Kg 1995 medienevolution

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EVOLUTION DURCH NEUE M EDIEN In diesem Beitrag geht es um eine theoretische Bestimmung der Funktion von technischen Kommunikationsmitteln in der Evoluti­ on sozialer Systeme. Der Gebrauch dieser Medien wird als Varia­ tionsmechanismus der Gesellschaft bezeichnet. Der Variationsef­ fekt wird zurückgeführt auf die technische Unterbrechung des laufenden Interaktionsgeschehens. Es wird argumentiert, daß hiermit Beobachtungspotentiale freigesetzt und gegenüber dem Bewußtsein verselbständigt werden, die der Kommunikation ein gesteigertes Maß an kognitiver Kontrolle ermöglichen. Mit bezug auf die Emergenz von organisierten Handlungssystemen und Märkten wird auf Strukturen der Gesellschaft verwiesen, in denen diese Variation gebraucht (also selegiert) wird. Es wird nic ht erwartet, daß die skizzierte Evolutionslinie in der neuen, durch elektronische Medien bestimmten Konstellation abbricht.

Entkoppelung von Kommunikation und Wahrnehmung 3

Steigerung kognitive r Kontrolle 5

Destabilisierung der Kommunikation 6

Doppelte Kontingenz und Systembildung 9

Handlungssysteme und Märkte 11

Neue symbolische Generalisierungen? 13

Literatur15

Summary 15

Die Soziologie hat den Gebrauch neuer Medien in Teilbe­

reichen der Gesellschaft wie der Industriearbeit, der

Verwaltung, der Privathaushalte u.a vielfältig untersucht.

Sie hat jedoch seine gesellschaftstheoretische Reflexion

weitgehend anderen Disziplinen überlassen. Verbreitete

Bezeichnungen der Gesellschaft als Informations- oder

Mediengesellschaft stammen nicht aus der Soziologie und

sind nicht mit dem fachlich möglichen Theorieaufwand

ausgearbeitet worden.1 Eine in vielen Beiträgen zur

Gegenwartsdiagnose verbreitete Annahme besagt, daß

durch neue Medien umbruchartige Veränderungen der

Gesellschaft bewirkt werden. Im Folgenden soll mit den

Mitteln der soziologischen Systemtheorie zur Klärung der

Frage beigetragen werden, wie neue Kommunikationsmittel

die Gesellschaft verändern.

In der Soziologie gibt es von Beginn an das Pro­ gramm, Soziales nur aus Sozialem zu erklären und in dieser Hinsicht den Versuch, Erklärungsmuster auf die Gesell­ schaft zu übertragen, wie sie in der Darwi nschen Evoluti­ onstheorie für die biologischen Arten vorgeführt wurden. Biologisches sollte nur aus Biologischem und nicht mit einer Schöpfungslehre erklärt werden. Es handelte sich darum, einfache Mechanismen zu identifizieren, die geeig­ net wären, den vorsichgehenden Wandel der Gesellschaft auf der Ebene des Sozialen selbst (und dh. ohne Rekurs auf außersoziale Faktoren) zu beschreiben. Im Mediengebrauch ist m.E. ein solcher Mechanismus zu erkennen. In der evo­ lutionstheoretischen Unterscheidung von drei (unabhängig von einander wirkenden) Mechanismen liegt zugleich die Möglichkeit einer einschränkenden Beschreibung der Funk­ tion des Medienwandels für die Gesellschaft.

Ich schließe an die Wiederaufnahme evolutionstheo­ retischer Erklärungsversuche unter systemthe oretischen Prämissen bei Niklas Luhmann an. 2 Die Anschlußpunkte an Luhmanns Theorieprogramm sind auch im Thema selbst begründet. Es handelt sich um das einzige Theorieangebot, das strikt an Kommunikation als Grundoperation ansetzt und von daher einen Zugang zur Bedeutung der Kommuni­ kationsmittel in der sozialen Evolution eröffnet.3 Dafür gibt es in der soziologischen Theorietradition sonst wenig An­ satzpunkte.4 Luhmann hat in seinem Grundriß einer allge­ meinen Theorie sozialer Systeme eine „Neueinschätzung der (zunächst technischen) Erfindungen interaktionsfreier gesellschaftlicher Kommunikation“ durch Schrift und Buchdruck im Hinblick auf die „faktisch offensichtlichen Temposteigerungen der soziokulturellen Evolution“ ange­ mahnt. Hierzu seien „derzeit nicht einmal ansatzweise Vo r­ stellungen aufzutreiben“. 5 Seine Vorstellungen dazu hat er in einem programmatischen Vortrag unter dem Titel „Kommunikationsweisen und Gesellschaft“ u.a. so umris­ sen: „Änderungen in Medien und Kommunikationstechni­ ken [sind] keine marginalen Verbesserungen. Das System der Gesellschaft besteht aus Kommunikationen. Es gibt keine anderen Elemente, keine weitere Substanz als eben Kommunikation. Die Gesellschaft besteht nicht aus mensch­ lichen Körpern und Gehirnen. Sie ist schlicht ein Netzwerk von Kommunikationen. Wenn sich daher Medien und Kommunikationstechniken ändern, wenn sich das Geschick und das Feingefühl für Ausdrucksmöglichkeiten ändern, wenn sich Codes von mündlicher zu schriftlicher Kommu­ nikation ändern und, vor allem, wenn die Kapazitäten für Reproduktion und Speicherung wachsen, dann werden neue Strukturen möglich und vielleicht notwendig, um die neuen Komplexitäten zu bewältigen.“6 Mit dem Begriff der Kommunikationsweise wird eine an der Darwinschen Evolutionstheorie orientierte historisie­ rende Begrifflichkeit eingeführt7, deren möglicher Nutzen 2

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Der Verzicht auf einen allgemeinsoziologischen Beitrag wird zumeist mit der Sorge vor übersimplifizierenden Theorien gesellschafts­ strukturellen Wandels begründet. Dagegen sieht W.Rammert (1995a, 1995b) die Aufgabe gerade darin, diese Reflexion mit dem fachwissen­ schaftlich möglichen Theorieaufwand zu leisten.

