Kg 1992 erziehungmoderne

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DAS MODERNE IM ERZIEHUNGSVERSTÄNDNIS DER M ODERNEN GESELLSCHAFT Vorbemerkungen 1 Entfaltung der pädagogischen Paradoxie 2 Wildheitsangst und Disziplinierung 4 Permissivität und Regression 6 Kindheit als Medium8 Gewähren und Nichtgewähren 10 Erfolgssteuerung und Reflexion 12 Programme und Methoden 13 Internalisierung von Leistungserwartungen Förderung und Bewertung 16 Reputation und Reflexion 17 Reflexion der Modernität 19 Literatur 20

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Vorbemerkungen 1 Generationen moderner Pädagogen haben das pädagogische Handeln einer Tradition zugerechnet, deren Ursprung zwei Jahrtausende zurück liegt.2 Nicht nur die Bevorzugung altgriechischer Worte für die Selbstbezeichnung verweist hier auf Kontinuität. Auch im Generalthema des Kongresses der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften des Jahres 1992 wird Modernität eher als ein Problem der gesellschaftlichen Umwelt angesprochen, auf das die Päd­ agogik zu reagieren hat, indem sie ihr kontinuierliches Lei­ stungsangebot zur Verfügung stellt.3 Nur zögernd werden Ansätze der neueren Sozialgeschichtsschreibung zur Kennt­ nis genommen, in denen moderne Formen der pädago­ 1 Es handelt sich hier um die Textzusammenstellung für einen Vortrag, den ich am 10. November 1992 im Rahmen eines gesellschaftstheoretischen Colloquiums an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld gehalten habe. Die Vortragsreihe hatte zum Anlaß den 65. Geburtstag und die bevorstehende Emeritie rung von Niklas Luhmann. Die zum Vortrag vorgesehenen Textteile habe ich hervorgehoben durch 12 Punkt-Schrift. Bei den Passagen in 9 Punkt-Schrift handelt es sich um Erweiterungen und Erläuterungen von Theoriebezügen, die ich in Biele ­ feld nicht vorgetragen habe. Auch der Anmerkungsapparat enthält nicht nur die nötigen Quellenverweise sondern ist bepackt mit Hinweisen auf Themen und Theoriefragen, die ich an anderer Stelle weiterverfolgen möchte. 2 "Die Geschichte der Erziehung in der Antike ist für unsere moderne Kultur nicht gleichgültig: sie führt die unmittelbaren Ursprünge unserer eigenen erzieherischen Tradition vor Augen. Wir sind Graeco-Lateiner, alle Grundlagen unserer Zivilisation stammen von ihnen; und das trifft in besonderem Maß für unser Er ziehungssystem zu." Henri Iréné Mar­ rou: Geschichte der Erziehung im klassichen Altertum, München 1977 (1. Aufl. Paris 1948) - Auch Bernhard Schwenk beschreibt "jüdische und hellenistische Traditionen als Grundlage des neuzeitlichen Erzie ­ hungsbegriffs", (in "Pädagogische Grundbegriffe" Hg. D..Lenzen, Rein ­ bek b. Hamburg 1989 S.434ff) sieht dann aber eine Auflösung dieses Begriffs im 20. Jh. (S.437f) und verweist darauf, daß eine Neufassung "Teil der Selbstdefinition der Gesellschaft" sein müßte. 3 "Erziehungswissenschaft zwischen Modernisierung und Modernitätskri­ se" 13. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaf­ ten vom 16.-18. 3. 1992 in Berlin. Die Behauptung des o.a. Reflexions­ defizits ist natürlich nicht pauschal auf alle Beiträge des Kongresses zu bezie hen. Daß die Erziehungswissenschaften ihre eigene Modernitätsge­ bundenheit reflektieren, wird als Aufgabe durchaus formu liert, wenn­ gleich wenig ausgeführt. S. z.B. den Beitrag von D. Benner S. 5 des Ein ­ ladungsprospekts. Vgl. auch die diesbezüglichen Beiträge in: Aufklä ­ rung, Bildung und Öffentlichkeit. Pädagogische Beiträge zur Moderne. Hg. von Jürgen Oelkers, 28. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, Weinheim und Basel, 1992 sowie die nachfolgende Veröffentlichung: Begründungsformen der Pädagogik in der >Moderne<, Hg. D.Hoffmann, A.Langewand, C.Niemeyer (DSV) Weinheim, 1992

gischen Kommunikation von jenen Formen unterschieden werden, die in Europa vor dem 18. Jahrhundert dominierten. Ich beziehe mich hier vor allem auf die "Entdeckung" der Kindheit, mit der sich das moderne vom alteuropäischen Erziehungsverständnis abgrenzt.4 Allerdings sind auch die entsprechenden Rekonstruktionen der Historiker theoretisch unterbestimmt und ihre Einordnung in die Geschichte der modernen Gesellschaft kontrovers.5 Für die Analyse des pädagogischen Systems, das sich zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert in Europa entwickelt und seitdem weltweit ausgebreitet hat, gibt es bis heute keine theoretischen Be­ griffe, die an den Differenzierungsstand der modernen Ge ­ sellschaftstheorie anschließen.6 Im Anschluß an die Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns lassen sich drei Ebenen unterscheiden, die ver­ schiedene Umwelt-Bezüge des Bildungssystems repräsen­ tieren: 1. sein Bezug auf die Gesellschaft insgesamt auf der Funktionsebene, 2. sein Bezug auf andere Teilsysteme der Gesellschaft auf der Leistungsebene und 3. sein Bezug auf sich selbst als Einheit auf der Reflexionsebene.7 Allerdings genügt es in diesem Falle nicht, die selbstbezügliche Opera­ tionsweise des Funktionssystems von seinen innergesell­ schaftlichen Fremdbezügen8 zu unterscheiden. Zunächst muß auch geklärt werden, wie der Bezug auf menschliches Bewußtsein zu verstehen ist, der innerhalb der hier gewähl­ ten (systemtheoretischen) Prämissen für alle Kommunikati­ on einen Fremdbezug bildet, der für die pädagogische Kommunikation aber eine besondere Relevanz be sitzt. Sozialwissenschaftliche Beschreibungen des Bil­ dungssystems messen seine Modernität gewöhnlich an Mo­ dernisierungsanforderungen seiner Umwelt. So wird auf der Funktionsebene nach der Angemessenheit bestimmter Sy­ stemstrukturen (Binnendifferenzierung) für die Strukturen der modernen Gesellschaft gefragt und auf der Leistungs­ ebene nach geeigneten Programmen und Methoden. Das 4 Die diesbezüglich einflußreichste Arbeit s. Ph.Ariés, L'enfant et la vie familiale sous l'Ancien Régime, Paris 1960, dt. Geschichte der Kindheit, München,.1975 5 S. die wertungsbeladenen Divergenzen in der Deutung der historischen Vorgänge etwa bei Ariés und den Arbeiten von DeMause, Shorter an­ dererseits. S. schon die Kritik von G. Snyders an Ariés a.a.O. 1965 S. 22ff. 6 Ich beziehe mich hier v.a. auf die von Niklas Luhmann im Anschluß an Talcott Parsons ausgearbeitete Analyse der Moderne als funktional dif­ ferenzierter Gesellschaft. Als eine Art Zusammenfassung s. Luhmanns Vortrag vom Frankf. Soziologentag 1990 "Das Moderne der modernen Ge sellschaft". Luhmann selbst hat - in Kooperation mit K.E.Schorr - der Pädagogik aus gesellschaftstheoretischer Perspektive relativ viel Aufmerksamkeit ge­ widmet (auch im Vergleich zu den "Klassikern" mit Ausnahme viel­ leicht Durkheims und Parsons). Ich möchte mit diesem Beitrag allerdings dem bei Luhmann und Schorr immer wiederkehrenden Argument widersprechen, wonach das Er­ ziehungssystem allgemeine "Defizite" (gewissermaßen einen in seiner Struktur begründeten Modernisierungsrückstand) im Vergleich zu ande­ ren Funktionssystemen der modernen Gesellschaft aufweise, die zu ­ vom allgemeinen Muster der diesbez. Theoriekonstruktion Luhmanns ­ abweichenden Beschreibungen nötigten. S. die Argumente u.a. in Luh­ mann, 1987 In einem neueren Beitrag heißt es dazu: "Erziehung selbst kann nicht nach einem einfachen positiv/negativ-Schema etwa nach dem Muster gelungen/mißlungen strukturiert werden. Dafür ist der Be­ wertungshorizont zu komplex und vor allem der Individualisierungsgrad zu hoch, der in der modernen Gesellschaft unausweichlich konzediert werden muß. Man könnte auch sagen, daß die in anderen Funktionssy­ stemen mögliche Trennung von binärer Codierung und Programmierung hier nicht funktioniert." System und Absicht der Erziehung, a.a.O. S. 112 7 Vgl. die Unterscheidung von Funktion, Leistung und Reflexion bei Luh mann, zuletzt in Wissenschaft der Gesellschaft S. 635ff. und schon in: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem S.34 8 Auch die Reflexion läßt sich dazu zählen, insofern sie den Selbstbezug im Fremdbezug und damit einen besonders verwickelten Fall darstellt.


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft spezifisch Moderne im Selbstverständnis der pädagogischen Kommunikation kann allerdings aus der Beschreibung ihrer Funktionen und Leistungen nicht (und noch nicht einmal aus ihren Reflexionstheorien) erschlossen werden, solange die selbstbezüglich geschlossene (autopoietische) Operati­ onsweise des Systems dabei nicht beachtet wird. Der folgende Beitrag beschränkt sich weitgehend auf die Beschreibung typischer Grundoperationen des Bil­ dungssystems. Es geht zunächst darum, das funktionssy­ stemspezifische Medium zu beschreiben, in dem sich die Operationen des Systems als Formen der pädagogischen Kommunikation ausprägen. Mit der anschließenden Un­ terscheidung von drei Codierungen des Mediums soll die Einheit des Systems jenseits seiner verschiedenen Ausfor­ mungen deutlich gemacht werden. Und schließlich soll mit der Unterscheidung von Referenz- und Codierproblemen der pädagogischen Kommunikation eine heute mögliche Abstraktionsstufe der Reflexion (seiner Modernität) gezeigt werden.9 Im Hinblick auf detailliertere Ausführungen zum Bildungssystem der modernen Gesellschaft handelt es sich hierbei selbstverständlich nur um die Skizze eines Pro­ gramms.10 Entfaltung der pädagogischen Paradoxie Das gesellschaftliche Problem, das durch pädagogi­ sche Kommunikation bearbeitet wird, wird in sozi­ alwissenschaftlichen Untersuchungen häufig (zu) allgemein umschrieben mit der Frage, wie die für die gesellschaftliche Reproduktion benötigten Kenntnisse und Fähigkeiten im Generationswechsel reproduziert werden können. Die Tra­ dierung von Kenntnissen und Fertigkeiten kann allerdings auf sehr verschiedenartige Weise geschehen, und auch in der modernen Gesellschaft verdankt sich nur das Wenigste davon pädagogischen Operationen.11 Die pädagogische Theorie nimmt deshalb solche Außenbeschreibungen auch nur selektiv in ihre Selbstbeschreibungen des Systems auf, ohne sich darin irritieren zu lassen, daß sie das Wesentliche der pädagogischen Kommunikation nicht treffen. Irritieren­ 9 Diese Unterscheidung i.S. von Luhmanns programmatischer Formulie­ rung: "Diese Form (funktionale Differenzierung der Gesellschaft, K.G.) zwingt zur Trennung von Referenzpro blemen und Codierproblemen. Und aus dieser Trennung ergeben sich eben jene semantischen Experi­ mente, die mit Modernität assoziiert werden." Wissenschaft der Gesell­ schaft, S. 710 10 Noch dazu eines Programms, das in empirischer Hinsicht wenig kon ­ trolliert ist und - was die historischen und regionalen Voraussetzungen dieses Sozialsystems in der modernen Weltgesellschaft betrifft ­ offenkundig eher eine Nische beschreibt. 11 Diese Einsicht hat dann zu der Unterscheidung zwischen Erziehung und Sozialisation (oder ungenauer: zwischen funktionaler und persönlicher Erziehung) geführt, die aber auch nicht viel weiter hilft, wenn sich an­ schließend die Erzieher bloß als Sozialisationsagenten bezeichnen. Wenn das moderne Bildungssystem die Funktion übernimmt, (junge) Menschen dahingehend zu beeinflussen, daß sie sich die Fertigkeiten und Kenntnisse aneignen, die benötigt werden, damit die Gesellschaft im natürlichen Wechsel der Generationen ihre Strukturen reproduzieren kann (bzw. nicht allein aus diesem Grund schon Strukturbrüchen ausge­ setzt wird) so handelt es sich um eine Funktion, die wohl in allen Gesell­ schaftsformen zu allen Zeiten wahrgenommen werden mußte. Das mo­ derne Bildungssystem steht bei der Übernahme dieser Funktion aber kei­ neswegs konkurrenzlos da. Es konkurriert diesbezüglich mit den unge­ planten Sozialisationseffekten der verschiedensten Institutionen und ­ vor allem den neuen Medien - der Gesellschaft. Es muß die Konkurrenz in dieser Hinsicht aufnehmen, weil es seine eigene Autonomie gefährden würde, wenn es diese Funktion nicht wenigstens zu einem erheblichen Teil auch als Funktion des Bildungswesens, also als besser funktionie­ rend mittels pädagogischer Operationen, ausweisen könnte. S. meine Ausf. zu Leistungserwartungen unten.

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der für das Selbstverständnis der modernen Pädagogik sind da schon jene kritisch gemeinten Beschreibungen, die es für das Charakteristikum der modernen Pädagogik halten, daß sie in die Entwicklung von jungen Menschen eingreife, sie durch Bildung "veredeln" oder sich unterwerfen wolle. Der Vorwurf, daß die Pädagogik in die Autonomie von Men­ schen eingreife, läuft allerdings auf eine Tautologie hinaus. Er hält der Pädagogik ihren eigenen Anspruch vor, verdeckt aber zugleich alles, was die pädagogische Form des Ein­ griffs von anderen Formen unterscheidet. Seit mit der Ausdifferenzierung eines eigenständigen Funktionssystems für pädagogische Kommunikation eine institutionalisierte Form der Selbstbeobachtung dieses Sy­ stems einsetzte, ist die pädagogische Theoriebildung immer wieder auf ein Problem gestoßen: Wie ist es überhaupt möglich, pädagogisch erfolgreich zu handeln, wenn als Ziel dieses Handelns - i.S. der Grundpostulate der modernen Gesellschaft - die Autonomie des Zöglings zu gelten hat? Das Problem stellte sich - und stellt sich in gewisser Hin­ sicht bis heute12 - als moralisches Problem dar. Im Sinne des tradierten Erziehungsverständnisses13 geht es in der päd­ agogischen Kommunikation um gezielte Eingriffe in das Erleben und Handeln des Zöglings, aus moderner Sicht also um Autonomieverletzung. Da dies erklärtermaßen nicht der modernen Intention entspricht, bleibt als Paradox: daß durch Eingriffe in die Autonomie des Zöglings dessen Autonomie bewirkt werden soll. Die pädagogische Theorietradition hat die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit er­ folgreicher pädagogischer Kommunikation - angesichts der grundlegenden Paradoxie der Autonomie-Erziehung - zwar immer wieder gestellt. Sie hat sie aber gewöhnlich nur durch (tautologische) Umformulierungen beantwortet - etwa dahingehend, daß die Autonomie des Zöglings i.S einer kontrafaktischen Antezipation zu be handeln sei, die faktisch erst in der Zeit zu verwirklichen sei. Die erwähnten Reflexionsprobleme lassen sich zu­ rückbeziehen auf Eigentümlichkeiten der pädagogischen Kommunikation selbst. Bei aller in Funktionssystemen ausdifferenzierten Kommunikation der modernen Gesell­ schaft handelt es sich um - gewissermaßen technisierte Formen der Beobachtung zweiter Ordnung. Als Beobach­ tungen zweiter Ordung bezeichnet Luhmann Formen, in denen die bei aller menschlichen Kommunikation mitlau­ fende Selbstbeobachtung reflexiv geworden ist. Die Unter­ scheidung, die der Beobachter ve rwendet, um etwas in der Welt zu bezeichnen - zB. Lernerfolg oder -mißerfolg - wird nicht mehr naiv als eine Eigenschaft der Welt zugerechnet. Sie muß vielmehr dem Beobachter bzw. der Kommu­ nikation zugerechnet werden, die diese Unterscheidung ver­ wendet.14 Diese Zurechnung auf der Ebene der Beobach­ 12 S. z.B. Micha Brumlik, Advokatorische Ethik. Zur Legitimation päd ­ agogischer Eingriffe, Bielefeld, 1992 13 Im alteuropäisch-christlichen Verständnis bezog sich alle Erziehung auf Gott, und der strafende Gott war der eigentliche Erzieher. Vgl. Hi­ storisches Wörterbuch der Philosophie Bd.7 S.2. Eine Kommunikati­ onsweise, in der sich Menschen selbst als fortdauernd abhängig von ei­ nem allmächtigen Vater im Himmel verstehen, bietet natürlich bereits evolutionär unwahrscheinliche Beinflussungschancen des individuellen Verhaltens. Daher erscheint auch vor aller modernen (säkularisierten) Pädagogik Gott als Erzieher und alle Bildung als "Ein-Bildung" in das Bild Gottes. 14 Bei der Beschreibung dieser Beobachterverhältnisse (im Anschluß an den soziologischen Konstruktivismus Luhmanns) fällt es nicht immer leicht, die eigenen Unterscheidungen zu kontrollieren (und nicht mit All­ tagsintuitionen zu konfundieren). In Beobachtungen 1. Ordnung wird die Unterscheidung nicht reflexiv


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft tung zweiter Ordnung wird notwendig, weil moderne Funk­ tionssysteme sich nur anhand der eigentümlichen Weise, in der sie sich selbst und ihre Umwelt beobachten, von ihrer Umwelt unterscheiden lassen. Beobachter dieser Systeme ­ und alle Teilnehmer sind hier Beobachter - müssen sich an die bei allen Systemoperationen mitlaufende Unterschei­ dung halten, wenn sie an der entsprechenden Kommunikati­ on teilnehmen wollen. Wenn die systemspezifisch institu­ tionalisierten Unterscheidungen auf sich selbst angewandt werden, können Paradoxien und Tautologien auftreten, ohne daß dies die laufenden Operationen der pädagogischen Kommunikation stört. Gerade weil die pädagogische Kommunikation sich dadurch von anderer Kommunikation unterscheidet, daß sie sondern "blind" verwendet. Sie entzieht sich - zumindest im Akt der Be ­ obachtung - der Selbstbeobachtung. Alle Beobachtung, keineswegs bloß Alltagsbeobachtung, auch wissenschaftliche Beobachtung fängt so an. Und jede Beobachtung 2. Ordnung muß immer wieder auf die Ebene 1. Ordnung rekurrieren, in der Unterscheidungen blind verwendet werden. Blind heißt hier keineswegs, daß die Unterscheidung willkürlich einge­ führt wird. (Dies kann nur einem Beobachter dieser Beobachtung so er­ scheinen.) Es heißt vielmehr, daß die Unterscheidung der Welt zuge­ rechnet wird, auf die sich der Beobachter bezieht. Die Unterscheidung erscheint nur als eine Eigenschaft des Bezeichneten. Unterscheidung und Bezeichnung sind in der Operation der Be obachtung verschmolzen. In Beobachtungen 2. Ordnung werden Beobachtungen als Operationen der jeweiligen beobachtenden Systeme beobachtet, also reflexiv. In be­ zug auf die beobachtete Operation wird zwischen der Selbstreferentiali­ tät der Unterscheidung und der Fremdreferentialität der Bezeichnung unterschieden. Die Unterscheidung wird insofern kontingent, als sie nicht mehr der Welt sondern nur dem System zugerechnet wird, das sie verwendet. Diese Kontingenz auf der Ebene von Beobachtungen 2. Ord­ nung bedeutet jedoch nicht, daß die Unterscheidungen als beliebig aus­ tauschbar erscheinen. Da sich kein zwingendes Argument für die Über­ legenheit einer Beobachterposition finden läßt (und auch Beobachter 2. Ordnung mit der Latenz ihrer Ausgangsunterscheidungen leben müssen) können Beobachtungen nur aufgrund der evolutionären Bewährung ihrer Unterscheidungen unterschieden werden. (Was auch keine Garantie auf andauernde Bewährung impliziert.) Wenn ein Beobachter 2. Ord nung einen Beobachter 1. Ordnung (der er selbst sein kann) mithilfe der Un ­ terscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung (Selbst- und Fremd ­ referenz) beobachtet, wird es ihm möglich, die andere (vom Beobachter 1. Ordnung nicht bezeichnete) Seite der Unterscheidung zu re­ konstruieren und damit entsprechende Freiheitsgrade (aber auch Risiken der Verunsicherung) für anschließende Beobachtungen zu gewinnen. Beobachtungen 2. Ordnung, also Beobachtungen, die zwischen Selbst­ und Fremdreferenz unterscheiden und entsprechende Freiheitsgrade für evolutionär unwahrscheinliche Formen der Kommunikation eröffnen, kommen in der modernen Gesellschaft in vielfältig institutionalisierten Formen vor. Ihre wichtigste Form läßt sich in den Binärcodierungen der Kommunikationsmedien der Funktionssysteme erkennen. Mithilfe dieser Unterscheidungen können die funktional ausdifferenzierten Systeme sich selbst als Einheit beobachten (dh. alle den spezifischen Code ver­ wendenden Operationen von anderen Operationen der Kommunikation unterscheiden und damit ihre Identität wahren). Andererseits können sie dadurch, daß sie diese Unterscheidung nur selbstreferentiell verwenden, in fremdreferentieller Hinsicht entsprechende Freiheitsgrade für variable Programmierung der Positiv- oder Negativseite der Unterscheidung ge­ winnen. Durch die Austauschbarkeit der codespezifischen Programme gewinnen sie an Anpassungsfähigkeit, Lernfähigkeit gegenüber ihrer Umwelt. Die in den Binärcodes der Funktionssysteme verwendeten Un­ terscheidungen sind also keineswegs beliebig, austauschbar, vielmehr nur als historisch evoluierte Formen rekonstruierbar. Ich frage mich allerdings, ob Luhmanns Unterscheidung zwischen Be­ obachtungen 1. und 2. Ordnung in historisch-genetischer Perspektive nicht ergänzt werden müßte um die Unterscheidung zwischen Beobach­ tungen 2. Ordnung und solchen Beobachtungen, die zwar dieser typisch modernen Beobachterebene entstammen, jedoch als jeweils schon vor­ gefundene generalisierte Beobachtungsschemata - und das sind ja die Mediencodes - wieder herabsinken auf den mehr oder weniger selbstver­ ständlichen Gebrauch, der die Ebene der Beobachtung erster Ordnung kennzeichnet.

