Kg 1994 erziehungsgemeinschaftfamilie

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DIE F AMILIE ALS ERZIEHUNGSGEMEINSCHAFT Zur Beschreibung der Funktion von Familien in der modernen Gesellschaft Zusammenfassung. Moderne Familien werden hier als Systeme beschrieben, die über latente Strukturen an das Bildungssystem der modernen Gesellschaft gekoppelt sind. Diese Beschreibung greift zurück auf die Beschreibung der Familie in der funktionalistischen Theorietradition seit Parsons und stützt sich auf deren Weiterent­ wicklung durch Luhmann. Da die empir ische Familienforschung gezeigt hat, daß die Erwachsenendyade nicht mehr als konstituti­ ver Bestandteil von Familien aufgefaßt wird, schlägt der Autor (in dieser Hinsicht abweichend von Luhmann) vor, die Familie als Teil des Bildungssystems zu beobachten. Um diese Sic ht begriff­ lich zu entfalten, werden das symbolisch generalisierte Medium und die Binärcodierungen der pädagogischen Kommunikation so beschrieben, daß sich die Einheit von familialer und schulischer Kommunikation erkennen läßt.

1. Funktionale Differenzierung statt „Funktionsverlust“ 1 - Primär- und Nachsozialisation - zwei Funktionen? 1 - „Eltern-Kind-Gemeinschaft“ oder „Personengemeinschaft“? 2 2. Dezentrierung der Familie als pädagogisches System 3 - Die Unterscheidung von Erwachsenen und Kindern 4 - Die Zentrierung der familialen Kommunikation auf Kinder 4 3. Differenz und Einheit pädagogischer Kommunikation 5 - Permissivität 6 - Selektion 7 - Stabilität durch Differenzierung 8 Literatur 9

Kommentar zum Beitrag von K. Gilgenmann: "Die Familie als

Erziehungsgemeinschaft" 10

Replik 11

1. Funktionale Differenzierung statt „Funktionsverlust“ „We hope to contribute to the common view that the human personality must undergo its early development in a social system something like the human family.“ So bescheiden wie Talcott Parsons seine Analyse der modernen Familie am „common view“ ansetzt, so grundlegend ist doch der damit eingeleitete Paradigmenwechsel gegenüber herkömmlichen Auffassungen, wenn er fortfährt: „But looked at as a part of the society, the family is, even in primitive societies, a specialized, i.e. differentiated, part of a larger system; it is quite erroneus to regard it as a ‘micro­ cosm’ of the whole“. (Parsons, 1955,S.32f) Parsons Beschreibung der Familie als einem funktio­ nal spezialisierten Subsystem der Gesellschaft steht nicht nur im Gegensatz zu der gängigen Auffassung der Familie als ‘Mikrokosmos der Gesellschaft’ sondern stellt sich da­ rüberhinaus in direkten Kontrast zu der in der Theorietradi­ tion gepflegten Auffassung von der Familie als einer tradi­ tionellen Gemeinschaft, die in ihrer Funktion durch Moder­ nisierungsprozesse bedroht werde. Es muß wohl als Parsons wesentliche Leistung für die Familiensoziologie angesehen werden, anstelle der auch in der Soziologie bis dahin übli­ chen Rede vom „Funktionsverlust“ der Familie (der Groß­ familie etc.) die Beschreibung ihrer Funktion als Steige­

rungszusammenhang i.S. funktionaler Spezialisierung her­ ausgestellt zu haben. 1 Nach Parsons kann die Familie ihre besondere Funk­ tion für Sozialisationsprozesse gerade deshalb erfüllen, weil ihre relativ einfache interne Differenzierungsstruktur (in der Generations - und in der Geschlechtsachse2) sich deutlich von der Komplexität der umgebenden Gesellschaft unter­ scheidet und weil sie damit besondere (sozialisationswirk­ same) Koppelungsbedingungen für das noch einfach struk­ turierte Bewußtsein von Kindern bietet. (Parsons, 1955, S. 33) „If, as some psychologists seem to assume, the essen­ tials of human personality were determined biologically, independently of involvement in social systems, there would be no need for families, since reproduction as such does not require family organization. It is because the hu­ man personality is not ‘born’ but must be ‘made’ through the socialization process that in the first instance families are necessary. They are ‘factories’ which produce human personalities.“ (Parsons, 1955, S. 16) Parsons hebt nicht nur hervor, daß die Familie ein funktional ausdifferenziertes Subsystem der Gesellschaft ist und - trotz scharfer Grenzziehung zu Nichtmitgliedern - für ihre Mitglieder ke inen geschlossenen Lebenszusammen­ hang repräsentiert. Gerade der Umstand, daß die erwachse­ nen Mitglieder noch andere Rollen als die in der Familie einnehmen (Rollen, die von Bedeutung für ihre Persönlich­ keit sind) wird von ihm als wichtig für das Gelingen der Primärsozialisation als einem temporalen Prozeß mit ab­ nehmender Abhängigkeit zwischen Kindern und Erwachse­ nen eingestuft.3 - Primär- und Nachsozialisation - zwei Funktionen? Nach Parsons Vorschlag gibt es zwei Funktionen der Fami­ lie die miteinander verbunden sind: 1. die primäre Sozialisa­ tion von Kindern und 2. die Stabilisierung von Erwachse­ nenpersönlichkeiten: „The general thesis ... is ... that the modern isolated family, incorporates an intricate set of inte­ ractive mechanisms whereby these two essential functions for personality are interlocked and interwoven.“ (Parsons, 1955, S.21) Daß es sich in Parsons Beschreibung bei aller Ve r­ wobenheit doch um zwei verschiedene Funktionen handelt, ergibt sich daraus, daß Parsons die Funktion der Familie direkt nicht auf Gesellschaft sondern nur auf Personen (ope­ 1

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Funktionale Differenzierung bedeutet stets „Funktionsverlust“ in dem Sinne, daß viele herkömmlich kombinierte Funktionen aufgegeben wer­ den zugunsten der Spezialisierung auf jeweils eine einzige. Selbstver­ ständlich genügt es für eine detailliertere Beschreibung des Familienssy­ stems nicht, die These vom Funktionsverlust zurückzuweisen und durch die Differenzierungsthese zu ersetzen. In dieser Hinsicht knüpfe ich nur selektiv an Elementen der Parsonsschen Beschreibung der Modernität der Familie an, die m.E. auch für die gegenwärtige Familiensoziologie noch Geltung beanspruchen können. Für Parsons ist das bekanntlich der einfachste Fall eines Sozialsystems, das sich nach dem von ihm in der Funktionsanalyse verwendeten AGILSchema beschreiben läßt. Umso wichtiger sein Hinweis, daß dieser Fall nicht als evolutionäre Keimzelle der anderen Teils ysteme der Gesell­ schaft zu verstehen ist. - Zwar enthält Parsons Typisierung der internen Rollenstruktur der Familie auch Elemente traditionalistischer Deutung. Jedoch tendieren Parsons - psychologisch fundierte - Argumente zu ei­ ner Interpretation, die eine Fixierung der instrumentell/expressiven Rol­ len entlang der Geschlechtsachse auflöst. Die permissivitätsorientierte Haltung gegenüber Kindern kann ja nur dann mit den Erfordernissen der temporalen Ablösung des Kindes von den Eltern ausbalanciert werden, wenn auch die Mutter entsprechend starke Außenbeziehungen aufrecht­ erhält. Parsons, 1955, S.19 Zur Stellung der Sozialisationstheorie in Parsons Gesellschaftstheorie s. zusammenfassend: Schulze/Künzler, 1991


K.G.: Die Familie als Erziehungsgemeinschaft rativ andere Systeme) bezogen sehen will4 - und hier sind natürlich Wirkungen auf Kinder von Wirkungen auf Er­ wachsene zu unterscheiden. Andererseits zeigt Parsons Beschreibung der Wirkung familialer Kommunikation für Erwachsene deutlich, daß sie in dieselbe gesellschaftliche Funktion eingebunden ist, aus der sich auch die Wirkungen auf Kinder ableiten lassen: „We suggest then that children are important to adults because it is important to the latter to express what are essentially the ‘childish’ elements of their own personalities. There can be no better way of doing this than living with and interacting on their own level with real children.“ Damit sind keineswegs beliebige Regressionen gemeint. Vielmehr handelt es sich um einen Mechanismus, der fest eingebunden ist in das pädagogische Arrangement der Familie: „But at the same time it is essential that this should not be an unregulated acting out, a mere oportunity for regressive indulgence. The fact that it takes place in the parental role, with all its responsibilities, not least of which is the necessity to renounce earlier modes of indulgence as the child grows older, is, as seen in this connection, of the first importance.“ (Parsons 1955, S.21) Die Implikation der Parsonschen Differenzierungs­ analyse, daß es sich bei der Funktion der Familie um zwei verschiedene Funktionen handele, erscheint heute weder empirisch noch theoretisch überzeugend.5 In theoretischer Hinsicht wären die Wirkungen auf Personen, die Parsons als Funktionen unterscheidet, eher als Leistungen des Sozialsy­ stems Familie für anders operierende Systeme in seiner Umwelt zu betrachten. Eine Theoriekonstruktion, die zwi­ schen der Funktion eines Sozialsystems im Hinblick auf die umgebende Gesellschaft insgesamt und der Leistung eines Sozialsystems im Hinblick auf Erwartungsstrukturen in anderen Systemen in seiner Umwelt unterscheidet, wird von Luhmann in Weiterentwicklung der funktionalistischen Gesellschaftstheorie auf der Grundlage autopoietisch ge­ schlossener Operationsweise sozialer Systeme angeboten.6 4

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„the functions of the family in a highly differentiated society are not to be interpreted as functions directly on behalf of the society, but on behalf of personality.“ Parsons, 1955, S. 16 Abgesehen von der Theoriekonstruktion mag die Beschreibung zweier Funktionen in empirischer Hinsicht aus der Sicht der amerikanischen Kleinfamilie in der Mitte des 20.Jahrhunderts noch eine einleuchtende Beschreibung gewesen sein. Sie wird jedoch spätestens unbrauchbar an­ gesichts von Haushaltsstatistiken, aus denen nicht mehr zu erkennen ist, daß „jeder Erwachsene Mitglied einer Kernfamilie“ sei (Parsons, 1955, S.17). Man kann als Erwachsener offenbar folgenlos auf diese Funktion verzichten, nicht aber die Gesellschaft im Hinblick auf ihren Nach­ wuchs.