Das Motiv für Evolutionstheorie anstelle von Handlungstheorien ist bei Luhmann ausführlich formuliert in 1990a Kap.8 - Zur Ausführung des Programms der Verknüpfung von Systemtheorie und Evolutionstheorie am Falle des Wissenschaftssystems, Kap.8 S. 549-614 – Zur Umstel­ lung der Evolutionstheorie auf systemtheoretische Prämissen s. auch Luhmann, Typoskript, 1992 – Als Versuch, soziologische Evolutions­ theorie handlungstheoretisch zu begründen s. Schmid, 1995 In Luhmanns Beschreibung wird die alltagspraktische Verknüpfung von Wahrnehmung und Kommunikation (an der in soziologischen Hand­ lungstheorien festgehalten wird) aufgelöst und die daraus erwachsende Kontingenz der Kommunikation in aller Schärfe markiert. Auf dem Hin ­ tergrund dieser Theorieentscheidung läßt sich die Steigerung der Kon­ tingenzen und der Einrichtungen zu ihrer Überwindung in Abhängigkeit von der Evolution der Kommunikationsmittel (bei Luhmann vorrangig der Buchdruck) beschreiben. Einführend zu Luh manns Verwendung des Kommunikationsbegriffs und mit Abgrenzung zu Bewußtsein s. Luh­ mann 1987 - ausführlicher mit entsprechender Reformulierung des Handlungsbegriffs s. Luhmann 1984 S. 191-241 Ich muß hier darauf verzichten, auf konkurrierende Theorieangebote unter dem Aspekt der Behandlung der Kommunikationsmittel einzuge­ hen. Die phänomenologische Wissenssoziologie im Anschluß an Schütz kommt hier nicht zum Zuge wegen ihrer Reduktion auf Bewußtseins­ strukturen, die Habermassche Theorie des kommunikativen Handelns nicht wegen ihrer Normativitätsunterstellungen. Luhmann 1984 S. 591f Luhmann 1989b S. 12 „Ansprüche an historische Soziologie“ hat Luhmann zuletzt wieder in einem Beitrag zum Internationalen Soziologentag 1994 formuliert und darin gefordert, eine „am Darwinschema Variation/Selektion orientierte Evolutionstheorie ... für den Fall des Ge sellschaftssystems“ (S. 262) auszuarbeiten. Luhmann verweist darin auf Vorarbeiten von Donald Campbell in der Psychologie und auf seine, zusammengefaßt bisher nur


K.G.: Evolution durch neue Medien für die Beschreibung gesellschaftlichen Wandels im Fol­ genden - hier allerdings weitgehend beschränkt auf Ausfüh­ rungen zum evolutionären Mechanismus der Variation8 ­ gezeigt werden soll. Eine Hintergrundannahme dabei ist, daß der Begriff der Kommunikation selbst - als Grundbe­ griff sozialwi ssenschaftlicher Analyse - überhaupt erst denkbar und anwendbar geworden ist in einer spezifischen historischen Medienkonstellation.9 Mit dem eher deskriptiv ansetzenden Begriff der Medienkonstellation, soll die Stel­ lung verschiedener Medien in der Gesamtheit der Kommu­ nikationsmittel bezeichnet werden, die in einer Gesellschaft Verwendung finden. Mit dem Bezug auf „neue Medien“ wird zwar an dem alltagssprachlich verbreiteten Verständnis von Medien als technisch erweiterten Mitteln der Kommunikation ange­ knüpft. Diese interessieren hier allerdings nur unter dem Aspekt der sozialen Folgen ihres Gebrauchs.10 Beschrei­ bungen der Entstehung, Entwicklung, Durchsetzung etc. bestimmter technischer Kommunikationsmittel in der Ge­ sellschaft müssen als bekannt vorausgesetzt werden.11 Selbstverständlich ist es wichtig zu sehen, daß mit Medien­ gebrauch nicht irgendein voraussetzungsloser Anfang der sozialen Evolution bezeichnet werden soll sondern ein evo­ lutionärer Mechanismus, der selbst evoluiert und weiterer Evolution unterworfen ist. Hier geht es aber nicht um die Genese des Mechanismus sondern um seine Wirkungswei­ se.12 Die Hauptthese des folgenden Beitrags ist, daß es sich beim Gebrauch neuer Medien um den Variationsme­ chanismus in der Evolution der Gesellschaft handelt.13 Der

2 These liegt die einfache Beobachtung zugrunde, daß Kom­ munikation als laufendes Interaktionsgeschehen durch tech­ nische Medien unterbrochen wird.14 Der Variationsmecha­ nismus besteht also zunächst in dieser Unterbrechung.15 In erster Näherung geht es um die laufende Koppelung von Kommunikation und Wahrnehmung, deren temporale Un­ terbrechung Bewußtsein und Soziales überhaupt erst unter­ scheidbar macht. Es geht im weiteren dann um Unterbre­ chungen der Koppelung von Kommunikation und Bewußt­ sein durch technisch erweiterte Kommunikationsmittel, in denen die durch Unterbrechung freigewordenen Beobach­ tungspotentiale in die Kommunikation selbst wieder einge­ führt werden. Das Thema neue Medien unter dem evolutionstheore­ tischen Gesichtspunkt eines Mechanismus der Variation zu behandeln, stellt eine Einschränkung gegenüber allgemei­ nen Trendaussagen dar. Das bedeutet jedoch nicht, daß die theoretischen Aussagen strikt auf die Beobachtung von Variation beschränkt werden könnten. Variation ist auf der Ebene kommunikativer Ereignisse ein schwer beobachtba­ res Phänomen, da sie laufend stattfindet, ohne Spuren zu hinterlassen. Veränderungen auf der Ereignisebene der Kommunikation lassen sich nicht beobachten und beschrei­ ben ohne Rekurs auf ihre Verknüpfungen.16 Aussagen über den Gebrauch neuer Medien als Variationsmechanismus der Gesellschaft sind nur möglich, wenn sich schon beobachten läßt, daß die Variation nicht isoliertes Ereignis bleibt, daß tionären Mechanismen auseinanderzieht, die Übergänge von archaischen zu hochkulturellen und von hochkulturellen zu modernen Gesellschaften evolutionär irreversibel ... macht und zugleich die Evolution beschleu­ nigt.“ 1981, S.193 – Andererseits weist Luhmann darauf hin, daß die gesprochene Sprache evolutionstheoretisch nicht als das primäre Mittel der Kommunikation aufgefaßt werden kann: „Sprache evoluierte wahr­ scheinlich durch Zeichengebrauch. Sie kann nicht von Anfang an eine Struktur mentaler und kommunikativer Operationen gewesen sein.“ 1989b S. 13