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Erfolg oder Mißerfolg pädagogischen Handelns an der Ent­ wicklung des Bewußtseins (und Ve rhaltens) des Zöglings mißt, muß sie sich im Al ltagsvollzug gegen Beobachtungen immunisieren, die anders zurechnen. Sie schützt sich, indem sie ihre eigene Unterscheidung der Thematisierung entzieht. Ein solcher Latenzschutz ist freilich nicht auf­ rechtzuerhalten, wenn die Einheit des Funktionssystems selbst zum Thema wird: sei es, um die pädagogische Ko m­ munikation gegen unzumutbare Fremderwartungen zu ve r­ teidigen oder um etwas daraus zu lernen. Reflexionspro­ bleme entstehen, weil die pädagogische Kommunikation sich dagegen sperrt, zwischen der Selbst- und Fremdrefe­ renz ihrer Operationen zu unterscheiden - weil sie sich ei­ nerseits in allen ihren Operationen auf die Individualität des menschlichen Bewußtseins bezieht und andererseits - sofern sie es emphatisch meint - nicht wahrhaben will, daß auch dies "nur" eine Form der Kommunikation ist. Für die theoretische Auflösung solcher Reflexions­ probleme bietet die Systemtheorie ein anderes Instrumenta­ rium an als die pädagogische Theorietradition.15 Das erste Angebot besteht in der Unterscheidung von System und Umwelt. Betrachten wir das Bewußtsein des Kin­ des/Zöglings als System, so findet der strukturverändernde Eingriff der pädagogischen Kommunikation gar nicht im System, also nicht im Bewußtsein (auch nicht im Organis­ mus) sondern in seiner Umwelt statt: in der Kommunikation und als eine spezifisch andere Kommunikation. Das ist kein geringer Unterschied, auch wenn man sieht, daß das System des Bewußtseins ja von seiner Umwelt, hier der Kommuni­ kation der Gesellschaft, in vielfältiger Weise abhängt. Das System entscheidet selbst, ob und was es gegebenenfalls aus Veränderungen seiner Umwelt lernt. So betrifft der päd­ agogische Eingriff also gar nicht die Autonomie des kindli­ chen Bewußtseins. Mit der Unterscheidung von System und Umwelt bzw. Selbst- und Fremdreferenz der pädago gischen Kom­ munikation werden zwar einige ältere Beschrei­ bungsprobleme aufgelöst, andere werden dafür aber umso größer. In systemtheoretischer Perspektive muß der Erfolg pädagogischer Kommunikation, die auf bestimmte Verän­ derungen im Bewußtsein und Verhalten von Menschen referiert, schon deshalb als unwahrscheinlich betrachtet werden, weil die Operationsweise von Systemen - auch die der menschlichen Sinnsysteme - prinzipiell als selbstrefe­ rentiell geschlossen konzipiert wird. Mit der Unterschei­ dung von System und Umwelt ist also noch keineswegs geklärt, wie es der pädagogischen Kommunikation gelingen kann, etwas im Bewußtsein und Verhalten von Menschen zu bewirken.16 Die Unwahrscheinlichkeit des Bewirkens sozial erwünschter Wirkungen erscheint auf diesem Hinter­ grund eher noch größer.17 Allerdings ist die Unterscheidung 15 Ich habe im Zwischentitel Luhmanns Formulierung von der "Entfal­ tung" von Paradoxien (und Tautologien) aufgegriffen, die auf ihre Auf­ lösung durch Einführung weiterer Unterscheidungen zielt. S. Die Wis­ senschaft der Gesellschaft.488ff.. 16 Luhmann hat deshalb in seinen Beiträgen zur Analyse dieses Funktions ­ systems ein Technologiedefizit in den Vordergrund gestellt und damit das o.a. moralische Dilemma im pädagogischen Selbstverständnis durch ein Nichtkönnens-Dilemma ersetzt. Ausführungen zu Fragen einer pädagogischen Technologie - über die Technisierung hinaus, die in der Codierung des Mediums angelegt ist ­ muß ich hier aussparen. S. aber einige Hinweise im Abschnitt "Pro­ gramme und Methoden", s. insbes. Fußnoten 74-76. 17 Von der Theoriekonstruktion her geht es um die Frage, wie ein selbstre ­ ferentiell geschlossen operierendes System sich vermittels sy-


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft von System und Umwelt nur die erste Unterscheidung, die die Systemtheorie zur Entparadoxierung der pädagogischen Selbstreflexion anbieten kann. 18 Weitere Unterscheidungen schließen sich an, die hier auf die pädagogische Kom­ munikation bezogen werden sollen.19 Im Hinblick auf Ereignisse der Erziehung (des Unter­ richts, der Bildung) ist also zunächst zu unterscheiden zwi­ schen Bewußtsein und Kommunikation.20 Pädagogische Ereignisse beziehen sich auf der Ebene ihrer basalen Selbst­ referenz ausschließlich auf das kommunikative System, das sie selbst produzieren und reproduzieren, indem sie sich von anderen Ereignissen in ihrer Umwelt unterscheiden. Be­ wußtsein und Verhalten, Erleben und Handeln des Zöglings bilden demgegenüber fremdreferentielle Bezüge der päd­ agogischen Kommunikation. Die Unterscheidung von Kommunikation und Bewußtsein schließt die gewohnte Zurechnung auf Personen nicht aus. Sie schließt sie viel­ mehr in spezifizierter Weise (wieder) ein, wenn ein symbo­ lisch generalisiertes Kommunikationsmedium beschrieben wird, das über die funktionsspezifische Kombination von Selbst - und Fremdreferenz ihrer Operationen die Erfolgs­ wahrscheinlichkeit der pädagogischen Kommunikation steuert. Die erste Antwort auf die Frage, was pädagogische Kommunikation ist, lautet demnach: eine Operation sozialer Systeme und nicht psychischer Systeme. Mit pädagogischen Operationen ist ein direkter Eingriff in menschliches Be­ wußtsein oder Verhalten gar nicht möglich. Da es sich um einen Sonderfall von Kommunikation handelt, muß nun gefragt werden, um was für einen Fall es sich handelt: Wie ist es zur pädagogischen Form von Kommunikation ge­ kommen? Worin besteht das Problem, auf das die Ge­ sellschaft durch Ausdifferenzierung dieser Form von Kom­ munikation reagiert? Und wodurch unterscheidet sich diese Form, wenn von Erziehung, Unterricht oder Bildung die Rede ist? steminterner Opera tionen erfolgreich in seiner Umwelt orientieren und zugleich darin etwas bewirken kann. Diese Frage soll im Folgenden durch die Beschreibung des Mediums beantwortet werden, das Selbst­ und Fremdreferenz in den Operationen des Systems in spezifischer Wei­ se kombiniert. Weitergehende Bestimmungen zu Mechanismen der Va ­ riation, Selektion und Restabilisierung in der strukturellen Koppelung von pädagogischer Kommunikation, Bewußtsein und menschlichem Or­ ganismus müssen hier offenbleiben. S. auch Fußnoten 74-76 18 Es handelt sich hier um zwei Unterscheidungen, die nach Luhmann zur Charakterisierung moderner Funktionssysteme gehören: einerseits die Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz des Systems und ande­ rerseits die Unterscheidung von Positiv- und Negativwert des funkti­ onssystemischen Mediencodes. Vgl. Die Wis senschaft der Gesellschaft, a.a.O. S. 702ff, sowie Das Moderne der modernen Gesellschaft, a.a.O. S. 95ff 19 Ich greife dabei zurück auf das Luhmannsche Angebot einer Verknüp ­ fung von System-, Medien- und Evolutionstheorie, also nicht nur auf die systemtheoretische Unterscheidung von Bewußtsein und Kommunikati­ on, sondern auch der Unterscheidung von Medien und Formen der Kommunikation, sowie verschiedener evolutionärer Mechanismen, die ihre Entwicklung erklären sollen. Übersicht zur themenspezifischen Besetzung der Luhmannschen Theorie­ begriffe: Medium: Kindheit Erstcode Permission Zweitcode Selektion Nebencode Bildungsreputation Operationsformen : pädagogische Kommunikation Interaktionsebene: Erziehung (Familie) Organisationsebene: Unterricht (Schule) Reflexionsebene: Pädagogische Theorie (Hochschule) 20 Vgl. Luhmann entsprechend für Wissen in: Die Wissenschaft der Ge ­ sellschaft S. 23

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Wildheitsangst und Disziplinierung Die pädagogische Semantik der modernen Gesell­ schaft bezieht ihre zentralen Topoi nicht aus den den allge­ meinen personbezogenen Zielpostulaten der Gesellschaft wie Mündigkeit, Selbstbestimmung des Individuums etc. sondern aus spezifischen Annahmen über die menschliche Natur und ihre Entwicklung. Diese Entwicklungsannahmen werden zunächst von den Milieutheorien der Aufklärungs­ philosophie und dann zunehmend von psychologischen Theorieentwicklungen bestimmt, die aber erst im 20 Jh. mit den Entwicklungstheorien Freuds und Piagets21 eine Form annehmen, die man als modernitätsadäquat bezeichnen kann. In der sozialgeschichtlichen Rekonstruktion der Frühmoderne ist immer wieder der Aspekt der gesteigerten Disziplinierung hervorgehoben22 und die Entwicklung der pädagogischen Kommunikation in diesem Sinne als Diszi­ plinierungsbeitrag interpretiert worden.23 Die folgende Be­ 21 So belehrt uns Piaget auf der Grundlage seiner konstruktivistischen Entwicklungspsychologie: " Die Kunst der Erziehung gleicht der des Arztes, dh. setzt einerseits eine besondere >Begabung<, andererseits aber auch ein exaktes, exp e­ rimentell fundiertes Wissen um die Menschen, an denen sie praktiziert werden soll, voraus, nur daß es im einen Fall anatomischer und physio­ logischer und im anderen psychologischer Art ist. Nur aufgrund dieses Wissens lassen sich die Frage nach Sinn und Wert der aktiven Unter­ richtsmethoden und die Probleme der Verstandesschulung wirklich lö ­ sen. Piaget setzt sich in demselben Sinne auch schon früh von dem im­ pliziten Gesellschafts-Autoritarismus der dominanten soziologischen Theorietradition seit Durkheim ab: "Durkheim argumentiert, als seien die Alters- und Generationsunter­ schiede ohne Bedeutung. Er spricht von homogenen Individuen und sucht die Auswirkung der verschiedenen möglichen Typen der Gruppen auf ihr Bewußtsein festzustellen. Alles, was er hierbei entdeckt, ist durchaus richtig, bleibt jedoch unvollständig: es genügt, sich für einen Augenblick eine in Wirklichkeit natürlich unmögliche Gesellschaft vor­ zustellen, in der alle Individuen das gleiche Alter hätten, eine Gesell­ schaft, die aus einer einzigen, sich ins Unendliche fortsetzenden Genera­ tion bestehen würde, um die ungeheure Bedeutung der AltersBeziehungen und insbesondere der Beziehungen von Erwachsenen zu Kindern zu erkennen. Hätte eine solche Gesellschaft jemals einen zwangmäßigen Konformismus gekannt? Würde sie die Religion oder zumindest die Religionen, die einen transzendenten Glauben vorausset­ zen, kennen? Würde man bei solchen Gruppen eine einseitige Achtung und ihre Auswirkungen auf das moralische Bewußtsein feststellen kön­ nen? Wir beschränken uns darauf, diese Fragen zu stellen. 22 Antropologen vermuten, daß menschliche Gesellschaften ihrem Nach ­ wuchs zu allen Zeiten ein gewisses Maß an Disziplinierung der Antriebe und Affekte zu gemutet haben. Es wird angenommen, daß der soziale Druck auf die ontogenetische Entwicklung umso höher war, je stärker die menschliche Gemeinschaft in ihrem Überleben durch die un­ mittelbare Auseinandersetzung mit der äußeren Natur bestimmt war. Nach ethologischer Auffassung wurde die mehr oder weniger gewaltsa­ me Durchsetzung der ontogenetischen Disziplinierung durch Vertreter der älteren gegenüber der jüngeren Generation allerdings begrenzt durch gattungsgeschichtlich ererbte Mechanismen der Aggressionshemmung zwischen Eltern und Kindern. Vgl. Konrad Lorenz, (1963) Das soge­ nannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Wien, (Kap.5-7). Diese Hemmung funktioniert als gattungsspezifischer Mechanismus eng begrenzt auf die leibliche Eltern-Kind-Beziehung, während ihre Aus­ weitung zum symbolisch generalisierten Medium der Kindheit sich von diesem Körperbezug abkoppelt. Allerdings wirkt dieser Mechanismus in symbolischer Form weiter als eine Art Sicherheitsebene der pädagogi­ schen Kommunikation, als "symbiotischer Mechanismus" (Luhmann). 23 S. in diesem Sinne v.a. Ph. Ariés' Geschichte der Kindheit und - mit ganz anderer Eintönung - schon Norbert Elias in seiner an der höfischen Gesellschaft entwickelten Zivilisationstheorie. Ganz in diesem Sinne beschreibt Heinz-Elmar Tenorth in seiner Ge ­ schichte der Erziehung (Weinheim, München 1988) die Pädagogik der Aufklärung als Anfang einer Volksbildung als "System der Sozialdiszi­ plinierung". "Hier sollen - in bester pädagogischer Absicht" ... die Kin ­ der und Jugendlichen zum Objekt geplanter Erziehung, also zumindest auf Zeit entmündigt werden." S. 101.


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft schreibung ist demgegenüber als ein Vorschlag zu verste­ hen, die moderne Form der pädagogischen Kommunikation auf dem Hintergrund einer gegenläufigen Entwicklung zu verstehen: Gerade die dramatische Zuspitzung der Diszi­ plinanforderungen der Moderne - ein Moment der Umstel­ lung der Gesellschaft von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung - macht es notwendig, eine besondere Kommunikationsumwelt für die Entwicklung der Individua­ lität zu schaffen, in der diese Disziplinanforderungen funk­ tionsspezifisch modifiziert werden. Die Entwicklung des Individualitätsverständnisses der Moderne kulminiert im 20. Jahrhundert in der breiten Rezeption der Reflexion latenter (und gerade deshalb wirk­ samer) Motive, die aus Konflikten der Kindheit stammen. Die psychoanalytische Theorie hat die Gesellschaft belehrt, daß jede Begegnung mit einem Kind innerpsychisch ver­ drängte Anteile der eigenen Antriebsstruktur ins Be­ wußtsein bringen kann. Das psychische System hat danach v.a. zwei Möglichkeiten zu reagieren: Es kann die wieder­ kehrenden Antriebe abwehren, also erneut unterdrücken oder es kann versuchen, sie in sein gegenwärtiges, bewußtes Antriebssystem zu integrieren. Integrationsversuche sind an passende Umwelt-Bedingungen gebunden. Die Integration kann mißlingen und die Bewußtseinsstruktur kann mit un­ passenden Antrieben überschwemmt werden. Die nahelie­ gende Al ternative besteht immer darin, das Risiko erst gar nicht einzugehen und die Bedrohung der gegebenen Be­ wußtseinsstrukturen mit verschiedenen Mechanismen ab­ zuwehren. Aber auch Abwehr und Verdrängung sind keine si­ cheren Strategien. Verdrängte Antriebe haben die Tendenz in anderer Form wiederzukehren. Die Wiederkehr löst nor­ malerweise unangenehme Schuldgefühle im Bewußtsein aus. Wurde die Wiederkehr des Verdrängten durch eine be­ stimmte Person ausgelöst, so kann es beruhigen, Diese dafür zu bestrafen. Es genügt aber auch, daß eine als weniger zivilisiert erscheinende Person sich zufällig zur Projektion anbietet. Zwei Personenarten bilden vorrangig Auslöser für die projektive Abwehr: Kinder und Fremde, also Personen, die noch wenig oder anders sozialisiert wurden. Im Falle von Kindern kann somit die ontogenetische Funktion der Primärdisziplinierung sich mit der Sekundärfunktion ver­ binden, die die Bestrafung für den psychischen Haushalt der schon Disziplinierten hat: der Auflösung ihrer Schuldge­ fühle. Als Problem für die menschliche Kommunikation wird dieses ontogenetisch verankerte Diszi­ plinierungsmuster zwischen den Generationen offenkundig erst in der modernen Gesellschaft wahrgenommen. Norbert Elias hat es in seinen Untersuchungen über den abendländi­ schen Prozeß der Zivilisation so beschrieben: "Zwangsläu­ fig rühren die Kinder immer von neuem an die Peinlich­ keitsschwelle der Erwachsenen, ... übertreten sie die Tabus der Gesellschaft. ... Der eigentümlich emotionale Unterton, der sich so oft mit der moralischen Forderung verbindet, die aggressive und bedrohliche Strenge ..., sie sind Reflex der Gefahr, in die jede Durchbrechung der Ve rbote das labile Gleichgewicht aller jener bringt, für die das StandardverhalBis in die neuere Bildungssoziologie reichen kuriose Beispiele für die Deutung der Erziehung im Kontext von Disziplinierungsproblemen: "Auch in einer modernen Kultur findet jeden Tag eine Invasion von Barbaren statt. Täglich werden Kinder geboren, die noch nicht fähig sind, am Leben der Umgebung teilzunehmen." H.Fend, 1969, Sozialisie ­ rung und Erziehung, Weinheim/Berlin/Basel, S.11

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ten der Gesellschaft mehr oder weniger zur 'zweiten Natur' geworden ist; sie sind Symptome der Angst, die in ihnen aufsteigt, sowie auch nur von ferne der Aufbau ihres Trieb­ haushaltes und mit ihm zugleich ihre soziale Existenz, wie die Ordnung ihres gesellschaftlichen Lebens bedroht sind". 24 Der Mechanismus der Auflösung von eigenen Schuldgefühlen durch Bestrafung der "Wildheit" bei Ande­ ren zieht sich in den verschiedensten Formen durch die Gattungsgeschichte und insbe sondere durch die religiösen Rituale. Es ist eine blutige Spur, die das rituelle Kindesop­ fer ebenso wie den heilsgeschichtlich begründeten Völker­ mord umfaßt. Im Opfer soll ein strafender Gott besänftigt werden durch ein Ersatzangebot, das die eigenen Sünden mittilgt. Im kollektiven Mord tobt sich die eigene zivilisato­ rische Rückfallgefährdetheit in der Vernichtung der Wilden, der Barbaren, der anderen Rasse etc. aus. Was hat dies alles mit pädagogischer Kommunikation zu tun? Ich möchte (gerade in Abgrenzung zu pädagogikkri­ tischen Deutungen) deutlich machen, daß es im Kern nichts damit zu tun hat. Ich benutze die Hinweise auf die Unive r­ salität von Disziplinierungsproblemen in der Gattungs­ geschichte hier nur, um zu zeigen, auf welchem allgemeinen Hintergrund sich die spezifisch pädagogische Problemlö­ sung profiliert.25 Die Unwahrscheinlichkeit der pädagogischen Pro­ blemlösung läßt sich sowohl an gegenwärtig beobachtbaren Abweichungen vom pädagogisch Erwartbaren (z.B. "Kin­ derfeindlichkeit", die in den meisten Fällen wohl richtiger als Gleichgültigkeit gegen Kinder bezeichnet werden müß­ te) als auch an historischen Schilderungen exemplifizieren, in denen das Medium für pädagogische Kommunikation noch nicht entwi ckelt war.26 Weil unsere Wahrnehmung der Welt der Kinder und Heranwachsenden aber schon pädago­ gisch vorgeprägt ist, können wir uns das zugrundeliegende Problem nur schwer - z.B. nur im Gestus der Empörung ­ vorstellen. Das Ausmaß der epochalen Umstellung in der Kom­ munikation mit Kindern und Heranwachsenden ist auch daran zu erkennen, daß dieser Umstellungsprozeß bis heute nicht abgeschlossen ist: Einerseits ist die Ächtung von Ge­ waltanwendung gegen Kinder auch heute durchaus noch ein

24 Aus dieser Situationsbeschreibung lassen sich nach Elias eine ganze Reihe von Konflikten zwischen Erwachsenen und Kindern erklären, "die also zum guten Teil in der Struktur der zivilisierten Gesellschaft selbst begründet sind". Norbert Elias, 1969, Bd. I, S. 228f. 25 G.Snyders sieht die "pädagogische Revolution" des 18. Jh.s v.a. darin begründet, daß man beginnt, den eigenen Kräften des Kindes zu trauen: "Wenn man im Kind nicht mehr die drohenden Fehler sieht, die man ausrotten muß, wenn man in der Welt nicht mehr ein ständiges Risiko des Verderbens sieht, kann man daran denken, das Kind vom Gegenwär­ tigen aus für das Gegenwärtige zu bilden, also von dem aus, was es in­ teressiert und sogleich berührt, indem man seinen spontanen Bewegun­ gen, mit denen es sich auf seine Epoche ausrichtet, Vertrauen schenkt" (1971, S. 259) 26 Allerdings muß wohl eine genauere historische Rekonstruktion Ab ­ schied nehmen von der vereinfachenden Annahme, daß es ein Medium für pädagogische Kommunikation erst seit Beginn der Moderne gegeben habe. Hier müßte unterschieden werden zwischen dem Medium in seiner traditionellen Fassung (so wie es Eigentum und Geld, Macht und Recht, Wahrheit und andere Medien schon gegeben hat) und seiner Evolution im Kontext der Heteronomisierung und funktionalen Diffe renzierung der Kommunikation im Gefolge der Drucktechnik. Schon vormodern wurden Kinder nicht wie Erwachsene behandelt, und in der Umbruchs­ phase zur Moderne eher strenger als zuvor (was viele Historiker zu fal­ schen Trendextrapolationen verleitet hat).


