Kg 1993 liebekind

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ROMANTISCHE LIEBE UND LIEBE ZUM KIND Zur Differenz der Codierung von Partnerschaft und Eltern­ schaft1 - Einleitung 1 1. Koppelung von Gatten- und Eltern-Kind-Kommunikation 3 - Filiation und Intimität 4 - Filiatorische Bindung der Liebessemantik 5 - Dimensionen der Liebessemantik 7 2. Ausdifferenzierung der Liebespartner-Kommunikation 8 - Differenzierungen der Intimkommunikation 8 - Durchsetzung von Reziprozität in der Liebe 9 3. Ausdifferenzierung der Eltern-Kind-Kommunikation 11 - Dimensionen der pädagogischen Kommunikation 11 - Wandel der Interaktion zwischen Elternhaus und Schule 13 - Steigerungsformen der Liebe zum Kind 14 Literaturangaben 17

- Einleitung

In diesem Beitrag versuche ich, den in der Familiensoziolo­ gie gegenwärtig beschriebenen Wandel der Fo rmen familia­ ler Kommunikation (einschließlich der Kommunikation über die Familie) zurückzuführen auf funktionale Differen­ zierung zwi schen intimitätscodierten Partner­ schaftssystemen und pädagogisch codierten Eltern-KindSystemen. Meine These, daß es sich bei dieser Differenzie­ rung um eine Codierung entlang zweier verschiedener Funktionssysteme der Gesellschaft (und nicht bloß ve r­ schiedener Subsysteme der Familie) handelt, läßt sich hier nur in beschränktem Maße ausführen. Im Sinne der vorge­ gebenen Themenstellung werde ich hauptsächlich bestimm­ te Differenzierungen der Semantik hervorheben, die sich als historischer Vorlauf für die gegenwärtig beobachteten Te n­ denzen in der familialen Kommunikation verstehen lassen.2 Ich beziehe mich zunächst auf die aktuelle familien­ soziologische Diskussion (in der BRD), die bestimmt ist durch die Beobachtung eines historisch ungekannten Te m­ pos im Wandel der Geschlechts- und Generationsbeziehun­ gen.3 Wie mir scheint, besteht Konsens, daß die Beschrei­ bung des Verhaltens im Bereich von Elternschaft, Partner­ schaft und Haushaltsbildung, die mithilfe amtlicher Statistik und soziologischer Verlaufsstudien angefertigt werden kann, nicht mehr übereinstimmt mit der seit dem 18. Jh. in Europa aufgekommenen und weltweit verbreiteten Be­ schreibung der bürgerlichen Familie. Allerdings werden die

1 Vortrag, der im Herbst 1991 in einem Kolloquium an der Universität Bielefeld gehalten und in leicht gekürzter Form publiziert wurde in: Herlth,A., Brunner,E.J., Tyrell,H., Kriz,J. Abschied von der Normalfa ­ milie? Partnerschaft kontra Elternschaft, Springer, Berlin, Heidelberg, New York, 1993 S.64-82 2 Eine Theoriekonstruktion, die diese Deutung trägt und Anschlußmö g­ lichkeiten für weitere Untersuchungen bietet, habe ich in meinem Bei­ trag "Sozialisation, Individuation, Reflexion" a.a.O. etwas ausführlicher dargestellt. Insgesamt bezieht sich diese Theoriekonstruktion auf die Verknüpfung von Systemtheorie, Medientheorie und Evolutionstheorie in den Arbeiten von Niklas Luhmann. Speziell zum Begriff der Codie ­ rung im Rah men der Luhmannschen Medientheorie s. Die Wissenschaft der Gesellschaft a.a.O. Kap.4 insbes. S. 194-209 3 S. hierzu zusammenfassend schon das Einladungspapier von Herlth/Tyrell, Sept. 90

so beobachteten Unterschiede kontrovers bewertet.4 Manche Autoren deuten sie als Untergang der Familie, andere als Fortsetzung in gewandelten Formen. Hier handelt es sich z.T. um wissenschaftlich gar nicht entscheidbare Al ­ ternativen.5 In der alltagssprachlichen Entwicklung gibt es allerdings viele Anzeichen dafür, daß diejenigen Recht behalten, die den alten Begriff der Familie - der die Koppe­ lung von Elternschaft, Liebespartnerschaft und Haushalts­ 4 Im Orientierungsangebot der Soziologie lassen sich grob zwei Lager unterscheiden: Da sind zum Einen die eher dramatischen Beschreibun­ gen des Zerfalls der Familie von seiten derjenigen Autoren, die ein gro­ ßes Publikumsinteresse bedienen. Und da sind zum Anderen die Ent­ warnungsmeldungen von seiten derjenigen Autoren und Institute, die Auftragforschung für einschlägige Verbände und Ministerien betreiben. — Die dramatische Variante basiert auf der Annahme der (normativ: unabdingbaren) Einheit von Elternschaft und Ehepartnerschaft. Dabei wird eine tradierte Normativität stillschweigend verlängert und davon abstrahiert, daß diese Norm historisch durchaus einen Sonderfall dar­ stellt. Die entdramatisierende Variante basiert auf dem Verzicht auf die Einheitsannahme zugunsten einer Pluralisierungsannahme, die der alten Form eine Minderheitsposition beläßt. Letztere kann sich auf eine Ten­ denz der Semantikentwicklung stützen, worin der Begriff der Familie pauschal auf jede Haushaltsgemeinschaft von Eltern und Kindern ange­ wandt wird. — Dramatisierende Deutungen haben auch das Problem, daß die nachvollziehbaren Beobachtungen sich nicht ganz der intendier­ ten Beschreibung fügen: Es lassen sich zB. ebenso viele Indikatoren für eine Steigerung des sozialen Phänomens Kindheit wie für seine Vermin ­ derung finden. Die Beschreibungen der Bedrohung der Kindheit sind selbst Teil davon. Sobald die Autoren diesen Umstand in den Blick be­ kommen, geraten sie offenkundig in Schwierigkeiten: Sie müssen ja das Phänomen (qua Definition) erst konstruieren, dessen Existenz sie für bedroht erklären. — Familiensoziologie und -therapie (und Pädagogik s. unten) sind als Konstrukteure der einschlägigen Semantik selbst Teil des Prozesses der Ausdifferenzierung von Elternschaft und Partnerschaft bzw. der Reduktion des Familienbegriffs auf die Eltern -KindBeziehungen. (Vgl. die entsprechende, neokonservative Polemik bei Chr. Lash, v.a. auch gegen die stark therapeutisch orientierte Familien­ soziologie Parsons. Vgl. Beispiele auch bei Schülein S. 68) Aber nicht die Familiensoziologie sondern zuerst die Entwicklungspsychologie und die Verhaltensbiologie haben normativ auf die pädagogische Codierung eingewirkt.( s. Bowlby, Erikson). 5 Ob eine Form als in Auflösung oder als im Wandel interpretiert wird, hängt von Entwicklungen des alltagssprachlichen Vorverständnisses ab, die nicht durch Wissenschaftlerkonsens ersetzt werden können. — Kau­ salannahmen über die Ursachen von "Verschlechterungen" können nur dann getroffen werden, wenn ein bestimmtes Kausalzurechnungsschema als gültig angenommen worden ist. (Ist die alleinerziehende Mutter "schuld", wenn das Kind Drogen nimmt, ist es das Kind selbst oder ist es die Gesellschaft ?) Gäbe es einen Konsens über die diesbezüglichen Werte, könnte Wissenschaft wohl auch sagen, ob eine bestimmte Ent­ wicklung der Gesellschaft zur Verschlechterung oder Verbesserung (immer gemessen an diesen Werten) führt. Aber die Wissenschaft ist nicht dafür zuständig, solchen Konsens herbeizuführen (oder gar durch ihre Definitionen zu ersetzen). — Von der Auflösung der Familie kann man nur reden, wenn man eine feste Vorstellung von der Einheit der Fa­ milie hat, an der gemessen, das was dann noch so genannt wird, bloß noch als Zerfallsprodukt zu verstehen ist. Aber der Umstand, daß eben diese neue Form alltagssprachlich noch immer so genannt wird, muß dem So ziologen Zurückhaltung bezüglich der Diagnose nahelegen. Ebenso kann Verschwinden der Kindheit nur dia gnostiziert werden, wenn ein entsprechender Konsens vorausgesetzt werden kann. — Es handelt sich hier nicht nur darum, einen "stillschweigenden" durch einen soziologisch reflektierten und methodisch kontrollierten Konsens zu er­ setzen. In der modernen Gesellschaft kann - abgesehen von situativ und temporal höchst begrenzten Konstellationen - überhaupt kein Konsens in Wertungsfragen vorausgesetzt werden. Es handelt sich immer um kon­ fliktreich errungene und revidierbar gehaltene Übereinkünfte, die sich in rechtlichen und anderen Kodifizierungen und Institutionen niederschla­ gen. Und nur auf diese imple mentierten Wertmaßstäbe bezogen, kann der Soziologe Wirkungen beschreiben und Kausalzurechnungen vor­ nehmen. — Abgekürzt ließe sich hier auch formulieren, daß in diesem Beitrag darauf verzichtet wird, den Zusammenhang der Familiensozio ­ logie mit Sozial- bzw. Bildungspolitik herzustellen, der nicht zufällig bei Autoren wie Coleman, Bronfenbrenner, Beck, Kaufmann u.a. hergestellt wird. Jede (auch soziologisch reflektierte und angeleitete) Sozialpolitik stellt eine Art "natürlicher" Experimentalanordnung dar, die der soziolo­ gischen Beobachtung neue (dh. immer aber auch unvorhersehbare) Möglichkeiten eröffnet.


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind führung in einem Sozialsystem unterstellt - aufgeben und dafür plädieren, als Familie nur noch die Wohngemein­ schaft6 von Eltern und Kindern zu bezeichnen.7 Diese Auf­ fassung wird gestützt durch empirische Beobachtungen der neueren Familiensoziologie, wonach die Form der Ehe heute nicht mehr als Selbstverwirklichungsbedingung i.S. des Liebesideals, dafür aber umso nachdrücklicher als So­ zialisationsbedingung für den Nachwuchs gewählt wird.8 Dabei handelt es sich m.E. nicht um eine "zwe ite Wahl" (i.S. einer Kompensation für entgangenes Glück in der Er­ wachsenenliebe, wie einige Autorinnen meinen9) sondern auch um die Entfaltung eines Selbstverwirklichungspro­ jekts, das an die klassisch-modernen Motive bürgerlicher Familienbildung anknüpft, sie unter veränderten Bedingun­ gen respezifiziert und in pädagogischer Hinsicht sogar stei­ gert.

6 Von Wohngemeinschaft statt Haushaltsgemeinschaft ist hier besser zu sprechen, weil der Begriff des Haushalts eine wirtschaftliche Einheit unterstellt, die auch nicht mehr zwangsläufig mit dem Familienbegriff gekoppelt ist, Häufig trägt ein getrennt wohnender Elternteil zum Fami­ lieneinkommen bei. Ganz abgesehen vom staatlich vermittelten Trans­ fereinkommen der zusammenwohnenden Eltern-Kind-Gruppe. 7 Zwar entscheiden nicht die Soziologen über semantische Entwicklungen, jedoch scheint die neuere empirische Familiensoziologie hier im Trend zu liegen: Als F. wird jede Art von Eltern-Kind-Beziehungen bezeich­ net, die einen gemeinsamen Haushalt bilden. Die eheliche Partnerschaft der Eltern ist dafür nicht unabdingbar. Auch der leibliche Vater oder (seltener) die leibliche Mutter, die meist scheidungsbedingt nicht im gleichen Haushalt leben, sind für diese Familiendefinition verzichtbar. Dafür können angeheiratete Zweitpartner des verbliebenen Elternteils der Familie haushaltsmäßig assoziiert werden.— Im Sinne der Kontinui­ tätsthese schlägt Nave-Herz vor - a.a.O. S. 87f - den Familienbegiff trotz aller Wandlungsprozesse festzuhalten und entsprechend neu zu definie ­ ren. Sie meint, das soziologische Kunstwort der Ein-Eltern-Familie habe sich schon durchgesetzt. Wenn als Familie die Einheit von Haushalt und Eltern-Kind-Beziehungen gilt, könnte freilich der (pädagogisch proble­ matische) Fall auftreten, daß zu dem geschiedenen Elternteil, der nicht im gleichen Haushalt lebt und damit nicht zur Familie zählt, intensivere Eltern-Kind-Beziehungen bestehen, als zu dem sorgeberechtigten Teil, der einer Erwarbstätigkeit nachgehen muß. S. auch Giesecke, Pädago­ gik 7-8, 91, S.7 8 S. Nave-Herz a.a.O. S.67 zur Herausbildung eines neuen Typs von Partnerbeziehung einerseits und andererseits (respezifizierende) Koppe­ lung der Eheform an Kinderwunsch. — Irreführend erscheint mir aller­ dings Nave-Herz Interpretation (a.a.O S.68), wonach diese Entwicklung die Rückkehr zu einer instrumentellen Beziehung auf die Ehe (etwa i.S. der alteuropäischen Familie vor Durchsetzung des Liebesideals?) dar­ stelle. Wie auch die Ausführungen von Y. Schütze (im gleichen Band) zeigen, handelt es sich hier ebenfalls um eine Form der Selbstverwirkli­ chung (i.S. einer bewußten Wahl) die nur einem anderen individualisti­ schen Ideal (einem anderen Code) folgt. 9 S. Nave-Herz a.a.O. S. 86 und ausführlicher dann Y.Schütze im gle ichen Band. S. Hinweise auf die Value of Children-Forschung in den USA. Zusammenfassung der These der Pädagogisierung der Eltern -KindBezie hungen bei Y. Schütze a.a.O. S.112 — Allerdings teile ich nicht Schützes (schon schon wieder therapeutisch orientierte) Interpretation, wonach die gewachsene Bedeutung des Kindes in der Familie der Ei­ genständigkeit des Kindes entgegenwirken würde. (Hier mal wieder ein konservativ-romantischer Einschlag a la Ariés.) Schütze S. 103ff.: Das Kind werde als Ersatz (?) für die schwindende Sicherheit in der Paarbe­ ziehung für den emotionalen Spannungsausgleich gebraucht, seit immer mehr Frauen auch erwerbstätig werden. (Ähnlich übrigens auch BeckGernsheim und Beck). Damit wachse die Gefahr, das Kind zu sehr an sich zu binden. Dies stehe aber ganz im Ggs. zu der von den Eltern be­ jahten pädagogischen Intention, die Eigenständigkeit des Kindes zu för­ dern. — Die bei Schütze wiederholt (S. 104, 110f, 112) vorgetragene These, daß die Kindzentrierung der familialen Kommunikation die im pädagogischen Code implizierten Entwicklungsunterstellungen "konter­ kariere", hat zwar einen gewissen psychologischen Charme, wird aber an keiner Stelle empirisch belegt. — Empirische Belege im gegenteili­ gen Sinne in Shell-Studie von 85 Bd.III, S. 252 raussuchen. — S. dazu auch meine Anm. im letzten Abschnitt zur "erlaubten Regression" in der Eltern-Kind-Beziehung.

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Ich versuche im Folgenden, diese Entwicklung nicht als Bruch, (Verfall, Untergangsszenario) zu beschreiben sondern als langfristig angelegten (deshalb aber keineswegs determinierten) evolutionären Trend. Ich ziehe eine Ent­ wicklungslinie von der Koppelung von Elternschaft und Partnerschaft im Medium der familialen Liebessemantik bis zur Ausdifferenzierung von zwei verschiedenen Codierun­ gen dieser Semantik entlang verschiedener Funktionssyste­ me der modernen Gesellschaft. Es geht dabei um einerseits um die Ablösung der Liebespartnerschaft von der bürgerli­ chen Form der Familie als einer Ehe - und Eltern-KindBeziehung übergreifenden Einheit. Die Bezeichnung als "romantische Liebe" nimmt diesen Aspekt der Abweichung von bürgerlicher Normalität auf. Die hier zu beobachtende Entwicklung hat m.E. weniger mit den rückwärtsgewandten Assoziationen der romantischen Literatur zu tun als mit einer Ausdifferenzierung von in der modernen Liebesse­ mantik schon angelegten Tendenzen. Die gegenwärtig sich durchsetzende Partnerschaftssemantik akzentuiert eine Re­ ziprozität der Liebeserwartungen, die mit der bürgerlichen Form nicht mehr vereinbar ist.10 Andererseits geht es um die Ausdifferenzierung einer in der familialen Liebessemantik noch nicht voll entfalteten pädagogischen Codierung. Die althergebrachte Bezeichnung "Liebe zum Kind" verbirgt diese Tendenz noch. Analog zu der neueren Partner­ schaftssemantik wird die Differenz besser erkennbar in der neueren Bindungssemantik.11 Im pädagogisch motivierten Konzept der natürlichen Bindung hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß Kinder Liebe in einer Weise brauchen, die nicht von den Kontingenzen der Erwachsenenliebe abhän­ gig gemacht werden darf. Andererseits ist die Liebe des Kindes, so die entwicklungspsychologisch gestützte Mei­ nung, nicht reziprok erwartbar. Fehlende Reziprozität, die im Falle erwachsener Partner zunehmend als zwingender Kündigungsgrund gilt, muß in der Eltern-Kind-Beziehung hingenommen werden. Zwar handelt es sich auch hier kei­ neswegs bloß um einseitige Zuwendungsleistungen der Eltern, jedoch ist das, was die Eltern legitimerwe ise vom Kind erhalten, etwas Anderes als das, was sie geben.12 Die Asymmetrie der Eltern-Kind-Beziehung erscheint als natur­ 10 Bereits Simmel beobachtete Probleme der Koppelung von Partnerschaft und Elternschaft: "Je umfänglicher eine Gemeinschaft ist, desto leichter bildet sich einerseits eine objektive Einheit über den Einzelnen, und de­ sto unintimer wird sie andrerseits; diese beiden Züge sind innerlich ver­ bunden. Daß man in einem Verhält nis eben nur den andern sich gegenü­ bersieht, und nicht zugleich ein objektives, überindividuelles Gebilde als bestehend und wirksam fühlt, - das ist schon in Verhältnissen zu dreien selten in voller Reinheit wirklich, und ist doch die Bedingung der Intimi­ tät. Daß so ein Drittes, das aus den beiden Subjekten einer Vereinigung selbst herausgewachsen ist, deren intimsten Sinn unterbricht, ist für die feinere Struktur der Gruppierungen zu zweien bezeichnend; und es gilt so prinzipiell, daß selbst die Ehe, sobald sie zu einem Kinde geführt hat, ihm manchmal unterliegt. ..." Zit. nach G. Simmel, Schriften zur Sozio ­ logie hg. Dahme/Rammstedt, Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe (aus Soziologie, 1908) S. 258— Im Rekurs auf Simmel wird vorge­ schlagen, Treue als Zweitcodierung des Intimitätsmediums Liebe zu be­ zeichnen, das Partnerbeziehungen (unter modernen Bedingungen, insbe­ sondere der Lohnarbeit, in denen der Haushalt allein nicht für Zusam­ menhalt sorgen kann) jenes Moment von Dauer verleiht, das überhaupt noch Fami lienbildung ermöglicht. Vgl. Brigitte Nedelmann, in Neidhart Sonderband Gruppensoziologie S. 182-184. Wenn man die Beschrei­ bung so ansetzt, bleibt allerdings unbestimmt, worin die zwei (technisch austauschbaren) Seiten des Codes bestehen könnten, der seine kommu ­ nikative Handhabbarkeit sichert. 11 Vgl. Bowlby, Bindung a.a.O 12 S. meine Ausf.zum Eigenwert der kindzentrierten Interaktion auf Er­ wachsenenseite unten (im letzten Abschnitt zur Respezifikation der päd­ agogischen Codierung).