2 Funktionale Differenzierung wird als System/UmweltVeränderung der Gesellschaft beschrieben, in der die Aus­ differenzierung von Teilsystemen intern über Kommunika­ tionsmedien, Codes und Programme gesteuert wird. Die Umweltseite dieser Ve ränderung kann als (sich evolutionär bewährende oder nicht bewährende) strukturelle Koppelung operativ verschiedenartiger Systeme beschrieben werden.7 Im Fall des Systems Familie hat Luhmann allerdings Revisionen gegenüber Parsons Beschreibung vollzogen, die m.E. in empirischer Hinsicht wenig überzeugen und auch aus den von ihm selbst entwi ckelten Theoriegrundlagen nicht zwingend folgen.8 - „Eltern-Kind-Gemeinschaft“ oder „Personengemei n­ schaft“? Luhmann will die bei Parsons zuerst genannte Funktion der Familie - die der Primärsozialisation - aus allgemeintheore­ tischen Erwägungen nicht gelten lassen: Sozialisation könne keine ausdifferenzierbare Funktion der Kommunikation sein, da sie schon auf der Ebene der allgemeinen Vorausset­ zungen jeglicher Kommunikation - i.e.S. der strukturellen Koppelung psychischer und sozialer Systeme - ein bei allen kommunikativen Operationen mitlaufender Prozeß der Be­ wußtseinsveränderung sei. Im Unterschied zu diesem all­ gemeinen - sozial in keiner Richtung festgelegten - Begriff der Sozialisation verweise erst der Begriff der Erziehung auf eine funktionale Sonderkommunikation. Diese aber werde primär in Schulen und allenfalls am Rande - gewis­ sermaßen in Abhängigkeit vom Erwartungsdruck der Schule als Zentrum des Erziehungssystems - auch in Familien be­ trieben. Diese Argumentation verkennt aber m.E. zweierlei: Die Besonderheit der Primärsozialisation innerhalb einer funktional differenzierten Umwelt wird keineswegs hinreichend erfaßt mit einem Begriff von Sozialisation, der alle Effekte von Kommunikation in psychischen (und orga­ nischen) Systemen umfaßt. Die unbestreitbare Zunahme kindzentrierter, auf So­ zialisation auch intentional bezogener Kommunikation in der modernen Familie läßt es kaum angemessen erscheinen, Sozialisation als bloßen Nebeneffekt der familialen Kom­ munikation zu deuten. 9 Demgegenüber hat Luhmann die in Parsons Be­ schreibung genannte Funktion der Persönlichkeits­ stabilisierung zur einzigen Funktion der Familie generali­ siert: die Inklusion der „ganzen“ Person in der Familie soll die Unmöglichkeit der Vollinklusion in allen anderen Teil­ systemen der modernen Gesellschaft kompensieren. (Luh­

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Die Differenzierung des Gesellschaftssystems schafft nach Luhmann für jedes Teilsystem drei Beziehungsmöglichkeiten: 1. die Beziehung zum Gesamtsystem Gesellschaft, 2. die Beziehung zu anderen Teilsystemen und 3. die Beziehung zu sich selbst. Luhmann bezeichnet den Unter­ schied zwischen der 1. und 2. Relation als den zwischen Funktion und Leistung. (Auf die 3. Relation, die Luhmann als Reflexion bezeichnet, ist hier nicht einzugehen.) Funktion bezeichnet demnach eine Orientie ­ rung an der Gesellschaft (also an gesellschaftlicher Umwelt i.S. einer Vorstellung von gesamtgesellschaftlicher Einheit jenseits aller Differen­ zierungen), Leistung hingegen eine Orientierung in der Gesellschaft i.S. von spezifischen funktional ausdifferenzierten Erwartungen in der ge­ sellschaftlichen Umwelt (s. u.a. 1987, S. 34ff s. 1990c S. 355f; 635ff). Die Leistung - also auch Sozialisation - muß als Erwartung in einem So­ zialsystem - also kommunikativ - formuliert werden. Luhmann bezieht die Bezeichnung generell auf Funktionssysteme, obwohl mit dem Aus­ druck Teilsysteme auch ein System auf der darunterliegenden Ebene gemeint sein könnte. M.E. liegt es nahe, den Leistungsbegriff auf die einem Funktionssystem sich zuordnenden Organisations- und Gemein ­ schaftssysteme zu beziehen, da nur auf dieser Ebene Leistungen i.S. zu ­ rechenbarer Handlungen erwartet und erbracht werden.

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S. zu diesem Theorieprogramm allgemein, Luhmann, 1984, Soziale Systeme - zur Unterscheidung von Funktion und Leistung, Luhmann, 1990c, S. 355f; 635ff zum Verhältnis von Differenzierung und struktu­ reller Koppelung, Luhmann, 1990c, S.31 s. Luhmann, 1990a - Erste Fassung in »System Familie« Heft 1 (1988). Luhmanns Beschreibung der Familie als Funktionssystem muß gravie ­ rende Abweichungen von seinem an anderen Funktionssystemen der Gesellschaft entwickelten Muster inkaufnehmen, die ich im Folgenden zu vermeiden suche. Zur Rechtfertigung der Abweichung in diesem Fal­ le s. Kieserling, 1993. In Abgrenzung zu Parsons formuliert Luhmann: „Die Familie ist nicht durch die Funktion der Sozialisation bestimmt, sondern der familialen Sozialisation kommt eine besondere Bedeutung zu, weil sie von einem System ausgelöst wird, das darauf eingestellt ist, die gesellschaftliche Inklusion ganzer Personen zu ermöglichen. Die Sozialisation läuft hier gleichsam im Schatten der Inklusionsproblematik ab.“ 1990a, S. 211


K.G.: Die Familie als Erziehungsgemeinschaft mann, 1990a S. 207ff ). Dieser Vorschlag zur Funktionsbe­ schreibung ist m.E. aus drei Gründen nicht überzeugend: Um die These der kompensatorischen Vollinklusion durch die Familie stark zu machen, muß Luhmann die hoch­ selektiven - im Prinzip asymmetrischen - Strukturen der Eltern-Kind-Kommunikation zum Ausnahmefall von der Regel uneingeschränkter Thematisierbarkeit aller Personbe­ züge erklären. Luhmanns Charakterisierung der Familie als „Sozial­ system mit enthemmter Kommunikation“ (Luhmann, 1990a S. 204f) trifft eigentlich nur auf die intime Paarbeziehung der Erwachsenen zu und ist in dieser Spezifikation (volle Reziprozitätserwartung in der Liebeskommunikation) wi e­ derum kein exklusives Merkmal der Familie.10 Neben der in der Paarbeziehung entwickelten Hoch­ form des kommunikativen Personbezugs lassen sich andere Bereiche der Gesellschaft benennen, in denen - wie in der Familie - in funktionsspezifisch eingeschränkter Weise Strukturen der Kommunikation vorkommen, die die Identi­ tätsbildung der Person (i.S. von Zugehörig­ keit/Nichtzugehörigkeit) stützen. Empirisch spricht vieles dagegen, der Familie in be­ zug auf die kommunikative Abstützung personaler Identität ein funktionskonstitutives Monopol zuzuschreiben.11 Theo­ retisch spricht vieles dagegen, die Familie überhaupt als ein Funktionssystem der Gesellschaft zu betrachten.12 Aus die­ ser Sicht folgt keineswegs, daß die Familie funktionslos (geworden) sei. Empirisch spricht vieles für die Annahme, daß die familiale Kommunikation auf die epochale Ausdif­ ferenzierung der Paarbeziehung aus dem familialen Kontext mit einer weitergehenden Ausdifferenzierung ihrer pädago­ gischen Funktion reagiert.13 In theoretischer Perspektive besteht damit die Aufgabe darin, diese Entwicklung in Be­ griffen zu beschreiben, die es erlauben, die familiale Ko m­ munikation dem Bildungssystem zuzuordnen.14

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Das prominenteste Beispiel dafür bieten heute kinderlose Intimpartner­ schaften, die sich ja nicht mehr in traditioneller Weise als Durchgangs­ stadium zur Familienbildung deuten lassen, seit die Familie in den ent­ wickeltsten Regionen im 20. Jh. das Monopol auf legitimen Ge ­ schlechtsverkehr und die daran gekoppelten Formen der Intimkommuni­ kation verloren hat. Luhmann räumt selbst ein, daß die familiale Kommunikation mit der Sonderfunktion der personalen Inklusion - ohne Technisierbarkeit durch einen entsprechenden Code - sich eine Art Dauerüberlastung - am Rande der Pathologie - einhandelt. Vgl. 1990b. Er muß diese Überlastung je­ doch vermutlich deshalb zum Normalzustand der Familie erklären, weil er keinem anderen Sozialsystem in der Gesellschaft die Züge von „Per­ sonengemeinschaft“ (1990a, S. 213) zuerkennt. Die Gründe dafür liegen v.a. im Fehlen von Organisationssystemen, die mit derselben Grundoperation verfahren. Hieraus folgt dann, daß viele der an anderen Funktionssystemen bewährten Aspekte der Beschreibung hier nicht anzuwenden sind, die im Folgenden für das Bildungssystem skizzenhaft expliziert werden. - Luhmann bezeichnet deshalb die Fami­ lie innerhalb seiner Theoriekonstruktion als den abweichenden Fall eines Funktionssystems, dessen Operationen weder durch Organisationen noch durch ein Medium gesellschaftsweit verknüpft sind. S. 1990a S.210 S. zur historischen Trendbeschreibung mit empirischen Belegen und theoriegeschichtlichen Hinweisen: Y.Schütze, 1993. Es handelt sich bei solcher Zuordnung zwar stets um eine Leistung des Beobachters, die jedoch in wissenschaftlicher Absicht mit der Maßgabe vollzogen wird, jene Unterscheidungen zu markieren, die im beobachte­ ten Bereich selbst verwendet werden.

3 2. Dezentrierung der Familie als pädagogisches System Die Zurechnung der Familie auf das Bildungssystem stößt auf Widerstände - auch in der wissenschaftlichen Reflexion - weil das Bildungssystem noch immer einseitig mit seinen Schulen (also Organisationssystemen) identifiziert wird und die Zurechnung der Familien15 auf dasselbe System als eine Art Kolonisierung mißverstanden wird. Es handelt sich dabei um einen späten Reflex des aus dem 19. Jahrhundert stammenden Diskurses, in dem Gemeinschaft als Tr aditi­ onsgut dem Modernisierungsdruck von Gesellschaft (ver­ standen als eine Art Großorganisation) gegenübergestellt wurde. Dagegen hatte schon Parsons die Beschreibung der Familie als einer genuin mode rnen Form von Gemeinschaft gesetzt.16 Mit der Evolution symbolisch generalisierter Kom­ munikationsmedien reagiert die moderne Gesellschaft auf das generelle Problem der zunehmenden Erfolgsunwahr­ scheinlichkeit von Kommunikation unter den Bedingungen technisch erweiterter Kommunikationsmittel. Die damit ermöglichte Verlängerung und zeitliche Parallelisierung hochselektiver kommunikativer Verknüpfungen führt zur Auflösung traditioneller Kompaktformen von Sozialsyste­ men (wie der Familie des „ganzen Hauses“) zugunsten von sachlich (i.S. von Leistungsorientierung) spezialisierten Organisationssystemen einerseits und sozial (i.S. von Per­ sonorientierung) spezialisierten Gemeinschaftssystemen andererseits. Kommunikation als Grundoperation sozialer Systeme ist zu ihrer eigenen Fortsetzung auf die Bewußtseinsres­ sourcen von Teilnehmern angewiesen. Sie muß sich zu diesem Zwecke laufend (im Vergleich zu der nur Beobach­ tern zugänglichen Komplexität ihrer Möglichkeiten) verein­ facht darstellen im Hinblick die fortsetzungsrelevante Fra­ ge, wer innerhalb der Kommunikation gehandelt (etwas mitgeteilt) hat und wer dabei erlebt (etwas beobachtet) hat. Eine solche Ve reinfachung genügt allerdings nicht mehr für anspruchsvollere Verknüpfungen der Kommunikation, wie sie die pädagogische Kommunikation in der modernen Ge­ sellschaft darstellt. Symbolisch generalisierte Kommunika­ tionsmedien weisen zu diesem Zweck typische Fixierungen der Ego/Alter-Konstellation bezüglich Handeln und Erleben der Teilnehmer auf. Die entsprechende Asymmetrisierung ist hier nicht nur rekursiv sondern auch prokursiv unter dem Gesichtspunkt der selektiven Verknüpfung der Kommuni­ kation mit Anschlußmöglichkeiten festgelegt. In kommunikativen Operationen, in denen Alters Handeln typisch an Egos Erleben anknüpft, dominiert der Personbezug in der Verknüpfung der Operationen. Diese Verknüpfung erlaubt eher Sozialsystembildungen vom Typ 15