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft praktisch relevantes Problem.27 Andererseits ist dies aber auch nur deshalb ein Thema der Kommunikation, weil die tradierte Legitimation dafür entfallen ist. Die Gewalt gegen Kinder steht sozusagen nackt da - und wird deshalb ver­ mehrt wahrgenommen.28 So zeigt sich die Un­ wahrscheinlichkeit der pdägogischen Problemlösung auch in der Wiederkehr der geächteten Gewaltmotive bei denje­ nigen Eltern und Erziehern, die sich vom modernen Erzie­ hungsverständnis als überfordert erweisen.29 Permissivität und Regression Ich versuche, plausibel zu machen, daß das Spezifi­ sche der modernen Pädagogik nicht in der strafbewehrten Unterdrückung kindlicher Antriebe sondern gerade in der evolutionär unwahrscheinlichen Form des Gewährenlassens besteht. Die "Wildheit" der Kinder wird - ein Stück weit ­ akzeptiert.30 Sie erhält einen spezifischen sanktionsfreien Raum in der pädagogischen Ego-Alter-Konstellation. Der althergebrachte Disziplinierungsmechanismus in der Inter­ aktion zwi schen Erwachsenen und Kindern - mitsamt seinen problematischen Folgewirkungen in der zwangsweisen Wiederkehr der verdrängten Antriebe - wird außer Kraft ge­ setzt.31 Die Frage ist aber: was könnte Erwachsene dazu bewegen, sich auf eine so unwahrscheinliche Kommunika­ tion einzulassen? Pädagogische Kommunikation wird auch für Erwach­ sene zum Medium der Evolution ihres Bewußtseins. In Eltern-Kind-Dyaden werden höchst ungleiche Entwick­ lungsstände des beteiligten Bewußtseins kommunikativ gekoppelt. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ermöglicht verschiedenartige Strukturgewinne der Bewußt­ seinssysteme, nicht nur auf seiten des Kindes sondern auch 27 Die Unwahrscheinlichkeit der pädagogischen Kommunikation besteht also keineswegs nur im Gedankenexperiment sondern zeigt sich ange­ sichts der enormen Zuspitzung der Disziplinanforderungen der Moderne auch darin, daß die traditionelle Bewältigungsform der Zivilisations­ gefährdung - ihre Unterdrückung beim Nachwuchs - sich auch in der Moderne noch reproduziert, also selbst eine Zivilisationsgefährdung dar­ stellt. Für evolutionäre Errungenschaften der Moderne, wie sie u.a. in der diesbezüglichen Unterscheidung zwischen Kin dern und Erwachse­ nen zu erkennen sind, gibt es keine Bestandsgarantien. 28 Zur Rekonstruktion der historischen Gewaltverhältnisse vgl. deMause a.a.O. 29 In empirischen Untersuchungen über Kindesmißhandlung zeigt sich die Überforderung als durchgehendes Motiv. Die Täter versuchen nichts zu rechtfertigen, sind bestürzt über ihr eigenes Verhalten, 30 Das literarische Motiv der "wilden Kinder" oder "Wolfskinder", die außerhalb jeder menschlichen Gesellschaft entweder mit Tieren oder völlig isoliert aufwachsen, entspringt derselben romantischen Tradition, die sich in der radikalen Abgrenzung des modernen vom alteuropäischen Erziehungsverständnis niederschlägt. Vgl. Malson, Lucien, Jean Itard, Octave Mannoni, 1972, 31 Andererseits kehrt die Negation dieses Gewährenlassens - wie noch zu zeigen sein wird - in der binären Codierung des symbolisch generali­ sierten Kommunikationsmediums Kindheit als Reflexionswert wieder: Im Nichtgewähren taucht die Grenze des pädagogischen Gewährens (und damit zugleich des Funktionssystems) in zeitlicher, sozialer und sachlicher Hinsicht differenziert wie der auf: jetzt aber pädagogisch in­ tendiert. Hier liegen natürlich auch die häufig beobachteten Verwechslungs- und Manipulationsmöglichkeiten durch eine nur vorgeblich pädagogisch in­ tendierte Repressivität der Erwachsenen-Kind-Kommunikation. In histo­ risch-empirischen Analysen ist deshalb sorgfältig zu unterscheiden zwi­ schen Interaktionsformen, die nur vorgeblich pädagogischer Natur sind und jenen Formen, die auf der Grundlage pädagogischer Pri­ märcodierung über den Zweitcode mit negativen Sanktionen ausgestattet sind. Letztere müssen unterscheidbar sein von den Sanktionen, die ohne pädagogische Codierung im jeweiligen Funktionskontext zu erwarten wären.

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auf seiten des Erwachsenen. Bei der in der pädagogischen Ego-Alter-Konstellation angelegten Empathieforderung32 geht es keineswegs bloß um Opferbereitschaft, sondern um ein Selbstverwirklichungsmotiv wie es in der modernen Liebessemantik in verschiedenen Ausformungen angelegt ist.33 Der in dieser Hinsicht motivbildende Eigenwert der kindzentrierten Interaktion wird in einer - durch "erlaubte" und "gezielte" Regression gesteuerten - Aufarbeitung kind­ licher Bedürfnisse des Erwachsenen gesehen.34 Die Eltern­ schaft bietet dem erwachsenen Bewußtsein die Chance, verdrängte Anteile der eigenen infantilen Bedürfnisse zuzu­ lassen und zu reintegrieren. In der psychoanalytischen Theorietradition we rden viele der symbolisch generalisierten Motive, die in der men­ schlichen Ko mmunikation als Emotionen wi rken, auf früh­ kindliche Einheits- und Differenzerfahrungen zurückge­ führt. Nach der frühkindlichen Symbiose kann Einheit nur noch über Differenz aufgebaut werden, als Grenzziehung gegenüber zeitlich Früherem, sozial Anderen und sachlich Anderem. Die Bindungswirkung der menschlichen Kom­ munikation - gewissermaßen "Urstoff" aller Kommunikati­ onsmedien - basiert auf der Rekombination des gat­ tungsgeschichtlich ererbten und individuell angelegten Emotionsspektrums mit den soziokulturell vorstrukturierten und biographisch erlebten Differenzierungspozessen.35 Gefühle der "Verzauberung", von denen Erwachsene berichten - sei es nun die Autorität eines Führers, der Reiz einer Landschaft, oder die Liebe zu einem einzigen Men­ 32 Vgl. emphatisch zur Empathieforderung als höchster Form in der Evolution von intergenerativen Beziehungen: DeMause a.a.O. 33 Vgl. meine Ausf. zur Unterscheidung von Intimkommunikation unter Erwachsenen und Elternkind-Kommunikation in: Romantische und und Liebe zum Kind a.a.O. Das beiden Ausprägungen gemeinsame Moment besteht hier darin, daß in der Intimkommunikation eben jener Zivili­ sationsprozeß, worin psychische und soziale Systeme des Menschen sich gegeneinander ausdifferenzierten, ein Stück weit rückholbar durch die Personorientierung der Kommunikation. Die Evolu tion der Mittei­ lungsmedien (v.a. Sprache und ihre Zweitcodierungen) hat eine Di­ stanzierung von Kommunikation und Bewußtsein ermöglicht, die hier ­ auf der Ebene des sichtbaren Körperverhaltens - wieder eingezogen wird. In In timsystemen wird die üblich gewordene Disziplin psychischer Systeme in der Beteiligung an Kommunikation gerade nicht erwartet. Ebendeshalb bieten Gruppensysteme mit Intimkommunikation wie Fa ­ milie, Elternschaft und Partnerschaft besondere Regressions-, Regenera­ tions- und Refle xionsprozesse. Im günstigen Falle kann hier der gat­ tungsgeschichtliche Weg der Ausdifferenzierung von Kommunikation und Bewußtsein ontogenetisch nachvollzogen werden. Vgl. Luhmann 1990c S.219f. 34 Zur immer möglichen Fehlentwicklung dieses Mechanismus in der pädagogischen Kommunikation s. schon S. Bernfeld Sis yphos a.a.O. S.134-149 35 Der Entwicklungspsychologe Erikson hat diese Motivlage durch den Vergleich mit der Werkvorstellung eines Künstlers für seine Nachwelt interpretiert. Kinder sind gewissermaßen das Werk, das der Normalbür­ ger seiner Nachwelt hinterläßt und in dem er ein Stück weit seine eigene Lebensspanne transzendiert. Der Werkcharakter der generativen Hinter­ lassenschaft macht zugleich deutlich, daß es sich hier nicht einfach um ein Motiv der biologischen Reproduktion handelt. Ein Werk kann miß ­ lingen und damit auch das Gedenken in der Nachwelt. Je höher die päd­ agogischen Erwartungen in der intergenerativen Kommunikation, desto wahrscheinlicher wird aber deren Mißlingen. Das Werkmotiv wäre fü r sich genommen wohl eine zu riskante Option, um als stabiles Motiv für Familienbildung herangezogen zu werden. Es wird aber in der Liebe zum Kind durch eine Motivlage abgestützt, die die intergenerative Kommunikation von der strengen Bezugnahme auf künftige Wirkungen abkoppelt, ohne das tradierte Motiv der Lebenstranszendierung durch eigene Kinder aufzulösen. Das Motiv der Eltern, in der Ge staltung des Lebens des Kindes ihr individuelles Leben zu transzendieren, ist die fremdreferentielle Seite einer Motivlage, deren selbstreferentielle Seite in den regressiven Interaktionen zwischen Eltern und Kind zu erkennen ist.


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft schen - basieren auf biographischen Erinnerungen, die aus der jeweiligen Kindheit (ihrem individuellen Verlauf) stammen.36 Bindungs- und distanzierungswirksame Emotionen werden in der Begegnung mit Kindern in besonders starker Weise mobilisiert. Die psychoanalytische Kritik an der Pädagogik hat deutlich gemacht hat, daß solche Begegnung zum Anlaß heftiger Abwehr und Projektion werden kann.37 Sie kann aber auch - und das ist eine Normalform schon in traditionellen Gesellschaften - zum Mittel der Integration und Ausreifung der kognitiven Schemata Erwachsener wer­ den. Diese Norm setzt voraus, daß genügend Befriedigung aus dem Umgang mit Kindern gezogen werden kann. Das grundlegende Motiv dafür liegt in der zivilisatorisch "er­ laubten Regression". Doehlemann38 charakterisiert diese Seite des Umgangs mit Kindern im Rekurs auf Annahmen der psychoanalytischen Theorie wiefolgt: "Die Niederkunft des Kindes bedeutet für die Eltern unbewußt die Wie­ derkunft der eigenen Kindheit und die Möglichkeit, im Umgang mit dem eigenen Kind die damaligen Wünsche, Ängste und Konflikte mit den eigenen Eltern aufzuarbeiten. Im günstigen Falle entwachsen die Erwachsenen im zweiten Durchgang durch ihre eigene Kindheit ihrer infantilen Früh­ geschichte und erlangen die Reife derer, die sich mit der Urgestalt des Erwachsenen, dem Vater und der Mutter ihrer eigenen Kindheitserfahrung ve rsöhnt haben."39 Diese sozialisationstheoretische Konstruktion wird von Talcott Parsons - im Unterschied zu den kul­ turpessimistischen Prämissen der Freudianer40 - soziolo­ gisch normalisiert i. S. einer funktionsspezifischen Aus­ nahmekommunikation. Er verweist darauf, daß bereits das Ritual in Stammesgesellschaften für gewöhnlich eine kon­ trollierte Permissivität im Hinblick auf Verhaltensweisen 36 In der familiensoziologischen Literatur wird heute die Aufassung vertreten, daß die Liebe zum Kind ein Abkömmling der Erwachsenen­ liebe sei (Kompensation für deren wachsende Instabilität vgl. Y.Schütze, Nave-Herz). Diese Aufassung kontrastiert in merkwürdiger Weise mit der älteren Aufassung, wonach die Erwachsenenliebe ein Abkömmling der frühen Eltern-Kind-Beziehung sei. Vielleicht ist ja Beides richtig. Jedenfalls ist zu beachten, daß die soziokulturelle Form der Liebe weder aus der Fortpflanzungsfunktion - wie traditionell vorgestellt - noch aus der Sexualität - wie es eine moderne Lesart meint, abgeleitet werden kann. Schon in Stammesgesellschaften - so haben Ethologen gezeigt ­ läßt sich eine deutliche Ve rwandtschaft der Liebeskommunikation Er­ wachsener mit den Merkmalen der Kommunika tion in der frühkindli­ chen Symbiose beobachten (während Sexualität und Fortpflanzung be­ kanntlich durchaus ohne diese Begleitsemantik vorkommen können). 37 Die psychoanalytisch fundierte Kritik an der Pädagogik - von Siegfried Bernfeld bis Alice Miller - hat einseitig die Gefahr der Instrumentali­ sierung (des "Kindesmißbrauchs") in der Geschichte der Pädagogik her­ vorgehoben und dabei übersehen, daß das Funktionieren pädagogischer Kommunikation - mit ihrer spezifischen Asymmetrie im Vergleich zur Erwachsenenliebe - überhaupt nicht erklärt werden kann ohne ein spezi­ fisches Motiv (eine Art psychischen "Bilanzgewinns") auf der Seite des Erwachsenenbewußtseins. 38 Doehlemann (1979) hat - im Anschluß an die psychoanalytische Theo ­ rietradition und soziologische Ansätze bei N. Elias und D. Claessens ­ versucht, eine zu nehmende Bedeutung der Interaktion mit Kindern für die Persönlichkeitsentwicklung von Erwachsenen in der modernen Ge ­ sellschaft herauszuarbeiten. 39 Für Doehlemann (a.a.O S. 60) geht der triebtheoretische Ansatz der Psychoanalyse nicht weit genug in der Revolutionierung der Wahrneh­ mung von Kindern. Er beschreibt die verschiedenen Quellen modernen pädagogischen Denkens als defizitär - immer gemessen an einem päd­ agogischen Konzept der Er wachsenen-Kind-Kommunikation, das ideal­ typisch jene (Permissivitäts -)Strukturen aufweist, die sich in der Primär­ codierung des Mediums für pädagogische Kommunikation erkennen lassen. 40 Zu dieser Tendenz s. auch das o.a. Zitat von Norbert Elias im Abschnitt zur "Wildheitsangst"

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beinhalte, welche » primitiver « (oder psychologisch » regressiver « ) sind als jene, die im Ritual symbolisch kon­ trolliert werden. Parsons betont: "... diese » Permissivität « ist alles andere als eine Rückkehr zu prä-kulturellen Stufen, sie dient als Mechanismus zur Verstärkung der Ver­ pflichtungen, welche die kulturellen Formen auf­ rechterhalten."41 Ähnlich wie Parsons sieht Dieter Claessens die Wirkung dieses Mechanismus nicht nur in einfachen Gesellschaften sondern auch in der modernen Familie: "Die in der Kleinkinderziehung notwendige `Naivisierung' aller möglichen Zusammenhänge, zB. in Beantwortung von Fra­ gen, bereitet den Boden für das leichthändige Akzeptieren von Paradoxien, das es ermöglicht, sich überschneidende Werte gleichzeitig anzuerkennen, um sie dennoch praktisch nicht zu beachten, ohne daß damit die Werte-Achtung in der Öffentlichkeit vernachlässigt wird."42 Das Muster der Sonderkommunikation, das diese Be­ schreibungen zeigen, ist das reflexive Einholen der eigenen kognitiven Entwicklung beim Erwachsenen. Der sieht nicht mehr nur die Abweichung des kindlichen Verhaltens von den Erwartungen der Erwachsenenwelt, sondern lernt beide Seiten der Unterscheidung schätzen: es gibt Gründe für die Erwachsenennorm und es gibt Gründe für die kindliche Abweichung. Beides hat seine Zeit und seinen Ort in der Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern. Der Erwachsene kann so einen flexibleren, situationsgerechteren Umgang mit den gesellschaftlichen Normen erlernen.43 Faßt man kognitive Entwicklung als Entwicklung des Beobach­ tungsvermögens psychischer Systeme, dann kann das refle­ xive Stadium dieser Entwicklung, das im Erwachsenenalter durch Umgang mit Kindern zu erlangen ist, beschrieben werden als Wiedereintritt ontogenetisch früh entwickelter Unterscheidungen in das im Bewußtsein schon Unterschie­ dene.44 In der Andersartigkeit des Kindes erlebt der Er­

41 T. Parsons, Gesellschaften a.a.O S.68 - Für Parsons ist die Ausdifferen ­ zierung des Bildungssystems ("Bildungsrevolution") ein zentrales Kon­ stituens der Moderne. S. Das System moderner Gesellschaften S. 129 Niklas Luhmann bemerkt, daß Parsons bei der Beschreibung von päd­ agogischen, therapeutischen oder anderen personorientierten Professi­ onsrollen von dem sonst so strikt durchgehaltenen Schema Norm/Abweichung zugunsten von Permissivität abweicht. Anders als Parsons sieht Luhmann in "permissiveness" jedoch kein Merkmal funk­ tionsspezifischer Kommunikation sondern eher ein Merkmal der Ko m­ munikation auf der Interaktionsebene moderner Gesellschaften über­ haupt. S. Soziale Systeme S.313, 435, 456 (Hinweis von Kieserling) 42 Mit Kindern könne "das Paradoxon 'gelebt` werden, daß bei häufiger praktischer Untergehung oder Hintergehung von gesellschaftlichen Normen die Autorität der darüberstehenden Werte grundsätzlich nicht berührt, sondern eher sogar gestärkt wird." Claessens, 1972, S.157 s. ausführlicher den Abschnitt über Wechselwirkungen zwischen Kind und Eltern in der Kernfamilie (mit Bezug auf Untersuchungen von Therese Benedek) S. 133-141. 43 Auf Platz 5 der Spiegel-Bestsellerliste vom 7.9.92 befindet sich "Der kleine Erziehungsberater" von Axel Hacke (München 1992) die ironi­ sche Selbstbeschreibung eines Vaters dreier Kinder, der - teils lustvoll, teils leidvoll, jedenfalls in offenkundig für viele Eltern heute nach­ vollziehbarer Form - seine Ratlosigkeit in Erziehungsfragen angesichts der anarchischen Durchdringung seines Erwachsenenalltags mit Kin dern beschreibt. 44 Die Reflexionsebene in psychischen Systemen läßt sich m.E. generell als Wiedereinführung einer Unterscheidung beschreiben. In der Primä ­ rentwicklung handelt es sich um die Unterscheidung von Erleben und Handeln, die den Bewußtseinsstrom dahingehend interpunktiert, daß das Bewußtsein sich selbst als Ich erfährt. Die Ausdifferenzierung der Re ­ flexionsinstanz wird durch die Teilnahme an Kommunikation stets dann gesteigert, wenn die Kontingenz der Handlungsmöglichkeiten das Ich zu Entscheidungen veranlaßt.