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind bedingt. Es gehört zur Überzeugungskraft der pädagogi­ schen Bindungssemantik, daß sie sich auf Unterschiede be­ ruft, die sich der sozialen Einwirkung entziehen. In soziolo­ gischer Perspektive kommt es nun freilich darauf an zu beobachten, wie diese Unterschiede kommunikativ wahrge­ nommen werden. In der bürgerlichen Familie wurde die Asymmetrie der Eltern-Kind-Beziehung noch vom Mantel der familialen Liebessemantik zugedeckt. Damit wurden lange Zeit auch Unterschiede in der Gattenliebe zugedeckt, die die neuere Partnerschaftssemantik nicht mehr trägt. Die "Liebe zum Kind" war bürgerlich deshalb zunächst Mutter­ liebe.13 Daß ähnliche Gefühle auch von Vätern erwartet werden, ist eine relativ späte Entwicklung, die erst im Fort­ gang funktionaler Differenzierung zum Tragen kommt. Die hier skizzierten Tendenzen hängen zusammen mit Modernisierungsprozessen der Gesellschaft. Sie lassen sich deshalb nicht aufeinander reduzieren i.S. einer einfa­ chen Kausalverknüpfung. Die Dynamik der modernen Paarbeziehung, ihre Herauslösung aus der Form der Fami­ lie, läßt sich nicht auf die gesteigerte Pädagogisierung der Eltern-Kind-Beziehungen zurückführen. Die gesteigerten Ansprüche und Risiken in der Eltern-Kind-Beziehung las­ sen sich ebensowenig auf das Abdriften der Paarbeziehung aus der Familie zurückführen. Es handelt sich in beider Hinsicht um Emergenzphänomene: die Ausdifferenzierung partnerschaftlicher Intimbeziehungen als gesondertem Funktionssystem der Gesellschaft und die Ausdiffe­ renzierung der Eltern-Kind-Beziehungen als Teilsystem des Bildungssystems der Gesellschaft.14 Ich versuche im Folgenden die soeben skizzierten Thesen in drei Schritten auszuführen: Im 1. Schritt behandele ich kurz die tradierte Koppelung von Partnerschaft und Elternschaft. Dabei geht es mir v.a. darum, die Langfristigkeit der hier thematischen Veränderungen deutlich zu machen. Deshalb beginne ich mit Veränderungen im Übergang zur Moderne, die schon vielerorts dargestellt worden sind. Ich beziehe mich v.a. auf Ausführungen von Tyrell. Im 2. Schritt behandele ich die Ausdifferenzierung der Lie­ beskommunikation. Auch hier kann ich mich auf vieler­ orts schon vorgeführte Beschreibungen stützen. Es 13 Vgl. zur Historizität dieser Gefühlslage Shorter, Badinter a.a.O. 14 In dem hier herangezogenen theoretischen Modell (vgl. Anm.2) werden verschiedene Systemebenen unterschieden, jeder Ebene verschiedene Medien (Medium/Form-Unterscheidungen) zugeordnet und diese Unter­ scheidungen noch einmal mithilfe der Unterscheidung von drei evolu­ tionären Mechanismen reinterpretiert.— Die systemtheoretische Be­ schreibung zielt nicht allein auf die Interdependenz der Elemente eines Systems sondern - mit der System/Umwelt-Unterscheidung zugleich auf die Selbstreferentialität aller Systemoperationen. Dies impliziert unter anderem die Annahme, daß jede Intervention vom System selektiv - und dh. mit unvorhersehbaren Wirkungen - verarbeitet wird. — Die medien­ theoretische Beschreibung erlaubt es, Struktur- und Prozeßbeschreibun­ gen (Selektivität und Va riabilität der Systeme) zu verknüpfen. Kommu ­ nikationsmedien i.S. der funktionalistischen Theorietradition sind se­ mantisch hochkomplexe Konstruktionen, die durch symbolische Genera ­ lisierung eine kompakte Form (wie hier Liebe oder Kindheit) angenom­ men haben, die ihre Komplexität verbirgt und die Verknüpfung der Se­ lektivität der Kommunikation mit entsprechend sozialisierten Motiven des Bewußtseins erleichtert. Medien werden im Alltag nicht reflektiert sondern fungieren quasi selbstverständlich als lose Koppelungen für den Ausdruck funktionsspezifischer Sinnkonstellationen. — Die evolutions­ theoretische Beschreibung kann deutlich machen, daß nur das unabhän­ gige Zusammenwirken bestimmter Mechanismen, die keineswegs alle der Intervention zugänglich sind, für erwünschte Wirkungen sorgen kann bzw. daß jeder Versuch, die Unabhängigkeit dieser Mechanismen zu unterlaufen, unerwünschte Wirkungen wahrscheinlich werden läßt.

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kommt mir - unter Bezugnahme auf die Theorie funk­ tionaler Gesellschaftsdifferenzierung - darauf an, die Eigendynamik dieser Entwicklung gerade auch in Ab­ grenzung von (anderen) Veränderungen des Famili­ ensystems deutlich zu machen. Im 3. Schritt behandele ich die Ausdifferenzierung der päd­ agogischen Kommunikation. In diesem abschließenden Abschnitt versuche ich die eher kontraintuitive Behaup­ tung plausibel zu machen, daß die Familie zum Teil des Bildungssystems geworden ist. (Ich vermute, daß dieser Teil meiner Thesen die meisten Anlässe für Einwände ergeben wird, auf die ich in der anschließenden Diskus­ sion dann noch eingehen kann.) 1. Koppelung von Gatten- und Eltern-KindKommunikation Die Geschichte der Familienbegrifflichkeit seit dem 18. Jh.­ ist geprägt durch das abwechselnde Vordringen individual­ rechtlicher Auffassungen, die die Familie als gruppenförmi­ ges (alt-korporatives) Sozialgebilde tendenziell auflösen und andererseits dem Vordringen romantischer Auffassun­ gen, die die Familie als Einheit zu bewahren, als quasi rechtsfreien Raum auszugrenzen versuchen, wobei sich wiederholt Seitenwechsel zwischen aufklärerischer und antiaufklärerischer Tendenz vollziehen.15 Schwab beschreibt das Vordringen der romantischen Auffassung so:16 "Die folgenreiche Umdeutung des eheli­ chen Verhältnisses im Verlauf des 18. Jahrhunderts macht eine die gesamte Person engagierende psychische Dispositi­ on zum Wesen der Ehe selbst." Einerseits wird der ältere "Dualismus von Freundschaft und Sinnlichkeit überwunden und das Liebesverhältnis moralisiert" andererseits wird die Vorstellung von der Ehe als Vertragsverhältnis abgelehnt: "Ehe bedeutet das Einswerden (Seelenvereinigung) von Mann und Frau in der Liebe."... "Ein solches Verhältnis ist primär sittlich, nicht rechtlich." Die gegenüber der bür­ gerlich-institutionellen Auffassung zunächst kritisch ge­ meinte romantische Auffassung von der primär sittlichen, natürlich-organischen Wesensart der familiären Beziehun­ gen wird im 19. Jh. konservativ umgedeutet.17 Die romanti­ sche Relativierung der Ehe in Bezug auf (temporal anfälli­ ge) psychische Empfindungen muß dabei freilich fallen­ gelassen werden. Für die Gegenwart scheint es kennzeichnend, daß das romantische Liebesmotiv sich wieder abkoppelt von der restaurativen Tendenz, die Ehe und Familie als Na­ turverhältnisse legitimiert. Für die liebesbasierte Lebensge­ meinschaft von Erwachsenen wird weder eine sittliche (auf Dauer angelegte) noch rechtliche Absicherung (nach Au­ ßen) gesucht. Demgegenüber entsteht als eine neue und weithin akzeptierte Rechtfertigung der Familie die Rezep­ tion der pädagogisch-entwicklungspsychologischen Be­ schreibung der Familie als idealem Sozialisationskontext. Diese Rechtfertigung nimmt die naturrechtliche Tendenz wieder auf und läuft über die Eltern-Kind-Beziehung als gewissermaßen letztes Naturverhältnis. Auch hier gibt es zwar Gegentendenzen i.S. der individualrechtlichen Be­ gründung von Kinderrechten als Menschenrechte - jedoch

15 S. Schwab a.a.O zusammenfassend zu den vor-romantischen Liebesvor­ stellungen S. 284f. 16 S. Schwab S. 285­ 17 s. Hegel-Zitate bei Schwab u.a. S.291


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind wirkt gerade die entwicklungspsychologische Beschreibung der Familie als Verteidigung der Einheitskonzeption. - Filiation und Intimität

In den sozialen Beziehungen, auf die heute rückblickend der Terminus Familie angewendet wird, dominierte zunächst das Verwandtschaftsprinzip (das alle gesellschaftlichen Beziehungen strukturierte, die personale Inklusion regelte). Es wurde nur begrenzt durch das Exogamieprinzip (das Inzesttabu), das das externe Eingehen von Lebensgemein­ schaften regelte. In der Semantik der modernen Familie lassen sich beide Prinzipien rekonstruieren. Die Liebesse­ mantik knüpft am Prinzip der externen Bildung von Le­ bensgemeinschaft an, die pädagogische Semantik hingegen am residualen Verwandtschaftsprinzip.18 Im bürgerlichen Begriff der Familie werden beide Elemente gekoppelt: einerseits die Wirtschafts- und Le­ bensgemeinschaft (als Haushaltsgemeinschaft) ve rschiede­ ner Personen und andererseits das verwandtschaftliche Ve r­ hältnis (Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft).19 Die Koppelung geht einher mit einer doppelten Reduktion: Die Haushaltsgemeinschaft reduziert sich in der Regel auf das Elternpaar mit den unselbständigen Kindern. Dieser Reduk­ tionsprozeß zur sogenannten Kleinfamilie ist häufig be­ schrieben wo rden.20 Er geht einher mit der Ausbildung der Familie als Intimgruppe. Weniger gut beobachtet (bzw. nicht genügend davon unterschieden) ist der zweite Reduk­ tionsprozeß: der der Verwandtschaft. Die Ver­ wandtschaftsbeziehungen reduzieren sich im modernen Familienbegriff auf die Eltern-Kind-Beziehungen. In dieser residualen Form ist ihre traditionelle gesellschaftsstruktu­ relle Funktion kaum mehr zu erkennen.21 Die alteuropäische Gesellschaft teilte sich in politi­ sche und zivile Gesellschaft. Die Grundeinheit der Zivilge­ sellschaft war der Oikos, das Ganze Haus. Es gab jedoch keine zusammenfassende Bezeichnung für die im ganzen Haus eingeschlossenen sozialen Beziehungen. Es setzte sich zusammen aus drei verschiedenen Standesbeziehungen, die nur über die patriarchalische Herrschaftsposition des Haus­ vaters zusammengehalten wurden: 1. Ehestand (Herrschaft über die Frau) 2. Elternstand (Herrschaft über die Kinder) 3. Hausstand (Herrschaft über das Gesinde) Die rechtlich-politische Subordination in allen drei Beziehungen unter den Hausvater erscheint - zumindest 18 Die im Folgenden skizzierte Differenzierung läßt sich auch als funktio ­ nale Weiterentwicklung der gattungsgeschichtlich primären Errungen­ schaft des Inzesttabus auffassen. 19 Vg l. ausf. Dieter Schwab: Familie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Hg. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 2 S. 253ff - In der mittelalterlich-vorwissenschaftlichen Rechtssprache "deutet der Ge ­ brauch von 'familia' überwiegend auf Abhängigkeitverhältnisse hin: Die Einzelfamilie bezeichnet sie gerade bei Hörigen." (256) 20 Wobei wegen der Vermischung mit dem Verwandtschaftsprinzip unklar bleibt, inwieweit es die Großfamilie als entsprechende Vorform über­ haupt gab, Vgl. Mitterauer/Sieder a.a.O. 21 Eine historische Reminiszenz daran zeigt sich heute noch (abgesehen vom Erbrecht) in der Elternbeteiligung an Plazierungskämpfen im mo ­ dernen Bildungssystem. Aber gerade diese Reminiszenz verweist schon darauf, daß in der familialen Einheit der Differenz von Lebensgemein­ schafts - und Verwandtschaftsprinzip schon der Ansatz für die Spren­ gung dieser Einheit steckt: in den Eltern-Kind-Beziehungen setzt sich eine pädagogische Codierung der Kommunikation durch (und zwar um­ so deutlicher, je mehr in den Partnerbeziehungen sich die Intimcodie ­ rung durchsetzt).

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begriffsgeschichtlich - als eine alteuropäische Kontinuität von Aristoteles bis ins 18. Jh.22 Jegliche Vertraulichkeit, Intimität, ist in der Subordination ausgeschlossen.23 "Haus­ zucht" und Schutzfunktion sind komplementär. Verwandt­ schaftsbeziehungen sind nicht eingeschlossen. Dieses Ober­ schichtenmodell wirkt als Vorbild in allen Schichten, die (auf Eigentumsgrundlage) überhaupt einen Stand begrün­ den.24 Dieses Modell löst sich im 18. Jh. auf durch die Koppelung25 von Ehe und Elternschaft und die Distanzie­ rung vom Gesinde (Hausstand).26 Einerseits findet eine Intimisierung der Kernfamilie durch Abgrenzung der El­ tern-Kind-Beziehung vom Gesinde statt. Andererseits blei­ ben innerhalb der kernfamilialen Beziehungen Un­ gleichheitsstrukturen in der Gattenbeziehung und in der Eltern-Kind-Beziehung erhalten. Die Begründung hierfür bezieht sich jedoch nicht mehr auf die patriarchalische Ord­ nung des Hauses (Unabhängigkeit der drei Herrschafts­ stränge). Sie ist im Ansatz bereits pädagogisiert mit der Bezugnahme auf eine naturbedingt größere Nähe der Mutter zum Kind. 27 Daraus ergibt sich die Legitimation für eine Beibehaltung von Ungleichheit unter der Form der ge­ schlechtsspezifisch normierten Arbeitsteilung zwischen häuslicher und außerhäuslicher Sphäre.28 Historische Rekonstruktionen zeigen, daß die Integra­ tion der Liebessemantik - insbesondere als passionierte Liebe, die auch Sexualität einschließt - in die Ehegattenbe­ ziehung später stattfindet als der entsprechende Wandel der Semantik in der Eltern-Kind-Beziehung, 29 der diese Integra­ tion zugleich ermöglicht und begrenzt. Im 18. Jh. dominiert noch der Freundschaftskult, der Sexualität ausgrenzt. Zu­ nächst wandelt sich die Rolle des Hausvaters, die für eine Sentimentalisierung in der Wahrnehmung der Kinder frei wird, während die Mutter noch in der Rolle des Gesindevo r­ stands verbleibt. Erst später werden diese Sentimente auf die Mutterrolle verlagert.30 Die Stoßrichtung der Pädagogi­ sierung der Eltern-Kind-Beziehungen ging zunächst auf Distanzierung vom Gesinde, also dahin, die Kinder nicht länger den verderblichen Einflüssen nicht zur Familie gehö­ riger Personen zu überlassen (Ammen etc.). Im Rückgang der ökonomischen Funktionen des Haushalts wird dann die Mutterrolle zur pädagogisch geforderten Komplementärrol­

22 Tyrell schließt nicht aus, daß sich in der Spätphase eine Art Sekundär­ patriarchalismus mit verschärftem "Hauszucht"-Denken gezeigt haben könnte, bevor das Ganze zusammenbricht. Er insistiert aber auf der Kon­ tinuität. Einwände gegen den Versuch die mittelalterliche Einzelfamilie so von einer einheitlichen Hausgewalt her zu rekonstruieren bei Schwab a.a.O. S. 258 23 Vgl. Zitat Riehl zur allmählichen Durchsetzen des Duzens.

24 S. die sogenannte "Hausväterliteratur" zit. bei Tyrell a.a.O.

25 Tyrell hat für diesen Vorgang die weitergehende Formel der "Fusionie ­

rung" von Elternschaft und Ehepartnerschaft vorgeschlagen. 26 Interessanterweise entfällt diese Differenz dann mit der Verallgemeine ­ rung des bürgerlichen Familienmodells auf der Grundlage der Lohnar­ beit: ohne Gesinde bilden Ehe, Elternschaft und Haushalt eine Einheit ­ so daß lange Zeit nur noch die Haushalte gezählt werden mußten, wenn Familien gemeint waren. Heute freilich besagt die Haushaltsstatistik fast nichts mehr über die dahinterstehenden sozialen Beziehungen. 27 s. Rousseau-Zitate bei Tyrell, Überlegungen 28 Die (von vielen HistorikerInnen heute beschriebene) Polarisierung der Geschlechtsrollen im 18. Jh. ist m.E. nicht angemessen zu verstehen, wenn man darin eine Reproduktion patriarchalischer Legitimationsmu­ ster sieht und nicht das neue Element der pädagogischen Codierung, das sich in der naturalisierenden Verknüpfung der Mutterrolle mit dem Filia ­ tionsprinzip darstellt. 29 S. Schwab a.a.O.