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Nachdem die den Singular rechtfertigende Prämisse der Familie als Funktionssystem fallengelassen ist, spreche ich im Folgenden - analog zu Schulen - von Familien. Neokonservative Kritiker wie Lash haben Parsons mit der Umkehrung des Arguments angegriffen, das dieser für die funktionale Spezifikation der Familie vorbringt: Parsons (1968, S. 267-278) v.a. gegen Riesmans kulturpessimistische Darstellung gerichtete - Deutung, wonach die ge­ steigerte Permissivität der familialen Kommunikation (im Vergleich zu den rigideren Erziehungsmustern der trad. Familie) im Sozialisations­ prozeß gerade die erforderliche Steigerung der Leistungsorientierung verspreche, hält Lash nicht nur für Schönfärberei sondern für mitver­ antwortlich an deren Auflösung. (Lash, 1977, S. 159-196) Die Sozialis a­ tionskompetenz der Familie erscheint so nicht nur nicht steigerbar, son­ dern werde mit der Auflösung der traditionellen (multifunktionalen) Kompakteinheit mitzerstört.


K.G.: Die Familie als Erziehungsgemeinschaft der Gemeinschaft. Ein solcher Typ der Verknüpfung hat offensichtlich Vorzüge für den Zugang zu Kommunikation: er vereinfacht die Komplexität des Sozialen i.S. der Zurech­ nung auf Personen. Dieser Zugang ist daher auch in beson­ derer Weise geeignet, die Bedingungen der strukturellen Koppelung von Kommunikation und Bewußtsein im Hin­ blick auf die besonderen Probleme von ontogenetisch be­ stimmten (an organische Reifungsprozess gekoppelten) Entwicklungsprozessen des Bewußtseins zu gewährleisten. Er ist andererseits auch für Personen, deren organisch­ psychische Entwicklung abgeschlossen ist, eine regelmäßi­ ge Quelle regressiver (ggf. aber auch totalitärer) Orientie­ rungen. Dieser Typ ist jedoch wenig geeignet zur operativen Verknüpfung von Kommunikation i.S. funktionsspezifi­ scher Leistungserwartungen in der sozialen Umwelt. - Die Unterscheidung von Erwachsenen und Kindern Die spezifische Leistung der pädagogischen Kommunikati­ on läßt sich auf eine Unterscheidung zurückführen, die die gesteigerten Anforderungen der modernen Gesellschaft an Kommunikationsteilnehmer dokumentiert: die Unterschei­ dung zwischen Erwachsenen und Kindern. Es handelt sich auch historisch um die Ausgangsunterscheidung, mit der die pädagogische Kommunikation die Umstellung der Gesell­ schaft von stratifikatorischer auf funktionale Differenzie­ rung nachvollzieht.17 Diese Unterscheidung wird im laufen­ den Vollzug der Kommunikation nicht mehr reflektiert sondern gewöhnlich vorausgesetzt. Gerade deshalb kann eine reichhaltige Semantik der Kindheit sich entfalten, die die Erwachsenenwelt gewissermaßen ausblendet. Die vo r­ ausgesetzte Unterscheidung wird zum Medium der pädago­ gischen Kommunikation.18 Das Problem, auf das die Gesellschaft mit der Evolu­ tion eines Mediums für pädagogische Kommunikation rea­ giert, liegt in der durch die verlängerten Kommunikations­ ketten entstehenden Diskrepanz zu den gattungsge­ schichtlich ererbten Koppelungsbedingungen des Bewußt­ seins bei Kindern. Die Gesellschaft kann es sich nicht mehr leisten, diese Differenz einfach zu ignorieren - etwa durch Außervergleichstellen der kindlichen Kommunikationsve r­ suche bis zu einem bestimmten Alter - oder als mangelnde Perfektion zu behandeln und das entsprechende Verhalten negativ zu bewerten. Sie muß - gerade angesichts der dra­ matischen Zunahme der Disziplinanforderungen an Er­ wachsene unter den Bedingungen funktionaler Differenzie­

4 rung - dem kindlichen Bewußtsein und Verhalten einen eigenständigen Entwicklungsstatus zubilligen. Sie stellt die intergenerative Kommunikation fremdreferentiell auf Be­ wußtsein um19 und schafft damit kommunikative Sonder­ bedingungen für Kinder. Das spezifische Problem, auf das die moderne Gesell­ schaft mit Pädagogik reagiert, liegt also nicht - wie immer schon pädagogisch orientierte Theorien konstruieren20 - in der Besonderung des Lebens von Kindern sondern im Strukturwandel der Gesellschaft selbst. In den traditionell vorgesehenen Zeiträumen für ontogenetische Entwicklung kann nicht genügend Lernfähigkeit entwickelt werden, um eine von solchen Zumutungen freie Erwachsenenrolle zu erlangen. Die prägenden Eindrücke in der kindlichen Ent­ wicklungsphase müssen gerade deshalb in der Moderne pädagogisch so vorsichtig, mit Empathie und Permissivität gehandhabt werden, weil auch die moderne Erwach­ senenrolle nicht von weiteren Lernanforderungen verschont bleibt. Das Problem liegt deshalb nicht mehr in der Abwe i­ sung von Fehlverhalten sondern gerade in dessen gezielter Tolerierung. Es handelt sich um eine Kommunikation, in der es erlaubt ist, Fehler zu machen und daraus zu lernen.21 Gemessen am neuen Standard der Erwachsenenkommuni­ kation fehlerhaftes Verhalten kann nun altersabhängig tole­ riert werden - und dies gerade mit dem Ziel, das zum Errei­ chen des Erwachsenenstandards nötige Lernen nicht zu blockieren. - Die Zentrierung der familialen Kommunikation auf Kinder Die Ego-Alter-Konstellation der pädagogischen Kommuni­ kation stimmt historisch nicht zufällig mit der der Intim­ kommunikation überein. Die familiale Liebessemantik ist durch eine Phase der symbiotischen Koppelung von roman­ tischer Liebe und Liebe zum Kind gegangen, bevor sich ­ deutlich erst im 20. Jahrhundert in den entwickeltsten Län­ dern - die Liebeskommunikation der Paarbeziehung aus der familialen Kommunikation ausdifferenziert.22 Die Paarbe­ ziehung kann damit nicht mehr als ein Subsystem der Fami­ lie sondern nur noch als ein System beschrieben we rden, das in loser Koppelung mit Familiensystemen externe Res­ sourcen für deren Sozialisationsleistung zur Verfügung stellt. 23 Die funktionierende Paarbeziehung der Eltern kann 19 20

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Die einschlägigen, in vieler Hinsicht aber divergenten Deutungen der Sozialgeschichte der Familie und Erziehung von Snyders, Ariés, DeMause, Shorter, Badinter u.a. konvergieren in dem Punkt, daß die Unter­ scheidung von Kindern und Erwachsenen den Eintritt in die Moderne markiert. Vgl. dazu Luhmann, 1991, wo allerdings die Codierbarkeit des Medi­ ums bestritten wird. - Luhmanns Titelformulierung "Das Kind als Me­ dium der Erziehung" klingt nach Provokation für antipädagogische Em­ pörung. Es geht aber gar nicht um das Kind als selbstbewußtes und leib­ haftes Wesen sondern um die evolutionäre Errungenschaft einer Unter­ scheidung, die so selbstverständlich gehandhabt wird, daß sie normaler­ weise gar nicht bemerkt wird. Die lose Koppelung von Elementen, auf die jede Medienbildung rekurriert, besteht im Falle symbolisch generali­ sierter Kommunikationsmedien v.a. in der Auflösung herkömmlich fest­ gekoppelter Sinnelemente. Im Falle von Kindheit als Medium der päd­ agogischen Kommunikation, besteht diese Koppelung darin, daß die zugrundeliegende Unterscheidung nicht mehr die zwischen X als dem Kind von Y (Abstammungslinie) sondern die zwischen Kind und Er­ wachsenem ist. Erst damit werden universell wirksame funktionsspezifi­ sche Formbildungen ermöglicht.

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Deren traditionelle Form bildet ja eine auf Strukturen der Kommunika­ tion bezogenene Kompakteinheit ohne explizite Bewußtseinsreferenzen. Die Plausibilität vieler pädagogikkritischer Theorien basiert auf der latenten Verwendung des pädagogischen Codes. Der wohl bekannteste Fall ist zu erkennen in Ph. Ariés Beschreibung der Kindheit im Europa des 18. Jh. wenn er diese Entwicklung mit der Unterdrückung von Kin­ dern gleichsetzt. Die Pädagogisierung versteckt sich in der rückwärts­ gewandten Stilisierung der mittelalterlichen Gesellschaft zu einer kind­ gerechten Umwelt. Ein ähnliches Argumentationsmuster findet sich schon bei M. Mead für Stammesgesellschaften - und wohl der Prototyp bei Rousseau in der Pro jektion auf natürliche Ursprünge. Selbstverständlich soll nicht bestritten werden, daß Formen der Fehlertoleranz auch in nichtpädagogisch definierter Kommunikation gepflegt werden. Aber nicht in so hochorganisierter Weise und nicht mit der expliziten Funktion, Lernprozesse zu ermöglichen. Vgl. hierzu allg. Tyrell, Herlth, 1993 - Die alte Regel, wonach Kinder als Mittel zur Stabilisierung der heterosexuellen Personengemeinschaft von zwei Erwachsenen (als „Ehe-Kitt“) fungieren, wird heute bekannt­ lich von der Scheidungsstatistik widerlegt.Vgl. Beck-Gernsheim, 1993, S. 159ff Luhmann räumt dagegen der Gattenbeziehung innerhalb der Familie eine Sonderstellung ein: Nur sie kann sich als Subsystem ausdifferenzie -