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft wachsene die Kontingenz seines Erwachsenseins, er wird zum Selbstbeobachter zweiter Ordnung. Kindheit als Medium Terminologie » Kindheit als Medium « evtl. korrigieren! Eigentlich handelt es sich beim Medium um die Handhabung der Unter­ scheidung von Kindern und Erwachsenen und die Form, bzw. die Formen sind dann die der Kindheit! Die Form bezeichnet nur die eine Seite und reflektiert nicht mehr die zugrundeliegende Diffe­ renz. Das Problem, auf das die moderne Gesellschaft mit Pädagogik reagiert, liegt nicht - wie immer schon pädago­ gisch orientierte Theorien konstruieren45 - in der Besonder­ heit des Lebens von Kindern sondern im Strukturwandel der Gesellschaft selbst. In den traditionell vorgesehenen Zeit­ räumen für ontogenetische Entwicklung kann nicht genü­ gend Lernfähigkeit entwickelt werden, um eine von solchen Zumutungen freie Erwachsenenrolle zu erlangen. Die prä­ genden Eindrücke in der kindlichen Entwicklungsphase müssen gerade deshalb in der Moderne pädagogisch so vor­ sichtig, mit Empathie und Permissivität gehandhabt werden, weil auch die moderne Erwachsenenrolle nicht von weiteren Lernanforderungen verschont bleibt. Das Problem liegt deshalb nicht mehr in der Abweisung von Fehlverhalten sondern gerade in dessen gezielter Tolerierung.46 Es handelt sich um eine Kommunikation, in der es erlaubt ist, Fehler zu machen und daraus zu lernen.47 Oder - zur Abgrenzung von anderen Formen der Fehlertoleranz48 - eine Kommunika­ tion, in der es erlaubt ist, all jene Fehler zu machen, die in anderen funktional ausdifferenzierten Kommunikationszu­ sammenhängen so nicht (mehr) erlaubt sind. Zu beschreiben ist hier eine Reaktion der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung mittels funktionaler Diffe­ renzierung: nämlich als Ausdifferenzierung der pädagogi­ schen Kommunikation. Die Spezifik der pädagogischen Kommunikation läßt sich gerade angesichts der Disziplinan­ forderungen der Moderne nur von einer (diesbezüglich trennscharfen) Unterscheidung ausgehend entwickeln: der 45 Die Plausibilität vieler pädagogikkritischer Theorien basiert auf der latenten Verwendung des pädagogischen Codes. Der wohl bekannteste Fall ist zu erkennen in Ph. Ariés Beschreibung der Kindheit im Europa des 18. Jh. wenn er diese Entwicklung mit der Unterdrückung von Kin­ dern gleichsetzt. Die Pädagogisierung versteckt sich in der rückwärts­ gewandten Stilisierung der mittelalterlichen Gesellschaft zu einer kind­ gerechten Umwelt. Ein ähnliches Argumentationsmuster findet sich schon bei M. Mead für Stammesgesellschaften - und wohl der Prototyp bei Rousseau in der Pro jektion auf natürliche Ursprünge. 46 Die Abweisung von Fehlverhalten bleibt als Teil der Erwachsenen ­ ko mmunikation sowieso und verschärft erhalten 47 Es gehört zu den charakteristischen "Widersprüchen" funktional diffe ­ renzierter Gesellschaften, daß sich mit dem Medium für pädagogische Kommunikation eine Spezialkommunikation mit gesteigerter Toleranz gegenüber fehlerhaftem Handeln in demselben Maße entwic kelt wie an­ dererseits die funktional spezialisierte Kommunikation in allen anderen Teilsystemen der Gesellschaft sich immer weniger als fehlertolerant er­ weist. Das bekannteste Beispiel ist der Bereich der Großtechnologien, in denen das Risiko zu groß geworden ist, um menschliche Fehler im Um­ gang mit der Technik noch zulassen zu können. Dagegen steht die für die residualen Teile der "Lebenswelt" häufig postulierte Steigerung des "Menschenrechts auf Irrtum", das jedoch faktisch nur in Sonderumwel­ ten, v.a. in der pädagogischen Kommunikation, abgesichert werden kann. - Versuch und Irrtum als gattungsgeschichtlich elementare Lern ­ bedingungen finden ihren Ort nur noch in der Primärcodierung pädago­ gischer Kommunikation. 48 Selbstverständlich soll nicht bestritten werden, daß Formen der Fehler­ toleranz auch in nichtpädagogisch definierter Kommunikation gepflegt werden. Aber nicht in so hochorganisierter Weise und nicht mit der ex­ pliziten Funktion, Lernprozesse zu ermöglichen.

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Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern. Es ist die historische Ausgangsunterscheidung, mit der die päd­ agogische Kommunikation die Umstellung der Gesellschaft von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung voll­ zieht.49 Die Unterscheidung wird im laufenden Vollzug der Kommunikation nicht mehr reflektiert sondern gewöhnlich vorausgesetzt. Gerade deshalb kann eine reichhaltige Se­ mantik der Kindheit sich entfalten, die die Erwachsenenwelt gewissermaßen ausblendet. Die vorausgesetzte Unterschei­ dung wird zum Medium der pädagogischen Kommuni­ kation.50 Mit der Evolution symbolisch generalisierter Kom­ munikationsmedien reagiert die moderne Gesellschaft auf das generelle Problem der zunehmenden Erfolgsunwahr­ scheinlichkeit von Kommunikation unter den Bedingungen des Übergangs von überwiegend mündlicher zur Dominanz schriftlicher Kommunikation.51 Das spezifische Problem, auf das die Gesellschaft dann mit der Evolution eines Medi­ ums für pädagogische Kommunikation reagiert, läßt sich nicht einfach als das Problem bezeichnen, wie im Wechsel der Generationen die notwendigen Fertigkeiten und Wis­ sensbestände tradiert werden. Das Problem muß vielmehr in der durch die Umstellung der Kommunikationsmittel zu­ nehmenden Differenz zwischen den etablierten Strukturen der Kommunikation und den gattungsgeschichtlich ererbten Koppelungsbedingungen des Bewußtseins bei Kindern gesucht werden. Die Gesellschaft kann es sich nicht mehr leisten, diese Differenz einfach zu ignorieren - etwa durch Außervergleichstellen der kindlichen Kommunikationsver­ suche bis zu einem bestimmten Alter - oder als mangelnde

49 Die einschlägigen, in vieler Hinsicht aber divergenten Deutungen der Sozialgeschichte der Familie und Erziehung von Snyders, Ariés, DeMause, Shorter, Badinter u.a. konvergieren in dem Punkt, daß die Unter­ scheidung von Kindern und Erwachsenen den Eintritt in die Moderne markiert. 50 Vgl. dazu Luhmann: "Das Kind als Medium der Erziehung" in ZfPäd. 1/91. wo allerdings die Codierbarkeit des Mediums bestritten wird. Luhmanns Titelformulierung klingt nach Provokation für antipädagogi­ sche Empörung. Es geht aber gar nicht um das Kind als selbstbewußtes und leibhaftes Wesen sondern um die evolutionäre Errungenschaft einer Unterscheidung, die so selbstverständlich gehandhabt wird, daß sie nor­ malerweise gar nicht bemerkt wird. Die lose Koppelung von Elementen, auf die nach Luhmann jede Medi­ enbildung rekurriert, besteht im Falle symbolisch generalisierter Kom­ munikationsmedien v.a. in der Auflösung herkömmlich festgekoppelter Sinnelemente. Im Falle von Kindheit als Medium der pädagogischen Kommunikation, besteht die lose Koppelung darin, daß die zugrundelie­ gende Unterscheidung nicht mehr die zwischen X als dem Kind von Y sondern die zwischen Kind und Erwachsenem ist. Erst damit werden universell wirksame funktionsspezifische Formbildungen ermöglicht. 51 Im Anschluß an Giesecke (Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, Ffm. 1991) läßt sich dieser Umbruch auch bezeichnen als Übergang von scriptographischen zu typograpischen Medien. Zur Rückführung der funktionssystemischen Kommunikationsmedien auf die durch die Evolu ­ tion der Schrift ermöglichte Diversifikation der Kommunikation s. Luhmann in: Die Wissenschaft der Gesellschaft S. 178f. Die Personen­ beteiligung an der Einheit von In formation und Mitteilung einerseits und Verstehen andererseits wird durch Schrift auseinandergezogen und da­ mit zugleich die Steuerbarkeit von Verhalten durch Kommunikation un­ sicherer. Schon die tradierten Kommunikationsmedien (und verschärft durch die Evolution der Drucktechnik dann die modernen) reagieren auf diese zunehmende Erfolgsunwahrscheinlichkeit der Annahme kommu ­ nikativer Angebote. In der modernen Gesellschaft zählen die Kommuni­ kationsmedien (samt ihren Codierungen) zu jenen latenten Sicherheits­ strukturen der Funktionssysteme, an denen externe Steuerungsversuche regelmäßig scheitern. Andererseits geraten die funktionssystemischen Kommunikationsmedien heute mit dem weltgesellschaftlichen Vordrin ­ gen neuer elektronisch-telegrafischer Medien und damit erneuter Steige­ rung der Unwahrscheinlichkeit kommunikativen Erfolgs unter evolutio­ nären Variationsdruck.


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft Perfektion zu behandeln und das entsprechende Verhalten negativ zu bewerten. Sie muß - gerade angesichts der dra­ matischen Zunahme der Disziplinananforderungen an Er­ wachsene unter den Bedingungen funktionaler Differenzie­ rung 52 - dem kindlichen Bewußtsein und Verhalten einen eigenständigen Entwicklungsstatus zubilligen. Sie stellt die intergenerative Kommunikation fremdreferentiell auf Be­ wußtsein um53 und schafft damit kommunikative Sonder­ bedingungen für Kinder. Gemessen am neuen Standard der Erwachsenenkommunikation fehlerhaftes Verhalten soll nun altersabhängig toleriert werden - und dies gerade mit dem Ziel, das zum Erreichen des Erwachsenenstandards nötige Lernen nicht zu blockieren.54 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien weisen in der Sozialdimension eine typische Fixierung der Einstellungen von Ego und Alter auf Erleben oder Handeln auf. Anschlußmöglichkeiten für Operationen mit jeweils an­ deren Konstellationen des Selbst- oder Fremdbezugs der Kommunikation werden damit eingeschränkt, die Wahr­ nehmung funktionstypischer Operationen vereinfacht und die Erfolgswahrscheinlichkeit der Kommunikation gestei­ gert. Die pädagogische Ego-Alter-Konstellation gleicht der des Mediums für Intimkommunikation: Egos Handeln be­ zieht sich wie im Falle der Liebe auf Alters Erleben. In der pädagogischen Kommunikation ist diese Konstellation allerdings nicht symmetrisch reziprok angelegt. Päd­ agogisches Handeln und Erleben sind rollenspezifisch aus­ gelegt, Ego und Alter nicht austauschbar.55 Pädagogische Kommunikation impliziert einen Ve r­ zicht auf Reziprozitätsbedingungen, wie sie die Er­ wachsenenliebe kennzeichnet. Sie verlangt eine asymme­ trisch angelegte Empathie auf seiten der Erwachsenen. Die historische Form dafür bietet zunächst die individualisierte

52 Diese Anforderungssteigerung ist in der soziologischen Literatur vielfä ltig beschrieben worden, Bei Max Weber finden wir die Hinweise auf die gesteigerte Selbstdisziplin in der methodischen Lebensführung der protestantischen Sekten, die einerseits die berechnende Wirtschaftsweise der modernen Gesellschaft geistig vorbereitete und andererseits im laufenden Betrieb von selbst reproduziert wird. Die gesteigerten Disziplinanforderungen der Moderne werden in der neuren Soziologie vorwiegend beschrieben unter dem Titel Individuali­ sierung. Es handelt sich um die Beschreibung einer typischen Kombina­ tion von Verhaltensbeschränkungen und Verhaltensfreisetzungen, die ambivalent wahrgenommen wird. Die Ambivalenz der Beschränkung ergibt sich aus den universell/spezifischen Teilnahmevoraussetzungen für funktional diffe renzierte Kommunikation. Die Ambivalenz der Frei­ setzung ergibt sich aus dem Umstand, daß kein Individuum mehr sich selbst als Teil eines funktional ausdifferenzierten Sozialsystems verste­ hen kann. Das moderne Individuum läßt sich somit als entdifferenzierte Komple ­ mentärform zu funktionaler Differenzierung beschreiben. Das Indivi­ duum muß die Hauptlast seiner Ausgrenzung allein tragen. Das kann es nur durch entsprechende Differenzierung seines Bewußtseins. Anderer53 seits Deren sich traditionelle auch neue Form (individualitätsbezogene) bildet ja eine auf Strukturen Formen der derInklusion Kommunika aus.­ tion bezogenene Kompakteinheit ohne allzuviel Bewußtseinsreferenzen. 54 Die Ego-Alter-Konstellation ist als Form der Selbstbeschreibung funk­ tionssystemischer Kommunikation aufzufassen. Sie gehört zum Medium wg. der selbstverständlichen Handhabung der darin liegenden Selektio ­ nen - ist aber andererseits Form i.S. einer vereinfachenden Selbstbeschreibung der Kommunikation. 55 Es ist wohl kein Zufall, daß die von Luhmann als Kommunikationsme ­ dien bezeichneten symbolischen Mechanismen wie Geld, Macht, Liebe in der modernen Gesellschaft alle gewissermaßen unter Drogenverdacht stehen! S. für die pädagogische Kommunikation nur Beck/BeckGernsheim, Alles aus Liebe zum Kind, in: das ganz normale Chaos der Liebe. Das zeigt eben die hohe Bindungskraft der generalisierten Sym­ bole für entsprechende Motive des Bewußtseins (im Unterschied zu der eher neutralisierenden Funktion der Mediencodes).

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Liebe der Eltern zum Kind.56 In der modernen Elternliebe zum Kind findet sich einerseits das Motiv der naturhaften Bindung, das sich gegenüber den Kontingenzen der Liebes­ partnerschaft profiliert57 und andererseits eine Entlastung der Eltern von den Risiken der intergenerativen Kom­ munikation (im Hinblick auf die Zukunft der Kinder).58 Die Motive der familialen Liebessemantik werden in der päd­ agogischen Kommunikation - insbesondere dann in der Schule59 - zurückgedrängt zugunsten einer symbolisch ge­ neralisierten Permissivität. Allerdings steckt bereits in der Wahrnehmung des Kindes als hilfsbedürftigem Wesen das spezifische Motiv, das die evolutionäre Errungenschaft der pädagogischen Ego-Alter-Konstellation absichert und es ermöglicht, diese unwahrscheinliche Form der Kommu­ nikation auch von leiblicher Elternschaft abzulösen. Gegen die Beschreibung dieser sozialen Konstellation als Merkmal der Modernität der pädagogischen Kommuni­ kation kann u.a. eingewandt werden, daß mit der Rücksicht auf das Erleben (also auch den organischen und psychischen Entwicklungsstand) des Kindes keineswegs etwas spezi­ fisch Modernes beschrieben ist. In vielen Beschreibungen der intergenerativen Beziehungen in Stammesgesellschaften - aber auch das sind ja moderne Beschreibungen! - wird betont, daß in diesen Gesellschaften im Umgang mit Kin­ dern mehr Sensibilität zu beobachten sei als in der Moderne. Das soll hier auch nicht bestritten werden. Wenn in Stam­ 56 Ohne das Motiv der Liebe wäre die situationsbezogene Austauschbar­ keit beider Seiten des pädagogischen Primärcodes, v.a. das Ge währen in der Elternrolle nicht durchhaltbar, während der Pädagoge in der profes­ sionalisierten Rolle die gewährende Einstellung mittels zeitlicher Be ­ schränkung wohl eher durchhalten kann. Zur Unterscheidung zwischen Liebescode und pädagogischem Code in der familialen Kommunika tion s. meinen Be itrag Romantische Liebe und Liebe zum Kind. Zur Diffe ­ renz der Codierung von Partnerschaft und Elternschaft, demnächst in: Partnerschaft vs. Elternschaft, Sonderband der Zeitschrift >System Fa ­ milie< 57 Natürlich stecken in dieser Motivlage der Eltern auch jene Abweichungsrisiken, Instrumentalisierungen des Kindes für eigene psychische Bedürfnis se, die heute in der familientherapeutischen Literatur viel beschrieben werden. Elisabeth Beck-Gernsheim gibt eine plastische Beschreibung der gestei­ gerten Ansprüche, die heute in Ländern wie der BRD an die Rolle der Elternschaft sich richten. In der Deutung von Beck-Gernsheim und an­ deren erscheint die "Liebe zum Kind" als eine spezifisch asymmetrische Ausformung der familialen Liebessemantik, eine Art "Opfermotiv", das in den modernen Part nerbeziehungen an Bedeutung verliert, das aber in der Eltern-Kind-Beziehungen als quasi-unauflöslich vorgestellte Bin ­ dung kompensatorische Funktionen für die Auflösung aller anderen Bin­ dungen erfülle. Die pädagogisch hochgetriebene "Liebe zum Kind" wird von verschiedenen Autoren als Überforderung für Eltern (und Kinder) betrachtet. Diese Kritik ist in der Sache merkwürdig unentschieden: Ei­ nerseits wird die Verbindung des Liebesmotivs mit einer Entwicklungs­ technologie bezüglich des Kindes kritisiert, also gewissermaßen die "na­ türliche Liebe" verteidigt, andererseits wird das Liebesmotiv selbst hi­ storisch infragegestellt und für ein sachgemäßeres Handeln plädiert. 58 Prange akzentuiert im Hinblick auf eine generalisierbare pädagogische Einstellung die (anthropologisch fundierte) Hilfsbedürftigkeit des Kin ­ des und reduziert die Liebe zum Kind auf einen Entlastungsmechanis­ mus, der lediglich in der Eltern-Kind-Beziehung legitime Ve rwendung findet. Die allgemeine Pädagogisierung der Liebe zum Kind sei hinge­ gen ein eher obsoletes Motiv der frühmodernen Pädagogik, die den Päd­ agogen noch eine universalisierte Elternrolle (und damit entsprechend unkontrollierbare Macht über die Zöglinge) zumißt. Zur entsprechenden Überhöhung des pädagogischen Eros bei Pestalozzi vgl. Prange, a.a.O (und H.C. Koller, Die Liebe zum Kind und das Begehren des Erzie hers). Diese Argumentation übersieht jedoch m.E. daß es sich bei der überein­ stimmenden Ego-Alter-Konstellation der Medien für Intimko mmunika ­ tion und für pädagogische Kommunikation wahrscheinlich doch nicht um einen Zufall sondern um das Merkmal handelt, das pädagogische Kommunikation z.B. von Machtkommunikation unterscheidet. 59 Dafür, daß es sich in der Schule nicht um Liebeskommunikation handelt s. auch Dreeben, 1980 S. 30


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft mesgesellschaften - und ebenfalls in traditionellen Hochkul­ turen - berücksichtigt wird, daß es in der kindlichen Ent­ wicklungsphase von Menschen besondere soziale Prä­ gungsmöglichkeiten und eine höhere Lernfähigkeit als im Erwachsenenalter gibt, dann handelt es sich hier um Errun­ genschaften der Kommunikation, die gewissermaßen intui­ tiv, dh. ohne moderne Pädagogik und Entwicklungspsycho­ logie gehandhabt werden konnten. Die evolutionäre Funkti­ on der rollenspezifischen Fixierung der pädagogischen Konstellation des Anknüpfens von Handeln an Erleben erhellt erst auf dem Hintergrund eines gesellschaftsstruktu­ rellen Wandels, in dem sich die pädagogische Orientierung auf Entwicklungen bezieht, die sich von den natürlichen Generationsrollen weitgehend abgekoppelt haben. Vormoderne Formen der pädagogischen Kommuni­ kation lassen sich u.a. an der fehlenden Unterscheidung normativer und kognitiver Kompo nenten erkennen. Für solche Formen der intendierten Sozialisation - die es bis heute etwa in der beruflichen Sozialisation gibt - gilt v.a. daß Anfängern einerseits nicht sogleich das volle Wissen für die Ausübung der Rolle zur Verfügung gestellt wird, andererseits auch nicht die volle Verantwortung für entspre­ chendes Handeln zugerechnet wird. Der Übergangsstatus des Noch-Nicht-Rollenträgers wird beendet durch irgendei­ nen Akt der Initiation in den Vollstatus. Es wird jedoch dabei keinesfalls rekurriert auf psychische Entwicklung i.S. der Zurechenbarkeit von Handeln auf Erleben. Dieser Re­ kurs dominiert in der Ego-Alter-Konstellation des Kommu­ nikationsmediums. Die Freistellung von Sanktionen für imperfekte Handlungen, also der Freiraum für Lernen, er­ folgt nicht wegen mangelnder Information (etwa rollenspe­ zifischem Wissen)60 sondern wegen mangelnder kommuni­ kativer Voraussetzungen für die kognitive Entwicklung des Kindes. Es handelt sich bei der funktionssystemtypischen Kombination von Selbst- und Fremdreferenz zugleich um eine spezifische Rekombination normativer und kognitiver Erwartungen. 61 Die normative Dimension der päd­ agogischen Konstellation besteht in der Freistellung von Sanktionen für Handlungen - die kognitive Dimension in dem dadurch geschaffenen Freiraum für Lernen durch Feh­ ler. Das Kommunikationsmedium unterscheidet - wie im Zusammenhang mit der Codierung noch genauer zu zeigen sein wird - im Anschluß daran dann Formen der Erziehung von Formen des Unterrichts. In der frühen Pädagogik fehlt diese Differenzierung noch und Beides erscheint ver­ schmolzen. Pädagogische Kommunikation kann sich noch nicht klar abgrenzen von bloßer Moralisierung62 einerseits und bloßer Wissensvermittlung andererseits. Die spezifisch pädagogische Kombination von Selbst- und Fremdreferenz, in der Alters Erleben fixiert und 60 So verfehlt Postman, wenn er das Verschwinden der Kindheit progno ­ stiziert, den springenden Punkt der Kindheitssemantik, wenn er die Un ­ terscheidung von Kindern und Erwachsenen am Wissen oder Nichtwis­ sen festmacht. 61 Vgl. die Unterscheidung normativ/kognitiv bei Luhmann u.a. in: Die Wissenschaft der Gesellschaft 3, III, wo daraus die Ausdifferenzie rung von Wissenschaft und Recht abgeleitet wird. 62 Durkheim, der einer aus heutiger Sicht überzogenen Auffassung von Moralerziehung zuneigt, unterscheidet zwischen Sanktionen mit Sühne­ charakter (die auf die Verletzung eines kollektiv geteilten Gefühls rea­ gieren, und in segmentären Gesellschaften dominieren) und Sanktionen mit Wiederherstellungscharakter (die bloß den jeweiligen Zustand vor dem Vergehen - zB. Eigentum - restituieren und eher für mo derne Ge ­ sellschaften typisch sind). Analog könnten auch die pädagogischen Frei­ stellungen unterschieden werden. Vgl. Piagets Durkheim-Kritik in Das moralische Urteil beim Kinde, Ffm.1973 113