in italienischer Fassung publizierte Gesellschaftstheorie. Luhmann 1994 S. 259-264 - Als knappe Darstellung der Luhmannschen Evolutions­ theorie s. 1983. Weitere Anschlußstellen bei Luhmann s. 1984, 591f als Ausgangspunkt für eine evolutionstheoretische Formulierung, die nicht nur auf Variation sondern auf drei Mechanismen der Evolution abstellt. 8

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Der vorliegende Aufsatz ist Teil eines Vorhabens zur evolutionstheoreti­ schen Reformulierung kommunikationstheoretischer Prämissen der Sy­ stemtheorie, in dem dann Ausführungen zum Selektionsmechanismus und zum Restabilisierungsmechanismus in der sozialen Evolution stär­ keres Gewicht erhalten sollen..

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Für Luhmann ist dies die Konstellation des Buchdrucks. Ich vermute jedoch, daß die Verallgemeinerung des Kommunikationsbegriffs, wie er in der Luhmannschen Theorie vorliegt, überhaupt erst möglich gewor­ den ist in einer veränderten Medienkonstellation, in der die des Buch­ drucks als historisch wahrgenommen wird. Ich betone, daß hier durchgängig der soziale Gebrauch neuer Medien als Variationsmechanismus bezeichnet wird und nicht irgendwelche techni­ schen Innovationen oder physikalisch beschreibbaren Geräte an sich. Damit klammere ich auch die in der Techniksoziologie geführte Debatte über die System-Umwelt-Verhältnisse der Technik und begriffliche Hilfskonstruktionen wie „soziotechnische Systeme“ aus. Zum Verständnis der Historizität dieser Errungenschaften läßt sich für den Buchdruck auf die Monografie von Giesecke (1991) verweisen. Für den gegenwärtig sich vollziehenden Medienumbruch, der selbstverständlich noch keine vergleichbar distanzierte Darstellung zuläßt, könnte man für die Vorgeschichte der Telekommunikation Patrice Flichy, 1994, nennen und für die Vorgeschichte des Computers i.e.S. Bettina Heintz, 1993. Die evolutionstheoretische Beschreibung sozialen Wandels entfernt sich gerade dadurch von der alltagssprachlichen Handlungsperspektive, daß Wirkungen (Variationen) zeitlich vor ihren Ursachen (Selektionen) ein ­ geordnet werden können. Für Luhmann bildet der Sprachgebrauch den Ausgangspunkt: „Für die soziokulturelle Evolution läßt sich zeigen, daß auf der Anfangsbasis ei­ nes Sprachgebrauchs, der alle evolutionären Funktionen, nämlich Varia ­ tion, Selektion und Stabilisierung, abdeckt, sich von Sprache funktional unterscheidbare Kommunikationsmedien und im Anschluß daran medi­ enspezifische Funktionssysteme ausbilden - ein Vorgang, der die evolu-

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Wer die einschlägigen Ausführungen Luhmanns zur Beschreibung der Sprache als Variationsmechanismus in der sozialen Evolution kennt, kann in der hier skizzierten Erweiterung auf alle Kommunikationsmittel eine Abweichung sehen. Ich halte sie jedoch vom Theorieprogramm her nicht für eine Abweichung. Auch Luhmann selbst hat in einem früheren Beitrag nicht nur Sprache als Variationsmechanismus bezeichnet: So „... verändern die großen Schwellen in der Entwicklung der Kommunikati­ onstechniken ... auch die Bedingungen der Evolution: Die Kapazitätser­ weiterung des Variationsmechanismus erfordert andere Formen der Se­ lektion und andere Formen der Stabilisierung.“ (1981, S.185) Allerdings hat Luhmann diese programmatische Aussage in seinen gesellschafts­ theoretischen Ausführungen stets nur auf sehr allgemeiner Ebene - im Hinblick auf den epochalen Umbruch von Handschrift zu Buchdruck ­ berücksichtigt und dabei die technisch erweiterten Kommunikationsmit ­ tel in einem m.E. oft zu engen Abhängigkeitsverhältnis von sprachlicher Semantik beschrieben. So spricht Luhmann von „Zweitcodierungen“ der Sprache, ohne zu berücksichtigen, daß nicht erst in den neuen Medien sondern schon im Buchdruck außersprachliche Zeichen verwendet wer­ den. Obwohl er von der zunehmenden Unwahrscheinlichkeit der Ko m­ munikation durch neue Medien spricht, stellt er in deren Bezeichnung als „Verbreitungsmedien“ (zB. 1984, S. 221) auf Veränderungen in der Raum- und Zeitdimension der Kommunikation ab. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang einerseits von „interaktions­ freier Kommunikation“ (Luhmann 1989b S.12 - s. Eingangszitat oben) und andererseits in Anlehnung an ältere Formulierungen der Kybernetik von „Interdependenzunterbrechung“ (1984, S.65, 631) Die Probleme einer evolutionstheoretischen Beschreibung des Gesell­ schaftswandels durch neue Kommunikationsmittel charakterisiert Luh­ mann allgemein dahingehend, daß es schwierig sei, „Ereignisse zu beo­ bachten. Das erfordert sehr viel mehr als die Beobachtung von Zustän­ den. Um das Vorkommen eines Ereignisses zu ma rkieren, muß man so­ wohl das Vorher als auch das Nachher identifizieren und wissen, daß es ein besonderes Ereignis ist, das den Unterschied ausmacht.“ Luhmann 1989b S. 12