30 i.S. Rousseauscher Renaturalisierungsideen s. Tyrell, Schwab, Badinter


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind le zur Rolle des Kindes. Dies erfolgt zunächst noch entlang der vormodernen Dreigliederung31 - Gattin, Hausfrau, Mut­ ter - löst aber deren tradierte Begründung auf. Die elementare Verbindung des Familienbegriffs mit Intimkommunikation markiert den Beginn der modernen Familie. Nicht nur die Beziehungen der Partner, die eine Lebensgemeinschaft eingehen, sondern auch die Verwandt­ schaftsbeziehungen, wenn die Partner zu Eltern werden, werden von der Intimkommunikation überformt.32 Dennoch bleibt der Grad der Intimisierung der Kommunikation in der Familie als Koppelung von Partnerschaft und Elternschaft begrenzt: Einerseits können die Kinder nicht zu Partnern der Eltern werden. In der Beziehung zwischen Eltern und Kin­ dern ist ein Moment der Distanz eingebaut (andernfalls handelt es sich erkennbar bloß um pädagogisch simulierte Partnerschaft) und zwar nicht deshalb, weil dies in der Na­ tur des Altersunterschieds liegt, sondern weil die Kommu­ nikation zwischen Eltern und Kindern pädagogisch orien­ tiert ist. (Was das bedeutet, soll später am pädagogischen Code expliziert werden.) Andererseits ist auch in der Part­ nerbeziehung eine gravierende Distanz eingebaut, die sich v.a. aus der geschlechtsspezifischen Aufteilung von häusli­ cher (dh. v.a. kinderbezogener) und außerhäuslich­ erwerbsmäßiger Arbeit ergibt.33 Während in der modernen Liebessemantik, wie in vielen anderen Formen der modernen Gesellschaft das Prin­ zip der freien Wahl bzw. der freiwilligen Gemeinschaft gilt,34 werden in der Eltern-Kind-Beziehung die residualen Formen des Verwandtschaftsprinzips35, der Natur-Bindung betont.36 Das symbolisch generalisierte Motiv dafür liegt in 31 s. Campe-Zitat bei Tyrell 32 Es handelt sich hier um jene Mischung aus vordifferentiell-christlichen Motiven und modern-individualistischen Motiven wie sie heute noch in der Liebessemantik des Weihnachtsfests tradiert wird. 33 Dieser Umstand, der die Reziprozität der Intimkommunikation be ­ schränkt, ist bekanntlich v..a. in der feministischen Literatur rekonstru­ iert worden, 34 s. die Bezeichnungen "Wahlverwandtschaft" statt Blutsverwandtschaft, "achieved-pattern" anstelle "ascribed-pattern" etc. 35 S. Gentechnologie als gravierendem Eingriff in das Verwandtschafts ­ prinzip. Gerade wegen der hohen symbolischen Relevanz der Eltern Kind-Beziehung als letztem Residuum einer naturhaften Bindung in der menschlichen Kommunikaton wird diese Technologie als Bedrohung wahrgenommen. S. Beck, das normale Chaos; vgl. Pettinger, in Päd. 7/8 91, S.13 36 Daß in der modernen Familie zwei - in gewisser Hinsicht auch antago ­ nistische - Vergesellschaftungsprinzipen gekoppelt erscheinen ist v.a. in der älteren Frankfurter Schule gesehen worden. Dabei wird die am Prin ­ zip der Haushalts - und Lebensgemeinschaft anknüpfende Partner­ schaftsorientierung als im wesentlichen bestimmt durch die Durchset­ zung des Tauschprinzips beschrieben und von daher ein unauflöslicher Gegensatz (der Partnerschaft) zum Prinzip der Blutsverwandtschaft kon­ struiert, das die Familie wesentlich bestimme (Soz. Exkurse, 1956, Ffm, S. 120). Alle rdings wird dieser Dualismus der Familie in Frankfurter Manier dämonisiert: Die familiale Intimkommunikation erscheint als ein bloßes Mittel der Anpassung an die Herschaft des Tauschprinzips. Der "feudale" Charakter der Familie qua Verwandtschaftsprinzip wird zum Widerstandsmoment angesichts der Totalisierung des Tauschprinzips. — Die Frankfurter Kritik paßt ganz zur konservativen Apologetik, worin der übesteigerten Liebe die Schuld am Zerfall der Familie gegeben wird: "Charakteristisch, daß gerade dort, wo der romantische Kult der Familie am lautesten betrieben wird, die Ehe durch die Institution der Scheidung ganz unterhöhlt ist. Die Individuen werden auswechselbar wie im Ge ­ schäftsleben, wo man eine Position verläßt, wenn sich eine bessere bie­ tet." (a.a.O S. 125 - Dieser Passus wird übrigens zustimmend zitiert von dem Familientherapeuten H.E. Richter, Eltern, Kind, Neurose, 1963, Stuttgart, S.79)— So kann es nicht überraschen, daß die heute in Best­ sellern (Postman) verbreitete These vom Verschwinden der Kindheit (die Kindheit mit Familie ineinssetzt!) schon aus dieser Frankfurter Sicht vorformuliert wurde: "Nach Abschaffung der Kinderarbeit wurde Kindheit im prägnanten Sinne des neunzehnten Jahrhunderts, jener Be­

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dem Stabilitätsversprechen der naturhaften Bindung. Doch verdankt sich dieses Versprechen offenkundig nicht irgend­ einer systemexternen Naturtatsache sondern gerade der pädagogischen Orientierung.37 Während biophysische Ge­ schlechtsunterschiede - v.a. hinsichtlich der Zuweisung von Berufsrollen und damit zusammenhängender Lebenschan­ cen - stark an Bedeutung verlieren38, werden die biolo­ gischen Altersunterschiede eher gewichtiger eingeschätzt als in der Vormoderne. Die symbolisch generalisierten Ver­ arbeitungsformen dieser beiden Referenzen auf externe (durch Entwicklung organischer Systeme bedingte) Merk­ male laufen auseinander. Ich versuche im folgenden Abschnitt zunächst das tradierte Motiv der elterlichen Liebe zu rekonstruieren, dessen Verständnis ja durch die gegenwärtig sich vollzie­ hende Entkoppelung von pädagogischer und Liebesseman­ tik erschwert wird.39 - Filiatorische Bindung der Liebessemantik

Die sogenannte romantische Liebe ist eine Form der Kom­ munikation, die hochindividualisierte Abweichungen von aller anderen Kommunikation in der Gesellschaft erlaubt. Diese Individualisierung bleibt allerdings pathologiever­ dächtig - soweit sie sich nicht in die bürgerliche Form der Ehe einbinden und beschränken läßt. Die Liebe zum Kind hingegen - zumal in der bürgerlichen Spezialisierung als Mutterliebe - ist nicht nur erlaubt sondern normativ gebo­ ten.40 Die Mutterliebe läßt sich zwar als eine besondere Variante der familialen Liebessemantik beschreiben. In der historischen Rekonstruktion fällt heute jedoch eher die Be ­ schränkung der Liebessemantik durch die filiatorische Bin­ dung der familialen Kommunikation auf. Die pädagogische Rolle der Eltern ist an die Leiblichkeit der Eltern-Kind-Be­ ziehung gebunden. Deshalb werden auch die Beziehungen der Geschlechter in der Familie - entlang der Trennung zwischen häuslichen und außerhäuslichen Tätigkeiten - über das Filiationsprinzip legitimiert. Die Sozialgeschichtsschreibung der Familie hat ge­ zeigt, daß das Interesse am Kind (einschließlich seiner "Er­ ziehung") in der traditionellen (alteuropäischen) Gesell­ schaft weitgehend gesichert war durch das ökonomische

rich, in den Sehnsucht zurückruft, temporär für alle möglich. Heute wird sie für alle liquidiert, so wie sie selbst historisch entsprang; wie auf frü ­ hen Bildern die Gesichter von Kindern alt und traumlos aussehen. Das spezifische Moment der Versagung, das heute die Individuen verstüm­ melt und sie an der Individuation hindert ist kaum mehr das familiale Verbot, sondern die Kälte, die umso mehr eindringt, je löchriger die Fa­ milie wird." (a.a.O. S.126) 37 Entspr. Argumente bei Beck-Gernsheim; vgl. als Versuch zur anthropo ­ logischen Fundierung, Prange 38 Ähnlich wie der Klassenbegriff in einer Gesellschaft, die sich auf funk­ tionale Differenzierung (als Primärform) umstellt, nicht mehr deren zen­ trale Differenz markiert sondern eher das Kontingentwerden dieser Dif­ ferenz (weshalb schichtspezifische Kumulation von Ungleicheiten über mehrere Funktionssysteme hinweg als ungerecht empfunden wird) so gilt dasselbe auch für die ältere (stammesgeschichtlich tradierte) Diffe ­ renz der Geschlechter: Die Diskussion über die (empirisch unbestreitba­ re) Kumulation geschlechtsspezifischer Benachteiligungen signalisiert gerade die Tatsache, daß diese Differenz für die Reproduktion der Ge ­ sellschaft unwichtig geworden ist. 39 Das Thema wird im Hinblick auf die Respezifikation des Motivs der elterlichen Liebe unter gegenwärtigen Bedingungen im 4. Teil wieder aufgenommen. 40 Vgl. Roussau-Zitat bei Tyrell,


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind Eigeninteresse der Eltern an ihrer Altersversorgung. 41 Man­ che Autoren ziehen daraus den kulturkritischen Schluß, daß der Nachwuchs deshalb in der Moderne zunehmend von Vernachlässigung bzw. Gleichgültigkeit bedroht sei. Die eher zunehmende Behütung von Kindern in der modernen Kleinfamilie wird als ein Übergangsphänomen gewertet, das der vollen Durchsetzung moderner (individualistischer) Sozialstrukturen zum Opfer fallen muß.42 In Abgrenzung von dieser Auffassung kann gefragt werden, ob es in der modernen Kleinfamilie ein funktiona­ les Äquivalent für das ökonomische Interesse der al­ teuropäischen Eigentümerfamilie gibt. (Anderenfalls wäre elterliche Liebe nur als ein realitätsfernes Ideal ohne soziale Wirkungen anzusehen.) Der Ve rgleich mit der Funktion der Liebessemantik in Paarbeziehungen Erwachsener ist hier in­ struktiv: So wie das ökonomische Interesse des alteuropäi­ schen Eigentümers am Ehepartner offenkundig abgelöst werden konnte durch das Motiv der Partnerliebe, so konnte (historisch vorangehend schon) das ökonomische Interesse am Kind abgelöst werden durch das Motiv der elterlichen Liebe.43 In der neueren Erziehungswissenschaft wird das Lie­ besmotiv, häufig noch verknüpft mit naturrechtlicher Ar­ gumentation, zur Begründung pädago gischer Intentionen herangezogen. In diesem Sinne setzt Klaus Prange den Ausgangspunkt aller pädagogischen Intentionen anthropo­ logisch bei der Hilfsbedürftigkeit des Neugeborenen an.44 Der Lebensanfang sei gewissermaßen der Anfang aller Erziehung. Da die natürliche Hilfsbedürftigkeit des Kindes nicht als zureichende Begründung für die Funktionen der pädagogischen Kommunikation angesehen werden kann, versucht Prange eine normative Begründung in der sozialen

41 Dies gilt unabhängig von der bei einigen Autoren umstrittenen Frage, ob es so etwas wie Liebe zwischen Eltern und Kindern gegeben hat oder ob dies erst eine Erfindung der Moderne sei. 42 Vgl. Coleman, Die asymmetrische Gesellschaft; Heinsohn/Knieper etc. neuerdings U. Beck 43 Um diesen Ablösungsprozess historisch und psychologisch plausibel zu machen, wird er hier als Teil der Durchsetzung der pädagogischen Co­ dierung der familialen Kommunikation beschrieben. Die größere Labili­ tät und Rückfallgefährdetheit der modernen Konstellation ist auf ihre evolutionäre Riskiertheit zurückzuführen. Dem entspricht ein funktions­ spezifischer symbiotischer Mechanismus - hier der filiatorischen Ag­ gressionshemmung - der als symbolische Repräsentation eines gattungs­ geschichtlichen Mechanismus gerade beim Erwachsenen einsetzen muß. — Was die psychologische Seite betrifft, so geht es zunächst darum zu zeigen, welche Funktion der pädagogische Entwicklungscode für die Entwicklung des Bewußtseins von Eltern/Erwachsenen hat. Wesentliche Teile der Individuation erfolgen ja in der Beziehung zum Kind. Dieser Effekt tritt umso gravierender auf, je mehr andererseits die normale In ­ dividuation durch institutionell verlängerte Bildungsprozesse hinausge­ zögert wird. Das kann man sich vorstellen anhand des "zwingenden" Charakters kindlicher Erwartungen im Hinblick auf eine entsprechende Anpassung des Alltagslebens. Natürlich sind die kindlichen Erwartun­ gen nur dann "zwingend", wenn auf seiten des Erwachsenen der päd­ agogische Code bereits internalisiert ist.— Was die historische Entwick­ lung betrifft, so wird hier offensichtlich der Wandel der Geschlechtsrol­ len rele vant: Zunächst einseitige Verlagerung der Eltern liebe als Mutter­ liebe auf die Frau behindert eher deren Individuation. Erst über die zivi­ lisatorisch zunehmende Domestikation des Mannes erfolgt hier allmäh ­ lich eine Aufwertung dieser Eltern-Kind-Beziehung als Moment der In­ dividuation. 44 Prange a.a.O S. 18 - Fraglich ist, ob eine so aufgefaßte pädagogische Intention schon mit dem Erziehungsbegriff gleichgesetzt werden kann. Jedenfalls wäre das eine starke Umdefinition gegenüber der interventio­ nistischen Tradition des Begriffs. Ich ziehe es daher vor, Pranges Argu­ mentation mit der Beschreibung des Motivs der elterlichen Liebe zu verknüpfen.

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Rolle der Elternschaft zu rekonstruieren.45 Die Begründung rekurriert im Kern auf das moderne Freiheitsmotiv. Prange zitiert Kant, man müsse "den Akt der Zeugung als einen solchen ansehen, wo durch wir eine Person ohne ihre Ein­ willigung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben; für welche Tat nun auch eine Ve r­ bindlichkeit haftet, sie, soviel in ihren Kräften ist, mit die­ sem ihrem Zustande zufrieden zu machen."46 Der entschei­ dende Punkt ist hier, daß Elternschaft über die "Tat" des in die Welt Setzens von Kindern abgeleitet wird, also an die Leiblichkeit der Eltern gebunden wird. 47 Damit ist Eltern­ schaft keine Rolle mit austauschbarem Personal. Die in der Elternschaft begründete pädagogische Intention kann damit auch nicht auf pädagogische Organisationen (Erziehungs­ heime, Schulen etc. mit wie immer qualifiziertem, doch prinzipiell austauschbarem Personal) übertragen werden.48 Prange weist daraufhin, daß diese spezifisch pädago­ gische Begründung der Elternschaft ambivalente Folgen in zweierlei Richtung enthält: Die ausschließlich über die "Tat" bzw. die leibliche Eltern-Kind-Beziehung begründete pädagogische Verantwortung bringt Eltern in eine Lage, "die man früher auch als unausweichlich metaphysische Schuld gekennzeichnet hat". Sie können eigentlich die Ve r­ antwortung für die Folgen ihrer pädagogisch intendierten Handlungen, wenn sie sie denn bewußt reflektieren würden, gar nicht tragen. Sie benötigen daher einen Entlastungs­ 45 Prange sieht drei Gründe, die die Eltern verpflichten, ihr Kind zu erzie ­ hen: 1. das Argument des schwächsten Glieds einer Kette, das noch nahe an der Hilfsbedürftigkeitsannahme angesiedelt ist, 2. das Argument des Generationenvertrags, in dem die arbeitsteilige Investition der Mutter­ liebe als eine ökonomische Lösung gelten kann, und 3. die Berufung auf das sittliche Motiv der Freiheit im Anschluß an die zitierte Kant-Stelle. 46 I. Kant: Metaphysik der Sitten (1779) in: Werke in 6 Bdn. Bd.IV Darm­ stadt 1966 S.394 (=A114) zit. nach Prange a.a.O. 47 Das Moderne an dieser Argumentation (auch wenn die Formulierung alteuropäisch klingt) scheint mir, daß hier eine Art Wiedergutma ­ chungspflicht für den Eingriff in die Freiheit eines Anderen - dh. hier des Kindes - konstruiert wird, aus der sich die besondere Aufgabe der Elternschaft ableitet. Ob man daraus - wie Prange - eine Pflicht zur Er­ ziehung ableiten muß, sei dahingestellt. Jedenfalls müßte man dann eine Definition von Erziehung geben, die aus dem Dilemma führt, praktisch nur weitere Freiheitsbeschränkungen zu produzieren, ohne die damit intendierte Herstellung von Freiheit i.S. von Kantischem "Weltbürger­ tum" garantieren zu können. Daher mein bescheidenerer Vorschlag, aus der leiblichen Elternschaft spezifische Bindungsmuster bzw. den symb o­ lischen Rekurs auf das Filiationsprinzip und entsprechende gattungsspe­ zifische Aggressionshemmungen abzuleiten. 48 Prange weist in seinem Beitrag scharfsinnig daraufhin, daß in der päd ­ agogischen Theorietradition höchstangesehene "Klassiker" wie Pesta­ lozzi sich eben dieses Immunisierungsmittels bedient haben. Die Frei­ setzung jener ziemlich totalitäre Form der Kommunikation, die der In­ timcode ermöglicht, ist nicht zufällig an die Ausdifferenzierung spezifi­ scher hochindividualisierter Voraussetzungen von Intimsystemen ge­ bunden. Die Abkoppelung dieser ziemlich totalitären Form der Kommu ­ nikation von der leiblichen Elternschaft im "pädagogischen Eros" hält Prange für eine gefährlichen Abweg der frühmodernen Pädagogik. — Nun kann man wohl sagen, daß diese Frage heute nur noch ideenge­ schichtlichen Rang hat. Das Problem hat sich von selbst erledigt. Kein professioneller Pädagoge würde es heute noch wagen, die möglichen Folgeprobleme seiner Kommunikation mit Kindern mit dem "Mantel der Liebe" zum Kind zuzudecken. (Zur psychoanalytischen Kritik des Lie ­ besmotivs in der Pädagogik vgl. schon BERNFELD (1926) a.a.O.) — Dafür läßt sich auf dem Hintergrund dieser semantischen Entwicklung aber ein neues Problem beobachten: Auch die Elternschaft löst sich aus dem Rahmen der tradierten Kompakteinheit der Familie und damit steht die fa miliale Liebessemantik nicht mehr so ungebrochen zur Verfügung, um die unsicheren Folgen elterlicher Handlungen in der Zukunft der Kinder zu verdecken. Die pädagogische Codierung im Elternhandeln wird re flexiv, die pädagogische Kommunikation droht sich selbst zu blockieren angesichts der unüberschaubaren (eigentlich nicht zu verant­ wortenden) Risiken, denen Kinder durch ihre Eltern ausgesetzt werden. (Also setzt man besser erst gar keine Kinder in die Welt.)


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind mechanismus, und dieser wird herkömmlich in der familia­ len Liebessemantik bereitgestellt. "Liebe ist das Argument, unter dem Erziehung sozial vertretbar und zumutbar er­ scheint. Nicht zufällig sprechen wir vom Mantel der Liebe: er umhüllt nicht nur das Kind, er deckt auch das, was die Eltern tun und lassen und von dem man nachträglich sieht, was daraus geworden ist. ... Die Liebessemantik immuni­ siert gegen die Zurechenbarkeit der Folgen". 49 (Ich komme auf diese Argumentation unter dem Gesichtspunkt neuerer Entwicklungen der Liebe zum Kind zurück. ) Die familiale Liebessemantik bildet das Medium, in dem pädagogische Kommunikation unter den besonderen Bedingungen der körperlichen Nähe und der Bewußtseins­ relevanz der Interaktionen zwischen Eltern und Kindern möglich wird. Liebe ermöglicht und relativiert die Verant­ wortung der Eltern für die Folgen ihrer pädagogisch inten­ dierten Handlungen. Die Einbettung der pädagogischen Kommunikation in die familiale Liebessemantik ist jedoch nur die eine Seite dieser Medium-Form-Beziehung. Wenn man die Form der Liebe zum Kind mit der (ausdifferenzier­ ten) Form der Erwachsenenliebe vergleicht, wird auch die andere Seite erkennbar, in der die Liebeskommunikation gebrochen erscheint durch Erziehung. Die Liebe zum Kind wird - in der temporalen Kontinuität und in der sozialen Reziprozität begrenzt durch die Formen der pädagogischen Kommunikation. Vor allem die (im pädagogischen Medium Kind­ heit50symbolisch generalisierte) Wahrnehmung der Un­ gleichheit der Entwicklungsvoraussetzungen der Persön­ lichkeit (des Körpers und des Bewußtseins) setzt der Lie­ beskommunikation zwischen Eltern und Kindern Grenzen. Im romantischen Liebesideal kann es keine Grenze und schon gar kein pädagogisches Grenzensetzen geben, denn es gilt nur die Höchstrelevanz der anderen Person. Wer jedoch in der Liebe zum Kind nach diesem Muster verfährt, kann es nicht erziehen. Das Primat der Erziehung verhindert die volle Reziprozität des Liebens. Di e Liebe zum Kind kann sich nur einseitig (bzw. asymmetrisch in den Formen der kindlichen Elternliebe) verwirklichen. Sie enthält deshalb ­ gemessen am Reziprozitätsideal der romantischen Liebe ­ ein Opfermotiv (was in der bürgerlichen Familienform auf­ grund der ähnlichen Ungleichheiten der Gattenliebe nicht so auffallen mußte wie heute). - Dimensionen der Liebessemantik

Tyrell hat herausgearbeitet, daß das gemeinsame Element der Liebessemantik im Hinblick auf die Ko ppelung von Ehe- und Eltern-Kind-Beziehungen in der Einzigartigkeit der jeweils adressierten Person besteht.51 Gattenliebe soll sich bloß auf den Gatten, Elternliebe soll sich auf die eige­ nen Kinder richten. Der Nichtaustauschbarkeit des Ehepart­ ners entspricht die Nichtaustauschbarkeit der Kinder.52 Beides wurde alteuropäisch anders aufgefaßt. Die Einzigar­ tigkeit der Person und die damit verbundene Relevanz der 49 s. Prange a.a.O S.25.