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Egos Handeln kontingent gesetzt wird, muß in der pädago­ gischen Kommunikation selbst deutlich von den Konstella­ tionen anderer symbolisch generalisierter Kommunikati­ onsmedien unterschieden we rden können. Die Entwicklung des Welterlebens des Kindes ist der Ausgangspunkt, von dem aus die pädagogischen Handlungs alternativen be­ stimmt werden. Von dieser Konstellation ausgehend sollen im Folgenden die Voraussetzungen der Ausformung päd­ agogischer Kommunikation durch Codierung ihres Medi­ ums beschrieben werden. Den hier primär wirksamen Code bezeichne ich als Permissionscode. Von derselben EgoAlter-Konstellation ausgehend werde ich anschließend zwei weitere Binär-Codierungen unterscheiden und bezeichnen, die im System der pädagogischen Kommunikation zur Gel­ tung kommen.63 Gewähren und Nichtgewähren Wer in der modernen Gesellschaft an pädagogischer Kommunikation teilnimmt, hat schon gelernt, die pädagogi­ sche von anderer Kommunikation zu unterscheiden. Wie ist das aber möglich? Woran ist pädagogische Kommunikation zu erkennen? Jedenfalls nicht allein daran, daß sie in der Schule stattfindet, denn das würde zu Vieles - zB. die Fami­ lie - ausklammern. Und auch nicht daran, daß sie mit der Absicht verbunden ist, das Bewußtsein und Verhalten eines Menschen zu verändern, denn das würde zu Vieles - z.B. jede Machtausübung - einschließen. Die Absichtlichkeit der Erziehung - im Unterschied zu bloß mitlaufender Sozialisa­ tion - ist zweifellos ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. Jedoch ist gerade dies nicht auf den ersten Blick erkenn­ bar.64 Es muß sich hier aber um eine Form handeln, die gewissermaßen auf einen Blick erkennbar macht, daß es sich um Pädagogik - und nicht zB. um eine Therapie oder ein Verkaufsgespräch oder um Liebespartnerschaft - han­ delt. Die Voraussetzungen für solche Formbildungen bieten die Binärcodierungen des Mediums. Wer an pädagogischer Kommunikation teilnimmt, kann sich also zur Unterschei­ dung der etablierten Mediencodes bedienen. Mit der Unterscheidung von Kindern und Erwachse­ nen hat sich ein symbolisch generalisiertes Medium entwi k­ kelt, in dem nicht nur verschiedene sondern v.a. auch in verschiedener Hinsicht technisierbare Formen pädagogi­ scher Kommunikation sich ausprägen können. Obwohl Kindheit seit Ariés als eine moderne Erfindung gilt, läßt sich von einem Medium, das den Leistungserfordernissen eines modernen Funktionssystems entspricht, erst sprechen, 63 Schematische Skizze von Aspekten der Mediencodierung ERSTCODE ZWEITCODE NEBENCODE SINNDIMENSION sozial zeitlich sachlich SYSTEMBEZIEHUNGEN Funktion Leistung Reflexion HANDLUNGSFORM Erziehung Unterricht Bildung HANDELN/ERLEBEN Erzieher/Zögling Lehrer/Schüler Welt/Selbst CODEBEZEICHNUNG Permission Selektion Bildung BINÄRSCHEMA gewährt/nichtgewährt besser/schlechter selbständig/unselbständig 64 Sondern erst aus der Perspektive eines (wissenschaftlichen) Beobach ­ ters, der beobachtet, wie mit Hilfe von funktionsspezifischen Codes zwi­ schen Fremd - und Selbstreferenz der pädagogischen Kommunikation unterschieden wird. Ich ordne deshalb die "pädagogische Absicht" der selbstreferentiellen Seite des Primärcodes zu. Vgl. Luhmann, Niklas, 1992, System und Absicht der Erziehung. in: Luhmann/Schorr, Zwi­ schen Absicht und Person. S.102-124


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft seit es auch binäre Codierungen aufweist. Die Un­ terscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern kann diese Voraussetzungen nicht erfüllen, weil die beiden Seiten der Unterscheidung sich nicht wie Positiv- und Negativwert zueinander verhalten und deshalb auch nicht durch aus­ tauschbare Programme spezifiziert werden können.65 Binär schematisierte Unterscheidungen bilden die einfachste Semantik, die die Gesellschaft für Beobach­ tungszwecke zur Verfügung stellen kann. Luhmann hebt diese Funktion hervor an dem allgemeinen Fall der Ja/NeinUnterscheidung der Sprache, die zugleich offen und den­ noch geschlossen gegenüber der Welt ist, weil es in der Welt dafür gar keine Entsprechung, nämlich nichts Negati­ ves gibt. Binärcodes erfüllen eine grenzbildende Funktion im Funktionssystem, indem sie als nicht weiter reduzierbare Unterscheidungen fungieren. Für Beobachter machen sie gewissermaßen auf einen Schlag erkennbar, um was für eine Art von Kommunikation es sich handelt. Alle anderen (anders codierten) Arten von Kommunikation sind damit ausgeschlossen. Andererseits ist damit jedoch kein Thema ausgeschlossen sondern gerade universeller Weltbezug ermöglicht. Die Binarisierung ist semantisch äußerste Be­ schränkung, Rigidität, die dann - systemeinheitlich verwe n­ det - ganz im Gegensatz zu den starren Beschränkungen traditioneller Kommunikationsformen äußerste Flexibilität für verschiedenste Programme ermö glicht. Die Binärcodierung fügt dem Medium zweierlei hin­ zu: einerseits den Geschwindigkeitsvorteil der einfachen Unterscheidung und andererseits die Möglichkeit der Refle­ xion am Gegenwert. Mediencodes enthalten keine Informa­ tionen, sondern nur Mitteilungen. Wenn das Kind versteht, daß es in einer bestimmten Situation etwas darf, was es sonst nicht darf (oder was Erwachsene nicht dürfen) dann versteht es dies nur, weil es den Informationsgehalt diese Mitteilung schon kennt und das Neue der jeweiligen Situa­ tion auf diesem Hintergrund zu verstehen gelernt hat. Das Verschwinden des Mediums hinter der Form sichert den Bindungscharakter der Mitteilungskomponente der Ko m­ munikation. Allerdings muß man den Binärcode kennen ­ also an den entsprechenden Formen der Kommunikation auch beobachten können - um seine Vorteile ausschöpfen zu können. Es genügt nicht - wie im Falle der zugrundeliegen­ den Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern ­ die Unterscheidung blind zu vollziehen. Wer einen Medien­ code benutzt, nimmt damit schon die Position eines Beob­ achters zweiter Ordnung ein (ohne dies wiederum zu reflek­ tieren). Sonst wäre die operative Schließung des Funktions­ systems nicht möglich. Nur wenn die Teilnehmer an päd­ agogischer Kommunikation mit dem entsprechenden Code vertraut sind, kann diese Kommunikation sich selbst von Ereignissen in ihrer Umwelt unterscheiden, also die Sy­ stemgrenzen aufrechterhalten. Die Erstcodierung des Mediums strukturiert vor allem die - schon skizzierte - Sozialdimension der pädagogischen Kommunikation. Das pädagogische Handeln bezieht sich auf das Erleben des Zöglings. Das entsprechende Handeln wird - trotz aller irritierenden Assoziationen der tradierten

65 In den avanciertesten Formen der Ausdifferenzierung des modernen Bildungssystems wird die Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern soweit flexibilisiert, daß das Pädagogische im Erwachsenenle­ ben wiederkehrt als lebenslange Lernerwartung. Diese Form darf jedoch nicht verwechselt werden mit traditionellen Bildungsformen, die den Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern gar nicht kannten.

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Semantik66 - gewöhnlich als Erziehung bezeichnet. Im Be­ reich der familialen und außerfamilialen Erziehung besteht die binäre Codierung aller pädagogischen Kommunikation v.a. in der Alternative, dem Kind die Folgen seiner eigenen Handlungen zuzurechnen oder nicht zuzurechnen. Einerseits werden bestimmte Handlungsfolgen Kindern nicht zuge­ rechnet, d.h. sie dürfen aus Fehlern lernen, ohne mit Sank­ tionen rechnen zu müssen. Andererseits gibt es bestimmte Handlungsfolgen, die auch Kindern zugerechnet werden, d.h. auch sie müssen bei Normabweichungen mit Sank­ tionen rechnen. Aber es handelt sich um andere Normen, als sie in vergleichbaren Situationen für Erwachsene gelten würden. Der Binärschematismus, der die Besonderheit päd­ agogischer Kommunikation ausmacht, läßt sich m.E. be­ zeichnen mit der Alternative: Gewähren oder Nicht­ gewähren. Das Binärschema ist zwar wertfrei aber nicht symmetrisch konzipiert.67 Mit Bezug auf den raschen gesellschaftlichen Wandel als Charakteristikum der Moderne wird dem Bildungssy­ stem eine Beschleunigungsfunktion im Hinblick auf diesbe­ züglich erforderliche Entwicklungsprozesse der Menschen zugeschrieben. Paradoxerweise zeigt sich jedoch als primä­ res Muster der pädagogischen Kommunikation eher das der "verzögerten Entwicklung", das "psycho-soziale Moratori­ um"68. Nicht der Schnellentwickler sondern eher der "Spät­ entwickler" ist das Vorbild des Primärcodes der päd­ agogischen Kommunikation. Obwohl es sich hier, wie man heute wissen kann, um ein Grundmuster der Anthropo­ genese69 handelt, ist dessen Verwendung in symbolisch generalisierten Formen der Kommunikation damit nicht weniger unwahrscheinlich. Außerhalb der pädagogischen Kommunikation gilt ja allemal die schnellstmögliche Ent­ wicklung der Individuen als Vorteil. Und auch das Bil­ dungssystem hat sich in seinen Außenbeziehungen mit ent­ sprechenden Erwartungen auseinanderzusetzen.70 Es handelt sich - ähnlich wie in anderen Fällen funktionssystemisch spezialisierter Kommunikation - um das allgemeinere Mu­ ster der Funktionssteigerung durch Beschränkung: Indem der Abschluß von Individuationsprozessen "künstlich" - dh. durch bestimmte Arrangements der Kommunikation - ver­ 66 Die im Deutschen eingeführte Bezeichnung Erziehung bleibt seman ­ tisch unscharf - auch im Vergleich zu der stärker aufklärungsorientierten Bezeichnung "education". Mit der Assoziation von Zucht und Züchti­ gung enthält die tradierte Semantik der Erziehung noch viel von der Ambivalenz der vormodernen intergenerativen Kommunikation. S. schon. Fußnote 13 Die Assoziationen an das alteuropäische Verständnis werden häufig zum Anknüpfungspunkt für vermeintlich "antipädagogi­ sche" Argumentation, die nicht wahrhaben will, daß die inkriminierte "pädagogische Intervention" sich gar nicht auf das Bewußtsein des Zög­ lings sondern auf das soziale Arrangement bezieht, in dem sein Be ­ wußtsein sich entwickeln soll. 67 Entgegen dem verbreiteten antipädagogischen Ressentiment besteht das vorrangige Mittel ja nicht in Be strafungen sondern in der gezielten Frei­ stellung von Sanktionen, die bei Erwachsenen auf vergleichbare nor­ mabweichende Handlungen erfolgen würden. In der pädagogischen Theorietradition wird derselbe Sachverhalt auch mit der Formel vom "Wachsenlassen" - im Unterschied zur traditionellen pädagogischen In­ tervention - bezeichnet. Diese Semantik ist jedoch nicht verwendbar für die Codierung des Mediums, weil die polemische Frontstellung zur In­ terventionspädagogik eine pädagogische akzeptable Negativfassung noch ausschließt. 68 Ein von E.H. Erikson geprägter Terminus, der bevorzugt in der Jugend ­ soziologie Verwendung findet. Auch hier kehrt die Semantik des päd­ agogischen Primärcodes wieder, die schon in pädagogischen Bezeich­ nungen wie "Provinz", "Schonraum" enthalten ist. 69 Vgl. A.Montagu, Zum Kind reifen a.a.O.. 70 S. die Forderungen von Wirtschaft und Politik an eine Verkürzung der institutionalisierten Bildungszeiten.


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft zögert wird, wird die angelegte Lernfähigkeit des Me nschen gesteigert. Die Binäralternative Gewähren/Nichtgewähren sollte nicht verwechselt werden mit dem alteuropäischen Schema erlaubt/nichterlaubt.71 Gewährt wird nicht etwa alles, was nicht verboten ist, sondern alles, was der Entwicklung des Bewußtseins förderlich sein könnte. Die pädagogische Per­ missivität läßt sich dehalb auch nicht als eine Art Wegsehen des Pädagogen vom Handeln des Kindes deuten. Das päd­ agogische Gewähren ist ein aktiver Vorgang. 72 Es setzt sich in pädagogischen Programmen um, die in die kommunikati­ ve Umwelt des Kindes eingreifen. Der Unterschied läßt sich gerade daran erkennen, daß das Gewährenlassen die Posi­ tivseite des Codes bildet. Es geht vorrangig darum, daß hier etwas erlaubt ist, das sonst - unter dem Druck einer auf Bewußtseinsentwicklung nicht eingestellten sondern diese immer schon voraussetze nden Umwelt - nicht erlaubt wäre. Das pädagogische Gewähren wird erst relevant im Kontext einer Gesellschaft, die dem kindlichen Bewußtsein sonst keine adäquaten Entwicklungs bedingungen gewähren kann. Es konstruiert eine Welt ohne Differenzen (dh. ohne Sank­ tionen, wenn Differenzen mißachtet werden) und erweist sich gerade dadurch als Konstruktion einer Sonderwelt. Da die funktionale Differenzierung der Gesellschaft an Tiefen- und Breitenwirkung noch ständig zunimmt, las­ sen sich bedeutsame Verschiebungen in der Semantik des Primärcodes der pädagogi schen Kommunikation von der Frühmoderne bis zur Gegenwart feststellen. So gerät das pädagogische Gewährenlassen heute in zunehmende Kon­ kurrenz mit den permissiven Weltkonstruktionen der neuen Mitteilungsmedien (ihren Werbebotschaften, ihrem Unter­ haltungsangebot) während es sich in der Frühmoderne noch abgrenzte von der familialen "Verwöhnung" des Kindes. Gerade diese Entwicklung läßt sich stärker an der Negativ­ seite des pädagogischen Primärcodes, an dem was aus päd­ agogischen Gründen nicht gewährt werden soll (zB. kein Fernsehen!) ablesen. Die Vorgeschichte der Codierung des pädagogischen Mediums ist geprägt durch gegenläufige Traditionen päd­ agogischer Reflexionstheorie73: Von der Pädagogik der Aufklärung, dem Philantropismus bis zu utilitaristischen Strömungen der Gegenwart läßt sich eine Traditionslinie verfolgen mit der Wertpräferenz für eine Pädagogik des Eingriffs i.S. der Abgrenzung von einer animalisch-wilden Natur des Kindes und der Einpassung in die Gesellschaft. 71 Die Binärcodierung schließt nicht aus, daß dieselbe Differenz - etwa in der Alternative erlaubt/verboten - auch in anderer Kommunikation (zB. in Strafanstalten, Hausordnungen, StVerkehrsordnung etc.) vorkommt, dann jedoch nicht als Codierung (des funktionssystemischen Mediums) sondern als untergeordneter Teil eines anderen Mediums oder als einfa­ che Beobachterunterscheidung (wie zB. die wahr/unwahr-Diffe renz jen­ seits der Wissenschaft). 72 Vielleicht kann man den operativen Charakter des Gewährens am Beispiel der pädagogisch-ideengeschichtlichen Referenz auf Rousseaus "Emile" deutlich machen: Gerade der mythische Charakter dieser Kon­ struktion, auf den sich die mo derne Pädagogik (v.a. die romantische Tradition im Unterschied zur interventionsfreudigeren Tradition der Aufklärung) zurückbezieht, der "Naturzustand" in dem sich das Kind (seine Anlagen) selbst am besten entwickelt, erweist sich ja (und das hat die Pädagogik inzwischen selbst bemerkt) in seiner praktischen Kon­ sequenz als eine totalitäre Konstruktion. Ohne Eingriff kann hier nichts wachsen. Die moderne Pädagogik beschränkt den Eingriff deshalb auf ihr Funktionssystem. 73 Es handelt sich hier um Reflexionsformen jener fundamentalen Amb i­ valenz der Moderne, die auch die Reflexionstheorien anderer Funktions­ systeme durchzieht, jedoch solange nicht angemessen reflektiert wird, wie die Theorie jeweils nur eine Seite dieser Ambivalenz repräsentiert.

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Von christlich-mystischen Bildungsideen und frühem Hu­ manismus über Romantik, Neuhumanismus bis zu neueren Bildungstheorien läßt sich eine andere Traditionslinie ve r­ folgen mit der Wertpräferenz für das Wachsenlassen des Kindes als Form der Entfaltung eines an sich schon zur Vernunft angelegten (gottähnlichen) Wesens. Erstere betont das idiosynkratische Differenzempfinden, letztere die Ein­ heitssehnsucht in der pädagogischen Kommunikation. So­ lange diese beiden Traditionen pädagogischer Selbstbe­ schreibung ihre Wertpräferenzen in unversöhnlichem Ge­ gensatz zueinander setzten, konnte sich ein leistungsfähiger Mediencode für das Bildungswesen nicht herausbilden. Die Pädagogik konnte sich nicht abgrenzen von allgemeiner Menschen- oder Weltverbesserung. Die evolutionäre Er­ rungenschaft des Mediencodes besteht gerade darin, daß Po­ sitiv- und Negativseite des Codes frei programmierbar we r­ den. Der Streit kann dann von der allgemeinen Ebene (Ge­ währen=Wachsenlassen vs. Nichtgewähren=Intervenieren) auf die Ebene der jeweiligen Programme verlagert werden, die über die Anwendbarkeit des Positiv- oder Negativwerts entscheiden. Die pädagogische Kommunikation gehört sicherlich auch zu den Kommunikationsstrukturen der Gesellschaft, die wegen ihres immanenten Versachlichungspotentials auf die neuen Medien (TV, EDV) schon "gewartet" haben. Diese Aussage mag auf dem Hintergrund von pädagogi­ schen Theorien, die den Personbezug hervorheben, provokativ klingen. Es kann jedoch als ein Grundzug der pädagogischen Kommunikation der Moderne beschrieben werden, die Bindung des Lernens von Personen abzulösen und stattdessen die Lernvorgänge an Sachthemen zu binden. Diese Versachlichung, die schon in der Frühmoderne als Vorteil der öffentlichen Erziehung gegenüber der Privaterziehung gewertet wurde,74 kommt mit der EDV überhaupt erst auf den Punkt ("Der Computer schreit mich nicht an!").75 Zugleich mit dieser Ve rsachlichung der Lern­ vorgänge findet innerhalb der pädagogischen Kommunikation jene Differenzierung statt, die den personbezogenen Vorgang der Erziehung von der traditionellen Kompaktform zur Permissivität gegenüber Kindern spezifiziert. Erfolgssteuerung und Reflexion Dem Positivwert des Codes, dem Gewährenlassen, steht semantisch fast gleichwertig und mitteilungstechnisch austauschbar der Negativwert gegenüber. Selbst wenn durch pädagogische Programme festgelegt wird, daß ein Kind sehr Vieles darf und in der pädagogischen Kommunikation fast nichts nicht darf, so wird doch durch den Gegenwert mar­ kiert, daß es sich um eine Ausnahmekommunikation han­ delt: Man weiß, daß es nur aus pädagogischen Gründen gewährt wird. Zwischen dem Positivwert des Gewährens und dem Negativwert des Nichtgewährens ist allerdings Eines ausgeschlossen: Daß das Kind einfach tut, was es tut, ohne zu wissen, ob es das darf oder nicht. Die Un­ wahrscheinlichkeit der pädagogischen Kommunikation gewinnt ihren Halt am Ausschluß von Drittem. Der Binär­ code beendet den pädagogischen Stand der Unschuld. Im Positivwert des Primärcodes zeigt sich die Er­ folgsorientierung der pädagogischen Kommunikation. Der 74 S. Stichweh 1991, S. 281f zum Fall der Adelsbildung; s. auch G.W.F.Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd.7, Pa ­ ragr.238,239 75 zit. bei Patricia Highsmith a.a.O.