K.G.: Evolution durch neue Medien also bereits Selektions- und Restabilisierungseffekte - unter der Voraussetzung neuer Medien - stattgefunden haben. Die Aufgabe besteht nicht einfach darin, einen evolu­ tionären Mechanismus zu bezeichnen sondern genauer: die Differenz bzw. operative Unabhängkeit dieses Mechanis­ mus im Zusammenwirken der Mechanismen zu beschrei­ ben, mit denen soziale Evolution erklärt werden soll.17 Au­ ßerdem ist zu berücksichtigen, daß diese Differenz in einer systemtheoretischen Beschreibung sich als Ebenendifferenz der Systembildung darstellt.18 In diesem Sinne gilt es die Differenz zu beschreiben, die sich durch Ausdifferenzierung eines Variationsmechanismus innerhalb schon strukturierter und stabiler Sozialsysteme ergibt. Jede Variation setzt ja schon Stabiles voraus. Entkoppelung von Kommunikation und Wahrnehmung Die Welt wird durch ihre Beobachtung verändert.19 Die Beobachtung bezeichnet ein Objekt und unterscheidet es von Anderem. Jede Unterscheidung enthält mehr Mö g­ lichkeiten als die mit der Bezeichnung gewählte. Die Unter­ scheidung selbst entzieht sich normalerweise der Beobach­ tung. Sie erscheint nicht als Entscheidung eines Beobachters sondern wird vorausgesetzt. Luhmanns Entfaltung des Be­ obachtungsbegriffs als Einheit der zwei Komponenten Un­ terscheiden und Bezeichnen ist evolutionstheoretisch ange­ legt. Er sieht darin einen Anwendungsfall eines allgemeine­ ren Mechanismus, nämlich der »Überschußproduktion-undSelektion«.20 Auf der Ebene einer allgemeinen Theorie kognitiver Systeme lassen sich verschiedene Mechanismen der Evolution noch nicht unterscheiden. Variation und Se­ lektion fallen im Akt der Beobachtung gewissermaßen zu­ sammen. Andererseits ist Beobachtung nur möglich als Operation eines Systems, das sich mit eigenen Grenzen in der Welt ausdifferenziert.21 Die Beobachtung der Welt verändert sich dadurch, daß sie ihrerseits beobachtet werden kann. Die Veränderung 17

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In einer vollständigen Beschreibung des Zusammenwirkens evolutionä­ rer Mechanismen würde es sich also um vier Unterscheidungen handeln: > Restabilisierungsmechanismus | Variationsmechanismus , Variati­ onsmechanismus | Selektionsmechanismus, Selektionsmechanismus | Restabilisierungsmechanismus > die eine zirkulär Verknüpfung darstel­ len. Vgl. Luhmann, 1981b Luhmann verknüpft die Differenzierung der drei evolutionären Mecha­ nismen mit der Ebenenunterscheidung der Kommunikation: 1. der Va ­ riationsmechanismus betrifft nur einzelne Operationen, also kommuni­ kative Ereignisse; 2. der Selektionsmechanismus bezieht sich immer auf Strukturen (als Erwartung der Wiederverwendbarkeit von Sinnfestle­ gungen, Verknüpfungen der Operationen); 3. der Restabilisierungsme­ chanismus bezieht sich auf die Autopoiesis des Systems (und wird daher bei Luhmann verknüpft mit Systemdifferenzierung) „Die Möglichkeit von Evolution findet damit letztlich eine systemtheoretische Erklärung. Sie ist dadurch bedingt, daß Ereignisse nicht schon Strukturen und Strukturen nicht schon Systeme sind; aber daß es sich gleichwohl immer um strukturdeterminierte Systeme handelt, die ihre eignen Strukturen nur durch eigene Operationen variieren können und die durch struktu­ rierte Operationen ein rekursives Netzwerk der Reproduktion ebensol­ cher Operationen herstellen, das sich durch das pure Sichereignen als System gegen eine Umwelt abgrenzt.“ 1990, S.560 Diese Aussage ist schon deshalb kaum bestreitbar, weil die Beobachtung als Operation selbst Teil dieser Welt ist, wie sehr auch immer der Beob­ achter sich davon distanzieren mag. S. 1990, 81 Systemdifferenzierung kann in diesem Sinne als evolutionäre Voraus­ setzung für alle Beobachtungsoperationen bezeichnet werden - zumin ­ dest aber für Selbstbeobachtung, wie sie soziale (und psychische) Sy­ steme vollziehen. Beobachtung ist also niemals eine Operation des gan­ zen Systems sondern eines darauf spezialisierten Teilsystems.