K.G.: Die Familie als Erziehungsgemeinschaft als glückliche Voraussetzung, aber nicht mehr als Normal­ bedingung familialer Kommunikation beschrieben we r­ den.24 Das Kind ist der Zweck der modernen Familie, der keine anderen Zwecke - auch keine romantische Liebe ­ neben sich duldet. Egos Handeln bezieht sich zwar wie im Falle der intimen Liebe auf Alters Erleben. In der familialen Kommunikation ist diese Ko nstellation aber nicht symme­ trisch reziprok angelegt. Pädagogisches Handeln und Erle­ ben sind rollenspezifisch ausgelegt, Ego und Alter - schon in der Familie - nicht austauschbar. Pädagogische Kommu­ nikation impliziert einen Verzicht auf Reziprozitätsbedin­ gungen, wie sie die Erwachsenenliebe kennzeichnet. Sie verlangt eine asymmetrisch angelegte Empathie auf seiten der Erwachsenen. Die historische Form dafür bietet zu­ nächst die individualisierte Liebe der Eltern zum Kind. 25 In der modernen Elternliebe zum Kind findet sich einerseits das Motiv der naturhaften Bindung, das sich gegenüber den Kontingenzen der Liebespartnerschaft profiliert und ande­ rerseits eine Form der Entlastung der Eltern von der Ve r­ antwortung für Handlungsfolgen (Kinder in die Welt gesetzt zu haben) die als reflektierte Wahrnehmung zukünftiger Lebensbedingungen gar nicht zu tragen wäre. Historisch zeigt sich dieses Motiv schon in der Dele­ gitimierung des Weggebens von Kindern - an Ammen oder Findelhäuser - und in der Zurechnung von Verantwortung für den Nachwuchs als Folge sexueller Kommunikation. Diese Verantwortung wird v.a. dadurch verarbeitet, daß Eltern ihre Kinder lieben. Die Liebeserwartung ist zwar reziprok aber doch asymmetrisch in der Familie verteilt: Von den Eltern wird Liebe zu ihren Kindern als selbstve r­ ständliche Pflicht erwartet.26 Nur dadurch, daß sie ihre Kin­ der lieben, können sie die Verantwortung für die riskanten Folgen ihrer sexuellen Kommunikation übernehmen. Wenn sich dann auch von seiten der Kinder Liebe zu den Eltern ren, weil keine andere Beziehung in der Familie so die „Idee der Perso­ nengemeinschaft“ repräsentiere (1990a S.213) - M.E. läßt sich das Ar­ gument umkehren: Weil die Eltern-Kind-Konstellation das konstitutive Moment der Familienbildung ist und sich in jeder Systemoperation (als grenzbestimmend - hier gilt Permissivität und anderswo nicht!) reprodu­ ziert, kann es keine Subsysteme geben, die von dieser Konstellation (mit einem anderen Code) abweichen. 24

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Die systemtheoretische Beschreibung der Eltern-Kind-Gemeinschaft als Kern der Familie schließt hohe Sozialisationsrelevanz einer funktionie ­ renden Paarbeziehung der Eltern nicht etwa aus. Sie schließt sie im Par­ sonschen Sinne sogar ein, da gerade diese Ressource den Eltern die not­ wendige Balance in der pädagogischen Kommunikation erlaubt. Ohne sie bestünde die Gefahr, daß die Eltern ihre eigene Regressionsbereit­ schaft in der Eltern-Kind-Kommunikation überziehen. (Bekanntlich stecken in dieser Motivlage der Eltern auch jene Abweichungsrisiken, Instrumentalisierungen des Kindes für eigene psychische Bedürfnisse, die heute in der familientherapeutischen Literatur viel beschrieben wer­ den.) Für die Bestimmung der Systemgrenzen ist die biologische Bipa­ rentalität aber unerheblich und bekanntlich auch empirisch immer häufi­ ger nicht gegeben. Es handelt sich um eine externe Ressource, über de­ ren Gegebenheit das Familiensystem operativ nicht verfügen kann. Ohne das Motiv der Liebe wäre die situationsbezogene Austauschbar­ keit beider Seiten des pädagogischen Primärcodes, v.a. das Gewähren in der Elternrolle nicht durchhaltbar, während der Pädagoge in der profes­ sionalisierten Rolle die gewährende Einstellung mittels zeitlicher Be ­ schränkung eher durchhalten kann. Zur Unterscheidung zwischen Lie ­ bescode und pädagogischem Code in der familialen Kommunika tion s.Gilgenmann, 1993, S.64-82 In der alteuropäischen Form der Haushaltsfamilie war diese Erwartung noch eher umgekehrt verteilt: die Eltern konnten Dankbarkeit für Auf­ zucht und prospektives Erbe erwarten. Die moderne Liebe zum Kind fungiert ein Stück weit als Äquivalent für die eigentumsgeschützten So­ zialchancen des alteuropäischen Nachwuchses.

5 einstellt, so kann dies als nachträgliche Einwilligung zu der Handlung gewertet werden, die sie zur Welt brachte.27 Die Liebe der Kinder zu ihren Eltern wird deshalb zwar auch erwartet, sie muß sich jedoch gewissermaßen spontan ein­ stellen, damit sie als Bestätigung innerhalb der Zurech­ nungsregeln der familialen Kommunikation gewertet we r­ den kann. Die hier beschriebene Asymmetrie findet sich in ve r­ allgemeinerter Form wieder in der typischen Ego-AlterKonstellation der pädagogischen Kommunikation - also auch jenseits der Familie. Egos (pädagogisches) Handeln bezieht sich regelmäßig auf Alters (kindliches) Erleben. Selbst wenn Alter nach üblichem Verständnis Handlungs­ folgen gezeitigt hat (die Vase ist kaputt!) wird Ego die Zu­ rechnung von Verantwortung dafür am Entwicklungsstand der kindlichen Wahrnehmung relativieren. Die Motive der familialen Liebessemantik werden in der pädagogischen Kommunikation - insbesondere dann in der Schule28 - zu­ rückgedrängt zugunsten einer generalisierten und sachlich respezifizierten Permissivität. Allerdings steckt in der Wahrnehmung des Kindes als hilfsbedürftigem Wesen das generalisierbare Motiv, das die evolutionäre Errungenschaft der pädagogischen Ego-Alter-Konstellation absichert und es ermöglicht, diese unwahr scheinliche Form der Kommu­ nikation dann von leiblicher Elternschaft abzulösen.29 3. Differenz und Einheit pädagogischer Kommunikation Die Zuordnung der Familie zum Bildungssystem setzt vo r­ aus, daß als Folge gesellschaftlicher Differenzierungspro­ zesse strukturelle Koppelungen verschiedener Systeme innerhalb desselben Funktionszusammenhangs gegeben sind: Familie und Schule verwe nden dieselbe Primär­ unterscheidung zur Abgrenzung von nichtpädagogischer Umwelt.30 Das moderne Bildungssystem kombiniert dabei zwei historisch voneinander unabhängige Entwicklungen: Die Ausgrenzung eines sozialen Schonraums für Kinder ­ prototypisch in Pestalozzis "Kindergarten" - und die Aquisi­ tion von Berufszugängen - prototypisch in den universitären Examina für die Professionen der Kleriker, Juristen, Medi­

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So hielt es schon Kant für eine „notwendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir, eine Person ohne ihre Einwil­ ligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben; für welche Tat auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haf­ tet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu ma chen.“ Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Das Elternrecht, (1797) Kant Werke Bd. 7 Darmstadt 1956 S. 393 (Hinweis aus Prange, 1991, S.88) Dafür, daß es sich in der Schule nicht um Liebeskommunikation handelt s. zB. Dreeben, 1980 S. 30 In den avanciertesten Formen der Ausdifferenzierung des modernen Bildungssystems wird die Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern soweit flexibilisiert, daß das Pädagogische im Erwachsenenle­ ben wiederkehrt als lebenslange Lernerwartung. Diese Form darf jedoch nicht verwechselt werden mit traditionellen Bildungsformen, die den Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern gar nicht kannten. Daß es sich um strukturelle Koppelung und nicht um Teilsystembildung i.S. eines Verhältnisses von Teil und Ganzem handelt, ergibt sich m.E. daraus, daß Erziehungsgemeinschaft und Schulorganisation ihre Sy­ stemgrenzen in der Auslegung auf Handlungsanschlüsse jeweils anders und operativ auf einer anderen Ebene vollziehen als das Funktionssy­ stem. Sozialsysteme wie Familie und Schule, denen Handlungsverant­ wortung zugerechnet wird, können zwar müssen aber nicht nur einem Funktionssystem zugeordnet sein (vgl. Universitäten)


K.G.: Die Familie als Erziehungsgemeinschaft ziner etc.31 Die bildungsinterne Selektion durch Prüfungen repräsentiert die Umweltrelevanz des Systems und sichert zugleich seine Autonomie (zB. gegenüber der Selektivität der Wirtschaft). Diese Autonomie selbst - wie auch die altersspezifische Stufung seiner Organisationen - bleibt bezogen auf die pädagogische Idee der Permissivität. Wer an pädagogischer Kommunikation teilnimmt, hat schon gelernt, sie von anderer Kommunikation zu unter­ scheiden. Woran ist pädagogische Kommunikation zu er­ kennen? Jedenfalls nicht allein daran, daß sie in der Schule stattfindet, denn das würde zu Vieles - zB. die Familie ­ ausklammern. Und auch nicht daran, daß sie mit der Ab­ sicht verbunden ist, das Bewußtsein und Verhalten eines Menschen zu verändern, denn das würde zu Vieles - z.B. jede Machtausübung - einschließen. Die Absichtlichkeit der Erziehung - im Unterschied zu bloß mitlaufender Sozialisa­ tion - ist zweifellos ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. Jedoch ist gerade dies nicht auf den ersten Blick erkenn­ bar.32 Es muß sich um eine Form handeln, die gewisserma­ ßen auf einen Blick erkennbar macht, daß es sich um Päd­ agogik - und nicht zB. um eine Therapie oder ein Verkaufs­ gespräch oder um Liebespartnerschaft - handelt. Die Vor­ aussetzungen für solche selektiven Formbildungen bieten die Binärcodierungen des Mediums. Obwohl Kindheit seit Ariés als eine Erfindung der frühen Moderne gilt, läßt sich von einem Kommunikati­ onsmedium, das den Leistungserfordernissen eines moder­ nen Funktionssystems entspricht, erst sprechen, seit es auch binäre Codierungen aufweist. Binärcodierungen vereinfa­ chen die Unterscheidung und ermöglichen andererseits die Reflexion am Gegenwert. Mediencodes enthalten keine neuen Informationen, sondern nur Mitteilungen. Wenn das Kind versteht, daß es in einer bestimmten Situation etwas darf, was es sonst nicht darf (oder was Erwachsene nicht dürfen) dann versteht es dies nur, weil es den Informati­ onsgehalt dieser Mitteilung schon kennt und das Neue der jeweiligen Situation auf diesem Hintergrund zu verstehen gelernt hat. Allerdings genügt es nicht - wie im Falle der zugrundeliegenden Unterscheidung zwi schen Erwachsenen und Kindern - die Unterscheidung blind zu vollziehen. Wer einen Mediencode benutzt, nimmt damit schon die Position eines Beobachters ein (ohne dies reflektieren zu müssen). Anderenfalls könnte das System der pädagogischen Ko m­ munikation sich nicht von Ereignissen in in seiner Umwelt unterscheiden. - Permissivität