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft Erfolg wird gesucht in der evolutionär unwahrscheinlichen Beeinflussung des kindlichen Bewußtseins und Verhaltens durch pädagogische Kommunikation. Der Fremdbezug des Positivwerts als Erfolgswert des Primärcodes ist zu unter­ scheiden sowohl von selbstreferentiellen Aspekten dieses Codes (etwa der pädagogischen Absicht überhaupt) wie auch vom Negativwert (in selbst- und fremdreferentieller Hinsicht). Operationen der pädagogischen Kommunikation, die sich nicht an diesem Positivwert des Primärcodes orien­ tieren, können der Fortsetzung der pädagogischen Kommu­ nikation - i.w.S. der Autopoiesis des Funktionssystems ­ dienen, sie können jedoch nicht den funktionsspezifischen Erfolg sichern.76 Der Negativwert von Binärcodierungen wird von Luhmann auch als Reflexionswert bezeichnet, weil die Unterscheidung - hier die zwi schen Gewähren und Nicht­ gewähren - darin gewissermaßen wiederkehrt. Das Funkti­ onssystem erzeugt im Negativwert seines Mediencodes jene Differenz von System und Umwelt, an der es sich als Ein­ heit orientieren kann, wenn es sich selbst beobachtet.77 Der Negativwert des Primärcodes entfaltet besondere Funktio­ nen in der fortlaufenden Selbstbeobachtung (und -be­ schreibung) des Systems, weil er davon entlastet ist, den Erfolg der pädagogischen Kommunikation zu sichern. Des­ halb treten gerade mit Bezug auf den Negativwert typische Konfusionen in der pädagogischen Diskussion auf. Ein Beispiel für eine solche Konfusion in der neueren pädagogischen Diskussion besteht in der "antipädagogi­ schen" Identifikation der Pädagogik als einer modernen Form der Unterdrückung von Kindern. Es handelt sich bei solcher kritisch gemeinten Argumentation um die Beschrei­ bung des Pädagogischen nicht als Einheit der Differenz der beiden Seiten des Codes sondern ausschließlich über den Negativwert des pädagogischen Codes. Die argumentative Fixierung auf den Negativwert ist innerhalb des Funktions­ systems solange nicht aufzulösen, wie die Unterscheidung zwischen Gewähren und Nichtgewähren nicht reflexiv ver­ wendet wird. In der Perspektive eines Beobachters zweiter Or d­ nung wird es möglich und notwendig, zwei Ebenen ausei­ nanderzuhalten: Erstens die Ebene der Al ltagskommunika­ tion, in der es immer schon Verbote und Strafen für Fehl­ verhalten gibt, ganz ungeachtet irgendwelcher pädagogi­ schen Intentionen. Und zweitens die Ebene der pädagogi­ schen Kommunikation, in der es auch Verbote und Strafen gibt, hier jedoch als Negativwert pädagogisch codierter

76 Schematische Darstellung der Variation von Selbst- und Fremdreferen ­ zen beim Erstcode der pädagogischen Kommunikation Permissionscode Positivwert Negativwert Fremdreferenz Gewähren, bes. Fehlertoleranz Nichtgewähren, pädagogische Verbote Selbstreferenz pädagogische Intention Mißbrauchsverbote u.ä. Die Primärcodierung steigert v.a. die Anschlußsicherheit der fremdrefe ­ rentiellen Seite der pädagogischen Kommunikation, also gegenüber dem Kind. Auf der selbstreferentiellen Seite erscheint hier die "pädagogische Intention" als tautologisches Symbol (i.S. von Luhmanns Ausführungen in: Absicht und System der Erziehung a.a.O. S. 120ff) und nicht die konkrete Motivlage des Erwachsenen - etwa die "erlaubte Regression" ­ in der pädagogischen Interaktion. Die Bewußtseinslage des Erwachse­ nen, (seine Teilnahmemotive und deren Entwicklung) ist im Medium vorausgesetzt und kein Gegenstand, auf den die pädagogische Kommu ­ nikation referiert. 77 Eine Formulierung von Luhmann aus: Die Wissenschaft der Gesell­ schaft S. 316, die auf die Verknüpfung von system- und medientheoreti­ scher Beschreibung zielt.

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Kommunikation, in dem die (soziale) Umwelt-Beziehung des Funktionssystems der pädagogischen Kommunikation symbolisiert ist, also die Differenz zwischen pädagogischer und nichtpädagogischer Kommunikation in pädagogischer Form wiederkehrt. Bei der Beschreibung moderner Funktionssysteme anhand ihrer Mediencodes handelt es sich - wie eingangs bemerkt - um institutionalisierte Formen der Beobachtung zweiter Ordnung. Beobachtungen zweiter Ordung setzen stets Beobachtungen erster Ordnung voraus. Es ist jedoch nicht möglich, gleichzeitig auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung und der Beobachtung zweiter Ordnung zu operieren. Jeder Wechsel der Beobachtungsebenen kostet Zeit. Deshalb besteht die Funktion der Binärcodierung v.a. darin, einen relativ raschen Wechsel der Beobachtungsebe­ nen erster und zweiter Ordnung zu ermöglichen.78 Die Be­ obachtungsebene zweiter Ordnung wird durch den Nega­ tivwert des Mediencodes - gewissermaßen als Kompaktein­ heit - im System repräsentiert. Es handelt sich um eine Form der Reflexion als laufende Umstellung der Kommuni­ kation von der Orientierung an der technischen Erfolgs­ steuerung über den Positivwert zur Reflexion der Grenzen dieser Kommunikation über den Negativwert. Reflexion wird in der Form des Wechsels der Beob­ achtungsebenen vom Positiv- zum Negativwert des Medi­ encodes - hier zwischen pädagogischem Gewähren- und Nichtgewährenlassen - also erheblich abgekürzt und da­ durch jederzeit möglich. Allerdings kann diese zeitlich abgekürzte Form nicht allen Reflexionsanforderungen im System genügen. Deshalb werden Formen der (pädagogi­ schen) Dauerreflexion in besonderen Institutionen - als pädagogische Theoriebildung im Kontext des Wissen­ schaftssystems - ausdifferenziert. - Ich komme darauf zu­ rück. Zunächst möchte ich die Beschreibung des Erstcodes abschließen mit einigen Hinweisen auf die technischen Rationalisierungsmöglichkeiten der pädagogischen Kom­ munikation im Anschluß an die zwe iwertige Codierung. Programme und Methoden Trotz der Präferenzmarkierung für die Positivseite der Codierung als Erfolgswert muß hier festgehalten werden, daß es nicht die Funktion des pädagogischen Primärcodes ist, Ambivalenzen der pädagogischen Kommunikation vor­ ab auszuräumen, sondern gerade: sie zuzulassen. Was ge­ währt und was nicht gewährt wird, wird erst durch pädago­ gische Programme geregelt. Und was Diese dann konkret ausschließen oder zulassen, kann leicht kritisiert und durch neue Programme korrigiert werden. Auf der Ebene der päd­ agogischen Diskussion über Programme können die Bewe r­ tungen von Maßnahmen des Gewährens oder Nichtgewäh­ rens sich leicht ins Gegenteil verkehren: Historisch wurde gerade das Nichtgewähren als pädagogische Schutzmaß­ nahme gegenüber dem zu frühen Erleben der modernen Arbeitswelt und im Zusammenhang damit gegenüber den Risiken des Familienzerfalls, der Verwahrlosung etc. inter­ pretiert. Aber es bedurfte schon programmatischen Auf­ wands, damit dieselbe Maßnahme nicht als Vorenthalten 78 Es handelt sich hier also - wenn ich Luhmanns diesbezügliche Theorie ­ konstruktion richtig verstehe - nicht einfach um einen Wechsel zwischen zwei Seiten einer Unterscheidung, die natürlich auch auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung (zB. gut/schlecht) möglich ist, sondern um einen Wechsel der Beobachtungsebenen, der sich aus der Funktion des Negativwerts als Reflexionswert ergibt.


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft von sozialer Anerkennung und Freiheit (Geldeinkommen) oder als unzumutbarer Eingriff in die tradierten Elternrechte (Schulpflicht) verstanden wurde. Nichtgewähren kann im jeweiligen Kontex als Begleitmaßnahme des Gewährens eines pädagogischen Lebensraums interpretiert werden.79 Aber keine Interpretation kann die Ambiva lenz der pädago­ gischen Kommunikation prinzipiell ausräumen und sich vor der Frage schützen, ob und wodurch denn solcher Eingriff in die Umwelt des Kindes sich legitimiere.80 Die spezifische kommunikationstechnische Leistung des Primärcodes liegt nicht in der Permissivitätspräferenz sondern in der Austauschbarkeit der Programme. Der Code legt nur fest, daß alle pädagogische Kommunikation entlang dieser Differenz verzweigt. Daß das Eine gewährt wird und das Andere nicht, erlaubt fast ebenso gute Anschlußkom­ munikation. Aber das gewährte Handeln zeichnet sich als pädagogisch codiert gerade dadurch aus, daß es in anderen Kommunikationssystemen - mit anderen Programmen - so nicht anschlußfähig wäre. Erst diese Relationierung von Code und Programmen läßt auch den Stellenwert pädagogi­ scher Methoden erkennen.81 Da die Codierung des Mediums die spezifische Kombination von Selbst- und Fremdreferenz bewahrt und der systeminternen Variation entzieht, setzt sie andererseits Mö glichkeiten der Variation fremdreferentieller Operationen des Systems frei. Die flexible Austauschbarkeit der Programme, die darüber entscheiden, was pädagogisch gewährt oder nicht gewährt werden soll, ermöglicht ein rekursives "Abtasten" der funktionsrelevanten Umwelt, das dann methodisch betrieben und als funktionssystemischer Wissensbestand gespeichert und weiterentwickelt werden kann.82 79 Hiervon zu unterscheiden ist dann das Nichtgewähren in der Form einer (für das Kind absehbaren) Terminierung des Gewährens von Fehler­ toleranz, die sich erst auf der Grundlage der Zweitcodierung des Medi­ ums im Kontext der Schule einspielt. In dieser eingespielten Form kann das schulische Nichtgewähren offenkundig wieder ohne allzuviel Refle ­ xion auskommen. 80 Der pädagogisch springende Punkt ist hier die Orientierung des Han ­ delns entweder an der selbstreferentiellen Geschlossenheit des kindli­ chen Bewußtseins, also seiner Selbständigkeit oder an seiner Offenheit i.S. der Bereitschaft zum Lernen. Die "Aufgeschlossenheit" zum Lernen setzt immer schon die Selbständigkeit des Kindes voraus. Andererseits ist Lernen die andauernde Voraussetzung dafür, daß es diese Selb­ ständigkeit wahren (bzw. steigern) kann. Pädagogisches Handeln kann sich nicht gleichzeitig an Beidem orientieren sondern muß situati­ onsabhängig entscheiden, wann es auf die elementare Selb ständigkeit des Kindes Bezug nimmt, bzw. diesbezüglich soziale Gewinne stabili­ siert, und wann es auf die relative soziale Unselbständigkeit des Kin des Bezug nimmt und von daher Variation begünstigt. 81 Methoden hier verstanden i.S. einer pädagogischen Technologie - deren Existenz Luhmann ja theoretisch bestreitet - s. zuletzt wieder in Beob­ achtungen der Moderne S. 203f. 82 Ich kann die Theoriekonstruktion, innerhalb derer die Frage funktions ­ systemtypischer Techniken ausführlicher zu behandeln wäre, hier nur andeuten. Die soziologische Betrachtung des Bildungssystems als Funk­ tionssystem der Gesellschaft darf nicht übersehen, daß die Pädagogik es - bei aller Selbstreferentialität der Kommunikation - mehr mit Kultur als mit Gesellschaft zu tun hat. Auszugehen wäre m.E. von einem päd­ agogisch relevanten Begriff der Kultur, der auf die Einheit der Differenz des Sozialsystems mit den organischen Voraussetzungen des Menschen in seiner ökologischen Nische referiert, Kultur also als Struktur der Koppelung der biogenen und sozialen Systeme des Menschen betrachtet. Die für die Pädagogik nächstwichtige Rolle darin spielen m.E. die Mit ­ teilungsmedien Sprache, Bilder, Schrift, Typographie etc, deren metho­ dische Reflexion ja zu allen pädagogischen Programmen gehört. Mit der Evolution der Mitteilungsmedien wandeln sich auch die kulturellen Strukturen, die Menschen müssen bestimmte Techniken erlernen, um damit (i.S. einer funktionierenden Reduktion von Komplexität) umzuge­ hen. Dies kann funktionieren, obwohl weder die kulturelle noch die mit ­ teilungstechnische Struktur der Koppelung selbst für Operationen der

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Internalisierung von Leistungserwartungen Das moderne Bildungswesen kombiniert - wenn man seine Ausformung in Organisationen betrachtet - zwei histo­ risch ganz verschiedene Entwicklungen: Erstens die Aus­ grenzung eines sozialen Schonraums für Kinder - idealty­ pisch zuerst realisiert in Pestalozzis "Kindergarten" - und zweitens die Aquisition von Berufszugängen - idealtypisch zuerst realisiert in den universitären Examina für die Profes­ sionen der Kleriker, Juristen, Mediziner (und Lehrer).83 Die Selektion durch Prüfungen repräsentiert die Umweltrele­ vanz des Systems und sichert zugleich seine Autonomie (zB. gegenüber der Selektivität der Wirtschaft). Die päd­ agogische Autonomie selbst - wie auch die altersspezifische Stufung seiner Organisationen - repräsentiert wi ederum die pädagogische Idee des Schonraums. Zu den charakteristischen Problemen in der Selbstbe­ schreibung des modernen Bildungssystems gehört es, daß die enge Verbindung seiner Ausdifferenzierung mit dem Strukturwandel der Gesellschaft an einer Stelle ausgeblen­ det wird, wo sie mit dem pädagogischen Selbstverständnis i.S. des Primärcodes kollidiert: in der Verbindung zwischen der Systemautonomie und der Bewertung von Bil­ dungsleistungen. Ich versuche, das pädagogische Selbstve r­ ständnis, das sich von der Selektionsfunktion distanziert (ohne sie auflösen zu können) gegen den üblichen Ideolo­ gieverdacht (Selbstillusionierung der Pädagogen) theore­ tisch so zu rekonstruieren, daß sein Zusammenhang mit der Operationsweise des Systems erkennbar wird. Der Erfolg der pädagogischen Kommunikation ba­ siert offenbar darauf, daß das Kind etwas darf, was es au­ ßerhalb pädagogischer Kommunikation nicht darf. Jedoch ist diese Permissivi tät durch die Binärcodierung verknüpft mit einer wesentlichen Einschränkung, die sich im Nega­ tivwert ausdrückt: Es wird erwartet, daß das Kind auch weiß (oder zu wissen lernt), was es nicht darf. Es darf Fehler ma­ chen, die Erwachsenen nicht unterlaufen dürfen, aber es soll daraus auch lernen. Diese im Erstcode schon angelegte Be­ schränkung wird in der Zweitcodierung ausgebaut i.S. einer erneuten Verzweigung in Positiv- und Negativwert. Die Wirkung des pädagogischen Primärcodes ist kei­ neswegs auf die Ebene der Interaktion unter persönlich Anwesenden beschränkt.84 Pädagogische Kommunikation findet in der modernen Gesellschaft zwar weiterhin auch auf der Ebene der Interaktionssysteme statt - gerade die Permissivität des Primärcodes läßt sich offenkundig pro­ blemlos mit der familialen Liebessemantik verbinden - sie entfaltet aber ihre gesellschaftsweite Wirksamkeit erst durch die Inanspruchnahme von Organisation. Die Ausdifferenzie­ rung von pädagogischen Organisationsystemen bildet auch den Ausgangspunkt für die erneute Bifurkation des pädago­ gischen Mediencodes. In der Zweitcodierung des Mediums beteiligten Systeme zur Dis position steht. Was da in evolutionären Pro­ zessen technisch zu beherrschen gelernt wird, bleibt eine Konstruktion des jeweiligen Systems. 83 Zur zunehmenden externen Relevanz von Prüfungen und Graduierun ­ gen im Übergang von der spätmittelalterlichen zur frühmodernen europäischen Universität vgl. Stichweh 1991, S. 341ff 84 So erscheint es im tradierten Reflexions-Modell der Erzieher/ZöglingDyade. Die geisteswissenschaftliche Theorietradition verlegt deshalb die Anfänge der pädagogischen Kommunikation in die Familie und bezahlt dies mit einer Naturalisierung des Erziehungsbegriffs. (So zB. auch Prange a.a.O.) Die sozialgeschichtlichen Rekonstruktionen weisen aber aus, daß das (im Primäcode aufgenommene) Grundmuster der pädago­ gischen von den Schulen ausgehend erst allmählich auch die Familien erfaßt hat.


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft liegt der Erfolgswert des Codes nicht mehr im Fremdbezug auf das Bewußtsein des Kindes sondern im Selbstbezug der pädagogischen Kommunikation als einer von der Gesell­ schaft erwarteten Leistung.85 Interaktionssysteme haben den Vorzug der großen Flexibilität, der Unterstützung der Kommunikation durch Körperwahrnehmungen etc. Schwerer wiegen aber in der modernen Gesellschaft ihre Nachteile: die Angewiesenheit auf körperlich anwesende (und nicht leicht austauschbare) Personen, quantitative Beschränkung der Teilnahme und leichte Störbarkeit durch veränderte Situationskontexte. Diese Nachteile werden in Organisationssystemen (auf der Grundlage der Printmedien) ausgeglichen durch die Bildung längerer Handlungsketten, durch Ausdehnung der Teilneh­ merzahlen und durch Austauschbarkeit des Personals in den Funktionsrollen. All dies findet für die pädagogische Kom­ munikation durch Schule statt - methodischer Unterricht für alle Kinder durch bezahltes Personal - und gerade dadurch nimmt die pädagogische Kommunikation eine Form an, die ihren Erfolg ins Unwahrscheinliche verlagert. Diese durch Organisation gesteigerte Unwahrscheinlichkeit einer auf gesellschaftsweite Wirksamkeit angelegten Pädagogik stellt ein Problem dar, auf das die Gesellschaft durch weiterge­ hende Ausdifferenzierung des Funktionssystems reagiert. Die wichtigste Funktion seiner latenten Strukturen - Medi­ um, Codes etc. - besteht offenkundig darin, den Erfolg einer so ausgelegten pädagogischen Kommunikation dennoch erwartbar zu machen. Dazu bedarf es v.a. einer Stabili­ sierung der Systemgrenzen durch Internalisierung von Lei­ stungserwartungen aus der Umwelt des Bildungssystems. Wer das moderne Bildungssystem mit soziologischen Mitteln zu beschreiben versucht, kann sich dem Eindruck nicht entziehen, daß die Wertschätzung dieses Systems in hohem Maße mit dem Wert der Schulnoten bzw. der Bil­ dungsabschlüsse korreliert. Beeindruckend sind aber auch die Klagen gerade der pädagogisch Engagierten (Eltern und Lehrer), wonach das Bildungssystem zu einer Selektions­ maschine gewo rden sei und sich von seiner eigentlichen Funktion entfernt habe. Innen- und Außenansicht des Bil­ dungssystems scheinen weit auseinanderzuklaffen. (Wie läßt sich angesichts dieser Umstände die Einheit des Sy­ stems beschreiben?) Die weltweite Expansion des modernen Bi ldungssy­ stems und das gestiegene Durchschnittsniveau der Bil­ dungsabschlüsse (das in fortgeschrittenen Regionen ge­ genwärtig etwa die Hälfte eines Altersjahrgangs zur Studi­ enreife führt) wären nicht zu verstehen ohne die Übernahme der Selektionsfunktion.86 Zwar provoziert diese Funktion die andauernde Klage über bildungsfremde Einflüsse, die Zerstörung intrinsischer Motive durch soziale Aufstiegs­

85 Schematische Darstellung der Variation von Selbst- und Fremdreferen ­ zen beim Zweitcode der pädagogischen Kommunikation Selektionscode Positivwert Negativwert Fremdreferenz bessere Schülerleistung schlechtere Schüler­ leistung Selbstreferenz hohe Selektivität geringe Selektivität Diese Codierung stellt v.a. eine Steigerung des Anschlußwerts der selbst­ bezüglichen Seite der pädagogis chen Kommunikation her, obwohl der Selektionscode sich explizit eher auf die Schülerleistung bezieht. Die entsprechende Leistung der Schule hat ihre selektive Geschlossenheit zur Voraussetzung. Dies wird allerdings erst auf der Reflexionsebene explizit s. u. 86 Hier gibt es starke Analogien zur Dynamik des Wirtschaftssystems in Abhängigkeit von Marktkonkurrenz, Freigabe der Preise etc.

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oder Statussicherungsinteressen etc.87 Bei der Gegenüber­ stellung von pädagogischer Förderung und Selektion han­ delt es sich jedoch keineswegs um die Unterscheidung zwi­ schen einem genuin pädagogischen gegenüber einem nicht­ pädagogischen Handeln. Als Konflikt erscheint der Unter­ schied von pädagogischer Förderung und Bewertung nur in der Umwelt des Systems - einschließlich des Bewußtseins der pädagogisch Engagierten. Im System wird dieser Kon­ flikt normalisiert durch die Unterscheidung von Erst- und Zweitcode (i.S. einer Form, in der die eine Seite nicht ohne die andere auskommen kann). Die Selektionsfunktion des Bildungswesens ist histo­ risch eng mit der Umstellung der Gesellschaft von stratifi­ katorischer auf funktionale Differenzierung verknüpft. Erst durch den Beitrag des Bildungssystems zur Abschaffung herkunftsabhängiger Verteilung von Lebenschancen konnte sich jene Dynamik entwickeln, die schließlich die traditio­ nelle Superkompetenz der Religion für Erziehung und Aus­ bildung auflöste. Den Pädagogen der Frühmoderne war durchaus bewußt, daß sie in der öffentlichen Schule eine Institution hatten, deren Eigenständigkeit gegen die Traditi­ onsmächte der Kirche und der privilegierten Familien ver­ teidigt werden mußte. Ihr mächtigster Verbündeter in dieser Auseinandersetzung war der Nationalstaat, der Schulen mit der Kompetenz ausstattete, über Bildungsdiplome Zugangs­ chancen zu Berufs- und Lebenschancen zu verteilen und zugleich das Ziel einer nationalen (v.a. sprachlichen) Ho­ mogenisierung der Bevölkerung ve rfolgte. In dem Maße, in dem die Umstellung der Gesell­ schaft auf funktionale Differenzierung sich konsolidiert und von seiten der Herkunftsfamilien und der Kirche kein rele­ vanter Einfluß mehr auf die Verteilung von Berufs- und Lebenschancen ausgeübt wird, lockert sich auch der Zu­ sammenhang zwischen der Autonomie des Bildungssystems und der Übernahme von Selektionsfunktionen.88 Er wird im Medium der pädagogischen Kommunikation unsichtbar, aber nicht unwirksam. Jetzt kann es so scheinen, als ob sich die Pädagogik auf ihre "eigentliche" (permissivitätsorien­ tierte) Aufgabe besinnen und die Bewertungsfunktion (Zen­ surengebung) einfach abschaffen könne. Diese Funktion wird nicht nur in verselbständigten Reflexionstheorien der Pädagogik sondern auch in der pädagogischen Alltagskom­ munikation als konfliktträchtig empfunden. Ihr Vollzug bleibt jedoch andauernde Voraussetzung der Autonomie des Bildungssystems im Sinne der Kontrolle über die eigenen Programme, den Unterrichtsstoff etc. Dieser Vollzug der Selektionsfunktion kann freilich sehr verschieden ausgestal­ tet werden. Die wichtigste Voraussetzung dafür bildet die 87 Im Anschluß an die skizzierte Unterscheidung von Förderung und Bewertung, ihrer Codierung und ihrer programmatischen und organis a­ torischen Ausformung läßt sich auch das alte Thema Elternhaus vs. Schule im Modernisierungsprozeß historisch angemessener rekonstru­ ieren. Gerade die Konflikthaftigkeit dieser Kommunikation zeigt ja, daß es sich hier nicht um zwei verschiedene Funktionssysteme der Gesell­ schaft handelt sondern um verschiedene Formen der Kommunikation innerhalb des Bildungssystems. Der Konflikt ist Teil seines Ausdiffe­ renzie rungspozesses. 88 Stichweh, 1991a, S.269, zeigt, daß schon im Falle der Adelserziehung der Vorzug der öffentlichen gegenüber Privaterziehung in der Konkur­ renzerfahrung gesehen wurde, die somit dem wirklichen Leben näher stünde als die familiale Situation. Dieses Argument wird innerhalb der bürgerlichen Reformdiskussion dann (bis zur Unkenntlichkeit) ausei­ nandergezogen: Einerseits wird der etablierten Schule vorgeworfen, sich zu sehr vom wirklichen Leben zu entfernen. Andererseits wird an ihr gerade die Verknüpfung mit Konkurrenz als externe Störung kritisiert und für mehr Schonung plädiert.


