. Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik. Hg. LUH­ mann und SCHORR, Frankf. M. 1990

18

LUHMANN, NIKLAS: Soziologische Aufklärung 4, Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen, 1987 LUHMANN, NIKLAS: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissens soziologie der modernen Gesellschaft Bd.3, Frankf. M. 1989 LUHMANN, NIKLAS: Das Kind als Medium der Erziehung, Zeit­ schrift für Pädagogik, Heft 1, 1991 LUHMANN, NIKLAS, SCHORR, KARL-EBERHARD: Reflexionsproble­ me im Erzie hungssystem, Stuttgart, 11979 MATURANA , H.R.: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit: Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epi­ stemologie, Braunschweig, 1982 MONTAGU, A.: Zum Kind reifen, Stuttgart, 1984 NEIDHARDT , F.: Das Innere System sozialer Gruppen, Kölner Zeitschrift für Soziolo gie und Sozialpsychologie, Jg.31, 1979 S.612ff P ARSONS, T.: Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Per­ spektiven, Frankf. M. 1975 Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie, Hg. von JÜRGEN OELKERS und HEINZ-ELMAR Tenorth, Weinheim und Basel, 1987 Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerli­ chen Erziehung, herausgegeben und eingeleitet von KATHARINA RUTSCHKY, Frankfurt, Berlin, Wien, 1977 Stichweh, Rudolf, 1991, Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung, in: Wissenschaft und Nati­ on, 1991, Hg. J.Fohrmann/W.Vosskamp, S. 99-112 TYRELL, H.: Zwischen Interaktion und Organisation I: Gruppe als Systemtyp, S.75-87 sowie: Zwischen Interaktion und Organi­ sation II: Familie als Gruppe, S.362-390 in: Gruppensoziolo­ gie, Sonderheft 25 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (1983) hg. von F.NEIDHART , Opladen, 1983 VAN DEN BERG, J.H.: Metabletica. Über die Wandlung des Men­ schen. Grundlinien einer historischen Psychologie, Göttingen, 1960 Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik. Hg. LUHMANN, NIKLAS und SCHORR, KARL-EBERHARD , Frankf. M. 1990

Taking NIKLAS LUHMANN'S sociological theory of functional systems in modern society as a theoretical basis I suggest some conceptual modific ations of his ana lysis of the educational system. I describe the change of pedagogic communication by using a symbolically generalized medium of communication in topical, social and temporal respect, and sketch the historical development of pedagogic semantics, which have led to the actual codification of this medium.


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