3 liegt in der Ausdifferenzierung einer Sphäre der Beobach­ tung von Beobachtern. Das Problem, das hier seine evolu­ tionäre Lösung gefunden hat, liegt in der operativen Ge­ schlossenheit lebender und psychischer Systeme.22 Die Lösung heißt Kommunikation. Sie wird möglich im Medi­ um von Zeichen, mit denen die Wahrnehmung des Bewußt­ seins sich strukturell (dh. durch je eigene Selektion) an anderes Bewußtsein anschließen kann, ohne ihre operative Geschlossenheit aufgeben zu müssen. Diese Art strukturel­ ler Koppelung durch Zeichen funktioniert unter entwickelte­ ren Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft nicht nur von Bewußtsein zu Bewußtsein sondern auch im Verhältnis von Bewußtsein zu entwickelten Strukturen der Kommuni­ kation sowie - unter der Voraussetzung von Bewußtseinsbe­ teiligung - auch im Verhältnis zwischen strukturell entkop­ pelten Teilsystemen der Gesellschaft.23 In der Beschreibung der Beobachtungsmöglichkeiten des menschlichen Bewußtseins kann unterschieden werden zwischen Beobachtungen erster Ordnung, die als aktuelle Operationen ohne Kommunikation möglich sind, und Beob­ achtungen zweiter Or dnung vermittels Teilnahme an Ko m­ munikation, die Sinnabstraktion auf Zeichenbasis (abgelöst von sensorisch Wahrnehmbarem außer dem Zeichenträger selbst!) schon voraussetzen. Jede kommunizierbare Beob­ achtung verwendet Zeichen zur Bezeichnung von Einheiten und setzt dabei immer schon Unterscheidungen voraus. Kommunikation ist in diesem Sinne erfolgreiche - dh. zu evolutionären Eigenwerten verdichtete - Beobachtung von Beobachtern. Im Hinblick auf diese Verdoppelung der ko­ gnitiven Potentiale beim Menschen unterscheidet Luhmann zwischen Beobachtung auf der Basis von Bewußtsein und Beobachtung auf der Basis von Kommunikation. Sozialsy­ steme sind demnach immer schon Beobachter zweiter Ord­ nung. 24 Das gesteigerte Beobachtungspotential der Kommu­ nikation bleibt an den Vollzug von Kommunikation als Operation gebunden und setzt insofern Bewußtseinsteil­ nahme voraus. Andererseits hat sich Beobachtung als Teil der Kommunikation verselbständigt und findet unter den Vorausetzungen ihrer Ausdifferenzierung als operativ ge­ schlossenem System statt. Kommunikation als Beobachtung setzt also die operative Verknüpfung der Kommunikation 22

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„Kommunikation ... ist überhaupt nur möglich als ein die Geschlossen­ heit des Bewußtseins transzendierendes Ereignis“. Luhmann, 1984 S.143 Der Begriff der strukturellen Koppelung stammt aus der biologischen Tradition der Systemtheorie und ist von Luhmann auf die Theorie psy­ chischer und sozialer Systeme übertragen worden. Vgl. 1993a S.440ff. Die Formel „strukturelle Koppelung“ steht hier für die vorausgesetzte Stabilität. S. Luhmann, 1990, S.24 Der kybernetische Begriff der Beobachtung zweiter Ordnung wird von Luhmann als spezifisches Moment der Be ­ schreibung moderner Gesellschaftlichkeit eingeführt, weil diese Form der Beobachtung hier in der Kommunikation selbst vorkommt, also re­ flexiv wird. Rückblickend kann sie jedoch als ein allgemeines Merkmal der Kommunikation - zumindest seit Schriftgebrauch - betrachtet wer­ den. Eine solche verallgemeinernde Beschreibung findet sich im Kon­ text von Sinn als Medium, in dem Beobachten seine Form gewinnt: „Die soziale Konstruktion der Realität erfolgt im Beobachten von Beobach­ tungen ...“ s. 1990, 110 und weiter: „Alle semantischen Beschreibungen der Sozialdimension über Formen wie Ego/Alter oder Konsens/Dissens sind dann bereits Konstruktionen eines solchen Beobachtens von Beob­ achtungen. Sie externalisieren und beschreiben die Probleme der Sozial­ dimension, in dem sie das, was zunächst ein Problem der Anschlußfä­ higkeit und Autopoiesis der Kommun ikation ist, auf Personen zurechnen und so darstellen, als ob es um psychisch verankerte Meinungsunter­ schiede gehe.“ 1990, S.114


K.G.: Evolution durch neue Medien zu Systemen, ihre operative Schließung auch gegenüber Bewußtsein auf der Basis technisch erweiterter Kommuni­ kationsmittel schon voraus. Kommunikation als Beobach­ tung ist immer schon gespeicherte Wahrnehmung, also eine Form, die durch Kommunikationsunterbrechung ihre eigene Selektivität gegenüber den Primärwahrnehmungen des Be­ wußtseins gewonnen hat.25 Systembildung setzt strukturelle Koppelung vo raus. Das emergente System setzt die Ereignisse, von denen es sich entkoppelt hat, in seiner Umwelt voraus und zwar in einer jeweils durch seine eigene Struktur selektiv bestimm­ ten Weise. Dies gilt für soziale Systeme primär in Bezug auf Bewußtsein. Der Zugang sozialer Systeme zur Welt ist vermittelt über Medien, die Kommunikation an Bewußtsein koppeln. Diese Medienabhängigkeit besteht zwar auch um­ gekehrt für Bewußtsein - aber nicht ebenso ausschließlich: das Bewußtsein verfügt über Primärzugänge zur Welt, die es auch ohne Beteiligung an Kommunikation benutzen kann. Hierin liegt eine wichtige Asymmetrie für die Be­ schreibung der Coevolution der menschlichen Sinnsysteme. Auf dem Hintergrund schon entwickelter Gesellschaftsdif­ ferenzierung gilt es (mindestens) zwei Ebenen struktureller Koppelung zu unterscheiden: 1. die Koppelung der Kommunikation an Bewußtsein (als Zugang zur sensorischen Welt) im Medium der Sprache und anderer Mittel der Kommunikation; 26 2. die Koppelung verschiedenartiger Sozialsysteme im Me­ dium des gemeinsamen Elements Kommunikation (ein­ schließlich seiner technisch erweiterten Mittel). Diese beiden Ebenen struktureller Koppelung ermö g­ lichen sich wechselseitig. Sie stehen in einem Verhältnis der Coevolution: Die Differenzierung der Gesellschaft ermö g­ licht und erzwingt die Differenzierung von Kommunikation und Bewußtsein. Die Gesellschaft bleibt andererseits zu ihrer eigenen Reproduktion - einschließlich der strukturellen Koppelung ihrer Teilsysteme - auf passende Bewußtseins­ leistungen angewiesen. Sozialsysteme haben keine anderen Ressourcen für Umweltkontakt. Nur Bewußtsein kann Kommunikation irritieren und zwar durch seine Beiträge zum Verstehen oder Mißverstehen. Die Ve rständlichkeit der Kommunikation kann durch Einführung neuer Medien un­ terbrochen werden. Störungen dieser Art bleiben nicht auf die Ebene des Einzelereignisses beschränkt, weil der Ge­ brauch neuer Medien als Solcher schon strukturelle Koppe­ lung (in Parallelereignissen) voraussetzt. 25