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft Institutionalisierung pädagogischer Kommunikation in Organisationssystemen, v.a. in Form von Schulen. Zwar läßt sich - mit der Unterscheidung von pädago­ gischer Förderung und Bewertung - von Außen beobachten, daß es infolge der Abweichungsverstärkung des Selekti­ onsmechanismus89 im Bildungssystem stets Modernisie­ rungs"gewinner" und "-verlierer" gibt. Daran können sich Überlegungen anschließen, wie die Gesellschaft bzw. die anderen Teilsysteme damit umgehen sollen. So kann z.B. bildungspolitisch entschieden werden, ob und inwieweit die externalisierten Kosten des Systems - etwa das Problem der Demotivierung der "Bildungsverlierer" - durch Systemdiffe­ renzierung wieder in das System einführt werden sollen etc.90 Allerdings sind solche Überlegungen auch nur dann im System anschlußfähig, wenn sie die Unterscheidung von Erst- und Zweitcodierung des Mediums für pädagogische Kommunikation als Einheit ve rwenden. Förderung und Bewertung In der Schule als Organisation gelangt das moderne Erziehungsverständnis zu gesellschaftsweiter Wirksam­ keit.91 Zugleich zeigen sich im Kontext dieser Ausdehnung die Grenzen (der Leistungsfähigkeit) des Primärcodes.92 Die Seite des Nichtgewährens kann hier nicht mehr mit dem "Mantel der Liebe" zugedeckt werden.93 Die Verwendung des Negativwerts muß in allgemeinerer Weise gerechtfertigt werden als in der familialen Interaktion. Die für solche Rechtfertigung geeigneten Programme setzen eine andere Unterscheidung als die des Primärcodes voraus, nämlich die zwischen besseren oder schlechteren Schülerleistungen. Andererseits bleibt auch in der Form der Zweitcodierung die Ego-Alter-Konstellation des Primärcodes erhalten. In der Relativierung pädagogischer Selektionsentscheidungen am Entwicklungsstand des Kindes liegt der sachliche Zu­ sammenhang zwischen Erst- und Zweitcode. 89 Schon die (mathematische) "Normalabweichung" der Zensurenvertei­ lung bildet einen entsprechenden Verstärkungsmechanismus in der schu­ lischen Kommunikation. 90 Hier beginnen die bildungspolitisch interessanten Fragen. Mit jeder Internalisierung von System-Umwelt-Unterscheidungen - und darum handelt es sich bei der Zweitcodierung - bekommt es das System erneut mit externalisierten Kosten zu tun. Diese können durch erneute System­ differenzierung reinternalisiert oder nicht reinternalisiert werden. 91 Diese Ausdehnung organisationsförmiger Kommunikation wird mö g ­ lich auf der Grundlage des Gebrauchs der typographischen Medien. Die Verallgemeinerung der Lese- und Schreibfähig keiten ist eine wesentli­ che Voraussetzung des verallgemeinerten Gebrauchs dieser Medien. Der öffentliche Unterricht, der diese Verallgemeinerung methodisch betreibt, ist also selbst ein Motor der Modernisierung im Hinblick auf die Organi­ sationsfähigkeit der Gesellschaft - so wie diese für die Verallgemeine­ rung pädagogischer Ko mmunikation. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß Organisationen norma ­ lerweise schriftliche und mündliche Kommunikationsformen koppeln. Der Autonomiegewinn von Organisationssystemen gegenüber ihrer ge­ sellschaftlichen Umwelt basiert in wesentlichem Maße auf der Verwen­ dung von schriftlicher Kommunikation, Der schulische Unterricht i.e.S. kann natürlich nicht darunter subsumiert werden - obwohl es ja in dieser mündlich strukturierten Kommunikation gerade um das Einüben schrift­ sprachlicher Kommunikation geht. 92 Auch Probleme der Differenzierung von Referenzen und Codewerten beim Erstcode könnten als evolutionäre Auslöser für die Zweitcodierung mitgespielt haben. Beim Erstcode ist ja nicht nur der pädagogische Fremdbezug - das Erleben des Kindes - stark personbezogen sondern auch der Selbstbezug der Kommunikation stark interaktions- und damit personabhängig. Beim Zweitcode kann der Selbstbezug stärker gegen­ über Personen abstrahiert werden. Im Positiven wie im Negativen be­ zieht sich die codierte Kommunikation auf Organisationsleistungen und nicht mehr primär auf Personen. 93 Zur Liebessemantik s. schon Fußnoten 53-56

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Während der Primärcode das pädagogische Handeln allgemein auf das Erleben des Kindes bezieht, setzt die Zweitcodierung des Mediums in fremdreferentieller Per­ spektive an einem psychologisch-pädagogisch konstruierten Entwicklungsstandard des kindlichen Bewußtseins an. Die­ se Verallgeminerung des Bewußtseinsbezugs setzt die selb­ streferentielle Konstruktion generalisierter Erwartungen (Systemstandards) voraus.94 Der Zweitcode beschränkt die Permissivität des Erstcodes durch regelmäßige Bewe rtun­ gen schulischer Leistungen des Kindes. Damit wird nicht mehr allein das Erleben sondern - zeitlich terminiert - auch das Handeln des Kindes relevant. Mit dem Selektionscode (besser/schlechter ausgedrückt in Zensuren) wird anhand deindividualisierter Leistungsstandards gemessen - sei es zunächst im Vergleich mit der altersgruppierten Klasse, sei es neuerdings auch mit höhergradig objektivierten Lei­ stungstests. Nicht nur der Positivwert des Permissionscodes son­ dern auch dessen Gegenwert, das Nichtgewähren, wird in der Schule institutionalisiert.95 Jeder Lehrer muß in seiner Rolle beide Seiten verkörpern: sowohl die pädagogische Permissivität, das Ge währen von Fehlertoleranz entspre­ chend dem individuellen Entwicklungsstand des Kindes, wie auch die Gegenseite, in der unter weitgehender Ab­ straktion vom indivi duellen Erleben des Kindes eine ve r­ gleichende Leistungsbewertung unter universalistischen Ge­ sichtspunkten erfolgt. Allerdings erfolgt auch diese Bewer­ tung - und dann die daran hängenden Selekti­ onsentscheidungen im Schulsystem - noch unter den Son­ derbedingungen pädagogischer Kommunikation, dh. zB. altersspezifisch differenziert. Da es sich hier jedoch nicht nur um ein erhebliches Abweichen von der Konstellation des primären Mediencodes sondern auch um weitgehend andere - temporal gesondert vollziehbare - Handlungen des Lehrers handelt, scheint es sinnvoll, von einer Zweitco­ dierung des Mediums für die Zwecke der Schule als Orga­ nisation zu sprechen.96

94 Daß die Konstruktion solcher Standards sich heute entwicklungspsycho ­ logischen Vorarbeiten verdankt, spricht nicht gegen die selbstreferenti­ elle Operationsweise ihrer Verwendung. 95 Die Umsetzung des Primärcodes in schulische Unterrichtsprogramme hat sich bei pädagogischen Beobachtern des Lehrerverhaltens (Supervi­ sion) u.a. in der Un terscheidung "autoritär/demokratisch" oder "herr­ schafts -/integrationsbetont" o. ä. ähnlichen Beobachtungsschemata nie ­ dergeschlagen (s. auch kustodial/edukativ, Plake). Die wissenschaftliche Beobachtung dieser laufenden Selbstbeobachtung des Unter­ richtssystems hat andererseits gezeigt, daß der Unterrichtserfolg (i.S. von Steigerung von Schülerleistungen) keineswegs eindeutig mit dem positiv bewerteten Unterrichtsstil korreliert. (Vgl. zB. Boocock, in: Hur­ relmann, Soz. der Er ziehung. Weinheim 1973, S. 283-318) Es wäre m.E. aber verfehlt, diese mangelnde Erfolgssteuerung des Unterrichts einer falschen Programmierung des Lehrerverhaltens zuzuschreiben (und zB. einfach eine Umpolung der normativen Aspekte zu betreiben). Vielmehr läßt sich an diesem Beispiel wohl zeigen, daß die Primärcodierung des Mediums Kindheit auf der Ebene der schulischen Unterrichtsorganisati­ on nicht hinreichend die Erfolgsbedingungen zu spezifizie ren erlaubt. Das Defizit verweist auf andere Variablen, die auf der Organisations­ ebene jenseits der primärcodierten Medienwirkung wirksam werden. 96 Vgl. die Verwendung bei Luhmann als einzige Codierung im Funkti­ onssystem: Codierung und Programmierung. Bildung und Selektion im Erziehungssystem, in: Oelkers/Tenorth a.a.O. S. - Die hier skizzierte Auffassung der Selektion als Zweitcodierung läßt sich ergänzen durch Hin weise auf die relativ späte Errungenschaft eines durchgehenden Be­ rechtigungswesens, auf die externe Funktion für die legitime Chancen­ verteilung, sowie auf die interne Funktion des Mechanismus für die Sta­ bilisierung pädagogischer Programme, Stoff etc. Zur Durchsetzung des Selektionscodes im Bildungssystem vgl. Fend, Theorie der Schule S. 230f. und dort zit. Ruth Meyer - trotz der Frühformen des Berechti-


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft

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Die Zweitcodierung des Mediums strukturiert vor al­ lem die Zeitdimension der pädagogischen Kommunikation. Das entsprechende Handeln wird gewöhnlich als Unterricht bezeichnet. Im Bereich des schulisch und außerschulisch organisierten Unterrichts besteht die fremdreferentielle Perspektive der binären Codierung v.a. in der Alternative, auf den aktuell gegebenen Entwicklungsstand oder auf ei­ nen vorgestellten zukünftigen Entwicklungsstand des kind­ lichen Bewußtseins Bezug zu nehmen. Die Alternativen sind auch hier keineswegs symmetrisch in der Verwendung. Nomalerweise wird im Unterrichtshandeln auf einen mögli­ chen - von Ego und Alter gleichermaßen im Zukunfts­ horizont vorstellbaren - Entwicklungsstand des Bewußtseins Bezug genommen und von daher Variation des kindlichen Bewußtseins herausgefordert. Andererseits bleibt der ge­ genwärtige Entwicklungsstand stets als Vergleichs- und An­ satzpunkt pädagogischen Handelns erhalten.97 Die Zeitdi­ mension wird jedoch nicht nur fremdreferentiell im Hin­ blick auf die Entwicklung des Kindes relevant sondern gerade auch mit Bezug auf das pädagogische Handeln selbst. Die Provokation durch Unterricht ist nach Stunden und Lebensphasen terminiert. Sie hat stets einen Anfang und ein Ende - auch bei lebenslangem Lernen.98 Die le­ bensgeschichtliche Terminierung erfolgt durch die Selektionsentscheidungen der Schule als Organisation. Die Ausdifferenzierung der Schule als Leistungsor­ ganisation bringt es mit sich, daß all jene Formen der Kommunikation von Kindern und Jugendlichen, die nicht unter Leistungsgesichtspunkten organisiert werden können, ihren Ort in einem anderen Sozialsystemtyp zwischen Her­ kunftsfamilie und Schule suchen. So entsteht komplementär zur Ausdifferenzierung der Schule als Organisation in der Gleichaltrigengruppe eine moderne Form der kollektiven Identitätssicherung.99 In der Zweitcodierung des Mediums für pädagogische Kommunikation erscheint das Nichtgewähren, der Nega­ tivwert des Primärcodes, nicht mehr nur als Gegenwert, der Situationen markiert, in denen die Permissivität endet, son­ dern zugleich als Markierung von Ope rationen, mit deren Hilfe das Bildungssystem sich auf Erwartungen in seiner Umwelt bezieht. Im Negativwert des Primärcodes ist diese Grenze als Reproduktion der System/Umwelt-Beziehung zwar schon eingeschlossen. Sie wird jedoch im Zweitcode erst operationsförmig spezifiziert in Abgrenzung von den Leistungserwartungen der Umwelt. Die pädagogische Pri­ märkonstruktion einer Welt ohne (sanktionswirksame) Dif­

ferenzen wird relativiert durch die Markierung der Grenzen. Diese Grenzziehung ist die eigentliche, anschlußsichernde Funktion des Zweitcodes - und nicht die Bewertung der Schüler.100 In der Form der Zweitcodierung des Mediums sichert sich die pädagogi sche Kommunikation ihre System­ autonomie gegenüber einer Umwelt, die sonst die Vertei­ lung von Bildungs-, Berufs- und Lebenschancen auch ohne pädagogische Mitwirkung regeln würde.101 Die Schule als formale Organisation mit entspreche n­ der Eigenzeit hat der pädagogischen Kommunikation eine Wirkung gesichert, die sie im Rahmen von Interaktionssy­ stemen niemals hätte entfalten können. Sie stellt nicht nur eine unwahrscheinliche sondern durch gegenläufige Ten­ denzen auch immer wieder gefährdete evolutionäre Errun­ genschaft dar.102 Obwohl die alte Klage über die Entfernung der Schule vom Leben gelegentlich noch reformpädago­ gisch aufgewärmt wird, ist heute - angesichts der "Informa­ tionsflut" durch neue telegrafische Medien - besser denn je erkennbar, daß der Vorzug der Schule als pädagogische Organisation gerade in ihrer selektiven Geschlossenheit besteht.103

gungswesens in der Substitution der Amtsappropriation in der höfischen Gesellschaft. 97 In Situationen, die durch den Primärcode struktuiert werden tritt in fremdreferentieller Perspektive eher eine bewußtseinsverändernde Wir­ kung (Sozialisation=Variation), in Situationen, die durch den Zweitcode strukturiert werden eher eine das jeweilige Bewußtseinssystem stabili­ sierende - aber auch Abweichungen verstärkende - Wirkung (Individua­ tion=Selektion) ein. Daher die häufige Klage über konservative Effekte des Schulsystems. Zur Individuation s. schon Fußnote 43. 98 Vgl. Niklas Luhmann und K.E.Schorr, 1990 99 Dieser wichtige Aspekt (der hier wegen der Vorrangigkeit der Medien ­ beschreibung nicht weiter verfolgt werden kann) ist für das Verhältnis von Schule und "peer group" in der funktionalistischen Theorietradition v.a. von Eisenstadt (Von Generation zu Generation) beschrieben wor­ den. (Neuere Lit. s. Krappmann) Eisenstadt hat der Gleichaltrigengruppe neben der Schule eine quasi-pädagogische Funktion zugewiesen, Es handelt sich hier m.E. um ein allgemeiner zu fassendes Muster der Dif­ ferenzierung auf der Mesoebene der Gesellschaft zwischen leistungssi­ chernden Organisationssystemen und identätssichernden Gemeinschafts­ systemen.

100 Deshalb läuft die Diskussion über Gerechtigkeit oder "Objektivität" schulischer Bewertungen leer und blockiert die bildungspolitisch wichti­ gere Frage, wie mit den unerwünschten Folgen der Selektionsfunktion im System umzugehen wäre. 101 Analog zur Beschreibung anderer Funktionssysteme handelt es sich auch hier darum, "daß das System sich gegen Außeneinflüsse wehrt, in­ dem es ihnen Rechnung trägt." Luhmann, Wissenschaft der Gesellschaft S. 623 102 Zur Gefährdung s. nur die neuere Diskussion über Gewalt an den Schulen - besonders in den USA. S. Spiegel Nr.42, 12.Okt.92 S. 36-92 103 Freilich erspart dieser Vorzug der schulischen Form pädagogischer Kommunikation nicht die Reflexion auf die veränderten Umstände son­ dern macht sie dringend erforderlich, um ihre Geschlossenheit zu wah­ ren. Noch versteht sich die Schule in ihrer heutigen Verfassung als Kind des Buchdrucks. Sie hat kaum begonnen, ihre Methoden auf Refle xion der neuen telegrafischen Medien umzustellen. 104 Diese Funktion der Bildungsreputation wird innerhalb der Bildungsso ­ ziolo gie wohl eher überschätzt. S. v.a. Bourdieu, (Die feinen Unter­ schiede) der diesem Thema mittels Ausdehnung des Marxschen Kapital­ begriffs auf kulturelle Formen Aufmerksamkeit verschafft hat.

Reputation und Reflexion Wie immer die Leistungen des Bildungssystems in seiner Umwelt bewertet werden - es ändert nichts daran, daß ohne die Erstcodierung überhaupt kein eigenständiges Sy­ stem, ohne die Zweitcodierung aber kein hinreichend aus­ differenziertes System möglich wäre. Im Hinblick auf die Stabilität dieser Ausdifferenzierung ist nun allerdings noch eine dritte Form der Codierung der pädagogischen Kommu­ nikation zu erwähnen. Auch die Reputation, die im Bil­ dungssystem - einschließlich der Familie! - erworben wer­ den kann, wird durch einen Binärcode geregelt. Als gebildet wird mit diesem Code in fremdreferentieller Perspektive ein Handeln und Erleben von Personen bezeichnet, das sich in der Beteiligung an der Kommunikation jenseits des Bil­ dungsystems bewährt. Für die individuellen Teilnehmer besteht die Leistung dieses Codes offensichtlich darin, sich von Anderen in ihrer sozialen Rangstellung durch Bildung unterscheiden zu können.104 Das Raffinierte an dieser Co­ dierung besteht aber darin, daß die pädagogische Kom­ munikation sich damit noch einmal von sich selbst unter­ scheiden kann: Bildungsreputation kann unabhängig von den formalisierten Bewertungen der Schule - und sogar im expliziten Gegensatz dazu - zugerechnet werden. Anderer­ seits verweist die Reputation, die man sich im Bildungssy­