6 sich mit entsprechenden Erwartungen aus­ einanderzusetzen.33 Paradoxerweise zeigt sich jedoch als primäres Muster der pädagogischen Kommunikation eher das der "verzögerten Entwicklung", das "psycho-soziale Moratorium"34. Nicht der Schnellentwickler sondern der "Spätentwickler" ist das Vorbild der pädagogischen Ko m­ munikation. Es handelt sich - ähnlich wie in anderen Fällen funktionssystemisch spezialisierter Kommunikation - um das allgemeinere Muster der Funktionssteigerung durch Beschränkung: Indem der Abschluß von Individuationspro­ zessen "künstlich" - dh. durch bestimmte Arrangements der Kommunikation - verzögert wird, wird die angelegte Lern­ fähigkeit des Menschen gesteigert. Das pädagogische Handeln bezieht sich auf das Erle­ ben des Zöglings. Es wird - trotz aller irritierenden Assozia­ tionen der tradierten Semantik35 - gewöhnlich als Erziehung bezeichnet. In wissenschaftlicher Perspektive kann der Pri­ märcode der pädagogischen Kommunikation genauer als Permissivitätscode bezeichnet werden. Im Bereich der fami­ lialen und außerfamilialen Erziehung besteht die binäre Codierung aller pädagogischen Kommunikation in der Al­ ternative, dem Kind die Folgen seiner eigenen Handlungen zuzurechnen oder nicht zuzurechnen. Einerseits we rden bestimmte Handlungsfolgen Kindern nicht zugerechnet, d.h. sie dürfen aus Fehlern lernen, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen. Andererseits gibt es bestimmte Handlungs­ folgen, die auch Kindern zugerechnet werden, d.h. auch sie müssen bei Normabweichungen mit Sanktionen rechnen. Aber es handelt sich um andere Normen, als sie in ve r­ gleichbaren Situationen für Erwachsene gelten würden. Der Binärschematismus, der hier primär wirksam wird, zeigt sich in der pädagogischen Alternative: Gewähren oder Nichtgewähren. Diese Alternative sollte nicht verwechselt we rden mit dem alteuropäischen Schema erlaubt/nichterlaubt.36 Ge­ währt wird nicht etwa alles, was nicht verboten ist, sondern alles, was der Entwicklung des Bewußtseins förderlich sein könnte. Das Binärschema ist zwar wertfrei aber nicht sym­ metrisch konzipiert.37 Die pädagogische Permissivität läßt 33 34

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Mit Bezug auf den raschen gesellschaftlichen Wandel als Charakteristikum der Moderne wird dem Bildungssystem gewöhnlich eine Beschleunigungsfunktion im Hinblick auf diesbezüglich erforderliche Entwicklungsprozesse der Men­ schen zugeschrieben. Außerhalb der pädagogischen Kom­ munikation gilt ja allemal die schnellstmögliche Entwick­ lung der Individuen als Vorteil. Das Bildungssystem hat 36 31

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Zur zunehmenden externen Relevanz von Prüfungen und Graduierungen im Übergang von der spätmittelalterlichen zur frühmodernen europäi­ schen Universität vgl. Stichweh 1991, S. 341ff Sondern erst aus der Perspektive eines (wissenschaftlichen) Beobach­ ters, der beobachtet, wie mit Hilfe von funktionsspezifischen Codes zwi­ schen Fremd - und Selbstreferenz der pädagogischen Kommunikation unterschieden wird. Ich ordne deshalb die "pädagogische Absicht" der selbstreferentiellen Seite des Primärcodes zu. Vgl. Luhmann,1992, S.102-124

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S. die Forderungen von Wirtschaft und Politik an eine Verkürzung der institutionalisierten Bildungszeiten. Ein von E.H. Erikson geprägter Terminus, der bevorzugt in der Jugend­ soziologie Verwendung findet. Auch hier kehrt die Semantik des päd­ agogischen Primärcodes wieder, die schon in pädagogischen Bezeich­ nungen wie "Provinz", "Schonraum" enthalten ist. Die im Deutschen eingeführte Bezeichnung Erziehung bleibt semantisch unscharf - auch im Vergleich zu der stärker aufklärungsorientierten Be­ zeichnung "education". Mit der Assoziation von Zucht und Züchtigung enthält die tradierte Semantik der Erziehung noch viel von der Am­ bivalenz der vormodernen intergenerativen Kommunikation. Die Asso­ ziationen an das alteuropäische Verständnis werden häufig zum An­ knüpfungspunkt für vermeintlich "antipädagogische" Argumentation, die nicht wahrhaben will, daß die inkriminierte "pädagogische Interven­ tion" sich gar nicht auf das Bewußtsein des Zöglings sondern auf das soziale Arrangement bezieht, in dem sein Be wußtsein sich entwickeln soll. Die Binärcodierung schließt nicht aus, daß dieselbe Differenz - etwa in der Alternative erlaubt/verboten - auch in anderer Kommunikation (zB. in Strafanstalten, Hausordnungen, StVerkehrsordnung etc.) vorkommt, dann jedoch nicht als Codierung (des funktionssystemischen Mediums) sondern als untergeordneter Teil eines anderen Mediums oder als einfa­ che Beobachterunterscheidung (wie zB. die wahr/unwahr-Diffe renz jen­ seits der Wissenschaft). Entgegen dem verbreiteten antipädagogischen Ressentiment besteht das vorrangige Mittel ja nicht in Be strafungen sondern in der gezielten Frei­ stellung von Sanktionen, die bei Erwachsenen auf vergleichbare nor­ mabweichende Handlungen erfolgen würden. In der pädagogischen


K.G.: Die Familie als Erziehungsgemeinschaft sich deshalb auch nicht als eine Art Wegsehen des Pädago­ gen vom Handeln des Kindes deuten. Das pädagogische Gewähren ist ein aktiver Vorgang. 38 Es setzt sich in päd­ agogischen Programmen um, die in die kommunikative Umwelt des Kindes eingreifen. Der Unterschied läßt sich gerade daran erkennen, daß das Gewährenlassen die Posi­ tivseite des Codes bildet. Es geht vorrangig darum, daß hier etwas erlaubt ist, das sonst - unter dem Druck einer auf Bewußtseinsentwicklung nicht eingestellten sondern diese immer schon voraussetzenden Umwelt - nicht erlaubt wäre. Die pädagogische Permissivität wird relevant im Kontext einer Gesellschaft, die dem kindlichen Bewußtsein sonst keine adäquaten Entwicklungs bedingungen gewähren kann. Es konstruiert positiv eine Welt ohne Differenzen (dh. ohne Sanktionen, wenn Differenzen mißachtet werden) und ve r­ weist zugleich negativ schon darauf, daß diese Welt Gren­ zen hat.39 Der Erfolg der pädagogischen Kommunikation ba­ siert offenbar darauf, daß das Kind etwas darf, was es au­ ßerhalb pädagogischer Kommunikation nicht darf. Jedoch ist diese Permissivi tät durch die Binärcodierung verknüpft mit einer wesentlichen Einschränkung, die sich im Nega­ tivwert ausdrückt: Es wird erwartet, daß das Kind auch weiß (oder zu wissen lernt), was es nicht darf. Es darf Fehler ma­ chen, die Erwachsenen nicht unterlaufen dürfen, aber es soll daraus auch lernen. Diese im Erstcode schon angelegte Be­ schränkung wird in der Zweitcodierung ausgebaut i.S. einer erneuten Verzweigung in Positiv- und Negativwert. Schon im Rahmen familialer Kommunikation setzt die Entschei­ dung über Anlässe, bei denen die Permissivi tät endet und ein Verbot sanktionswirksam aufgerichtet wird, ein pädago­ gisches Programm vo raus, das den Wechsel vom Positiv­ zum Negativwert begründet. Solche Programme bleiben jedoch im Rahmen familialer Kommunikation gewöhnlich latent, werden nicht generalisiert, nur an Fallgeschichten rekonstruiert. Die pädagogische Kommunikation reagiert in der Familie auf Anlässe und Gelegenheiten, während die Schule sich ihre Anlässe selber (als Unterrichtsmethode)

Theorietradition wird derselbe Sachverhalt auch mit der Formel vom "Wachsenlassen" - im Unterschied zur traditionellen pädagogischen In­ tervention - bezeichnet. Diese Semantik ist jedoch nicht verwendbar für die Codierung des Mediums, weil die polemische Frontstellung zur In­ terventionspädagogik eine pädagogische akzeptable Negativfassung noch ausschließt. 38

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Der operative Charakter des Gewährens läßt sich am Beispiel der päd­ agogisch-ideengeschichtlichen Referenz auf Rousseaus "Emile" deutlich machen: Gerade der mythische Charakter dieser Konstruktion, auf den sich die moderne Pädagogik (v.a. die romantische Tradition im Unter­ schied zur interventionsfreudigeren Tradition der Aufklärung) zurückbe­ zieht, der "Naturzustand" in dem das Kind sich (seine Anlagen) am be­ sten selbst entwickelt, erweist sich ja (und das hat die Pädagogik inzwi­ schen selbst bemerkt) in seiner praktischen Konsequenz als totalitäre Konstruktion. Ohne Eingriff kann hier nichts wachsen. Die moderne Pädagogik beschränkt den Eingriff deshalb auf ihr Funktionssystem. Da die funktionale Differenzierung der Gesellschaft an Tiefen- und Breitenwirkung noch ständig zu nimmt, lassen sich bedeutsame Ve r­ schiebungen in der Semantik des Primärcodes der pädagogischen Kom­ munikation von der Frühmoderne bis zur Ge genwart feststellen. So gerät das pädagogische Gewährenlassen heute in zu nehmende Konkurrenz mit den permissiven Weltkonstruktionen der neuen Mitteilungsmedien (ih ­ ren Werbebotschaften, ihrem Unterhaltungsangebot) während es sich in der Frühmoderne noch abgrenzte von der fami lialen "Verwöhnung" des Kin des. Ge rade diese Entwicklung läßt sich stärker an der Negativseite des pädagogischen Primärcodes, an dem was aus pädagogischen Grün­ den nicht gewährt werden soll (zB. kein Fernsehen!) ablesen.