50 Die einschlägigen, in vieler Hinsicht aber divergenten Deutungen der

Sozialgeschichte der Familie und Erziehung von Snyders, Ariés, DeMause, Shorter, Badinter u.a. konvergieren in dem Punkt, daß die Unter­ scheidung von Kindern und Erwachsenen eine höchst folgenreiche Er­ findung der Moderne ist. 51 Tyrell a.a.O. 1987 52 Tyrell betont an dieser Stelle allerdings nicht nur den Monopolanspruch in beiden Beziehungen sondern auch die Reziprozitätsnorm. Diesbezüg­ lich mache ich im Folgenden Einschränkungen.

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Bewußtseinsbezüge ist das Merkmal aller Intimkom­ munikation und nicht nur der Geschlechtsliebe i.e.S.53 Die moderne Geschlechtsliebe ist prinzipiell selbst­ genügsam, sie dient keinem äußeren Zweck - wie etwa der Reproduktion in der alteuropäischen Auffassung. Diese Selbstzweckhaftigkeit gilt nicht in der gleichen Weise für die Eltern-Kind-Beziehungen: Zwar soll auch die Liebe zu Kindern bedingungslos gegeben werden. Aber sie dient dennoch - oder gerade in dieser Bedingungslosigkeit - ei­ nem externen Zweck: nämlich seiner Entwicklung für ein Leben in der Zukunft. So zeigen sich (aus heutiger Perspek­ tive) bei näherer Betrach tung erhebliche Unterschiede in der Verwendung der Liebessemantik in der Ehegattenbezie­ hung einerseits und der Eltern-Kind-Beziehung anderer­ seits: 1. Der Unterschied wird in der Sozialdimension am deut­ lichsten mit der Normativitätsforderung: Ehegatten sol­ len sich lieben. Wenn das nicht (mehr) der Fall ist, ist das ein Unglück, aber weder unnatürlich noch moralisch vorwerfbar. Eltern sollen auch ihre Kinder lieben. Wenn sie das nicht tun, ist das aber unnatürlich und moralisch verwerflich. Andererseits müssen Kinder ihre Eltern nicht in gleicher Weise lieben wie umgekehrt. Die Rezi­ prozitätsnorm ist in der Ehegattenbeziehung strikter an­ gelegt als in der Eltern-Kind-Beziehung. 2. In der Eltern-Kind-Beziehung ist diesbezüglich eine Asymmetrie angelegt, die sich temporal wandeln soll mit der Verstehenskompetenz der Kinder. (Sie löst sich aber normalerweise deshalb nicht auf, da die Eltern in einer anderen Zeit aufgewachsen sind.) Andererseits ist die Liebe zwischen Eltern und Kindern in der Zeit­ dimension stärker auf Kontinuität angelegt, da sie nicht auf der - im Alltag schwer zu stabilisierenden - Überein­ stimmung der Motive und Empfindungen als vielmehr auf natürliche Bindung (Filiationsprinzip) sich stützen soll. 3. Auch der Monopolanspruch der Liebe - der in der Sach­ dimension die Grenzen zur Umwelt bestimmt - ist in der Ehegattenbeziehung weitaus strikter gedacht. Das Sy­ stem ist mit zwei Individuen geschlossen. Für Dritte ist kein Platz. In der Liebe zwischen Eltern und Kindern ist zwar auch auf die Einzigartigkeit der Beteiligten abge­ stellt, jedoch ist die Zahl der Liebespartner zumindest auf Kinderseite nicht prinzipiell auf eine Person be­ grenzt.54 Umso wichtiger erscheint andererseits die Koppelung der Liebessemantik an die Leiblichkeit der Eltern.55 53 Die Liebessemantik übergreift intimcodierte und pädagogisch codierte Kommunikation und bildet deshalb das Verknüpfungselement für die familiale Kommunikation. Die gemeinsame Konstellation besteht in der kommunikativen Relevanz von Alters Erleben für Egos Handeln. Damit grenzt sich Liebeskommunikation von allen anderen Kommunikationen ab, in denen keine vergleichbare Bewußtseinsreferenz hergestellt werden kann. 54 Wenn man an die Professionalisierung der Liebe zum Kind in der Pädagogenrolle - "pädagogisches Eros" etc - denkt, so ist sie sogar aus­ gedehnt bis an die Grenzen von Interaktionssystemen überhaupt. Vgl. meine Ausf. im Anschluß an Prange 55 Es gibt zwar auch Liebe zum Adoptiv-Kind, zum Stief-Kind etc. geben. Dies ist dann immer eine lebensgeschichtlich aufgebaute, hochindividualisierte Beziehung, deren Gelingen jedoch typischerweise nicht mit derselben Sicherheit erwartet wie in der leiblichen Eltern Kind-Beziehung. Zur Ausdehnungder Liebessemantik in der frühmodernen Pädagogik (als "pädagogisches Eros") s. meine Hinweise auf Prange oben. Zur weiteren Begründung s. Ausf. zum symbiotischen Mechanismus der pädagogischen Kommunikation unten


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind In diesem Körperbezug der pädagogischen Kommu­ nikation in der Familie läßt sich ein weiterer - in gewisser Hinsicht tiefer liegender - Ansatzpunkt für die semantische Differenzierung erkennen.56 War in der pädagogischen Kommunikation schon immer die Tendenz zur Kontingenz­ reduktion i.S. naturnotwendiger Bindung angelegt, so läßt sich als symbiotischer Mechanismus hier unschwer die gattungsgeschichtlich ve rankerte Aggressionshemmung zwischen (leiblichen) Eltern und Kindern erkennen, die erst in der symbolisch generalisierten Kommunikation zur posi­ tiven Bindung umgeformt wird.57 Der Unterschied zum symbiotischen Mechanismus der Liebespartne rschaft - der menschlichen Sexualität - liegt in dem größeren Zeitbin­ dungspotential des Filiationsmechanismus (kontinuierlich auf eine Lebensphase bezogen) und in dem größeren Sozi­ albindungspotential (Reziprozität der Interaktion ermögli­ chenden) der Sexualität. Gerade weil die Liebe zum Kind eine pädagogisch so hochgesteckte Forderung ist, bedarf es des im Filiationsprinzip58 eingebauten symbiotischen Me­ chanismus zu dessen kommunikativer Stabilisierung. 2. Ausdifferenzierung der LiebespartnerKommunikation Liebe ist das tradierte Medium der Koppelung von Eltern­ schaft und Partnerschaft in der familialen Kommunikation. Die Auflösung der symbolischen Einheit dieser Kommuni­ kation erwächst aus den Eigentümlichkeiten der modernen Intimkommunikation. Intimkommunikation bedeutet Höchstrelevanz des Bewußtseins für das Zustandekommen der Kommunikation und damit Nichtaustauschbarkeit der Person. Sie verlangt nicht nur eine Konstellation, in der Alters Erleben Anschlußbedingung für Egos Handeln ist, sondern zieht zugleich eine Grenze gegenüber allen anderen Kommunikationen, in denen keine vergleichbare Bewußt­ seinsreferenz hergestellt werden kann. Die Ausdifferenzierung der Liebeskommunikation aus der traditionellen Kompakteinheit der Familie ist im Zusammenhang zunehmender funktionaler Differenzierung

56 Obwohl die kommunikativen Referenzen auf Körperfunktionen sich auf gattungsgeschichtlich angelegte Mechanismen beziehen, dürfen diese ­ von Luhmann als "symbiotische" bezeichneten Mechanismen nicht in irgendeinerweise als Fundament verstanden werden. Es gibt kein Fun­ dament der Kommunikation außerhalb der Kommu nikation. Der Rekurs auf externe organische Voraussetzungen fungiert aber als eine Sicher­ heitsebene für die Ausdifferenzierung der Kommunikation. 57 Vereinfachend kann man sagen, daß es sich beim Filiationsmuster um das gattungsgeschichtliche Substrat dessen handelt, was im Rahmen des Kommunikationsmediums dann als symbiotischer Mechanismus fun­ giert. Das gattungsgeschichtlich tradierte Muster darf jedoch nicht vor­ schnell schon mit dem Konzept der Bindung übersetzt werden, das zwei­ fellos zu den Errungenschaften der sozialen Evolution gehört. Mit bezug auf das gattungsgeschichtliche Substrat leiblicher Elternschaft kann ei­ gentlich nur der Mechanismus der filiatorischen Agressionshemmung angeführt werden.— Gerade das Fehlen eines gattungsspezifischen In­ stinktmechanismus und das nur unsichere Wirken des entsprechenden symbiotischen Mechanismus in der symbolisch generalisierten Kommu ­ nikation macht die Asymme trie der Elternkindbeziehung unter den Be­ dingungen hoher Intimität heute so problematisch. — Die gegenwärtige Debatte über Kindesmißhandlungen und sexuellen Kindesmißbrauch zeigt - unabhängig von der Frage, ob sich eine Zunahme empirisch nachweisen läßt - die steigende Bedeutung der pädagogischen Co­ dierung. In jüngster Zeit ist - als eine Art Gegenaufklärung - sogar die Mutterliebe unter sexuellen Motivverdacht geraten. S. Spiegel 33, 1991 S. 68-73. 58 S. ergänzende Aussagen zum Filiationsprinzip bei Tyrell, Überlegungen ... S. 420, 422

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der Gesellschaft zu sehen.59 Partnerschaftliche Intimko m­ munikation gewinnt ihre spezifische Funktion in der alltäg­ lichen Verarbeitung funktional differenzierter Kommunika­ tion im Bewußtsein.60 Den Ansatzpunkt für die im Folgen­ den zu beschreibende Entkoppelung von El ternschaft und Partnerschaft in der familialen Kommunikation sehe ich in der unterschiedlichen Ausprägung der Generations- und Geschlechtsachse in der Zeit- und Sozialdimension der familialen Intimkommunikation61: in den Geschlechtsbezie­ hungen eine Kontingenzreduktion durch Selektion der Re­ ziprozität und Kontingentsetzung zeitlicher Stabilitätserwar­ tungen, und in den Generationsbeziehungen eine Kontin­ genzreduktion durch Selektion der Kontinuität und Kon­ tingentsetzung der sozialen Symmetrieerwartungen.62 - Differenzierungen der Intimkommunikation

Als wesentliches Merkmal der modernen Intimkommunika­ tion63 beschreibt Luhmann ihren Ausnahmecharakter im Hinblick auf die gattungsgeschichtliche Evolution von Kommunikation in Sozialsystemen schlechthin: durch die strikte Personorientierung der Kommunikation ständig zu thematisieren, was die beteiligten psychischen Systeme in die Kommunikation einbringen bzw. nicht einbringen (ve r­ heimlichen, verdrängen etc.). Dies wurde am Thema der passionierten Liebe bis ins 18. Jahrhundert tendenziell als Pathologie angesehen und dann im Rahmen der bürgerli­ chen Liebessemantik (in der familialen Einheit von Partner­ schaft, Elternschaft und Haushaltsgemeinschaft) normali­ siert. Heute wird es wieder zum Thema therapeutischer Diskurse. Wenn Liebe als das Medium bezeichnet wird, in dem die Codierung von Intimität möglich wird, so ist damit eine typisch moderne Errungenschaft bezeichnet, die die Unter­ scheidbarkeit von persönlicher und unpersönlicher Kommu­ nikation bereits voraussetzt.64 Intimkommunikation markiert

59 (Hier weglassen - s. letzte Anm.) Entgegen gängiger Auffassung und unabhängig von Bewertungen legt eine evolutionstheoretisch Betrach­ tung den Schluß nahe, daß gerade die Ausdifferenzierung von Partner­ schaft und Elternschaft als Stabilisierungsmechanismus der Gesellschaft aufzufassen ist. Es handelt sich bei der Ausdifferenzierung neuer For­ men um die für die moderne Gesellschaft typische Art von Ultrastabili­ tät: durch Rückkoppelung an den Variationsmechanismus. 60 Dieses Argument richtet sich gegen Auffassungen, wonach die Paarbe ­ ziehung abdrifte wegen Inkompatibilität mit den Funktionen der päd­ agogischen Kommunikation in der Familie. 61 Systemtheoretisch folgt die Möglichkeit zu der Unterscheidung zwi­ schen der Familie als Einheit von Eltern und Kindern gegenüber der Ehe als Einheit der Lebenspartner bereits aus der zugrundeliegenden Unter­ scheidung von Personen (mit Bewußtsein als Operationsmodus psychi­ scher Systeme) und Sozialsystemen. Die Vorstellung, daß die Beziehun­ gen der Eltern untereinander vollständiger Bestandteil der Familie seien, entspringt der Gewohnheit, statt auf Kommunikation auf Personen zu reduzieren. 62 Schematische Darstellung der Freigabe bzw. Bindung von Kontingen ­ zen in Elternschaft und Partnerschaft Generation Geschlecht Sozialdimension Asymmetrie Rezip rozität Kontinuität Unsicherheit Zeitdimension 63 Die folgenden Ausführungen im Anschluß an LUHMANNS familien ­ bezogene Beiträge in Soz. Aufkl. 5— Der Begriff der Intimkommunika ­ tion ist bei Luhmann auf familiale Kommunikation bezogen, wenn auch nicht ausdrücklich darauf begrenzt (s. Freundschaft). Ich versuche hier, Liebe als gemeinsames - und in der familialen Kommunikation die Kop­ pelung ermöglichende - Prinzip von pädagogischer und Intimcodierung zu beschreiben. 64 Vgl. N. LUHMANN, Liebe als Passion. Zur Codierung on Intimität a.a.O. S.13ff


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind die Ausschließung aller Kommunikation, in der die Rele­ vanz der Person eingeschränkt ist. Hier soll alles the­ matisiert werden können. Gerade deshalb können nicht alle Personen zu dieser Kommunikation zugelassen werden. Während die unpersönliche Kommunikation der großen Funktionssysteme die Persönlichkeit ausschließt, aber dafür alle Personen einschließt, schließt die Intimkommunikation zwar immer nur bestimmte Personen ein, dafür aber nichts Persönliches aus. In der Intimkommunikation wird der Gang der Gat­ tungsgeschichte, worin psychische und soziale Systeme des Menschen gegeneinander ausdifferenziert wurden, ein Stück weit rückholbar durch die Personorientierung der Kommu­ nikation. Die Evolution der Mitteilungsmedien (v.a. Spra­ che und ihre Zweitcodierungen) hat eine Distanzierung von Kommunikation und Bewußtsein ermöglicht, die hier - auf der Ebene des sichtbaren Körperverhaltens - wieder einge­ zogen wird. In Intimsystemen wird die üblich gewordene Disziplin psychischer Systeme in der Beteiligung an Kom­ munikation gerade nicht erwartet.65 Ebendies ermöglicht in Gruppen wie Familie, Elternschaft und Partnerschaft beson­ dere Regressions-, Regenerations- und Reflexionsprozesse. Im günstigen Falle kann hier der gattungsgeschichtliche Weg der Ausdifferenzierung von Kommunikation und Be­ wußtsein ontogenetisch nach vollzogen werden.66 Schon die bürgerliche Familie war kein Funktionssy­ stem der Gesellschaft mehr, das die Inklusion in die Gesell­ schaft (Stratifikation qua Herkunft) garantieren konnte.67 Dafür wuchs ihr die neue Funktion zu, durch Intim­ kommunikation ganzheitliche Inklusion der Person zu er­ möglichen, und dies in doppelter Hinsicht: in der ElternKind-Beziehung im Hinblick auf ein zukünftiges Be­ 65 LUHMANN a.a.O S.220

66 LUHMANN a.a.O (S.219)

67 Jene sozialen Formen der Koppelung von Partnerschaft und Eltern ­

schaft, die seit dem 18. Jahrhundert in Europa als Familie bezeichnet wird, bilden kein Funktionssystem der modernen Gesellschaft. (Vgl. LUHMANN Soz. Aufkl.5 a.a.O.) Als Sozialsystem entspricht die Fami­ lie dem Typ der Gruppe. Die Familie als Gruppe bildet auch nicht die segmentierte (raum-zeitlich lokalisierte) Einheit eines Funktionssystems . Die basale Einheit eines Funktionssystems bildet die jeweilige Kommu ­ nikation. Die Familie als Gruppe steht quer dazu. Ihre Grenzen (die Grenzen familialer Kommunikation) fallen nicht mit denen eines Funk­ tionssystems zusammen. — Luhmann hat herausgestellt, daß die Form der Organisation, also die anomysierende Form, den eigentlich neuen Typ eines zeitlich extendierten Systemtyps darstellt. (Vgl. N.Luhmann: Interaktion, Organisation, Ge sellschaft, in: Ders. (1975) Soziologische Aufklärung 2, Westdt.Verlag Opladen, S.9-20) Dem ist m.E. hinzuzufü ­ gen, daß die (printmedienabhängige) Evolution dieses Typs die ältere Form der Gruppe ("Gemeinschaft" etc.) nicht zum Verschwinden ge­ bracht sondern ihr eine funktionssystemisch spezifizierte Form zugewie ­ sen. Diese läßt sich rekonstruieren entlang der Unterscheidung person­ zentrierter und unpersönlicher Kommunikation, die durch die entspre­ chenden Kommunikationsmedien gesteuert wird.— Zur Unterscheidung zwischen zwei Formen intermediärer Sozialsysteme zwis chen Interakti­ ons- und Gesellschaftsebene vgl. H.Tyrell (1983) Zwischen Interaktion und Organisation I: Gruppe als Systemtyp, S.75-87 sowie: Zwischen Interaktion und Organisation II: Familie als Gruppe, S.362-390 in: Gruppensoziologie, Sonderheft 25 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (1983) hg. von F.Neidhart, Opladen. — Daß es sich bei Elternschaft und Liebespartnerschaft um die Teilnahme an zwei verschiedenen Funktionssystemen handelt, wird erst heute - mit deren voller Ausdifferenzierung - klar. Die Familie als tradierte Form der Gruppe von Eltern und Kindern orientiert sich zunehmend am Medium der Kindheit, erkennt damit also den Funktionsprimat des Bildungss y­ stems an. Daß dies nicht für alle in dieser Gruppe ablaufenden In­ teraktionen gilt, steht einer solchen Beschreibung nicht entgegen, da Gruppensysteme per definitionem (wie Interaktions- und Organisations­ systeme auch) nicht als Subsysteme des jweiligen Funktionssystems sondern als eigenständig ausdifferenzierter Systemtyp aufzufassen sind.