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft stem erworben hat, zurück auf die Leistungsfähigkeit seiner Organisationen. Die Unterscheidung gebildet/ungebildet verweist zu­ nächst eher auf eine alteuropäische Distanz zu den Leistun­ gen des modernen Bildungssystems. Gebildet oder ungebil­ det kann man "von Haus aus" sein - trotz oder wegen des öffentlichen Unterrichts der Neureichen und des Pöbels. Allerdings geht es bei dem ausdifferenzierten Bildungscode nicht mehr um aristokratische Distanzierung sondern um jene Distanz zu den Ausformungen der pädagogischen Kommunikation auf Interaktions- und Organisationsebene, die durch die Ausdifferenzierung einer besonderen Reflexi­ onsinstanz im System - die pädagogische Theoriebildung ­ ermöglicht wird.105 Diese dritte Codierung des Mediums strukturiert Selbst- und Fremdreferenz der pädagogischen Kommunika­ tion übergreifend - die Sachdimension der pädagogischen Kommunikation.106 In den Situationen des pädagogischen Alltags steht diese Dimension der pädagogischen Kommu­ nikation nicht im Vordergrund. 107 Der Bildungscode ist in fremdreferentieller Perspektive weniger folgenreich als die effektive Zuweisung von Bildungs- und Berufschancen durch den Zweitcode oder das Gewähren pädagogischer Freiräume im Erstcode. Die Funktion dieses Nebencodes liegt wohl eher in der Stärkung der institutionellen Stellung jener Lehrmeister der Pädagogik108, die über pädagogische 105 R. Stichweh hält (im Unterschied zu Luhmann und Schorr) den Bil ­ dungsbegriff für die modernere semantische Konstruktion. "Die Umstel­ lung von 'Erziehung', 'Nachahmung', 'Einprägung', Unterricht' und den an diese älteren Begriffe geknüpften Transportvorstellung für die Gene­ se von Fähigkeiten auf die Vorstellung, daß eine individuelle Einheit, die sich entwickelt und verändert, dies immer nur im Selbstbezug tun kann, daß jede Rezeptivität notwendigerweise Aktivität ist, diese Ein ­ sicht ist die spezifische Leistung der Bildungsidee als Entwicklungstheo­ rie...". Stichweh verweist v.a. auf J.G. Herder: Auch eine Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774). R. Stichweh, (1991) Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung, in: J.Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.) Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, (W.Fink) München S. 106 106 Schematische Darstellung der Variation von Selbst- und Fremdrefe ­ renzen beim Nebencode (Reputationscode) der pädagogischen Kom­ munikation Bildungsreputationscode Positivwert Negativwert Fremdreferenz hoher Bildungsrang der Person niedriger Bildungsrang der Person Selbstreferenz hoher Rang der Bildungsinstitution niedriger Rang der Bildungsinstitution Während der Zweitcode mit einer erneuten Bifurkation an der Negativ­ seite (dem Reflexionswert) des Erstcodes anknüpft und dabei das fremd ­ referentielle Nichtgewähren in die selbstreferentielle Operation der päd­ agogischen Selektion transformiert, stellt der Nebencode eine weitere Bifurkation her, die eher an der Positivseite des Zweitcodes anknüpft und aus der selbstbezüglichen Selektionsfunktion personbezogene und institutionsbezogene Reputationswerte konstruiert. Ich spreche von In­ stitution statt von Organisation, weil hier auch die Familie als Ort der pädagogischen Kommunikation einbezogen werden muß, und dieser Ort sich der organisatorischen Intervention entzieht. 107 Wahrscheinlich muß aber gerade die Beschreibung von Reflexionspro ­ zessen über pädagogische Technologie in der Sachdimension ansetzen. Es ist wohl mehr als ein Wortspiel, wenn ich vermute, daß jene Versach­ lichung, die alltagssprachlich mit Technik assoziiert wird, nur ange­ messen beschrieben werden kann in einer Sinndimension, die Selbst­ und Fremdbezüge der Kommunikation übegreift. Technik i.S. von Zweck-Mittel-Rationalisierung bezeichnet den Selbstbezug, die damit verbundene Mediatisierung von Umweltereignissen - die als nicht ver­ fügbare Voraussetzungen und unbeabsichtigte Handlungsfolgen wahr­ genommen werden - den Fremdbezug. 108 Auch wenn Lehre und Forschung häufig in herkömmlicher institutioneller Koppelung existieren, ist im Hinblick auf pädagogische Reflexionstheorie zu unterscheiden zwischen Institutionen der pädagogischen Lehre, die dem Bildungssystem zuzurechnen sind, und

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Programme entscheiden und damit auch, welche Formen der Kommunikation einen besonderen Bildungswert haben sollen. Zur Auf gabe dieser Funktionsträger des Bildungssy­ stems gehört es, das Verhältnis des Systems zu seiner Um­ welt zu beobachten. Die Feststellung von Defiziten ermö g­ licht Argumentationen in Richtung auf Veränderung, Aus­ bau oder Rückbildung von Fehlentwicklungen des Bil­ dungssystems bzw. entsprechende Forderungen an andere Funktionssysteme der Gesellschaft. In der historischen Entwicklung der pädagogischen Kommunikation hat der emphatische Bewußtseinsbezug der geisteswissenschaftlichen Bildungssemantik die Ausprä­ gung eines in dieser Hinsicht funktionsfähigen Binärcodes behindert, obwohl sich in der Alltagssprache längst eine technisch vereinfachende Redeweise durchgesetzt hat. Der Bildungsbegriff wird mit Bewußtseinreferenz gebraucht i.S. des Sich-Bildens und der Bildungsprozesse, und er wird mit Referenz auf das Bildungssystem gebraucht in der Termino­ logie der Bildungsaneignung und der Bildungsabschlüsse. Die Binärcodierung erfaßt die Bi ldungssemantik erst dort, wo das pädagogische Handeln unter pädagogischen Kriteri­ en beobachtet, also in Reflexionstheorien in die (Selbst­ )Beschreibung des Systems aufgenommen wird. 109 In der Entwicklung pädagogischer Reflexionstheorien lassen sich - in stark vergröberter Einstellung - zwei Ten­ denzen zu beobachten: einerseits die Abgrenzung gegenüber vormodernen Vorstellungen von Zucht und Disziplinierung und andererseits die Modifikation und Veralltäglichung der emphatisch pädagogischen Semantik in Form der Schulpäd­ agogik. Diese beiden Tendenzen lassen sich sowohl als Ab­ folge wie auch als Parallelentwicklungen verfolgen. Es handelt sich um ein Nebeneinander ähnlich der von Kloster und Kirche in der mittelalterlichen Religionssemantik. Wenn unwahrscheinliche semantische Konstruktionen als allgemeine Formen der Kommunikationen institutionalisiert werden, treten Sonderinstitutionen wie Orden auf, die sich darauf spezialisieren, die reine Lehre zu wahren.110 Etwas Lehre, die dem Bildungssystem zuzurechnen sind, und erziehungswis­ senschaftlicher Forschung, die sich an einem anderen Code und anderen Programmen orientieren muß. 109 Die skizzierte Verknüpfung zwischen dem Nebencode als einer auf die normative Beschreibung der Person zielenden Form der pädagogischen Codierung und den Reflexionstheorien des Bildungssystems müßte noch genauer geprüft werden. In der Theorietradition fin den sich viele Ele ­ mente der Selbstbeschreibung des Bildungssystems, in denen beide Aspekte kombiniert erscheinen. Die klassische (deutsche) Bil­ dungstheorie stilisiert das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu einer Frage des Bildungsstands. Inwieweit sich das in der neueren Erziehungswissenschaft infolge der schärferen Differenzierung zwi­ schen Wissenschafts- und Bildungssystem i.S. einer nichtnormativen Selbstbeschreibung ändert, muß hier offenbleiben. Zumindest für das 19. und frühe 20. Jh. kann wohl gesagt werden, daß Bildung in hohem Maße (weit über die Funktionn eines Nebencodes im Bildungssytem hinausgehend) als übergreifendes Diskriminierungs­ merkmal für eine ansonsten heterogene Sozialschicht fungierte: das Bil­ dungsbürgertum. Vgl. Werner Conze / Jürgen Kocka, Einleitung zu: Conze, Werner; Kocka, Jürgen, (Hg.) 1985, Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Bildungssystem und Professionalisierung im internationa­ len Vergleich, Stuttgart, 110 Die heilsgeschichtlich-fundamentalistische Tendenz in der pädagogi­ schen Reflexion läßt sich in beiden Ausprägungen der Tradition der deutschen Bildungstheorie bereits als eine Reaktion auf funktionale Dif­ ferenzierung der Gesellschaft beschreiben: von Kants Ideen zur Menschheitsverbesserung bis zum Neukantianismus des 20. Jh.s. und von Rousseaus Ideen über die Kindheit bis zu deren wiederkehrenden Rezeptionswellen in der Reformpädagogik. Das Festhalten am umfas­ send gesellschaftsverändernden Anspruch der Aufklärung wird theore­ tisch gewendet gegen die institutionelle Beschränkung des Pädagogi­ schen in der Schule und die fachliche Ausdifferenzierung der Pädagogik


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft davon übernimmt in der Moderne die Reflexionsform der Allgemeinen Pädagogik im Verhältnis zur institutionali­ sierten Form der Schulpädagogik. Es handelt sich aber auch um eine evo lutionäre Abfolge ähnlich der von der romanti­ schen Liebe, deren passionierte Fassung innerweltlich gar nicht realisierbar erscheint, zu ihrer Verallgemeinerung durch Beschränkung in der Form des bürgerlichen Ehe- und Familienideals. Die programmatischen Differenzen zwischen der Semantik der allgemeinen Pädagogik als Reflexionstheorie und der Alltagssemantik der Schule als Organisation sind lose gekoppelt an die Differenz zwi schen Erst- und Zweit­ codierung des Kommunikationsmediums. Was in der Ge­ schichtsschreibung pädagogischer Ideen und Programme nicht - oder nur versteckt - zum Ausdruck kommt ist der tiefgreifende Bruch der modernen pädagogischen Kommu­ nikation mit allen vormodernen Äquivalenten, der hier auf die Umstellung der Gesellschaft auf funktionale Differen­ zierung zurückgeführt wurde. Zurückführen bedeutet zwei­ erlei: erstens als Reaktion auf Probleme der Gesellschaft, nämlich die Probleme, die sich durch funktionale Differen­ zierung für die Entwicklung des Bewußtseins und Verhal­ tens der jeweils nachwachsenden Generation stellen111 und zweitens als Reaktion vermittels funktionaler Differenzie­ rung, nämlich durch Evolution eines spezifischen Kommu­ nikationsmediums und seiner Codierung. Die Entwicklung von funktionsspezifischen Mediencodes trägt allerdings nicht nur zur Entschärfung semantischer Polarisierungen bei durch die kommunikationstechnische Verwendung der Bi­ närwerte und ihre Relationierung in bezug auf aus­ tauschbare Programme sondern auch zur Invisibilisierung der zugrundeliegenden Paradoxie (und aller damit verbun­ denen Probleme der Reflexion).112 Reflexion der Modernität Ich habe die in soziologischen Beschreibungen des modernen Bildungssystems übliche Fragestellung, welche Probleme der Gesellschaft damit gelöst bzw. welche Lei­ stungen erbracht werden, ersetzt durch die dem Selbstver­ ständnis der Pädagogik nähere Fragestellung, wie dh. mittels innerhalb des Wissenschaftssystems.

S. Zur Besonderheit der deutschen Bildungstheorie auch Stichweh

(1991, Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spe­

zialisierung a.a.O. ) mit der These, daß es sich bei der deutschen Bil­

dungstheorie um eine aufklärungsnahe (zwar ambivalente aber nicht per

se antiaufklärerische) Reaktion auf das rigide Arbeitsteilungsdenken der

schottischen Aufklärung (Ferguson/Smith) und damit schon auf funktio­

nale Differenzierung i.S. einer Restitution gefährdeter Individualität

handelt.

111 Funktionale Differenzierung läßt sich evolutionstheoretisch auch als Prozeß beschreiben, in dem evolutionäre Strukturgewinne im ausdiffe ­ renzierten System mit Entdifferenzierungsprozessen in der Umwelt (En ­ tropie) einhergehen. Menschliches Bewußtsein kann somit als System in der Umwelt der Gesellschaft verstanden werden, das Folgelasten funk­ tionaler Differenzierung zu tragen hat. Allerdings verfügen psychische Systeme - in den Grenzen, die ihnen durch die strukturelle Koppelung an menschliche Organsysteme gezogen sind - über besondere Möglich­ keiten, diese Folgelasten der gesellschaftlichen Evolution durch eigene Differenzierungsprozesse aufzufangen: durch Sozia lisation und Indivi­ duation und in diesem Kontext (qua struktureller Koppelung mit dem Bildungssystem) dann: durch Bildung. 112 Die für den entwickelten Stand der modernen Pädagogik bezeichnende Formel vom "Lernen des Lernens", bzw. vom lebenslangen Lernen, ba­ siert ja, wie die pädagogische Semantik der Offenheit überhaupt, auf der Invisibilisierung der Paradoxie, daß Offenheit nur durch operative Ge ­ schlossenheit, gesteigerte Offenheit nur durch gesteigertes Schließungs­ vermögen erreichbar ist. S. auch Fußnoten 43,75,102

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welcher Operationen Probleme pädagogisch gelöst oder pädagogische Leistungen erbracht werden. Andererseits habe ich den für Pädagogen selbstverständlichen Bezug auf menschliches Bewußtsein und Verhalten als eine frem­ dreferentielle Konstruktion der pädagogi schen Kommunika­ tion relativiert und vorgeschlagen, Ereignisse der Erzie­ hung, des Unterrichts oder der Bildung als Formen der Kommunikation zu betrachten. Ob sich aus einer solchen Betrachtungsweise für pädagogische Kommunikation etwas lernen läßt, kann nur innerhalb der pädagogischen Kommu­ nikation selbst entschieden werden. Damit Fremdbeobach­ tungen der hier vorliegenden Art im Bildungssystem nicht nur als Störung wahrgenommen werden, bedarf es gewisser Voraussetzungen und Anlässe in der laufenden Selbstbeob­ achtung, der pädagogischen Theoriebildung. Im günstigen Falle ermöglicht Fremdbeobachtung ja Kontingenzwahr­ nehmungen, die für die Variation systemspezifischer, also pädagogischer Programme und Methoden benutzt werden können. Die pädagogische Diskussion über die Frage der Ve r­ einbarkeit von Erziehung und indivi dueller Autonomie wirft immer wieder das Problem der Modernität des Bildungssy­ stems - der Abgrenzung des modernen von traditionellem Erziehungsverständnis - auf, das seine prozessierende Form in der Erstcodierung des Mediums für pädagogische Ko m­ munikation gefunden hat. Die Diskussion über die Frage der Vereinbarkeit von pädagogischer Förderung und Bewertung wirft immer wieder das Problem der Einheit des Systems auf, das seine prozessierende Form in der Zweitcodierung des Mediums gefunden hat. Das Andauern der innerpäd­ agogischen Diskussion über die institutionalisierten Pro­ blemlösungen verweist auf Probleme im Umweltbezug des Systems, die nur mit der gesteigerten Distanz von Reflexi­ onstheorien bearbeitet werden können. Im Sinne der Luh­ mannschen Gesellschaftstheorie sollte die theoretische Re­ flexion die epochale Trennung von Referenz- und Codier­ problemen der pädagogischen Kommunikation nach­ vollziehen.113 Im Falle der pädagogischen Kommunikation geht es um eine doppelte Unterscheidung: die von Selbst- und Fremdreferenz und die von Erst- und Zweitcodierung. Die jeweiligen Positivwerte der Erst- und Zweitcodierung des Mediums bilden institutionalisierte Formen der Unterschei­ dung von Selbst- und Fremdreferenz der pädagogischen Kommunikation. Der emphatische Bezug auf Bewußtsein­ sentwicklung im Primärcode repräsentiert eine Steigerung der Fremdreferenz - die Internalisierung der Selektion im Zweitcode hingegen eine Steigerung der selbstreferentiellen Geschlossenheit.114 Mit dem immer möglichen Übergang zum Negativwert des Codes löst sich jedoch diese feste

113 s. Wissenschaft der Gesellschaft, S. 710 s.schon Fußnote 9

114 Eine Beschreibung des Bildungssystems, die so ansetzt, behauptet

nicht, daß die Modernität des Systems allein durch den Permissionscode und seine Einheit allein durch den Selektionscode schon gewährleistet sei. Wenn das moderne Bildungssystem als historische, soziale und sachliche Einheit betrachtet werden soll, müssen über die Referenz- und Codierungsaspekte hinaus auch die Funktions- und Lei­ stungsbeziehungen der pädagogischen Kommunikation genauer betrach­ tet werden. Die Codierung entscheidet über die medienspezifische Kom­ bination von Selbst- und Fremdreferenz, die Programmierung erst über die Form der Bearbeitung von Funktions- und Leistungsproblemen (inkl. Organisations- und Methodenentwicklung). Eine "praktische" Bedeu­ tung der Hervorhebung der medialen Referenz- und Codierungsaspekte sehe ich allerdings in der Bezeichnung eines "inviolate levels" der päd­ agogischen Kommunikation gegenüber externen Eingriffsversuchen.


K.G.: Das Moderne im Erziehungsverständnis der modernen Gesellschaft Koppelung auf und auch die jeweils andere Referenz wird operativ zugänglich.115 Die Beobachtung ihrer eigenen Referenzen und Co­ dierungen verschafft der pädagogischen Kommunikation die theoretische Einsicht, daß ihre Operationen sich auf fremdes Territorium beziehen und zugleich die Freiheit, sich durch eigene Programme und Methoden darauf einzu­ stellen. Dies gilt sowohl für die Entwicklung des kindlichen Bewußtseins wie für die Leistungserwartungen der Gesell­ schaft. Deshalb wäre eine pädagogische Theorie, die sich in ihrer Grundlagenreflexion nicht mehr auf externe Funda­ mente - Gesetze der menschlichen Natur oder der gesell­ schaftlichen Moral - stützen sondern zwischen Referenz­ und Codierproblemen der pädagogogischen Kommu­ nikation unterscheiden würde, nicht nur der allgemeinste Ausdruck für die Modernität des Erziehungsverständnisses der modernen Gesellschaft. Das so gesteigerte Abstrak­ tionsniveau wäre wohl auch eine wesentliche Vorausset­ zung für die Steigerung der Anpassungsfähigkeit des Bil­ dungssystems an den sich weltweit beschleunigenden Wan­ del der Kommunikationsstrukturen116 der modernen Gesell­ schaft. Literatur Aufklärung, Bildung und Öffentlichkeit. Pädagogische Beiträge zur Moderne. Hg. von Jürgen Oelkers, 28. Beiheft der Zeit­ schrift für Pädagogik, Weinheim und Basel, 1992 Ariès, Philippe, 1975, Geschichte der Kindheit, München Begründungsformen der Pädagogik in der »Moderne«, Hg. D.Hoffmann, A.Langewand, C.Niemeyer (DSV) Wein heim, 1992 Bernfeld , Siegfried, 1967, Sisyphos oder die Grenzen der Erzie­ hung Frankf.M. (1.Aufl.1925) Claessens, Dieter, 1967, Familie und Wertsystem. Eine Studie zur "zweiten, soziokult urellen Geburt" des Menschen, Berlin. Conze, Werner; Kocka, Jürgen, (Hg.) 1985, Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Bildungssystem und Professionalisierung im internationalen Vergleich, Stuttgart, De Mause, Lloyd (Hg.) 1977, Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogene tische Geschichte der Kindheit, Frankf. M. Doehlemann, Martin, 1979, Von Kindern lernen. Zur Pos ition des Kindes in der Welt der Erwachsenen, Juventa Materialien, München Elias, Norbert, 1976, Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. Frankf. M. Luhmann, Niklas, 1987, Codierung und Programmierung. Bildung und Selektion im Erziehungssystem in: Ders. Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionale Differenzierung der Gesellschaft, Opla den S. 182-201 Luhmann, Niklas, 1990a, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankf.M.

115 Insofern handelt es sich um eine lose Koppelung, wenn gesagt wird, daß der Positivwert des Erstcodes eher Fremdbezügen, der des Zweitco­ des hingegen eher Selbstbezügen der pädagogischen Kommunikation Anschluß verschafft. Vgl. die Schemata in Fußnoten 71, 79, 98 116 Ich gehe davon aus, daß die moderne Gesellschaft sich in einer Um­ bruchphase befindet, deren Auswirkungen nur mit denen zu vergleichen sind, die in Europa seit dem 15. Jh. durch den Übergang von den skrip­ tographischen zu den typographischen Medien eingetreten sind. Das moderne Bildungssystem ist ein Kind des Buchdrucks und eine Reaktion auf die dadurch ausgelösten Veränderungen: funktionale Differenzie ­ rung, Technisierung, Individualisierung. Die Gesellschaft befindet sich heute im Übergang von den typographischen zu den telegraphischen Medien. Eine historisch-empirisch ausgeführte Analyse müßte m.E. v.a. den Veränderungsdruck und die Veränderungen beschreiben, die sich daraus für die Struktur des modernen Bildungswesens ergeben.

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Luhmann, Niklas, 1990b, Glück und Unglück der Kommunikation in Familien: Zur Genese von Pathologien, in: Soziologische Aufklärung 5, Opladen S. 218-227 Luhmann, Niklas, 1991, Das Kind als Medium der Erziehung, Zeitschrift für Pädagogik, Heft 1 Luhmann, Niklas, 1991, Das Moderne der modernen Gesellschaft, in: Die Modernisierung moderner Gesellschaften: Verhand­ lungen des 25. Deutschen Soziologentags in Frankfurt am Main 1990, Hg. W. Zapf, Frankf.M. / New York, S. 87-108 Luhmann, Niklas, 1992, System und Absicht der Erziehung. in: Luhmann/Schorr, Zwischen Absicht und Person. S.102-124 Luhmann, Niklas, Karl-Eberhard Schorr, 1979, Reflexionsproble­ me im Erziehungssystem, Stuttgart. Luhmann, Niklas, Karl-Eberhard Schorr, 1990, Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik, Frankf.M. Luhmann, Niklas, Karl-Eberhard Schorr, 1992, Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Pädagogik, Frankf.M. Malson, Lucien, Jean Itard, Octave Mannoni, 1972, Die wilden Kinder, Frankf.M. Montagu, Ashley, 1984, Zum Kind reifen, Stuttgart. Parsons, Talcott, 1972, Das System moderner Gesellschaften, München. Parsons, Talcott, 1975, Gesellschaften. Evolutionäre und kompara­ tive Perspektiven, Frankf. M. Postman, Neil, 1987, Das Verschwinden der Kindheit, Frankf.M. Prange, Klaus, 1991, Intention als Argument, in: Luhmann/Schorr, Zwischen Absicht und Person. S.58-101 Ringer, F.K. 1979, Education and Society in Modern Europe, Bloomington and London Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerli­ chen Erziehung, 1977, herausgegeben und eingele itet von Ka­ tharina Rutschky, Frankfurt, Berlin, Wien. Snyders, Georges, 1971, Die große Wende der Pädagogik. Die Entdeckung des Kindes und die Revolution der Erzie hung im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich, Paderborn. Stichweh, Rudolf, 1991a, Der frühmoderne Staat und die europä i­ sche Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungs­ system im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.-18.Jh.) Ffm. Stichweh, Rudolf, 1991b, Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung, in: Wissenschaft und Nati­ on, 1991, Hg. J.Fohrmann/W.Vosskamp, S. 99-112


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