7 schafft. Hier müssen die Programme daher ausformuliert und die Grenzen ihrer Anwendbarkeit behandelt werden.40 - Selektion Die pädagogische Kommunikation weist deutlich unter­ scheidbare Verknüpfungen auf, je nachdem, ob ein Ereignis in der Eltern-Kind-Gemeinschaft Familie oder in der Leh­ rer-Schüler-Organisation Schule thematisiert wird. Wie immer bei struktureller Koppelung kann die Kommunikati­ on in verschiedenen Systemen sich in verschiedener Form auf dasselbe Ereignis beziehen. Die Verknüpfung über den Positivwert des Permissivitätscodes bringt den epochalen Erfolg der pädagogischen Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert zum Ausdruck. Die Ausdifferenzierung dieser unwahrscheinlichen Formen der Kommunikation und die Stabilisierung der Systemautonomie wird erst mit dem Se­ lektionscode möglich, der die Leistungserwartungen der Umwelt in pädagogische Kommunikation transformiert. Historisch kommt das permissive Erziehungsver­ ständnis erst durch seine Verbreitung über schulische Orga­ nisation zu gesellschaftsweiter Wirksamkeit.41 Organisati­ onssysteme steigern die Leistung von Kommunikation durch rekursive Verknüpfung von Entscheidungen - im Vergleich zu der Situationsabhängigkeit von Teilnahme und Entscheidungsverfahren in Interaktionssystemen. Die Schu­ le als Organisation ermöglicht methodischen Unterricht für alle Kinder mit austauschbarem Personal in den (bezah­ lungsmotivierten) Funktionsträgerrollen. Gerade mit dieser Wirkung über den beschränkten Rahmen der Interaktion unter Anwesenden hinaus nimmt die pädagogische Kom­ munikation Formen an, die ihren Erfolg ins Unwahrschein­ liche verlagert. Im Kontext der Ausdehnung der pädagogi­ schen Kommunikation im Massenschulwesen zeigen sich Grenzen (der Leistungsfähigkeit) des pädagogischen Pri­ märcodes.42 Die Seite des Nichtgewährens kann hier nicht mit dem "Mantel der Liebe" zugedeckt werden. Die Ve r­ wendung des Negativwerts muß in allgemeinerer Weise gerechtfertigt werden als in der familialen Interaktion. Die für solche Rechtfertigung geeigneten Programme setzen eine andere Unterscheidung als die des Primärcodes voraus, nämlich die zwischen besseren oder schlechteren Schüler­ leistungen. Während der Primärcode das pädagogische Handeln allgemein auf das Erleben des Kindes bezieht, setzt 40 41

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In Reflexionstheorien - die als allgemeine Selbstbeschreibungen des Funktionssystems dann die Familie wieder einbeziehen. Dieser Umstand wird in der pädagogischen Theorietradition gerade deshalb vernachlässigt, weil der Personbezug - die Erzieher-ZöglingInteraktion - im Vordergrund steht. Der in Luhmanns Beschreibung der Familie als exklusiv herausgestellte „Idee der Personengemeinschaft“ (1990a, S. 213) bestimmt in der pädagogischen Ideengeschichte auch die Wahrnehmung der Schule. Reflexionsdefizite zeigen sich in der Ve r­ kennung des Umstands, daß dieser Personbezug in der Schule - sukzes­ sive und sozialisationswirksam - zugunsten des Sachbezugs einge­ schränkt werden muß, wenn über Selektionsentscheidungen der Schule als Organisation (qua Zweitcodierung der pädagogischen Kommunikati­ on) die Le istungsorientierung in Bildungsprozessen zum Zuge kommen soll. Probleme der Differenzierung von Referenzen und Codewerten beim Erstcode könnten als evolutionäre Auslöser für die Zweitcodierung mit ­ gespielt haben. Beim Erstcode ist ja nicht nur der pädagogische Fremd ­ bezug - das Erleben des Kindes - stark personbezogen sondern auch der Selbstbezug der Kommunikation stark interaktions- und damit person­ abhängig. Beim Zweitcode kann der Selbstbezug stärker gegenüber Per­ sonen abstrahiert werden. Im Positiven wie im Negativen bezieht sich die codierte Kommunikation auf Organisationsleistungen und nicht mehr primär auf Personen.


K.G.: Die Familie als Erziehungsgemeinschaft die Zweitcodierung des Mediums in fremdreferentieller Perspektive am Bewußtsein des Kindes in (mit den Mitteln der Entwicklungspsychologie verallgemeinerter) Form an. Der Zweitcode beschränkt die Permissivität des Erstcodes durch die regelmäßige Bewertung schulischer Leistungen des Kindes.43 Der Funktionsverlust der Familie als Inklusionsin­ stanz der Gesellschaft wird aufgefangen durch die zuneh­ mende Inklusionsrelevanz des Bildungssystems insgesamt für die Selektion von Berufs- und Lebenschancen. In der Außenwahrnehmung erscheint die Schule deshalb auf das Engste verknüpft mit ihrer Selektionsfunktion. 44 Dennoch bleibt auch in der Form der Zweitcodierung der Primat des Permissivitätcodes erhalten. Er liegt in der Relativierung pädagogischer Selektionsentscheidungen am Entwicklungs­ stand des Kindes.45 In der Zweitcodierung des Mediums für pädagogische Kommunikation erscheint das Nichtge­ währen, der Negativwert des Primärcodes, nicht mehr nur als Gegenwert, der Situationen markiert, in denen die Per­ missivität endet, sondern zugleich als Markierung von Ope­ rationen, mit deren Hilfe das Bildungssystem sich auf Er­ wartungen in seiner Umwelt bezieht.46 Im Negativwert des Primärcodes ist diese Grenze als Reproduktion der Sy­ stem/Umwelt-Beziehung zwar schon eingeschlossen. Sie wird jedoch im Zweitcode erst operationsförmig spezifiziert in Abgrenzung von den Leistungserwartungen der Um­ welt.47 Die pädagogische Primärkonstruktion einer Welt ohne (sanktionswirksame) Differenzen wird relativiert durch die Markierung der Grenzen. Diese Grenzziehung ist die eigentliche, anschlußsichernde Funktion des Zweitcodes - und nicht die Bewertung der Schüler.48 In der Form der Zweitcodierung des Mediums sichert sich die pädagogische Kommunikation ihre Systemautonomie gegenüber einer 43

Bei Luhmann stellt der Selektionscode den einzigen Code dar, über den die pädagogische Kommunikation verfügt. Da sie jedoch nicht insge­ samt durch diesen Code strukturiert werden kann, bleibt das Bildungssy­ stem in dieser Darstellung defizitär. Vgl. Luhmann, 1987

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Hier weicht die Alltagsbeobachtung am stärksten von der pädagogischen Theorietradition ab, in der die Familie als das „natürliche“ Modell der Pädagogik galt. In biographischer Perspektive läßt sich die Wirkung des pädagogischen Primärcodes mit der Unterscheidung von Kontinuität und Diskontinuität darstellen: Im Übergang von Familie zu Schule erscheint ein sozialisati­ onswirksame r Bruch (vgl. dazu ausf. Dreeben, 1980). Daß demgegen­ über auch die schulische Kommunikation noch permissiv bestimmt ist, wird erst aus der Perspektive des Übergangs zum Berufsleben erkenn­ bar. Die Zweitcodierung der pädagogischen Kommunikation setzt am Nega­ tivwert des Primärcodes (dem Nichtgewähren) an und macht diesen zur Grundlage der Verknüpfung von Kommunikation nach dem Muster von Entscheidungen. Dieser Negativwert setzt, wenn er zur Grundlage von Verknüpfungen der päd. Kommunikation wird, eher an der Informati­ onsseite der Grundoperation an - Der Negativwert hat mehr Informati­ onswert als der Positivwert des Codes, weshalb ihn Luhmann als Refle ­ xionswert bezeichnet. Daher hier auch seine Relevanz für Entscheidun­ gen. Auch für den Selektionscode gilt, daß der Positivwert den Erfolg ma r­ kiert. Der Primat des Permissivitätscodes für die pädagogische Kommu ­ nikation bleibt jedoch auch in der Schule erhalten. Das läßt sich gerade am Negativwert des Selektionscodes erkennen, der eben nicht nur ein­ fach Mißerfolg in der Schule sondern (v.a. in der Art und Weise der Be­ handlung des Mißerfolgs) noch die Differenz zu außerschulischen For­ men der Leistungsbewertung markiert. Deshalb läuft die Diskussion über Gerechtigkeit oder "Objektivität" schulischer Bewertungen leer und blockiert die bildungspolitisch wichti­ gere Frage, wie mit den unerwünschten Folgen der Selektionsfunktion im System umzugehen wäre.

8 Umwelt, die sonst die Verteilung von Bildungs-, Berufs­ und Lebenschancen auch ohne pädagogische Mitwirkung regeln würde. - Stabilität durch Differenzierung Die Beschreibung der Familie als pädagogischer Einrich­ tung war lange Zeit bestimmt durch die polar isierte Wahr­ nehmung der Familie als natürlicher Gemeinschaft gegen­ über der Schule als staatlich organisierter Massenorganisa­ tion. Der Konfliktdiskurs wurde von zwei Seiten vorange­ trieben: Im reformpädagogischen Diskurs wird (seit der Aufklärung) versucht, die Schule als einer Art pädagogi­ scher Übergemeinschaft zu deuten.49 In den progressiven Phantasien der Reformer erscheint die Familie bis heute als Hindernis zur Emanzipation (der Frau, des Kindes oder der ganzen Gesellschaft). Auf der anderen Seite erscheint die Schule im konservativen Diskurs als eine Agentur des Staa­ tes, der die natürliche Gemeinschaft der Familie bedroht. Pädagogische Kommunikation soll ihren Platz in der Schule haben und gilt schon als „entartet“, wenn sie auch auf die Familie übergreift. Da die neo/konservativen Beschreibun­ gen als Reaktion auf den reformpädagogischen Diskurs entstehen, reproduzieren sie häufig nur die überzogene Selbstbeschreibung der Pädagogik mit umgekehrter Wer­ tung. 50 Funktionssysteme sind vermutlich umso stabiler, je besser es ihnen gelingt, die Differenzierung zwischen Lei­ stungs- und Identitätsangeboten der Kommunikation intern zu vollziehen - also die Gemeinschaftskommunikation zu integrieren51 - statt sie zu externalisieren und dann mit ihr als einem externen (diffus-totalitären) Beobachter konfron­ tiert zu werden. Die Unterscheidung von Erwachsenen und Kindern als Medium der pädagogischen Kommunikation bietet die übergreifende Hintergrundstruktur für eine solche Differenzierung. 52 Die strukturelle Koppelung bleibt jedoch historisch solange prekär, wie die Binnendifferenzierung des Bildungssystems in Familien und Schulen nicht durch eine entsprechende Ausdifferenzierung funktionssystemi­ scher Codes abgesichert ist. Die Polarisierung löst sich erst auf mit der Durchsetzung der - quer zur Differenz von Schule und Familie stehen - Differenzierung zwischen Erst­ und Zweitcodierung der pädagogischen Kommunikation. Mit der konservativen Rede von der Familie als „Keimzelle“ der Gesellschaft war stets gemeint, daß in dieser naturwüchsigen Gemeinschaft die Bindemittel be­ reitgestellt würden, ohne die der gesellschaftliche Zusam­ 49

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Vgl. in diesem Sinne Pranges Pestalozzi-Kritik (1990, S.92ff) ausführ­ licher in diesem Sinne: Hans-Christoph Koller, Die Liebe zum Kind und das Begehren des Erziehers, 1990, DSV, Weinheim Im konservativ-antipädagogischen Diskurs wird darüberhinausgehend versucht, Schule als Instrument des Elternwillens zu restaurieren. Eine Integration als „Parasit“ des Funktionssystems - wie Luhmann dies am verwandten Fall der Konfliktkommunikation beschrieben hat - vgl. 1984, S. 488ff, insbes. 531 Die Ausdifferenzierung der Schule als Leistungsorganisation bringt es mit sich, daß Fo rmen der Kommunikation von Kindern und Jugendli­ chen, die nicht unter Leistungsgesichtspunkten organisiert werden kön­ nen, ihren Ort in einem weiteren Sozialsystemtyp zwischen Herkunfts­ familie und Schule suchen. So entsteht komplementär zur Ausdifferen­ zierung der Schule als Organisation und neben der Familie in der Gleichaltrigengruppe noch eine zweite Form von Gemeinschaftssyste­ men, die sich lose dem Bildungssystem zurechnen läßt. S. schon Parsons 1968, S.277


K.G.: Die Familie als Erziehungsgemeinschaft menhalt bedroht wäre. Parsons hat dieser Vo rstellung mit Hinweis auf Funktionsspezifik widersprochen. In einer polyzentrischen, funktional differenzierten Gesellschaft wäre die Familie völlig überfordert, Integrationsmittel für alle Teilsysteme herzustellen. Die moderne Gesellschaft mit ihren universalistisch-spezifischen Inklusi­ ons/Exklusionsregeln benötigt viele verschiedene Einrich­ tungen, um die societal community zu gewährleisten. Im Sinne der Weiterentwicklung Parsonsschen Modernisie­ rungstheorie, habe ich auszuführen versucht,, daß die Fami­ lie ebendiese Funktion der primären Bindewirkung heute für das Bildungssystem der modernen Gesellschaft hat. Literatur Ariès P, 1975, Geschichte der Kindheit, München

Dreeben R, 1980, Was wir in der Schule lernen, Frankf.M.