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wußtsein des Anderen und in der Gattenbeziehung im Hin­ blick auf die Aktualität des Bewußtseins des Anderen. Die gegenwärtig zu beobachtende Ausdifferenzierung dieser Doppelfunktion muß keineswegs eine Auflösung der Fami­ lie (als Institution) bewirken. Sie bewirkt aber eine Auflö­ sung ihres Monopols auf die Funktionen der Intimkommu­ nikation zwischen Erwachsenen. Und sie bewirkt dann auch eine Respezifizierung ihrer Funktionen für pädagogische Kommunikation, auf die die Familie ja schon bürgerlich kein Monopol mehr hatte. Das Ve rhältnis zwischen intimer Liebeskommunikation und pädagogischer Kommunikation läßt nun Elemente wechselseitiger Ausgrenzung erkennen: Die die "natürliche Bindung" und damit zeitliche Kontinui­ tät betonende Semantik der Kindheit ist das Medium, in dem die familiale Intimkommunikation herkömmlich päd­ agogisch überformt wurde. Die den "Zufall der Begegnung" und damit zeitliche Kontingenz akzentuierende Semantik der romantischen Liebe ist das Medium, das mit der Radika­ lisierung der wechselseitigen Höchstrelevanz der Motive und Emotionen einer einzigen Person das Durchhalten päd­ agogischer Kommunikation ausschließt. - Durchsetzung von Reziprozität in der Liebe

Die bürgerliche Liebessemantik differenziert noch wenig zwischen der Liebe zwischen erwachsenen Personen ve r­ schiedenen Geschlechts und der zwischen Eltern und Kin­ dern. Sie verdeckt sogar die Differenz zwischen den eher symmetrisch konzipierten Intimbeziehungen der Erwachse­ nen und jenen asymmetrisch (parasitär) konzipierten Intim­ beziehungen, die sich aus der Grunderfahrung der frühkind­ lichen Symbiose ableiten - und als Abweichungen vom modernen Ideal in den Liebesbeziehungen hochindividuali­ sierter Persönlichkeiten sich noch reproduzieren. Inwieweit die Abweichung empirisch eher die Regel ist, braucht hier nicht geprüft zu werden. Es geht um die Beobachtung einer Umstellung in der Semantik - also nicht unbedingt schon in den empirischen Verhaltensstrukturen aber in den kulturel­ len Leitvorstellungen68 - die der Umstellung der Differen­ zierungsstruktur der Gesellschaft seit dem 18. Jh. in Europa von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung z.T. voraus- und z.T. nachläuft. Die Form der Kommunikation, in der zwei erwachse­ ne Personen verschiedenen Geschlechts69 unter Aufrechter­ haltung ihrer Erwachsenen-Individualität sich gegenüber allen anderen Kommunikationsbezügen, eine intime Son­ derumwelt schaffen, hat sich in der Moderne zunächst noch eingebunden in den Formen familialer Kommunikation (gekoppelt an Elternschaft) entwickelt. Diese Form der Intimkommunikation grenzt sich nun nicht nur gegen ande­ re Funktionssysteme (temporär) ab sondern innerhalb der Familie auch gegen Intimbeziehungen des älteren Typs, der sich auf das phylogenetisch und ontogenetisch verankerte 68 Es kann aber m.E. kein prinzipieller Zweifel daran bestehen, daß die Veränderung der Leitvorstellungen in den Intimbeziehungen - die Be ­ ziehung zwischen Männern und Frauen wird nicht mehr als eine Zwi­ schenstufe in der Hierarchie der Beziehungen zu Kindern einerseits und Männer andererseits eingeordnet - auch verhaltenswirksam wird. Des­ halb werden asymmetrische Intimbeziehungen zwischen Männern und Frauen zunehmend als biographisch begründete pathologische Varianten interpretiert. 69 Die Geschlechterdifferenz ist nicht unbedingt konstitutiv - wohl aber Normalisierungsbedingung. S. den romantischen Freundschaftskult ei­ nerseits und die heutige Diskussion über die eherechtliche Absicherung homosexueller Beziehungen,


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind Prinzip der Filiation stützt. Es handelt sich gewissermaßen um eine Symbiose neuen Typs 70, ein System, das im Un­ terschied zur frühkindlichen Symbiose gerade nicht auf der - gattungsgeschichtlich vorprogrammierten - Körpererfah­ rung sondern auf der Grundlage höchster Exklusivität der Selbstwahrnehmung in einer funktional differenzierten Umwelt zustandekommt. Ist dieses System emergent (und mit entsprechenden symbolischen Formen ausdifferenziert) so folgen daraus entsprechend neue Funkti­ onsbestimmungen, Grenzziehungen und Relationierungen für andere Formen der Intimität, insbesondere die pädagogi­ schen Formen der intergenerativen Kommunikation. Daß sich diese Form der Kommunikation in der bür­ gerlichen Familie noch nicht voll entfalten konnte, hat ve r­ mutlich damit zu tun, daß Diese - wenn auch im Vergleich zur alteuropäischen Eigentümerfamilie stark eingeschränkt ­ noch über eigentumsbasierte Stratifikationsfunktionen ver­ fügt. Die Ausdifferenzierung des Liebesmediums durch verschiedenartige Codierung entlang verschiedener Funkti­ onssysteme kann anscheinend erst in dem Maße stattfinden, in dem die Familie kein Funktionssystem mehr darstellt, das Inklusionsfunktionen für die Gesellschaft insgesamt hat. Unter Bedingungen andauernder Inklusionsrelevanz der Familie konnte sich zunächst nur eine an das Filiationsprin­ zip gebundene Liebessemantik entwickeln, also keineswegs schon ein Binärcode, wie er für moderne Funktionssysteme typisch wird. Erst mit der Inklusionsfunktion der Familie löst sich auch die Kompakteinheit von Gatten- und Eltern­ kind-Beziehung auf und differenziert sich ein je funktions­ spezifischer Code für Partnerschaft und Elternschaft heraus. Welches Problem der Gesellschaft verschafft der In­ timkommunikation unter Erwachsenen einen so gesteigerten Stellenwert, daß diese Form der Kommunikation aus der tradierten Einheit der Familie ausschert und - vermittels eines eigenen Binärcodes71 - dafür ein eigenständiges Funk­ tionssystem emergiert? Funktionale Differenzierung der Gesellschaft bedeutet normalerweise Ausschluß einer ganz­ heitlichen Repräsentation der Person in der jeweiligen Teil­ habe an Kommunikation. Die Person ist in dieser Hinsicht 70 Liebe wird häufig zurückgeführt auf ein Bedürfnis nach Verschme l­ zung, gewissermaßen eine Wiederholung der frühkindlichen Symbiose. Damit wird jedoch nur eine Seite des Phänomens bezeichnet - und zwar eine Seite, die für sich genommen ja auch als sehr bedrohlich wahrge­ nommen werden kann, als Bedrohung der Individuation. Die andere Sei­ te, die m.E. zur Liebe gehört, besteht gerade in der Andersartigkeit des Anderen, also - im Unterschied zur frühkindlichen Wahrnehmung - in der Wahrnehmung seiner Individualität, die erst die Spannung erzeugt, die dann in der Ve rschmelzung ihre Auflösung sucht. Die sie aber im­ mer nur vorübergehend finden kann, weil die Liebe sonst schnell zu En ­ de wäre. — Wenn die Individualität des Anderen - eine biographisch steigerbare Größe also - zur Voraussetzung jener Spannung wird, die im Verschmelzungsideal der Liebe zur Lösung treibt, dann kann im Hin ­ blick auf pädagogische Kommunikation gefolgert werden, daß erst eine bestimmte - auch von pädagogisch nicht zugänglichen Entwicklungs­ prozessen abhängige - Bewußtseinsentwicklung zur Voraussetzung der kulturell traditionsfähigen Integration von Sexualität und Liebe wird. 71 Die Binärkomponenten dieses Intimcodes hat Luhmann mit der Formel "Du/kein Anderer" bezeichnet. S. Liebe als Passion a.a.O.— Codierung ist i.S. der Luhmannschen Medientheorie nicht bloß irgendeine formb e ­ stimmende Unterscheidung innerhalb funktionssystemischer Kommuni­ kation. "Codes sind Unterscheidungen, mit denen ein System seine ei­ genen Operationen beobachtet" (194). Durch binäre Codierung "zwingt ein System sich zum Prozessieren von Selbstreferenz". Wer ein System angemessen beschreiben will, muß zunächst seinen Code verstehen. Der Code ist wie jede Unterscheidung eine Form mit zwei Seiten. Das Über­ schreiten der Grenze von der einen zur anderen Seite ist eine Operation, die Zeit verbraucht. "Also bringt die binäre Codierung ein sequentielles Operieren und als dessen Effekt: Systembildung in Gang." (195)

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nur die einheitliche Adresse für ganz verschiedene, neben­ einanderherlaufende Formen der Kommunikation. Es bleibt dem individuellen Bewußtsein überlassen, diese Einheit jenseits der Kommunikation für sich herzustellen. Intim­ kommunikation unter Erwachsenen bietet nun eine spezifi­ sche Form der Verarbeitung des Problems an, wie dem individualisierten Bewußtsein geholfen werden kann, seine eigene Einheit zu erkennen - genauer: sie angesichts funk­ tionaler Differenzierung wiederherzustellen. Diese Herstel­ lung der Einheit ist nicht mö glich, ohne sie zu überschrei­ ten. Intimkommunikation verwandelt sich aus der literari­ schen Hochform zum alltäglichen Mittel der Selbstüber­ schreitung72 des auf sich zurückgeworfenen Bewußtseins. Sowohl in der Auslegung für Partnerschaft wie in der für Elternschaft bedeutet Geliebtwerden "Angenommen­ sein" im Sinne einer Rechtfertigung der individuellen Exi­ stenz. Weil und soweit es Liebe gibt, erscheint die eigene Existenz nicht bloß als ausgesetzt in der Welt sondern als (von einem Anderen) gewollt.73 Für soziologische Beobach­ tung kommt es nun darauf an zu unterscheiden, wie dieses Angenommensein durch Liebeskommunikation verschieden ausgeformt wird in Partnerschafts- und Eltern-Kind-Be­ ziehungen. Ein wesentlicher Unterschied ist m.E. darin zu sehen, daß im Erwachsenenbewußtsein bereits eine reflexi­ ve Verarbeitung funktionaler Differenzierung der Kommu­ nikation i.S. des Erlebens des Scheiterns ganzheitlicher Inklusionserwartungen in vielen Kommunikationsversuchen enthalten ist. Auf diesem Erfahrungshintergrund wird Liebe als eine hochkontingente Erfahrung gewertet, die Ganzheit­ lichkeit der Inklusion ermöglicht - um den Preis der Aus­ grenzung dieser Kommunikation aus allen anderen Kommu­ nikationsvollzügen. Genau diese funktionale Diffe­ renziertheit und damit Kontingenz der partnerschaftlichen Liebeskommunikation ist nicht wahrnehmbar aus der Per­ spektive des kindlichen Bewußtseins. Hier ist noch alle Kommunikation Liebeskommunikation - also ohne erkenn­ bare Grenzziehung - oder es findet überhaupt keine Ko m­ munikation statt. Die Ausdifferenzierung der Funktionen des Intimco­ des einerseits und des pädagogischen Codes andererseits impliziert die Teilnahme der Frauen an der Welt des Berufs­ lebens (sowie der Politik, Religion Kunst etc.) und die Teil­ nahme der Männer an der Entwicklung der Kinder. Die Relationierung ungleicher Elemente der familialen Kom­ munikation entlang komplementärer Geschlechtsrollen wird damit aufgehoben zugunsten der funktionalen Inklusion der

72 Die Liebe wird daher auch als "letzte" Form der Transzendenz in einer areligiös gewordenen Welt bezeichnet, als eine Art modernem Funda­ mentalismus. Vgl. Beck/ Beck-Gernsheim a.a.O. Es scheint mir aller­ dings, daß die Liebeskommunikation in diesem Punkt mit einer Vielzahl anderer (in kommunikativer Hinsicht ärmer ausgestatteter) Transzendie­ rungsmittel konkurriert. 73 Daher in der christlichen Tradition die Projektion auf einen liebenden Gott. Heute kann man formulieren, daß Geliebtwerden als eine fundamentale Existenzrechtfertigung nur "erscheint", weil die Autopoiesis des Bewußtseins letztlich kein Fundament jenseits der Grenzen des Psychischen hat - und modernes Bewußtsein dies auch weiß. Dennoch lassen sich evolutionäre Mechanismen beschreiben, die dem Bewußtsein normalerweise aus dieser Lage helfen. Die Adaptiertheit des Bewußtseins an Kommunikation unterbricht die zir­ kuläre Selbstreferenz des Bewußtseins vermittels der gattungsgeschichtlich verankerten symbiotischen Mechanismen der Kommunikation. Als solche Selbstreferenzunterbrecher kommen nicht nur wie im Falle der Liebe Sexualität und filiative Bindung in Betracht sondern in anderen kommunikativen Bezügen bekanntlich auch Haß, Angst, Aggression, körperlicher Schmerz, Hunger etc.


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind Personen beiderlei Geschlechts an allen Funktionssystemen. Dies ist nicht die Beschreibung einer schönen Utopie, son­ dern einer für alle Beteiligten risikoreichen Entwicklung.74 Sie verlangt die (ontogenetische Entwicklung der) Fähigkei­ ten, temporalisiert und situationsbezogen die in der jeweili­ gen Kommunikation verlangten Motive und Einstellungen zu mobilisieren. Um zB. den Wechsel von den in der ElternKind-Beziehung pädagogisch erlaubten Mustern der Re­ gression auf kindliche Entwicklungsstufen des Bewußtseins und Verhaltens zu den in der Berufswelt erwarteten Mustern universell-unpersönlicher Leistungsorientierung vollziehen zu können, bedarf es offenkundig eines höheren Maßes an psychischer Individuation, an Stabilität und Flexibilität, als dies in der tradierten Arbeitsteilung der Geschlechter erfor­ derlich war.75 Meine bisherige Argumentation läßt sich dahinge­ hend zusammenfassen, daß die Codierung der Kommunika­ tion in Liebespartnerschaftssystemen (sog. Zweierbezie­ hungen76) eine späte Errungenschaft der Moderne ist, die erst auf der Grundlage voller Reziprozität der Partner und der Unabhängigkeit77 von Filiationszwecken entstehen kann. Aus derselben Argumentationslinie folgt nun, daß auch die pädagogische Codierung der Elternkind-Beziehung eine späte Errungenschaft der Moderne ist, die vom tra­ dierten Filiationsmuster78 strikt zu unterscheiden ist.

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der dominanten Strukturen des modernen Bildungssystems heute erscheint). Mindestens ebenso relevante Ver­ gleichsgesichtspunkte ergeben sich in den sogenannten sozi­ alpädagogischen Einrichtungen, die - vom Kindergarten über die Betreuung von Be hinderten, Straffälligen und Al­ ten - eine große institutionelle Heterogenität aufweisen. Die Frage muß also erweitert werden: Wo liegt das einheitsbil­ dende Moment, das es (abgesehen von Professionsinteres­ sen) rechtfertigen könnte, in allen diesen Fällen von päd­ agogischer Kommunikation zu sprechen? In allen erwähnten Fällen handelt es sich um das Ar­ rangement von Sonderumwelt zur Verbesserung der Bedin­ gungen der Koppelung von Bewußtsein an Kommuni kation. Das Bewußtsein kann mehr oder weniger individuiert sein, wird jedoch in jedem Fall als unangepaßt wahrgenommen80 im Hinblick auf schon etablierte Normalstrukturen der Kommunikation. Es geht also um ein abweichendes Arran­ gement zur Behebung von Abweichungen, gleichgültig ob diese als ontogenetisch primär oder als sekundär erworben bezeichnet werden. (Wenn die Sozialpädagogik ihr Hand­ lungsziel als Rehabilitation bezeichnet, so wäre das der familialen Pädagogik gewissermaßen die "Habilitation".) Ausgehend davon, daß es sich um ein Funktionssystem handelt, suche ich das einheitsverbürgende Moment in der einheitlichen Codierung des funktionsspezifischen Kommu­ nikationsmediums.81

3. Ausdifferenzierung der Eltern-Kind-Kommunikation In Abgrenzung von der familiensoziologisch verbreiteten These von der "Pluralisierung der Lebensformen" versuche ich hier den gegenwärtigen Formwandel der Familie auf funktionale Differenzierung zurückzuführen. Dabei operiere ich mit der These, daß die Familie als Eltern-Kind-Gruppe funktional zum Bestandteil des Bildungssystems geworden ist. Diese These erscheint kontraintuitiv, wenn man die Familie mit der Schulklasse vergleicht und dabei an das hohe Maß an organisatorischer Einbindung des Unterrichts, vielleicht auch an die konfliktiven Beziehungen zwischen Eltern und Schule, an staatliche Interventionsmacht etc. denkt.79 Der hier relevante Vergleichspunkt ist jedoch nicht die Schule als Organisation sondern die pädagogische EgoAlter-Konstellation im Unterricht (der ja nicht so zwingend an die schulische Organisationsform und schon gar nicht an die staatliche Rechtsform gebunden ist wie dies aufgrund 74 Vgl. die anschauliche Darstellung bei Beck und Beck-Gernsheim a.a.O. 75 Auch dies ein Grund, warum kaum anzunehmen ist, daß sich diese Entwicklung sozial gleichmäßig - und schon gar nicht im Weltmaßstab ­ vollzieht. Obwohl andererseits anzunehmen ist, daß ihr bereits jetzt eine Leitfunktion in den funktional höherdifferenzierten Regionen der Welt ­ gesellschaft zukommt. 76 S. differenziertere Hinweise auf die Ausdifferenzierung intimcodierter Liebespartnerschaft als eigenständigem Funktionssyystem bei KARL LENZ, unter dem Titel "Institionalisierungsprozesse in Zweierbeziehun­ gen" a.a.O. 77 Diese Unabhängigkeit bedeutet keineswegs zwingend institutionelle Abkoppelung! Beide können weiterhin in der Form der Familie als Gruppe gekoppelt sein. 78 Das Filiationsmuster reproduziert sich symbolisch im symbiotischen Mechanismus des Mediums für pädagogische Kommunikation. 79 Die Frage, wie es zu dem andauernden Spannungsverhältnis zwischen Familie und Schule in der Moderne gekommen ist, das für einige Zeit in Form einer institutionalisierten Arbeitsteilung stillgestellt und heute ­ mit dem Auseinanderbrechen der familialen Koppelung von Elternschaft und Partnerschaft - wieder aufgebrochen ist, muß als eine historisch­ genetische Frage behandelt werden, die auf der Grundlage des Nach­ weises einer einheitlichen Primärcodierung des Bildungssystems neu bearbeitet werden kann. Das kann hier - s.Abschnitt u. - nur angedeutet werden.