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Luhmann führt den Beobachtungsbegriff nicht im Kontext einer Evolu­ tion kommunikativer Strukturen ein sondern abstrakter (im Anschluß an Kognitionstheorien) als eine nichthintergehbare erste Unterscheidung. Es ist dann eine Entscheidung des Beobachters, ob die Unterscheidung von Unterscheiden und Bezeichnen (distinction and indication) auf psy­ chische oder soziale Systeme angewandt wird. Damit wird die coevolu­ tionäre Koppelung (und Entkoppelung) von Unterscheidungsleistungen des Bewußtseins und Bezeichnungsleistungen der Kommunikation aus der Betrachtung ausgeklammert. In Luhmanns medientheoretischen Ausführungen gibt es für Kommuni­ kation streng genommen nur ein Medium: nämlich Bewußtsein. Unter dieser Voraussetzungt muß die Abhängigkeit vom menschlichen Senso­ rium und der physischen Welt i.S. einer Hierarchie der strukturellen Koppelungen übers Bewußtsein eingeführt werden. In Soziale Systeme S. 197 heißt es dazu etwas unbestimmt: „Die Mitteilung muß die Infor­ mation duplizieren, sie nämlich einerseits draußen lassen [im Bewußt­ sein? K.G.] und sie andererseits zur Mitteilung verwenden, ihr eine da­ für geeignete Zweitform geben, zum Beispiel eine sprachliche (und evtl. lautliche, schriftliche etc.) Form. Auf die technischen Probleme einer solchen Codierung gehen wir nicht näher ein.“ Unter dem Aspekt evolu­ tionär folgenreicher Medienumbrüche ist aber darauf einzugehen.

4 Die technisch erweiterten Kommunikationsmittel ha­ ben eine Schlüsselstellung für soziale Variation, weil sie die Funktion übernehmen, Bewußtsein an Kommunikation zu koppeln (und umgekehrt Kommunikation an Bewußtsein in psychischen Systemen). Die operative Verschiedenheit psychischer und sozialer Systemer erlaubt nur eine „lose“ (gleichwohl strukturell notwendige) Koppelung auf der Ebene von Einzelereignissen. Jeder sprachliche Ausdruck, jedes Schriftzeichen ist in der Wahrnehmung des Bewußt­ seins bereits anders verknüpft als in der Kommunikation (zB. bei Legasthenikern). Veränderungen der Kommunika­ tionsmittel betreffen also primär und direkt diese Koppe­ lung von Bewußtsein und Kommunikation auf Ereignisebe­ ne. Medienwechsel gefährden die strukturelle Koppelung und setzen von daher beide Systemarten unter Selektions­ druck. Vor und neben allen technisch-apparativen Erweite­ rungen der Kommunikationsmittel fungieren Me nschen selbst als Medien der Kommunikation. Eine irritierende Erinnerung hieran ist enthalten in der Bezeichnung für Menschen, die Botschaften von Ve rstorbenen vermitteln. Auch die Rolle des Fremden in traditionellen Sozialstruktu­ ren wird ja primär wegen ihrer Übermittlungsfunktionen geschätzt. Der Umstand, daß auch in der modernen Gesell­ schaft Menschen diese Funktion in der Kommunikation laufend übernehmen, wird häufig dadurch verdeckt, daß in der Beschreibung von Interaktion davon abgesehen wird, inwieweit sie immer schon rekursiv verknüpft ist mit ande­ rer, vergangener, im kollektiven Gedächtnis der Gesell­ schaft gespeicherter Kommunikation. Das menschliche Gedächtnis (das Hirn und i.w.S. der ganze Organismus) bilden den gattungsgeschichtlich primären Speicher der Kommunikation.27 Jede Beobachtung setzt - als Einheit von Unterschei­ dung und Bezeichnung - schon Aufgezeichnetes voraus und jede Beschreibung schon Beschriebenes. Obwohl alltags­ sprachlich nicht eindeutig fixiert, läßt sich der Unterschied von Gedächtnis und Erinnerung als ein wesentlicher Effekt der technischen Erweiterung der Kommunikationsmittel rekonstruieren. Erinnerung ist als Ereignis der Kommunika­ tion gegenwärtig, ist „in“ der Kommunikation als Thema und Form (und ebenso als Operation des Bewußtseins: als bewußter Gedanke). Gedächtnis hingegen ist bloße Voraus­ setzung der Erinnerung, bleibt als Struktur latent, ist Medi­ um (oder Teil desselben) und nicht Form. (Eine ähnliche Relation läßt sich vermutlich für Bewußtsein und die Ge­ dächtnisfunktionen des Gehirns beschreiben.) Das Gedächtnis entzieht sich in der Operation der Er­ innerung seiner Beobachtung. Durch die technische Erwe i­ terung der Kommunikationsmittel wird das Medium als Zeichen, als Schrift, als externer Anhaltspunkt der Erinne­ rung beobachtbar und von der aktuellen Erinnerung unter­ scheidbar (für ungenaue Beobachter aber verwechselbar). Gedächtnis ist also immer nur für Beobachtung zweiter Ordnung gegeben, ansonsten fungiert es als Medium der Erinnerung. Einmal ausdifferenzierte Kommunikation ex­ ternalisiert ihre Voraussetzungen: das Bewußtsein, die Wahrnehmungsorgane des Menschen und seine Welt (als 27

Das läßt sich natürlich nur rückblickend so sehen. Die Verknüpfung von Kommunikation zu sozialen Systemen, also die operative Schließung der Kommunikation auch gegenüber Bewußtsein ist nur auf der Basis des menschlichen Hirnspeichers, also ohne externe Aufzeichnungen, die die Selektion stützen, natürlich nicht möglich.