Beck-Gernsheim E, 1993, Scheidung und Scheidungsfolgen. So­

ziologische und psychologische Perspektiven, in: Herlth A, Brunner, EJ, Tyrell H, Kriz J, 1993, S. 159-175 Gilgenmann K, 1993, Romantische Liebe und Liebe zum Kind. Zur Differenz der Codierung von Partnerschaft und Eltern­ schaft, in: Herlth A, Brunner, EJ, Tyrell H, Kriz J, 1993, S. 64­ 82 Herlth A, Brunner, EJ, Tyrell H, Kriz J, 1993, Abschied von der Normalfamilie? Partnerschaft kontra Elternschaft, Springer, Berlin Heidelberg New York Kieserling André, Familien in systemtheoretischer Perspektive, in: Herlth A, Brunner, EJ, Tyrell H, Kriz J, 1993, S. 16-30 Koller HC, 1990, Die Liebe zum Kind und das Begehren des Erziehers, DSV, Weinheim Künzler J, Schulze HJ, 1991, Funktionalistische und systemtheore­ tische Ansätze in der Sozialisationsforschung, in: Hurrel­ mann/Ulich, Hg., 1991, Neues Handbuch der Sozialisations­ forschung, Weinheim, S. 121-136 Lash C, 1981, Geborgenheit. Die Bedrohung der Familie in der modernen Welt, Steinhausen, München Luhmann N, 1984, Soziale Systeme, Frankf.M. Luhmann N, 1987, Codierung und Programmierung. Bildung und Selektion im Erziehungs system in: Ders. Soziologische Auf­ klärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Ge­ sellschaft, Opla den S. 182-201 Luhmann N, 1990a, Sozialsystem Familie, in: Soziologische Auf­ klärung 5, Opladen S. 218-227 Luhmann N, 1990b, Glück und Unglück der Kommunikation in Familien: Zur Genese von Pathologien, in: Soziologische Auf­ klärung 5, Opladen S. 218-227 Luhmann N, 1990c, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankf.M. Luhmann N, 1991a, Das Kind als Medium der Erziehung, Zeit­ schrift für Pädagogik, Heft 1 Luhmann N, 1991b, System und Absicht der Erziehung in: Luh­ mann/Schorr, 1991 Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Pädagogik, Frankf.M. S. 102-124 Luhmann N, Schorr KE, 1979, Reflexionsprobleme im Erzie­ hungssystem, Stuttgart. Parsons T and Bales RF, 1955, Familiy, Socialization and Interac­ tion Process, The Free Press, New York, Collier-Macmillan Lim., London Parsons T 1968, Über den Zusammenhang von Charakter und Gesellschaft, in: Sozia lstruktur und Persönlichkeit, Frankf.M., (Orig. 1964, New York) Prange K, 1991, Intention als Argument, in: Luhmann/Schorr, 1991, Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Pädagogik, Frankf.M. S.58-101 Schütze Y, 1993, Von der Gattenfamilie zur Elternfamilie, in: Herlth A, Brunner, EJ, Tyrell H, Kriz J, 1993, S. 91-101 Stichweh R, 1991, Der frühmoderne Staat und die europä ische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.-18.Jh.) Frankf.M.

9 Tyrell H, Herlth A, 1993, Partnerschaft versus Elternschaft in: Herlth A, Brunner, EJ, Tyrell H, Kriz J, 1993, S.1-15 THE FAMILY AS EDUCATIONAL COMMUNITY. On the description of the function of families in modern soc iety Abstract. In this contribution modern families are described as systems, which are coupled with the educational system of modern society by latent structures. This description resorts to the descrip­ tion of the family in the tradition of functional theory since Par­ sons and is based on their progression by Luhmann. Since empiri­ cal family research has shown, that the adult dyade is no longer understood as a constituent part of the family, the author proposes (in this respect differing from Luhmann) to observe the family as part of the educational system. To unfold this view the generalized symbolic media and the binary codes of educational communic a­ tion are described in a way, that shows the identity of family and school communic ation.


K.G.: Die Familie als Erziehungsgemeinschaft Bruno Hildenbrand Kommentar zum Beitrag von K. Gilgenmann: "Die Familie als Erziehungsgemeinschaft" Die Psychoanalytikerin Francoise Dolto schildert in ihrem Buch "Alles ist Sprache" folgenden Fall (Dolto 1989: 22 ­ 26): Sie hatte einen Jungen in Behandlung, der zunächst wegen Zwangshandlungen aufgefallen war (er ahmte ohne Unterlaß die Bewegungen einer Nähmaschine nach). Nach einem aufgrund übergroßer Ängstlichkeit gescheiterten Eintritt in den Kindergarten und einigen Monaten bei der Mutter wurde er in ein Internat für Schwererziehbare ein­ gewiesen wurde und als psychotisch diagnostiziert. Eine Aufklärung der Lebenssituation dieses Jungen ergab folgendes: Er und seine Mutter lebten in einer kleinen Wohnung, ein Vater war nicht vorhanden. Die Mutter bestritt ihren Lebensunterhalt mit Heimarbeit an der Näh­ maschine, der einzige Außenkontakt mit einem Mann ergab sich samstags, wenn die Mutter ihre Erzeugnisse in der Fabrik ablieferte und den Lohn in Empfang nahm. Der Junge fiel sehr früh durch wache Intelligenz und Selbständigkeit, besonders in der Unterstützung der Mutter bei der Hausarbeit, auf. Doltos Deutung seiner lebensge­ schichtlichen Problematik, die ihre erfolgreich verlaufende Therapie leitete, lautet: Die Zwangshandlungen des Jungen weisen darauf hin, daß er den Vater spielte, indem er die Nähmaschine nachahmte: "Das war seine Identifikation mit dem Objekt Nähmaschine, die für ihn die Stütze seiner männlichen symbolischen Funktionen war" (1989: 25). Allerdings ist die Nähmaschine für diese sozialisatorischen Zwecke kein taugliches Objekt. Sie ist ein toter Gegenstand und daher nicht in der Lage, zum Rivalen für den Jungen zu werden. Ein lebendiger Vater wird für seinen Sohn insbe­ sondere dadurch zum Rivalen, daß er gegenüber der Bezie­ hung des Jungen zu seiner Mutter seine Ansprüche auf eine Paar-Beziehung geltend macht. Weder findet der Junge in seiner Lebenssituation ein Modell für Partnerschaft, zu beobachten bei den Eltern, noch für Männlichkeit, zu beo­ bachten beim Vater, noch bekommt er durch die Partner­ schaft der Eltern gespiegelt, daß er ein Kind ist. Sozialisationstheoretisch gesprochen, ist die enge Be­ ziehung dieses Jungen zu seiner Mutter dadurch charakteri­ siert, daß weder die Alters- noch die Geschlechtsgrenze vorhanden sind, auch die Personen dafür fehlen, diese Grenzen alltäglich interaktiv thematisch werden zu lassen. Dolto liefert hier ein gutes Beispiel für den Grundsatz der Sozialisationstheorie von Parsons, demzufolge die Struktur der sozialisatorischen Interaktion eine Struktur der wider­ sprüchlichen Einheit von Paar-Beziehung und El­ tern-Kind-Beziehung ist, und daß das Verschwinden der Paar-Beziehung nicht ohne Folgen für die Individuierung­ schancen des Kindes bleibt. Wenn das Wesentliche persona­ ler Identität in der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme besteht (Mead), dann ist es gerade diese widersprüchliche Einheit, die den triadischen Rahmen schafft, in welchem personale Identität entwickelt wird. Um dies festzustellen, kann man sich ohne Psychoanalyse behelfen, wenn diese auch einen für systemisches Denken höchst interessanten Erklärungsrahmen bereitstellt.53

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Vgl. zur Verknüpfung psychoanalytischer und systemischer Denkansät­ ze in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Buchholz (1990). Eine

10 Nun wird in dem Aufsatz von Gilgenmann die zentra­ le These vertreten, "daß die Erwachsenendyade nicht mehr als konstitutiver Bestandteil von Familien aufgefaßt wird" (S. ). Diese These wird ohne nähere Angaben mit der "e m­ pirischen Familienforschung" begründet. Nach dem Popperschen Falsifikationsprizip, dem zu­ folge ein einziger Fall ausreicht, um eine These zu Fall zu bringen, wäre der vorgestellte Fallbericht schon geeignet, den Autor aufzufordern, seine Position grundlegend zu überdenken. Ich bin der Auffassung, daß die Behauptung "Die funktionierende Paarbeziehung der Eltern kann als glückliche Voraussetung, aber nicht mehr als Normalbedin­ gung familialer Kommunikation beschrieben werden" (S. ) nicht einfach zum Anlaß genommen werden kann, die Fa­ milie auf Aufgaben der Vermittlung von Bildungsinhalten zu reduzieren. Nimmt man die Auflösungserscheinungen der notwendig widersprüchlichen Einheit von Paar-Beziehung und Eltern-Kind-Beziehung als gegeben an (was an sich schon ein fragwürdiges Vorgehen wäre, wenn man nicht die nötige empirische Fundierung für diese Be­ hauptung mitlieferte, die über das bloße Zitieren von Schei­ dungsziffern, nicht ehelich Geborenen etc. hinausgehen müßte), dann sind zunächst folgende Fragen zu stellen: Welche funktionalen Äquivalente gibt es - im Falle von Alleinerziehendensituationen - für den abwesenden Dritten (meist den Vater)? Wie werden - bei Sukzessivfamilien Elternschaften sozial konstruiert und ins Verhältnis gesetzt zu biologischer Elternschaft? An Doltos Beispiel können diese Fragen deutlich gemacht werden: Das Problem des Jungen ist nicht, daß sein leibl icher Vater nicht vorhanden ist. Sein Problem besteht darin, daß seine Mutter ihren Le­ benszusammenhang über einen längeren Zeitraum hinweg auf die Mutter-Kind-Dyade reduziert hat und keinem Drit­ ten Zutritt zu diesem System gewährt. Gilgenmann stellt diese Fragen nicht. Dies ist um so verwunderlicher, als sie sich schlüssig aus der auch von Gilgenmann erwähnten familiensoziologischen Tradition ergeben, die eng mit dem Namen Parsons verbunden ist und interessante Weiterentwicklungen etwa bei Oevermann erfahren hat und auch heute noch von Bedeutung ist. Statt dessen kommt er auf die aus Sicht des Soziologen merk­ würdige Idee, kommentarlos die Paarbeziehung aus der Struktur der sozialisatorischen Interaktion zu verabschieden und an ihre Stelle die Familie als eine Veranstaltung des Bildungswesens zu betrachten. Damit erklärt er einen we­ sentlichen Teil der Familiendynamik für unerheblich. Es mag Soziologen geben, die dem Autor bei diesem Verfah­ ren folgen können. Ganz und gar nicht ist dies Praktikern der Familientherapie zu vermitteln, für die das Spannungs­ feld von Paarbeziehung und ElternKind-Beziehung alltägli­ che Thematik in ihrer Arbeit ist - unabhängig davon, ob dieses für Theoretiker existiert oder nicht. Kehren wir aber, um dem Autor gerecht zu werden, dessen Thema der Pra­ xisbezug hier nicht ist, zur Argumentation auf der theoreti­ schen Ebene zurück. Der Autor hätte vermutlich seine The­ se wesentlich vorsichtiger formuliert, wenn er sich einen Blick gestattet hätte in die Materialität seines Untersu­ chungsgegenstandes. Anders ausgedrückt: Er kann seine These so lange nur aufrecht erhalten, wie er sie vor der methodisch kontrollierten Konfrontation mit der Realität bewahrt. Über die Tragfähigkeit von Theorien, die intern Fallstudie, die für den hier verhandelten Zusammenhang ebenfalls ex­ emplarisch ist, findet sich in Allert (1993).