- Dimensionen der pädagogischen Kommunikation

Woran ist pädagogische Kommunikation zu erkennen? Und woran ist sie speziell in der Familie zu erkennen? Es muß sich um eine Form der Kommunikation handeln, die gewi s­ sermaßen auf den ersten Blick erkennbar macht, daß es sich um pädagogische Kommunikation (und nicht zB. um eine Therapie oder ein Verkaufsgespräch oder um Liebespartner­ schaft) handelt. Zunächst ist davon auszugehen, daß diese Form sich in derselben Ego-Alter-Konstellation fixiert, in der sich auch das Liebesmedium herausgebildet hat: Egos Handeln versucht, an Alters Erleben anzuschließen. In der pädagogischen Kommunikation wird Alters Erleben fixiert und Alters Handeln kontingent gesetzt. Die Entwicklung des Welterlebens des Kindes ist der Ausgangspunkt, von dem aus pädagogische Handlungsalternativen bestimmt werden. Daher habe ich den pädagogischen Primärcode als Entwicklungscode bezeichnet. Mit dieser Bezeichnung ist jedoch noch nicht (oder nur sehr ungenau) ein technisch handhabbarer Binärschematismus bezeichnet. NichtEntwicklung des Kindes ist keine brauchbare Alternative. Der Entwicklungsbegriff bezeichnet ja überhaupt keine Handlungsalternativen sondern lediglich die Primärorientie­ rung pädagogischer Handlungen. Entlang dieser einheitli­ chen Primärorientierung lassen sich aber nun m.E. drei verschiedene Binär-Alternativen benennen, die in verschie­ 80 In einer historisch-semantischen Rekonstruktion kann gerade diese Wahrnehmung der Unangepaßtheit des kindlichen Bewußtseins (die Barbarophopbie des Erwachsenenbewußtseins) die Unwahrscheinlich­ keit des pädagogischen Arrangements zeigen. 81 Ich habe vorgeschlagen, einen pädagogischen Primärcode als das ein ­ heitsstiftende Moment aller Formen pädagogischer Kommunikation an­ zunehmen. (S. K.G. Die Entwicklung des Kindes ...a.a.O.) Das Problem der Beschreibung eines solchen Codes (aus der Sicht eines Beobachters 2.Ordnung; vgl. LUHMANN Wissenschaft der Gesellschaft a.a.O.) ist weniger die Kennzeichnung zentraler, immer wiederkehrender seman­ tischer Merkmale als vielmehr die zusammenfassende Kennzeichnung eines einzigen Binär-Schematismus, der die pädagogische Kom­ munikation kulturtechnisch handhabbar macht.


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind denen pädagogischen Handlungsfeldern82 zur Geltung kommen: Die primäre Spezifikation der Codierung läßt sich in Handlungssituationen beobachten, in denen die Sozialdi­ mension der pädagogischen Kommunikation Vorrang hat. Das entsprechende Handeln wird gewöhnlich als Erziehung bezeichnet.83 Im Bereich der familialen und außerfamilialen Erziehung besteht die binäre Codierung aller pädagogischen Kommunikation v.a. in der Alternative, dem Kind die Fol­ gen seiner eigenen Handlungen zuzurechnen oder nicht zuzurechnen. Bestimmte Handlungen werden dem Kind zugerechnet, es muß also bei Normabweichungen mit Sank­ tionen rechnen. Andere Handlungen werden ihm nicht zuge­ rechnet. Es darf aus Fehlern lernen, ohne mit (vollen) Sank­ tionen rechnen zu müssen. Die Zurechnung relativiert sich am Entwicklungsstand des Kindes und dementsprechend die Selektion der Handlungen (Sanktionen/Nichtsanktionen). Der Binärschematismus, der hier die Anschlußfähigkeit pädagogischer Kommunikation sichert, läßt sich m.E. genau bezeichnen in der Alternative: Gewähren / Nichtgewä h­ ren.84 Das Binärschema ist zwar wertfrei, aber nicht sym­ metrisch konzipiert. Entgegen einem verbreiteten an­ tipädagogischen Ressentiment besteht das vorrangige Mittel gerade nicht in Bestrafungen sondern in der gezielten Frei­ stellung von Sanktionen, die bei Erwachsenen auf ver­ 82 Mit Bezug auf die Codierung der pädagogischen Kommunikation schlage ich vor, die hier erwähnten Handlungsdimensionen zu überset­ zen in die Unterscheidung von Erst- und Zweitcodierung sowie einen Nebencode (vergleichbar dem Reputationscode im Wissenschaftssy­ stem) PrimärNebencode bzw. Sekundär-code Refl exionstheorie code Bezeichnung Entwicklung Selektion Bildung Erziehung Unterricht Reflexion Handlungsebene Kind /Eltern Schüler /Lehrer Selbst /Welt Konstellation gewähren / besser selbstän­ Binär­ schematismus nichtgewähren /schlechter dig/unselbständig Interaktion Organisation Funktionssyste m Systemebene sozial zeitlich sachlich Sinndimension 83 Diese Bezeichnung ist allerdings semantisch immer noch höchst un ­ scharf. Sie enthält viele Assoziationen an das alteuropäische Verständnis von Zucht und Züchtigung, die dann zum Ausgangspunkt für antipäd­ agogische Argumentation werden. Dabei wird häufig übersehen, daß die inkriminierte "pädagogische Intervention" sich gerade nicht auf das Be­ wußtsein des Zöglings sondern auf das soziale Arrangement bezieht, in dem sein Be wußtsein sich entwickeln soll. 84 Die Binäralternative Gewähren/Nichtgewähren darf nicht gleichgesetzt werden mit dem alteuropäischen Schema erlaubt/nichterlaubt. Die Posi­ tivseite des Codes liegt gerade im Gewähren, der Permissivität. Es geht gewissermaßen darum, daß hier etwas erlaubt ist, das sonst - unter dem Druck einer auf Entwicklung des Bewußtseins nicht eingestellten son­ dern diese immer schon voraussetzenden Umwelt - nicht erlaubt wäre. Das pädagogische Gewähren meint also das Zulassen i.S. von Permissi­ vität (statt Impermissivität) und nicht das Erlauben im Gegensatz zum Verbieten. Gewährt wird nicht etwa alles, was nicht verboten ist, son­ dern alles, was der Entwicklung des Bewußtseins förderlich ist. — Das pädagogische Gewähren wird nur bedeutungsvoll im Kontext einer Ge ­ sellschaft, die dem kindlichen Bewußtsein sonst keine adäquaten Bedin­ gungen gewährt. Da die funktionale Differenzierung der Gesellschaft an Tiefen- und Breitenwirkung noch ständig zunimmt, lassen sich bedeut­ same Verschiebungen im semantischen Gehalt (bzw. in der sachlichen, zeitlichen und sozialen Dimension) des pädagogischen Gewährens von der Früh-moderne bis zur Gegenwart feststellen. So gerät das pädagogi­ sche Gewähren heute in zunehmende Konkurrenz mit den permissiven Weltkonstruktionen der Mitteilungsmedien (Werbebotschaften, Unter­ haltungselektronik) während es sich in der Frühmoderne noch abgrenzte von der familialen "Verwöhnung" des Kindes. Ge rade diese Entwick­ lung läßt sich stärker an der Negativseite des pädagogischen Primärco­ des, an dem was aus pädagogischen Gründen nicht gewährt werden soll (zB. kein Fernsehen!) ablesen.

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gleichbare normabweichende Handlungen erfolgen wür­ den.85 Eine zweite Spezifikation der Codierung läßt sich in Handlungssituationen beobachten, in denen die Zeitdimen­ sion der pädagogischen Kommunikation Vorrang hat. Das entsprechende Handeln wird als Unterricht bezeichnet. Im Bereich des schulisch und außerschulisch organisierten Unterrichts besteht die binäre Codierung v.a. in der Alterna­ tive, auf den aktuell gegebnen Entwicklungsstand oder auf einen vorgestellten zukünftigen Entwicklungsstand des kindlichen Bewußtseins Bezug zu nehmen. (Grundform des zweiten Bezugspunkts ist der pädagogische Appell!) Die Alternativen sind auch hier keineswegs symmetrisch in der Verwendung. Nomalerweise wird im Unterrichtshandeln auf einen möglichen - von Ego und Alter gleichermaßen im Zukunftshorizont vorstellbaren - Entwicklungsstand des Bewußtseins Bezug genommen und von daher Variation des kindlichen Bewußtseins herausgefordert. Andererseits bleibt der gegenwärtige Entwicklungsstand stets als Vergleichs­ und Ansatzpunkt pädagogischen Handelns erhalten. Wahr­ scheinlich ist es kein Zufall, daß in dieser Dimension, in der die Erzeugung von Variation Vorrang hat, die Zeitdimensi­ on nicht nur im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes sondern auch mit Bezug auf das pädagogische Handeln selbst hineinkommt. Die Provokation durch Unterricht ist nach Stunden (und Lebensphasen) terminiert. Sie hat stets einen Anfang und ein Ende (selbst bei lebenslangem Ler­ nen.) Die lebensgeschichtliche Terminierung erfolgt durch die Selektionsenscheidungen der Schule als Organisation.86 Eine dritte Spezifikation der Codierung läßt sich in Handlungssituationen beobachten, in denen die Sachdimen­ sion der pädagogischen Kommunikation Vorrang hat. Diese Version wird im Hinblick auf den erreichten Entwicklungs­ stand des Bewußtseins als Bildung beschrieben.87 In der historischen Entwicklung der pädagogischen Kommunikati­ on hat der emphatische Bewußtseinsbezug der geisteswi s­ senschaftlichen Bildungssemantik die Ausprägung eines funktionsfähigen Binärcodes behindert, obwohl sich in der Alltagssprache - mit der Rede von Bildungsaneignung und ­ abschlüssen - längst eine entsprechend verdinglichte Rede­ weise durchgesetzt hat. In den Handlungssituationen des pädagogischen Al l­ tags steht die skizzierte Sachdimension kaum im Vor­ 85 Was dann gewährt und was nicht gewährt wird, wird erst durch pädago ­ gische Programme geregelt. Der Code legt nur fest, daß alle pädagogi­ sche Kommunikation entlang dieser Differenz verzweigt (Bifu rkation). Daß das Eine gewährt wird und das Andere nicht, erlaubt fast ebenso gute Anschlußkommunikation. Aber das gewährte Handeln zeichnet sich als pädagogisch codiert ja gerade dadurch aus, daß es in anderen Kom­ munika tionssystemen nicht anschlußfähig wäre (Sanktionsfreistellung). Die Binärcodierung schließt, wie beim wis senschaftlichen Wahrheitsco­ de auch, nicht aus, daß dieselbe Differenz - etwa in der Alternative er­ laubt/verboten - auch in anderer Kommunikation (zB. in Strafanstalten, Hausordnungen, StVerkehrsordnung etc.) vorkommt, dann jedoch nicht als Codierung (des funktionssystemischen Mediums) sondern als unter­ geordneter Teil eines anderen Mediums oder als einfache Beobachterun­ terscheidung. 86 An diesem Punkt setzt die Zweitcodierung pädagogischen Handelns über den Selektionscode ein, die historisch wahrscheinlich den entschei­ denden Beitrag zur Autonomisierung des Bildungssystems als Funkti­ onssystem geleistet hat. Vgl. Gilgenmann, Die Entwicklung des Kindes a.a.O. S. 87 Ich habe daher - im o.a. Schema - den Bildungscode als Nebencode der pädagogischen Kommunikation - ähnlich dem Reputationscode im Wis­ senschaftssystem - bezeichnet. Man kann hier auch an die Akkumulati­ onsfähigkeit von Bildung als "kulturellem Kapital" (Bourdieu) denken.


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind dergrund. In Erziehungssituationen tritt eher das konserva­ tive Moment der Stabilisierung schon gewonnener Identität (Individuation), in Unterrichtssituationen eher das destabili­ sierende Moment der Herausforderung zur Neuformierung (Sozialisation) des kindlichen Bewußtseins hervor. Erst wenn das pädagogisch geförderte Bewußtsein aus Erzie­ hungs- und Unterichtssituationen heraustritt und der Stand seiner Entwicklung reflektiert wird, kann die sachlich über­ greifende Dimension des Bildungscodes kommunikativ relevant werden. Auf dieser Ebene der Codierung scheint der Positivwert die gleichwertige Ausbildung einer Nega­ tivfassung zu behindern. Die technische Austauschbarkeit beider Seiten wird erst dann erkennbar, wenn das päd­ agogische Handeln reflexiv wird, also in Reflexionstheorien in die Selbstbeschreibung des Systems aufgenommen wird. 88 Der springende Punkt ist hier die Orientierung des pädagogischen Handelns entweder an der selbstreferentiel­ len Geschlossenheit des kindlichen Bewußtseins, also seiner Selbständigkeit oder an seiner Öffnung, also der Bereit­ schaft zum Lernen. Die Lernbereitschaft setzt immer schon die Selbständigkeit des Kindes voraus. Andererseits ist das Lernen die andauernde Voraussetzung dafür, daß es diese Selbständigkeit sozial wahren (bzw. steigern) kann. Das pädagogische Handeln kann sich offenkundig nicht gleich­ zeitig an beidem orientieren. Alter muß sich situati­ onsabhängig entscheiden, wann das pädagogische Handeln auf die elementare Selbständigkeit des Kindes Bezug nimmt, bzw. diesbezüglich soziale Gewinne stabilisiert, und wann es auf die relative soziale Unselbständigkeit des Kin­ des Bezug nimmt und von daher Variation begünstigt. - Wandel der Interaktion zwischen Elternhaus und Schule

Elternschaft und Partnerschaft polarisieren sich entlang des symbolischen Gegensatzes von naturhafter Bi ndung und sozialer Reziprozität. Während die Liebe zum Kind symbo­ lisch gebunden bleibt an die Leiblichkeit (zumindest aber an die unverwechselbare Identität) der Eltern, erscheint das partnerschaftliche Liebesideal demgegenüber als hochartifi­ ziell, an gegenseitige Übereinstimmung und an die Ak­ tualisierung von Einstellungen gebunden, die nicht in jeder Alltagssituation jederzeit erwartet werden kö nnen. Der Partnerbegriff akzentuiert die Reziprozität der Beziehungen in Erleben und Handeln. Das Ideal der Elternliebe profiliert sich demgegenüber in der Bindung an die Leiblichkeit der Eltern einerseits und die ebenso naturhaft gegebene Hilfs­ bedürftigkeit des Kindes andererseits. 88 In dieser Dimension müßte genauer unterschieden werden zwischen dem Nebencode als einer auf die Selbstbeschreibung der Person zielen­ den Form der pädagogischen Codierung und Reflexionstheorien des Bil­ dungssystems. In Situationen, die durch den Primärcode struktuiert wer­ den tritt in fremdreferentieller Perspektive eher eine bewußtseinsverän­ dernde Wirkung (Sozialisation), in Situationen, die durch den Zweitcode strukturiert werden eher eine das jeweilige Bewußtseinssystem stabili­ sierende - aber auch Abweichungen verstärkende - Wirkung (Individua­ tion) ein. Daher die häufige Klage über konservative Effekte des Schul­ systems. Zumindest in der Theorietradition finden sich viele normative Aspekte in der Selbstbeschreibung des Bildungssystems, die zur Vermi­ schung beider Aspekte beitragen. Daher verschwimmt die klassische Bildungstheorie (als Reflexionstheorie des Bildungssystems) mit dem Nebencode Bildung, der unvermeidlich normative Momente in der Selbstbeschreibung des Ein zelnen unter dem Aspekt seines Bildungs­ wertes aufnimmt. Die Frage, ob sich das durch zunehmende Ausdiffe­ renzierung der Grenzen zwischen Wissenschaftssystem und Bildungssy­ stem i.S. einer nichtnormativen Selbstbeschreibung in der neueren Er­ ziehungswissenschaft ändert, kann hier offenbleiben.

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Familiale Intimkommunikation stellt nur ein mögli­ ches Feld der pädagogischen Codierung dar. Die im Ve r­ gleich zu anderen Funktionssystemen gesteige rte Abhän­ gigkeit und Sensibilität der Intimsysteme von und für Be­ wußtsein erklärt ihre besondere evolutionäre Funktion in der Ontogenese psychischer Systeme. Durch die Steigerung der Ansprüche an hochindividualisierte Partnerkommunika­ tion können Intimsysteme aber auch ungeeignet für pädago­ gische Codierung werden, die ja immer selektive Öffnung zu anderer Kommunikation hin impliziert. Nicht Alters Bewußtsein schlechthin sondern sein (weltbezügliches) Wissen wird für Egos pädagogisches Handeln relevant.89 Nicht die Semantik der Liebe sondern die Semantik der Kindheit sorgt dafür, daß die Gesellschaft mit universali­ sierten und funktionsspezifischen Motiven der pädagogi­ schen Kommunikation für die ve rschiedenen Handlungsdi­ mensionen der pädagogischen Kommunikation versorgt wird. 90 Die Differenzierung von Erziehung und Unterricht läßt sich historisch verfolgen entlang der Sphärendifferen­ zierung privat/öffentlich.91 Die Form der Erziehung ist häuslich-familial zentriert, kennt zumindest nur einen sozia­ len Kontext, und der beschränkt sich dann - nach Ablösung der Adelserziehung92 - in der Moderne zwangsläufig auf das Häuslich-Private. Unterricht hingegen reflektiert als Form bereits den Kontextwechsel, den Kontinuitätsbruch zwi­ schen Privatem und Öffentlichem, den in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft tendenziell Alle lebensge­ schichtlich nachvollziehen müssen.93 Die Form des Unter­ richts realisiert diesen Bruch in der Zeitdimension (und in der fachlichen Differenzierung) durch einen An fang und ein Ende der pädagogischen Kommunikation.94 Die Form der Bildung als zusammenfassende Bezeichnung dieses Ge­ schehen reflektiert den Kontinuitätsbruch in der sachlichen Dimension als (notwendigen) Wechsel zwischen Selbst­ und Fremdreferenz des sich entwickelnden Bewußtseins und als (sachliche) Einheit dieser Differenz. Stellt man die Sozialdimension (und damit die beson­ dere Ego-Alter-Konstellation) der pädagogischen Kommu­ nikation in den Vordergrund, so liegt es nahe, Erziehung als Leitbegriff zu verwenden und von dem historisch­ genetischen Hintergrund der (Adels-)Familienerziehung abzulösen. Dies hat ein Teil der frühmodernen pädagogi­ schen Theoriebildung getan und durch die Ineinssetzung des Erziehens mit pädagogischer Kommunikation schlechthin erhebliche Konfusionen der Begriffsbildung sich eingehan­

89 Deshalb ist die pädagogische Kommunikation jenseits der Familie auch nicht als Liebeskommunikation konzipiert, obwohl ihrer Primärcodie ­ rung noch dieselbe Ego-Alter-Konstellation zugrundeliegt wie der Lie ­ beskommunikation. Die Entwicklung des Schulsystems läßt sich nur im Zusammenhang mit einer Zweitcodierung der pädagogischen Kommu ­ nikation (Selektionscode) beschreiben. 90 Übergreifend in der Sachdimension: mit der Semantik der Bildung, die die Selbstreferenz der Entwicklung des kindlichen Bewußtseins und zu­ gleich seine Abhängigkeit von passenden Umweltbedingungen themati­ siert.— S. meine Ausf. zu den Dimensionen der pädagogischen Kom­ munikation unten 91 S. Stichweh, a.a.O. S.57 92 Vgl. Stichweh a.a.O. S.107 93 Als möglicher Beleg dafür, daß die Erziehungsdimension wesentlich familial zentriert ist: vgl. Schülein S. 70 ff : Modell der "family life education from kindergarten to the twelfth grade" Der Erziehungsbegriff wird reflexiv als Eltern-Erziehung durch Experten. Aber nicht zB. als Lehrer-Erziehung. 94 Vgl. Luhmann und Schorr a.a.O.