K.G.: Evolution durch neue Medien physische). Alle Beobachtungen der Kommunikation basie­ ren auf einem Zeichengebrauch, der nicht nur auf etwas in der Welt referiert sondern auch selbst in der Welt „ist“ ­ sensorisch wahrnehmbar, speicherbar, wiederabrufbar, evtl. kopierbar und transportierbar.28 Das in technische Medien ausgelagerte Gedächtnis - von der Schrift bis zum elektroni­ schen Speicher - wirkt in der kommunikativen Verwe ndung als mächtige Erinnerung an die Komplexität vergangener Kommunikation der Gesellschaft.29 Neue Medien erweitern den Gedächtnisspeicher, steigern in diesem Sinne die Über­ last vergangener Kommunikation und erzeugen damit Se­ lektionsdruck i.S. der Unterscheidung von bewahrenswe r­ tem Wissen (Erinnerung) und Ereignissen, die dem Verges­ sen überlassen werden können. Die Ausdehnung und Verdichtung der Kommunikati­ on mittels externer Speicher stellt gewissermaßen die tech­ nische Seite der Veränderung dar. Von dieser Seite zeigt sich die zeitliche Unterbrechung der interaktiven Sequenz der Kommunikation als Nebe neffekt. In der Medienkonstel­ lation des Buchdrucks wird die Kommunikationsunterbre­ chung in komplementären Teilnehmerrollen fixiert: Die Rollen des Verfassers von Mitteilungen (Autorenschaft) und des Publikums (des anonymen Lesers). In der Autorenrolle ist Kommunikation beschränkt auf das Mitteilen von Infor­ mationen, in der Leserrolle ist sie beschränkt auf das Ver­ stehen von Mitteilungen. Der Autor handelt (und erlebt sich selbst als Mitteilenden). Der Leser handelt nicht, er erlebt nur. In der Perspektive des Lesers ist die Welt der Kommu­ nikation reduziert auf Beobachtungen. In diesen Beschrän­ kungen liegt das spezifische Potential der Printmedienkon­ stellation zur Steigerung der kognitiven Kontrolle der Kommunikation durch Unterscheidung.30 Es geht um die Unterbrechung eines laufenden, gewissermaßen unkontrol­ lierbaren Stroms kommunikativer Ereignisse. Diese - mit technischen Mitteln bewirkte - Entkoppelung von Kommu­ nikation und Bewußtsein kann auf beiden Seiten als Steige­ rung des kognitiven Potentials beschrieben werden: 1. auf seiten der Kommunikation überhaupt als Bedingung ihrer Verselbständigung, als Ablösung von Bewußtsein durch Einbau von Beobachtung als Selbstbeschreibung in die Kommunikation - die Kommunikation „versteht“ sich damit selbst.

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Die Seite der physischen Materialität der Zeichen (der Kommunikati­ onsmittel) wird hier nicht als etwas aufgefaßt, das irgendwie in die Kommunikation eingebaut und deshalb variationswirksam wäre. Vie l­ mehr wird ausgegangen von struktureller Koppelung als Folge der Aus­ differenzierung von Sinnsystemen - der coevolutionären Konstitution psychischer und sozialer Systeme - die zur andauernden Umweltvoraus­ setzung ihrer Evolution gehört. Der Punkt ist, daß diese Umweltvoraus­ setzung nicht ein für allemal gegeben, nicht stabil und unbeeinflußbar von der Evolution der menschlichen Gesellschaft ist, sondern von ihr selbst - durch technische Mediatisierung von Umweltereignissen - ver­ fügbar gemacht werden und dann auf sie (als externe Ursache) zurück­ wirken kann.

5 2. auf seiten des Bewußtseins als gesteigerte Teilnahmevor­ aussetzung - von der Alphabetisierung bis zur Texther­ meneutik.

Steigerung kognitiver Kontrolle Was ändert sich an dieser Konstellation heute durch elektronische Medien?31 Eine verbreitete Diagnose, die v.a. durch die bisherige Entwicklung des Massenkommunikati­ onsmediums TV inspiriert ist, geht davon aus, daß in der neuen Medienkonstellation ein Verlust an kognitiver Ko n­ trolle passiere. Die Ve rwendung elektronischer Bewegtbil­ der in der Massenkommunikation ist jedoch nur ein Proto­ typ der neuen Medienkonstellation. An der Entwicklung der Programme für die Mensch-Maschine-Interaktion in den elektronischen Netzen läßt sich schon heute beobachten, daß die Möglichkeiten der kognitiven Kontrolle - sowohl auf der Seite der Mitteilung wie der des Ve rstehens - in der neuen Medienkonstellation noch einmal steigen. Das moderne Zeitungswesen wird von Beginn an als Massenkommunikation bezeichnet.32 Dies legt das Mißve r­ ständnis nahe, die in der Konstellation des Buchdrucks generell gesteige rten Anforderungen an das kognitive Ve r­ stehen auch auf Massenkommunikation in der elektroni­ schen Medienkonstellation zu übertragen - was offensicht­ lich nicht geht. Was immer man über die Ve rstehensanfor­ derungen beim Zeitungsleser sagen mag: das TV setzt diese Anforderungen noch einmal herab und erweitert ja gerade damit offensichtlich den Kreis der erreichbaren Adressaten. Es wäre aber verkehrt daraus zu folgern, daß in der neuen Medienkonstellation die kognitive Kontrolle der Kommuni­ kation generell herabgesetzt würde. Dies ist ja allenfalls auf seiten der Adressaten der Massenkommunikation der Fall. Es ist nicht der Fall auf seiten der Absender, hier also der organisierten Handlungssysteme, die die Angebote der Massenkommunikation bereitstellen. Die kognitive Kontrol­ le ist hier also - anders als beim Buchdruck - strikt asymme­ trisch verteilt. Und diese Asymmetrie muß nicht als Ko n­ trollverlust beschrieben werden, sondern kann auch als von allen Beteiligten gewollter Kontrollverzicht beschrieben werden. Andererseits ist in der neuen Medienkonstellation auch eine eher symmetrisch-reziprok ansetzende Steigerung der kognitiven Kontrolle durch Kommunikationsunterbre­ chung zu beobachten: in den EDV-gestützten Netzwerken. Für die Printmedienkonstellation ist zu unterscheiden zwischen der verzögerten Interaktion beim pe rsönlichen 31