K.G.: Die Familie als Erziehungsgemeinschaft konsistent erscheinen, so lange sie als in sich geschlossene Denkgebäude, abgehoben von der alltäglichen Wirklichkeit, behandelt werden, möge sich der Leser bzw. die Leserin ein eigenes Urteil bilden. Betrachten wir den Vorschlag, die Familie als Teil des Bildungssystems zu betrachten, genauer. In dem ein­ gangs erwähnten Fallbeispiel hat die Mutter als Bildungsin­ stanz zunächst hervorragend funktioniert, das Kind war durch mütterliche Unterweisung in die Lage versetzt wor­ den, den Haushalt zu besorgen. Es konnte - seinem Alter weit voraus - erstaunliche lebenspraktische Kompetenz entwickeln, und auch in der Sauberkeitserziehung kam das Kind der Mutter sehr entgegen und unterstützte sie damit im täglichen Kampf um den Lebensunterhalt. Jedoch fehlte die Voraussetzung für das Umsetzen dieser Kompetenzen au­ ßerhalb der Grenzen der Mutter-Kind-Dyade. Diese Kom­ petenzen sind der Organisation von - auch innerfamilialen Bildungsprozessen (analytisch, nicht genetisch) vorgelagert, es handelt sich um die Kompetenzen zur Perspektivenüber­ nahme im sozialen Handeln, die den Kernbestand der per­ sonalen Identität ausmachen. Sie werden in triadischen Prozessen der sozialisatorischen Interaktion erworben. Daß dies im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht mehr notwendig in der bürgerlichen Kleinfamilie, sondern in pluralisierten Familienformen geschieht, ist in der Tat unbestritten und in zahlreichen familiensoziologischen Untersuchungen belegt. Wie unter diesen veränderten Bedingungen personale Iden­ tität entwickelt werden kann, ist eine dringliche sozialisati­ onstheoretische Fragestellung. Sie erledigt sich nicht da­ durch, daß man sie für irrelevant erklärt. Literatur:

Allert, T. (1993) Autocrashing. Eine Fallstudie zur jugendlichen

Selbst- und Fremdgefährdung. Neue Praxis Jg. 23 Heft 5: 393-414 Buchholz, M. B. (1990) Die Rotation der Triade. Forum Psycho­ anal. 6: 116 - 134 Dolto, F. (1989) Alles ist Sprache. Weinheim: Quadr iga

Replik Der Kommentator erzählt eine schöne Fallgeschichte und leitet daraus eine Reihe sozialisationstheoretischer Fragen ab, von denen er behauptet, daß sie in meinem Beitrag für irrelevant erklärt würden. Dies ist jedoch nicht der Fall. Ich habe vorgeschlagen, in der Beschreibung der Familie zwi­ schen zwischen Funktion und Leistung zu unterscheiden. Ich nehme an, die sozialisatorische Leistung der Familie kann erheblich variieren, je nachdem in welchem Umfang eine ausbalancierte Paarbeziehung als Ressource zur Verfü­ gung steht. Das ist aber eine andere Frage als die nach der Funktion der Familie für die Gesellschaft. Mein Vo rschlag zur Beschreibung dieser Funktion wird (indirekt) sogar bestätigt durch die Beobachtung von Leistungsdefiziten. Mein Beitrag zielt auf Gesellschaftstheorie (s. Unter­ titel) und nicht sogleich auf Sozialisationstheorie (was Kon­ sequenzen für deren Formulierung nicht ausschließt). Of­ fenbar ist es mir nicht gelungen klarzumachen, warum ich es zunächst für wichtig halte, an der Parsonsschen Be­ schreibung der Familie wiederanzuküpfen: die Familie nicht als die Gemeinschaft der Gesellschaft zu beschreiben son­

11 dern als eine spezielle Gemeinschaft, die sich selbst immer deutlicher unter pädagogischen Vorzeichen interpretiert.54 Hildenbrand stellt dem Leser anheim, meinen Beitrag unter einem Typ von Aussagen abzubuchen, die sich durch theoretische Geschlossenheit gegen empirische Überprü­ fung immunisieren.55 Die Frage nach empirischen Belegen erstarrt allerdings zum Ritual, wenn - wie der Autor (im vorletzten Satz) selbst einräumt - über die von mir referierte Annahme (die Entkoppelung von Elternschaft und Partner­ schaft) in der Familiensoziologie gar kein Streit herrscht.56 Ich habe vorgeschlagen, die Paarbeziehung nicht als Bestandteil sondern als externe Ressource des Familiensy­ stems zu verstehen. Dies ist weder formal (i.S. eines Aus­ schlusses, etwa mit bezug auf die Ehe als Rechtsform) noch „material“ (i.S. einer Unabhängigkeit von dieser Ressource) sondern systemtheoretisch gemeint: die operative Geschlos­ senheit des Familiensystems basiert auf der pädagogischen Codierung der Kommunikation (und nicht auf einer Eltern­ schaft und Partnerschaft übergreifenden Liebessemantik). Hildenbrand suggeriert, ich hätte damit sagen wollen, daß die elterliche Paarbeziehung irgendwie durch Subsum­ tion der Familie unter Bildungseinrichtungen ersetzt werde. Wer dann meine Ausführungen über den Unterschied (!) von Erst- und Zweitcodierung der pädagogischen Kommu­ nikation (wegen unterstellter Realitätsferne) nicht zur Kenntnis nehmen will, kann dies als Reduktion der Familie auf „Aufgaben der Vermittlung von Bildungsinhalten“ miß­ verstehen. Ich habe aber nicht behauptet, daß demnächst in der Familie Bildungsabschlüsse verteilt werden. Wenn mein Vorschlag, die Familie als Teil des Bil­ dungssystems zu betrachten, sich zentral auf die empirische Voraussetzung des Verschwindens der Gattenbeziehung (i.S. einer Normalisierung von Alleinerziehersituationen) stützen würde, hätte ich in der Tat nicht an Parsons Be­ schreibung anschließen können. Die von Parsons ve rtretene These von der Universalität der Kernfamilie wird in der gegenwärtigen Familiensoziologie aber ersetzt durch die eher vage These von der Pluralisierung der Lebensformen. Damit wird zwar erkennbar, daß die Koppelung von Lie­ bespartnerschaft und Elternschaft in der Familie ein histori­ sches Phänomen ist, dessen Kontinuierung durch nichts (jedenfalls nicht durch Systemeigenschaften) gesichert ist. Andererseits wird aber unklar (was in der Parsonschen Be­ schreibung deutlicher war) daß als harter Kern familialer Lebensformen sich die an die Rolle der Elternschaft gebun­

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Damit widerspreche ich der (in Heft 1, 1988 dieser Zeitschrift veröffent­ lichten) Parsons-Revision von Luhmann, der die Familie als einzige Gemeinschaft der Gesellschaft beschreibt (darin auch ihre Funktion sieht) und damit (wohl unbeabsichtigt) an die Vor-Parsonsche Tradition der Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft anknüpft. Da es sich hier um ein Standardargument gegen die soziologische Systemtheorie handelt, ist es wohl auch nicht erfolgversprechend darauf hinzuweisen, daß das Theorieangebot nicht verantwortlich zu machen ist für alle möglichen Aussagen, in denen von diesem Angebot Gebrauch gemacht wird. Meine Fußnote 13 verweist auf die den diesbezüglichen Konsens zu­ sammenfassende Darstellung bei Yvonne Schütze. Ich hätte übrigens ­ statt auf die Ergebnisse empirischer Familienforschung - auch auf die politische Diskussion über die rechtliche Aufwertung „anderer Lebens­ gemeinschaften“ verweisen können. Das Verwirrende an dieser Diskus­ sion ist allerdings, daß sie - auf die tradierte Form der Ehe fixiert - nicht unterscheidet zwischen Lebensgemeinschaften, die um die Paarbezie ­ hung zentriert sind und Lebensgemeinschaften, die um die Eltern -KindBeziehung zentriert sind.


K.G.: Die Familie als Erziehungsgemeinschaft dene Form pädagogisch-permissiver Kommunikation profi­ liert. Mein Differenzpunkt ist hier: daß es nicht genügt zu sagen, daß die sozialisatorische Interaktion „nicht mehr notwendig in der bürgerlichen Kleinfamilie sondern in plu­ ralisierten Familienformen“ geschieht. Es war meine Ab­ sicht, diese in neueren familiensoziologischen Untersu­ chungen häufig vorkommende Angabe zu ersetzen durch eine präzisere (und damit auch empirisch besser überprüfba­ re) Funktionsbestimmung.57 Die Formel von der Pluralisie­ rung der Lebensformen läßt in gesellschaftstheoretischer Hinsicht zu vieles offen und ist deshalb auch keine gute Voraussetzung für sozialisationstheoretische Fragestellun­ gen. Der Kommentator hat seine Fallgeschichte als Wider­ legung meiner These über die pädagogische Codierung der familialen Kommunikation präsentiert. Seine Deutung der Fallgeschichte erscheint mir allerdings eher als Beleg für deren Richtigkeit: Die Familie wird von Hildenbrand aus­ schließlich unter dem Aspekt einer um Kinder zentrierten „sozialisatorischen Interaktion“ und deshalb als pädago­ gisch wertvoll betrachtet. Hier bleibt nur die Frage, ob man - auch sozialisationstheoretisch - die richtigen Fragen zu stellen vermag, wenn man dies selbst gar nicht mehr sieht, weil man es schon in die Prämissen seiner Beobachtung eingebaut hat.

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So tauchen in Versuchen, die (manchmal als postmodern bezeichnete) Pluralität familialer Lebensformen übersichtlich zu machen, immer wie ­ der auch Formen dauerhafter Lebensgemeinschaften ohne Kinder auf. S. zB. F.X.Kaufmann, Familie und Modernität, in: Lü ­ scher/Schultheis/Wehrspaun (Hg.) Die „postmoderne“ Familie, Kon­ stanz 1988, S.396

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