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind delt.95 Die geschichtliche Entwicklung des Bildungssystems hat nicht nur solche Übertreibungen der Semantik korrigiert sondern v.a. auch die Sozialdimension der pädagogischen Kommunikation durch eine spezifische Codierung be­ schränkt. Die historische Form der Erziehung mit ihrer Ignoranz gegenüber Kontinuitätsbrüchen (die ihre spezifi­ sche Funktion in der Adelserziehung hatte, wo die soziale Identität von Input und Output des Systems Elterndurchgrif­ fe unproblematisch sein ließ) wird transformiert in eine Ego-Alter-Konstellation, in der der pädagogische Durch­ griff gerade nicht in der negativen Sanktionierung (und das ist dann auch der Bruch gegenüber der auf Disziplinierung angelegten Adelserziehung) sondern in der Freistellung von sonst zu erwartenden Sanktionen durch das pädagogische Ego i.S. der Reduktion von Alters Handlungen auf Erleben, auf den Entwicklungsstand des kindlichen Bewußtseins erfolgt.96 Die pädagogische Intervention in die Familie - die ja älter ist als die therapeutische Intervention - hatte zunächst stark die Tendenz, die Familie zu ersetzen oder zumindest ihren Einfluß zurückzudrängen, zu begrenzen etc. Diese seit der Aufklärung familienkritische Tendenz hat sich in der Reformpädagogik bis heute erhalten. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt sich auch eine familienkonservative Perspektive der Pädagogik. Die Familie wird als bedroht und gerade in pädagogischer Hinsicht als bewahrenswert gesehen. Die eher konfliktäre Beziehung97 zwischen Familie und Schule wird im Prozess der Ausdifferenzierung der pädagogischen Kommunikation als eine Arbeitsteilung fixiert. Die pädagogische Arbeitsteilung zwischen Elternhaus und Schule hat sich entwickelt entlang der Unterscheidung zwischen häuslicher und außerhäuslicher Sphäre.98 Die Relationierung ungleicher Systemelemente, in der Familie ausgeformt als Geschlechtsrollen, wird hier als Relationie­ 95 Zur Kritik der überzogenen Ansprüche des Erziehers - und des pädago ­ gischen Eros - als quasi-öffentlich-professionelle Super-Eltern bei Pesta­ lozzi vgl. Prange a.a.O. — S. auch generell die neuere "antipädagogi­ sche" Diskussion, die sich auf die Identifikation der pädagogischen Kommmunikation mit diesem sozial entgrenzten Erziehungsanspruch stützt 96 Es gehört zu den charakteristischen "Widersprüchlichkeiten" funktional differenzierter Gesellschaften, daß sich mit dem Medium für pädagogi­ sche Kommunikation eine Spezialkommunikation mit gesteigerter Tole­ ranz gegenüber fehlerhaftem Handeln gerade in dem selben Maße entwickelt wie andererseits die funktional spezialisierte Kommunikation in allen anderen Teilsystemen der Gesellschaft sich als wenig fehlertole­ rant erweist. Zugespitztes Beispiel ist der Bereich der Großtechnologien, in denen das Risiko zu groß geworden ist, um menschliche Fehler im Umgang mit der Technik noch zulassen zu können. Dagegen nun die für die residualen Teile der "Lebenswelt" häufig postulierte Steigerung des "Menschenrechts auf Irrtum", das jedoch faktisch nur in Sonderumwel­ ten, v.a. im Entwicklungscode der pädagogischen Kommunikation, ab­ gesichert werden kann. - Versuch und Irrtum als gattungsgeschichtlich elementare Lernbedingungen finden ihren Ort nur noch in der Primärco­ dierung pädagogischer Kommunikation. 97 In der pädagogischen Theorietradition und noch in der gegenwärtigen Terminologie viele Hinweise, daß die Autonomie der Systembildung nicht akzeptiert ist. Mißtrauen von seiten der alten Oberschichten (ins­ bes. Adelsfamilien) gegenüber der öffentlichen Schule, das sich in den Kämpfen der Gymnasialeltern gegen Einheitsschulen (Verteidigung des Elternrechts) noch reproduziert. Andererseits stets Mißtrauen der Re­ formpädagogik gegen Eltern. 98 Die gegenwärtige Organisation der Schule war angepaßt an eine Famili­ enform, in der einerseits keine vollständige Entwicklung des Bewußt­ seins im Rahmen des Hauses mehr möglich war, in der andererseits aber nur der Vater aushäusiger Erwerbstätigkeit nachgeht und die Mutter in der Familie das Geschäft der Erziehung komplementär zur Schule über­ nehmen konnte.

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rung der Familie (der in der Rolle der Mutter pädagogisch repräsentierten Eltern-Kind-Gruppe) und der Schule (der in der Rolle des Lehrers pädagogisch repräsentierten Unter­ richtsorganisation) ausgeformt.99 Diese Arbeitsteilung funk­ tioniert jedoch nicht mehr unter den Bedingungen fort­ schreitender funktionaler Differenzierung (mit Vollinklusi­ on beider Geschlechter im Erwerbsleben). Es wird (v.a. unter dem Gesichtspunkt der ungleichen sozialen Her­ kunftsvoraussetzungen) immer schwieriger, die Anschluß­ kommunikation zwischen den ungleich strukturierten Teil­ systemen der pädagogischen Kommunikation herzustellen. Die Entstehung eines Netzes von auf die Familie bezogenen Beraterberufen und -institutionen wird selbst zum Bestand­ teil des Differenzierungsprozesses zwischen Liebespart­ nerschaft und Elternschaft.100 Bei der Beschreibung von Defiziten pädagogischer Kommunikation muß unterschieden werden zwischen Zu­ schreibungen, die im Bildungssystem selbst (also pädago­ gisch codiert) zustande kommen, und solchen Defizitzu­ schreibungen, die in anderen Funktionssystemen (zB. dem Wirtschaftssystem) vollzogen werden. Im Bildungssystem kann die Familie heute nicht mehr als Umweltfaktor ausge­ klammert werden. Sie kann nur so behandelt werden, wie die Schule ihrerseits zB. von seiten der Universität: als Teil­ system, das mehr oder weniger gut die an es gestellten Lei­ stungserwartungen erfüllt. Die pädagogische Kommunikati­ on kann sich nicht mehr (erfolgreich) distanzieren von den Wirkungen, die die familiale Kommunikation auf das Bil­ dungssystem insgesamt hat.101 - Steigerungsformen der Liebe zum Kind

Die häufig beschworene "Zukunft der Familie" hängt an­ scheinend davon ab, ob es ein fundamentales menschliches Bedürfnis gibt, das in keinem anderen Teilsystem der Ge­ 99 Diese Relationierung läßt sich als eine Art historischer Kompromiß interpretieren zwischen den eher auf Zurückdrängung des Familienein ­ flusses bedachten Tendenzen der Aufklärung und der eher familienkon­ servativen Tendenz des Bürgertums (Geschlechtsrollenpolarisierung mit Bezug auf Filiationsprinzip). 100 Hier liegt der Ansatzpunkt für die Entstehung eines Netzes von auf die Familie bezogenen Beraterberufen und -institutionen, die selbst zum Be ­ standteil des Differenzie rungsprozesses zwischen Liebespartnerschaft und Elternschaft werden. — Auch die heutige Familientherapie ist im Kern Therapie der Eltern-Kind-Beziehungen und damit pädagogisch codiert. Dies bedeutet nicht notwendigerweise aber häufig sogar, daß sie sich an den Erwartungen der Schule im Hinblick auf organisatorisch un­ kontrollierbaren Ausgangsvoraussetzungen pädagogischer Kommuni­ kation orientiert. Vgl. Schülein, S. 66ff s. insbes. Zitat S.67 - vgl. Chr. Lash, wo die amerikanische Familiensoziologie selbst als eine Ursache der Schwächung der Familie "entlarvt" wird. s. insbes. zu Parsons.— Hier kann sich die (therapeutisch und pädagogisch orientierte) Frage anschließen, was daraus folgt, wenn Systeme der Intimkommunikation und der pädagogischen Kommunikation sich stark gegeneinander ausdif­ ferenzieren und wenn somit Primärsozialisation immer schon unter den Sonderbedingungen pädagogischer Intentionalisierung verläuft (zB. weil die Liebeskommunikation der Eltern als Partner durch die Destabilisie ­ rung der Familie für Kinder nicht mehr beobachtbar ist). Eine mögliche Folge wäre die Verlagerung der Primärsozialisationsfunktion auf andere nicht schon pädagogisch codierte Kommunikation in einfach struktu­ rierten Gruppen (peer groups). Mitteilungsmedien (TV, Videospiele etc.) können m.E. diese Funktion nicht übernehmen, da die Bedingungen für Individuation (Selekt ion) fehlen. 101 Wenn dies dennoch geschieht, handelt es sich um eine Externalisie ­ rung mit problematischen Folgen für das gesamte System. Häufig wer­ den solche Externalisierungen auch damit legitimiert, daß für erfolgver­ sprechende pädagogische Strategien in bezug auf die Familie die strate­ gischen Interventionsmittel fehlen. Ob man dies Fehlen nun kritisiert oder affirmiert - das Mißverständnis der pädagogischen Möglichkeiten liegt schon im Konzept der Intervention selbst.


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind sellschaft ebensogut befriedigt we rden kann. Der einschlä­ gige Hinweis auf die besondere Bedürfnislage von Kin­ dern102 hilft hier jedoch nicht weiter, denn Kinder können keine Familien gründen. 103 Es geht um die Bedürfnisse von Erwachsenen. Zumindest zwei Arten von Bedürfnissen, die zum herkömmlichen Fundament der Familie zählten, müs­ sen für die Gegenwart tendenziell ausgeschieden we rden: Erstens das Motiv der Altersversorgung,104 zweitens nun aber auch das Motiv der Liebespartnerschaft. Mit der Ab­ schwächung der christlich-sakramentalen Ehemoral und der staatlich-polizeilichen Konkubinatsverfolgung entfallen offensichtlich wesentliche Gründe, Liebespartnerschaft in die Form der Ehe zu bringen und so mit Elternschaft zu koppeln. Nicht die Familie sondern das freischwebende Paar, die "Zweierbeziehung", bildet den Ort der Verwirkli­ chung dieser Bedürfnisse.105 Es gibt allerdings eine tradierte Motivlage, die in der gegenwärtigen Entwicklung der Familiensemantik nicht ausgeschieden zu werden scheint. Das ist das Motiv der Transzendierung der eigenen (individuellen) Lebensspanne durch Kinder. Dieses Motiv läßt sich parallel rekonstruieren zu dem Motiv der Transzendierung der eigenen Individuali­ tät in der Liebespartnerschaft, das sich aus der Familienbin­ dung löst. Die Differenz liegt in der Zeitdimension. Wäh­ rend das Verschmelzungsmotiv in der Partnerbeziehung seine Erfüllung ganz im Hier und Jetzt hat, ohne Garantie der Dauer, lebt das intergenerative Transzendierungsmotiv ganz vom Zukunftshorizont, seine Erfüllung kann individu­ ell nicht erlebt sondern stets nur vorgestellt werden. Der Entwicklungspsychologe Erikson hat diese Mo­ tivlage durch den Vergleich mit der Werkvorstellung eines Künstlers für seine Nachwelt interpretiert.106 Kinder sind 102 Der Hinweis selbst entspringt schon jener pädagogisch codierten Alltagserwartung, die es zu erklären gilt. 103 Dieses schlagende Argument habe ich bei Giesecke gefunden a.a.O. S.7 104 vgl. meine Ausf. oben zum alteuropäischen ökonomischen Interesse an Kindern 105 Vgl. dagegen Luhmann diesbezüglich undeutlich in Soz. Aufkl. 5: Beschreibung des modernen Motivs der Lie bespartnerschaft als auf das psychische System des Anderen bezogene ganzheitliche Inklusion, die die letzt verbliebene Funktion der Familie sei. 106 Um die massive Einwirkung entwicklungspsychologischer Arbeiten auf das normative Verständnis der Eltern-Kind-Beziehungen nachvoll­ ziehbar zu machen, zitiere ich einen einschlägigen Text der 50er Jahre : Erik H. Erikson, Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit (Erstveröff. 1950), in: Identität und Lebenszyklus, Frankf.M 1980, S. 116f. "Freud wurde einst gefragt, was seiner Meinung nach ein normaler Mensch gut können müsse. Der Frager erwartete vermutlich eine ko m­ plexe und »tiefe« Antwort. Aber Freud soll einfach gesagt haben: »Lie ­ ben und arbeiten« Es lohnt sich, über diese einfache Formel nachzuden­ ken; je länger man es tut, um so tiefer wird sie. Denn wenn Freud »lie ­ ben und arbeiten« sagt, so meinte er damit ein Berufsleben, das den Menschen nicht völlig verschlingt und sein Recht und seine Fähigkeit, auch ein Geschlechtswesen und ein Liebender zu sein, nicht verküm­ mern läßt. Die Psychoanalyse hat als ein Hauptmerkmal der gesunden Persönlich­ keit die »Genitalität« hervorgehoben. Genitalität ist die Fähigkeit, mit einem geliebten Partner des anderen geschlechts die orgastische Potenz zu entwickeln. Orgastische Potenz wiederum bedeutet nicht die Hergabe des Geschlechtsprodukts im Sinne von Kinseeys »outlets« sondern die heterosexuelle Wechselwirkung bei voller genitaler Empfindung und völliger Entspannung des ganzen Körpers. Hier wird in ziemlich konkre ­ ter Weise über einen Prozeß gesprochen, den wir in Wirklichke it nicht ganz verstehen. Der Sinn ist jedenfalls, daß das Erlebnis einer Klimax der Ge meinsamkeit im Orgasmus ein höchstes Beispiel der gemeinsa­ men Regulation ko mplizierter Verhaltensweisen bietet und auf irgendei­ ne Weise die angestauten Aggressionen löst, die das tägliche Erleben der Gegensätzlichkeiten von männlich und weiblich, von Wirklichkeit und

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gewissermaßen das Werk, das der No rmalbürger seiner Nachwelt hinterläßt und in dem er ein Stück weit seine eigene Lebensspanne transzendiert. Der Werkcharakter der generativen Hinterlassenschaft macht zugleich deutlich, daß es sich hier nicht einfach um ein Motiv der biologischen Reproduktion handelt. Ein Werk kann mißlingen und damit auch das Gedenken in der Nachwelt. Je höher die pädagogi­ schen Erwartungen in der intergenerativen Kommunikation, desto wahrscheinlicher wird aber deren Mißlingen. Das Werkmotiv wäre für sich genommen wohl eine zu riskante Option, um als stabiles Motiv für Familienbildung herange­ zogen zu werden. Es wird aber in der Liebe zum Kind durch eine Motivlage abgestützt, die die intergenerative Kommu­ nikation von der strengen Bezugnahme auf künftige Wir­ kungen abkoppelt, ohne das tradierte Motiv der Lebenstran­ szendierung durch eigene Kinder aufzulösen. Das Motiv der Eltern, in der Gestaltung des Lebens des Kindes ihr indivi­ duelles Leben zu transzendieren, ist die fremdreferentielle Seite einer Motivlage, deren selbstreferentielle Seite in den regressiven Interaktionen zwischen Eltern und Kind zu erkennen ist. Pädagogische Kommunikation verlangt einen Ve r­ zicht auf Reziprozitätsbedingungen, wie sie die Erwachse­ nenliebe kennzeichnet. Genau dies ermöglicht nur die hoch­ individualisierte Liebe der Eltern zum Kind. Daß es sich Phantasie, Liebe und Haß, Arbeit und Spiel erzeugt. Be friedigende Ge ­ schlechtsbeziehungen machen das Ge schlechtliche weniger bedrängend und sadistische Ventile überflüssig. Aber hier treffen die Rezepte der Psychiatrie auf übermächtige Vorurteile und Schranken bei Teilen der Bevölkerung, deren Identitätsgefühl auf der strikten Unterordnung der Sexualität und überhaupt der Sensualität unter ein Leben voller Mühen, Pflicht und Religion basiert. Auch hier kann nur eine offene Diskussion der Gefahren, die eine starre Traditionsgebundenheit und der plötzliche oder auch nur oberflächliche Umschlag ins Gegenteil bergen, allmählich Klärung bringen. [Zwischentitel: Generativität gegen Stagnierung] Das Problem der Geni­ talität ist eng verbunden mit dem sie benten Kriterium seelischer Ge ­ sundheit, nämlich der Eltern schaft. Sexuelle Partner, die in ihrer Bezie ­ hung zueinander die wahre Genitalität finden, werden bald wünschen (falls die Entwicklung überhaupt auf den ausdrücklichen Wunsch war­ tet), mit vereinter Kraft einen gemeinsamen Sprößling aufzuziehen. Die ­ sen Wunsch habe ich das Streben nach Generativität genannt, weil es sich (durch Genitalität und die Gene) auf die nächste Generation richtet. Die damit verbundenen Probleme scheinen mir von keinem anderen der neu aufgekommenen Begriffe, wie Kreativität und Produktivität, voll gedeckt zu sein. (Anm.[bei Erikson]: Das gleiche gilt von »Elternschaft« einer zu konkreten Bezeichnung, die jedoch, wenn die hier vorliegende Untersuchung zitiert wird, oft als Ersatz für das scheinbar zu unverständliche Wort »Generativität« gebraucht wird.) Generativität ist in erster Linie das Interesse an der Erzeugung und Erziehung der nächsten Generation, wenn es auch Menschen gibt, die wegen unglücklicher Umstände oder aufgrund besonderer Gaben diesen Trieb nicht auf ein Kind, sondern auf eine andere schöpferische Leistung richten, die ihren Teil an elterlicher Verantwortung absorbieren kann. Wesentlich ist, sich klarzumachen, daß dies ein Stadium des Wachstums der gesunden Persönlichkeit ist und daß, wenn diese Bereicherung ganz entfällt, eine Regression von der Genera tivität auf ein quälendes Bedürfnis nach Pseudointimität ein tritt, oft verbunden mit einem übermächtigen Gefühl von Stillstand und Verarmung in den zwi­ schenmenschlichen Bezie hungen. Menschen, die keine Generativität entwickeln, fallen oft sich selbst gegenüber dem Gefühl anheim, als seien sie ihr eigenes, einziges Kind: sie beginnen sich selber zu verwöhnen. Die bloße Tatsache, daß man Kinder hat oder nur sich Kinder wünscht, bedeutet natürlich nicht schon Generativität; in der Tat scheint es, als ob die Mehrzahl der jungen Eltern, denen man in der Child-Guidance-Arbeit begegnet, an der Unfähig keit leidet, dieses Stadium zu entwickeln. Die Gründe dafür finden sich oft in frühen Kindheitseindrücken; in unheilvollen Identifikationen mit den Eltern; in übermäßiger Eigenliebe, die auf einer zu mühsam erreichten Identität beruht; schließlich (und hier kommen wir zu unserem Ausgangspunkt zurück) im Mangel an irgendeinem Glauben, einem »Vertrauen in die Gattung« das das Kind zu einem willkommenen Unterpfand der Gemeinschaft machen würde."


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind

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hier nicht bloß um Opferbereitschaft handelt, sondern auch für Erwachsene eine "Gegenleistung" - freilich nicht rezi­ proker Handlungsnatur - herausspringt, ist in der einschlä­ gigen Literatur schon häufig vermerkt worden.107 Der Ei­ genwert (Selbstverwirklichungswert) der kindzentrierten Interaktion kann auf Erwachsenenseite in einer - durch "erlaubte" und "gezielte" Regression gesteuerten - Aufar­ beitung eigener kindlicher Bedürfnisse gesehen werden. Die pädagogische Interaktion in Eltern-Kind-Dyaden ist selbst eine Form der Bewußtseinsevolution (Individuation) auf Erwachsenenseite. Sie bietet dem erwachsenen Bewußtsein die Chance, verdrängte Anteile der eigenen infantilen Be­ dürfnisse zuzulassen und zu integrieren. Genau diese Wir­ kung dürfte andererseits auch der Gefahr entgegenwirken, das Kind (aus unverarbeiteten Bedürfnissen heraus) zu sehr an sich zu fesseln und damit an seiner Selbständigkeitsent­ faltung zu behindern.108 In der modernen Elternliebe zum Kind finden wir ei­ nerseits das Motiv der naturhaften Bindung, das sich ge­ genüber den Kontingenzen der Liebespartnerschaft profi­ liert. (Gerade die radikale Zufälligkeit und zeitliche Instabi­ lität gehören zur Wahrnehmung der romantischen Liebe.) Und wir finden andererseits in der Überhöhung durch das Liebesmotiv eine (partielle) Entlastung der Eltern-KindBeziehung von den Risiken der pädagogischen Kom­ munikation (im Hinblick auf die Wirkungen der Erzie­ hungskommunikation auf die Zukunft des Kindes). Natür­ lich stecken in dieser Motivlage der Eltern "Abweichungsri­ siken", jene Instrumentalisierungen des Kindes für eigene psychische Bedürfnisse, die in der therapeutischen Literatur heute beobachtet werden.109 Elisabeth Beck-Gernsheim gibt eine plastische Beschreibung der gesteigerten Ansprüche, die heute in Ländern wie der BRD an die Rolle der Eltern­ schaft sich richten.110 In der Deutung von Beck-Gernsheim und anderen erscheint die "Liebe zum Kind" als eine spezi­ fisch asymmetrische Ausformung der familialen Liebes­ semantik, eine Art "Opfermotiv", das in den modernen Part­ nerbeziehungen an Bedeutung verliert, das aber in der El­ tern-Kind-Beziehungen als quasi-unauflöslich vorgestellte

Bindung kompensatorische Funktionen für die Auflösung aller anderen Bindungen erfülle. 111 Die pädagogisch hochgetriebene Liebe zum Kind112 erscheint als ein moralisches Motiv, für das in der pädago­ gischen Codierung der Kommunikation jenseits der Familie heute alle Entsprechungen fehlen. In der schulischen Orga­ nisation von pädagogischer Kommunikation werden Lie­ besmotive gerade nicht aufrechterhalten sondern eher neu­ tralisiert.113 Nur in den Eltern-Kind-Beziehungen scheint ein solcher Neutralisierungsmechanismus zu fehlen. Die histo­ rische Entwicklung der pädagogischen Semantik zeigt eine zunehmende Versachlichung i.S. der Zurücknahme mora­ lisch hochgetriebener Motive und zugunsten einer kultur­ technischen Ausformung der pädagogischen Kommunikati­ on. Die codetypische soziale Konstellation besteht aus ei­ nem Handeln Alters, in dem (die Folgen) von Egos Handeln auf Egos Erleben (Entwicklungsstand) zugerechnet werden. Hierin liegt eine spezifische - und eher anspruchs­ beschränkende - Abweichung von der Codierung der Lie­ beskommunikation, in der zwar ebenso Al ters Handeln an Egos Erleben anschließt, dabei aber von einer vollständigen Symmetrie der Erwartungen getragen wird. Die Begrenzung der Folgen für pädagogische Hand­ lungen liegt normalerweise v.a. in der Zeitdimension. Päd­ agogische Handlungen sind v.a. zeitlich ausgegrenzte Hand­ lungen, wirken daher niemals total auf die Person und müs­ sen mit konkurrierenden Wirkungsursachen leben. Wo liegt nun aber der entsprechende Begrenzungsmechanismus in der Elternrolle? Er liegt, wie ja gerade Prange zeigt, im Liebesmotiv selbst. Liebe ist einerseits Voraussetzung des Elternhandelns und andererseits Beschränkung ihrer Hand­ lungsverantwortung. Der "Mantel der Liebe" ist deshalb geeignet, auch pädagogische Kunstfehler zu verdecken. Un­ abhängig davon, ob die Kinder selbst eine Elternentschei­ dung - rückblickend - als Fehler bewerten, bleibt das Lie­ besmotiv erhalten.114 In der elterlichen Liebe zum Kind wird die pädagogi sche Intention gelockert von der tempora­ lisierten Kontrolle ihrer Wirkungen auf psychische Entwicklung (zugunsten der spezifischen aktuellen EgoAlter-Konstellation, in der das Handeln der Eltern sich am

107 Doehlemann hat - im Anschluß an die psychoanalytische Theorietradi­ tion und soziologische Ansätze bei N. Elias und D. Claessens - eine zu­ nehmende Bedeutung der Interaktion mit Kindern für die Persönlich­ keitsentwicklung von Erwachsenen in der modernen Gesellschaft her­ ausgearbeitet. S. zur erlaubten Regression auch schon Parsons, Gesellschaften "... diese »Permissivitäte Religionen in ihren Moralisierungsbestrebungen zu­ rückgreifen. Zur immer möglichen Fehlentwicklung dieses Mechanismus in der pädagogischen Kommunikation s. schon S. Bernfeld Sisyphos a.a.O. S.134-149 108 Dies entgegen den oben zit. Annahmen bei Y.Schütze a.a.O. 109 S. etwa H.E., Richter (Eltern, Kind, Neurose; Patient Familie) und historisch rückprojiziert: DeMause (Hört Ihr die Kinder weinen?) - Hier fehlt jedoch zumeist eine angemessene soziologische Reflexion der Fra ­ ge, wie solche Instrumentalisierung überhaupt möglich wurde. Keines­ falls dürfen die modernen Instrumentalisierungen einfach in eine Reihe gesetzt werden mit jener älteren ökonomischen I. für die Al­ tersversorgung. - Vgl. die unklare Verwendung des Instrumentalisie ­ rungsbegriffs in der neueren Familienentwicklung bei Schütze und Na­ ve-Herz ) 110 In Kapitel IV ("Alles aus Liebe zum Kind") von Beck/ BeckGernsheim a.a.O. Während Prange (s.oben) die pädagogische Absicht gewissermaßen in der Natur des Eltern-Kind-Verhältnisses normativ schon immer angelegt sieht, interpretiert B-G. aktuelle Entwicklungen der familialen Ko mmunikation als "Pädagogisierung" der Elternschaft, ohne zu sehen, daß es sich hier nur um die Steigerung und Respezifika ­ tion eines in der familia len Kommunikation seit Beginn der Moderne angelegten Motivs handelt.

111 In der familiensoziologischen Literatur wird heute die Aufassung vertreten, daß die Liebe zum Kind ein Abkömmling der Erwachsenen­ liebe sei (Kompensation für deren wachsende Instabilität vgl. Y.Schütze , Nave-Herz). Diese Aufassung kontrastiert in merkwürdiger Weise mit der älteren Aufassung, wonach die Erwachsenenliebe ein Abkömmling der frühen Eltern-Kind-Beziehung sei. Vielleicht ist ja Beides richtig. Jedenfalls ist zu beachten, daß die soziokulturelle Form der Liebe weder aus der Fortpflanzungsfunktion - wie traditionell vorgestellt - noch aus der Sexualität - wie es eine moderne Lesart meint, abgeleitet werden kann. Schon in Stammesgesellschaften - so haben Ethologen gezeigt ­ läßt sich eine deutliche Verwandtschaft der Liebeskommunikation Er­ wachsener mit den Merkmalen der Kommunikation in der frühkindli­ chen Symbiose beobachten (während Sexualität und Fortpflanzung be­ kanntlich durchaus ohne diese Begleitsemantik vorkommen können). 112 Die pädagogisch hochgetriebene "Liebe zum Kind" wird von verschie ­ denen Autoren als Überforderung für Eltern (und Kinder) betrachtet. Diese Kritik (zu der auch die sog. Antipädagogik zu rechnen ist) ist in der Sache merkwürdig unents chieden: Einerseits wird die Verbindung des Liebesmotivs mit einer Entwicklungstechnologie bezüglich des Kin­ des kritisiert, also gewissermaßen die "natürliche Liebe" verteidigt, an­ dererseits wird das Liebesmotiv selbst historisch infragegestellt und für ein sachgemäßeres Handeln plädiert. 113 Die allgemeine Pädagogisierung der Liebe zum Kind ist - wie der Beitrag von Prange bez. Pestalozzi zeigt - eher ein obsoletes Motiv der frühmodernen Pädagogik, die den Pädagogen eine universalisierte El­ ternrolle (und damit entsprechend unkontrollierbare Macht über die Zög­ linge) zumißt. — Dafür daß es sich in der Schule nicht um Liebeskom­ munikation handelt vgl. auch Dreeben, 1980 S. 30 114 Hier einmal abgesehen von der Möglichkeit, Liebe nur vorzutäuschen.


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind Konstellation, in der das Handeln der Eltern sich am Erle­ ben des Kindes orientiert). Die pädagogische Codierung wird in der radikalen Freistellung des Kindes von den sonst üblichen Zurechnungen der Handlungsfolgen erkennbar. Diese Freistellung wird temporal wieder eingezogen in der schulischen Dimension der pädagogischen Kommunikation, deren Codierung sich an der Zurechnung von spezifischen Handlungsfolgen (der Bewertung der Unterrichtsleistungen etc.) erweist. In der gesteigerten Elternliebe zum Kind wird (aus pädagogischer Sicht) auch die Gefahr gesehen, daß die Bedürfnisse der Kinder jeweils nur in der Beziehung auf ei­ gene Kinder wahrgenommen und dh. jeweils alle anderen Kinder aus der Wahrnehmung ausgeblendet werden. Das Ergebnis kann dann als Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegen Kinder erscheinen. Eine solche Wahrnehmung ent­ spricht durchaus der Operationsweise funktional differen­ zierter Systeme. Sie wird aber in der Entwicklung der päd­ agogischen Kommunikation aufgefangen durch die funktio­ nale Differenzierung entlang zweier verschiedener So ­ zialsysteme: der familialen Erziehung (gestützt durch die elterliche Liebe zum Kind) und dem schulischen Unterricht (gestützt durch die Zweitcodierung als Selektion).115 In der symbolisch generalisierten Wahrnehmung des Kindes als Hilfsbedürftigem liegt das semantische Potential der Uni­ versalisierung (das symbolisch generalisierte Medium) der pädagogischen Kommunikation, das diese Sonderkommu­ nikation überhaupt erst von der leiblichen Elternschaft abzulösen erlaubt hat. Statt einer Destabilisierung der Familie, legt die hier skizzierte Beschreibung es nahe, ihre Restabilisierung durch Differenzierung zu erwarten. Die Ausdifferenzierung der Familie ist mit dem bürgerlichen Modell noch keineswegs an ihr mögliches Ende gekommen. Das familiale Modell der Einheit von Elternschaft und Partnerschaft, das erst in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts in Westeuropa und den USA den Höhepunkt seiner demographischen Verbreitung erreicht hat, wird heute neuen, weitergehenden Differenzie­ rungsprozessen ausgesetzt.116 Bei den Formen der Eltern­ 115 Jenseits der allgemeinen Unterscheidung zwischen dem System der Intimkommunikation und dem Bildungssystem wird hier ein zweiter Un ­ terschied augenfällig, der mit der unterschiedlichen Codierung der funk­ tionssystemischen Kommunikation zusammenhängt: Während Intim­ kommunikation sich jenseits der einfachen Interaktion offenkundig aus­ schließlich gruppenförmiger Sozialsysteme bedient, differenziert sich die pädagogische Kommunikation entlang von Gruppen einerseits und Organisationen andererseits. Die Schule als Organisation selbst organi­ siert Unterricht in der Form von Gruppensystemen. Dieser Differenz entspricht die Differenz zwischen Erst- und Zweitcodierung des Bil­ dungsmediums.— Weder Familie noch Schule sind Interaktionssysteme. Sie enthalten in verketteter Form (einerseits der Gruppe und andererseits der Organisation) auch mediengesteuerte Kommunikation auf Interakti­ onsebene. Deshalb können sich die Interaktionen in der Familie (wie in der Schule) in ihrer Themenwahl von der Orientie rung am funktionssy­ stemischen Kommunikationsmedium lösen. — Statt pädagogischer "Ar­ beitsteilung" zwischen Familie und Schule ist (gerade im Hinblick auf die funktionale Subsumtion der Familie) heute angemessener von einer "Interaktion" der beiden Teilssysteme innerhalb des Bildungssystems zu sprechen. Denn Schule (als Organisation) und Familie (als Gruppe) sind nach Außen handlungsfähige Systeme. 116 Eine differenzierungstheoretische Erklärung der Entwicklungen der familialen Kommunikation ist m.W. neben den schon erwähnten Arbei­ ten von H.Tyrell bisher am deutlichsten bei F.X. Kaufmann (Familie und Modernität, in: K. Lüscher, Die "postmoderne Familie", Konstanz 1988) zu finden. Trotz bedenkenswerter Einwände gegen Katastrophen­ szenarios scheint jedoch Kaufmann davor zurückzuschrecken, auch die gegenwärtigen Entwicklungen - Differenzierung zwischen Elternschaft und Partnerschaft - in derselben Konsequenz zu beschreiben. Kaufmann

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Kind-Beziehung und der Paarbeziehung, die sich aus diesen Modernisierungsschüben ergeben, handelt es sich um varia­ tionsreiche und vermutlich gerade dadurch stabile Sozialsy­ stembildungen.117 Literaturangaben Badinter, Elisabeth, Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17.Jahrhundert bis heute, München 1984 Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Suhrkamp Ffm. 1986 Beck, Ulrich, Beck-Gernsheim, Elisabeth, Das ganz normale Cha­ os der Liebe, Ffm., 1990 Bowlby, John, Bindung. Eine Analyse der Mutter-KindBeziehung, München 1980 Erikson, Erik H., Wachstum und Krisen der gesunden Persönlic h­ keit, in: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, Frankf. M. 1966, Doehlemann, Martin, Von Kindern lernen. Zur Position des Kin­ des in der Welt der Erwachsenen, Juventa Materialien, Mün­ chen 1979 Giesecke, Hermann, Vermutungen über die Zukunft der Familie, in: Pädagogik 7-8, 1991 S.6-9 Gilgenmann, Klaus, Die Entwicklung des Kindes. Zur Codierung des Mediums für pädagogische Kommunikation, Typoskript 1990 Gilgenmann, Klaus, Sozialisation, Individuation, Reflexion. Psy­ chische Voraussetzungen der Verwirklichung pädagogischer Intentionen. Typoskript für Hamburger Symposion über "Päd­ agogische Intention", Juni 1991 Koller, Hans-Christoph, Die Liebe zum Kind und das Begehren des Erziehers. Erziehungskonzeption und Schreibweise päd­ agogischer Texte von Pestalozzi und Jean Paul. Weinheim (DSV) 1990 Lenz, Karl, Institionalisierungsprozesse in Zweierbeziehungen, Schweiz.Z.Soziol./Rev.suisse sociol., 2 (1990) S. 223-244 Leupold, Andrea: Liebe und Partnerschaft: Formen der Codierung von Ehen, Z. f.Soziologie H.4. Okt 83, S. 297-327 Luhmann, Niklas, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankf. M. 1982 Luhmann, Niklas, Sozialsystem Familie, in: Soziologische Aufklä­ rung 5, Opladen 1990, S. 196-217 Luhmann, Niklas, Glück und Unglück der Kommunikation in Familien: Zur Genese von Pathologien, in: Soziologische Auf­ klärung 5, Opladen 1990, S. 218-227 Luhmann, Niklas, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankf.M. 1990 Lüscher K. u.a. Hg. Die "postmoderne" Familie: Familiale Strate­ gien und Familienpolitik in einer Übergangszeit, Konstanz 1988 Nave-Herz, Rosemarie, (Hg.), Wandel und Kontinuität der Familie in der BRD, Enke, Stuttgart 1988 Prange, Klaus, Intention als Argument, Typoskript für Hamburger Symposion über "Pädagogische Intention", Juni 1991 Rerrich, Maria S. Veränderte Elternschaft. Entwicklungen in der familialen Arbeit mit Kindern seit 1950, Soziale Welt 1983 S.420ff

sieht in der "Ausdifferenzierung der privatisierten Kernfamilie" (403) schon eine Endform der Differenzierung. So kann er nicht umhin, weite­ re Modernisierungsschübe im Bereich der familialen Kommunikation als Destabilisierung (405) zu deuten. Der Wandel der Geschlechtsrollen und die "Relativierung sozialer Verbindlichkeiten" (408) durch Selbst­ verwirklichungsstreben werden nicht differenzierungstheoretisch son­ dern als Kausalursachen eingeführt. 117 Differenzierung ist i.S. der Luhmannschen Evolutionstheorie ja über­ haupt der Mechanismus der Restabilisierung sozialer Systeme. In der Moderne wird mit diesem Mechanismus eine Art Suprastabilität erzeugt durch laufende Rückkoppelung des Differenzierungsvorgangs mit erneu­ ter Variation. Vgl. Luhmann, Wissenschaft der Gesellschaft a.a.O. S. 549ff.


Klaus Gilgenmann ( 1991) Romantische Liebe und Liebe zum Kind Schülein, J.A. Die Geburt der Eltern. Über die Entstehung der modernen Elternposition und den Prozeß ihrer Aneignung und Vermittlung, Westdt.Verlag, Opladen 1990 Schütze, Yvonne, Individualisierung und Familienentwic klung im Lebensverlauf, in: 40 Jahre BRD, Zur Zukunft von Familie und Kindheit, Beiträge zum Mainzer Kongreß, hg. vom BMfJFFG, München 1989 Schütze, Yvonne, Von der Mutter-Kind-Dyade zum familialen System. Neue Beiträge aus Psychologie, Humanethologie und Psychoanalyse zur Erforschung der frühkindlichen Sozialisati­ on, ZfPäd, 28.Jg. 1982, Nr.2 Schwab, Dieter, Familie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Histo­ risches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Hg. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 2 S. 253ff Stichweh, Rudolf, Der frühmoderne Staat und die europä ische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.-18.Jh.) Ffm. 1991 Tyrell, Hartmann, Soziologische Überlegungen zur Struktur des bürgerlichen Typus der Mutter-Kind-Beziehung, in: Lebens­ welt und soziale Probleme, Verhandlungendes 20. Dt. Sozio­ gentages in Bremen 1980, Ffm/NY 1981 Tyrell, Hartmann, Romantische Liebe - Überlegungen zu ihrer "quantitativen Bestimmtheit", in: Theorie als Passion, Hg. D. Baecker u.a. Ffm. 1987, S. 570-590 Tyrell, Hartmann, Ehe und Familie - Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, in: K. Lüscher u.a. Hg. Die "postmo­ derne" Familie: Familiale Strategien und Familienpolitik in ei­ ner Übergangszeit, Konstanz 1988, S.145-156

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