In einer historischen Rekonstruktion der Kommunikationsmittelentwic k­ lung wäre hier allerdings weder bei der Entwicklung der Schrift noch bei der der Lautsprache ein Anfang zu setzen sondern die Verwendung phy­ sikalischer Materialien jedweder Art als Objektivierungen menschlichen Sinns einzubeziehen (s. die Rekonstruktion von Gräbern, Häuser, Schmuck etc. in der Archäologie als Merkzeichen vergangener Kultu­ ren). Im Hinblick auf eine angemessene Methode der sozialwissenschaftli­ chen Beobachtung in der Printmedienkonstellation s. auch die Bemü ­ hungen um eine „Objektive Hermeneutik“ und als Verbindung zur Sy ­ stemtheorie, s. W.L.Schneider, 1995

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Die Diskussion über einen gegenwärtig zu beobachtenden Epochen­ bruch ist angeregt worden durch Lyotards "Arbeitshypothese", wonach gerade die Technisierung der Sprache und der sprachlichen Wissens­ strukturen umwälzende Folgen haben müsse. In der als Schlüsseltext für die Diskussion um die Postmoderne bezeichneten Schrift "Das postmo­ derne Wissen" heißt es: „Nun kann man sagen, daß seit vierzig Jahren die sogenannten Pilotwissenschaften und -techniken die Sprache zum Gegenstand haben: Die Phonologie und die linguistischen Theorien, die Probleme der Ko mmunikation und die Kybernetik, die modernen Alge­ bren und die Informatik, die Computer und ihre Sprache, die Probleme der Sprachübersetzung und die Suche nach Vereinbarkeiten zwischen Sprachen - Automaten, die Probleme der Speicherung und die Daten­ banken, die Telematik und die Perfektionierung 'intelligenter' Terminals, die Paradoxologie: All das sind beredte Zeugen, und die Liste ist nicht einmal erschöpfend.“ Lyotard, 1979, S.30 Diese Bezeichnung erweist sich als zutreffend, wenn man den Begriff der Masse ableitet aus der Anonymität der Adressaten - und nicht etwa aus irgendeiner Gleichförmigkeit der an Massenkommunikation beteilig ­ ten Personen. Vgl. Luhmann 1981c


K.G.: Evolution durch neue Medien Schriftverkehr mit seinen festen Adressaten und der voll­ ständigen Interaktionsunterbrechung beim Bücher- und Zeitungsmarkt mit seinem anonymen Publikum. Der Leser ist für den Autor nur ein fiktiver Adressat - und vice versa. In beiden Fällen handelt es sich jedoch um gesteigerte ko­ gnitive Kontrolle: Kommunikation als Beobachtung. – In der elektronischen Medienkonstellation löst sich der techni­ sche Zwang zur Differenzierung zwischen interaktiver und nichtinteraktiver Kommunikation auf. Unabhängig davon entwickeln sich aber die technischen Möglichkeiten der kognitiven Kontrolle der Ko mmunikation weiter. Einerseits findet eine Steigerung der in der Printme­ dienkonstellation schon angelegten Entwicklung der Kom­ munikation statt: Die Kommunikationsunterbrechung, die beim Buchdruck noch mit der Fiktion verbunden war, daß der Leser im hermeneutischen Zirkel (gewissermaßen in einer Warteschleife) mit dem Autor kommuniziere, wird in der Nutzung elektronischer Datenbanken, Expertensysteme etc. normalisiert. Zwar setzt schon die Kommunikation mit Büchern als Operation (also zeitgleich) nur die Beteiligung einer Person voraus.33 Jedoch sieht erst der Teilnehmer an elektronisch vermittelter Kommunikation die volle Konse­ quenz der Selbstbezüglichkeit seiner Operationen. Er muß sich der Selektivität seiner Informationssuche bewußt sein, um kompetent an entsprechenden Kommunikationsangebo­ ten teilnehmen zu können. Als Datenbanknutzer wird er sich nicht gern der doppelten Kontingenz eines Alter Ego ausgesetzt sehen, das ihn mit unerwarteten Mitteilungen überrascht oder gar über deren Informationsgehalt täuscht. Andererseits findet gerade in den elektronischen Net­ zen eine Wiederherstellung von Interaktivität in der EgoAlter-Dimension unter technisch erweiterten Bedingungen statt (mit Reziprozität, Symmetrie der Operationen etc. unter erweitertem Einbezug von sensomotorischer Ein- und Ausgabemöglichkeiten) wie sie in der Printmedienkonstellation der Interaktion unter Anwesenden vorbehalten war. Manche Beobachter sehen hierin eine Art Rückkehr zu der primitiven Kommunikationsweise vorschriftlicher Kulturen. Sie übersehen aber, daß die neue Medienkonstellation neben ihren gesteigerten Speichermöglichkeiten auch ein gesteigertes Potential für die kognitive Kontrolle der Kommunikation bereitstellt. 34 Diese Steigerungspotentiale werden häufig mit dem Begriff der Information bezeichnet. Das Neue der durch elektronische Medien bestimmten Konstellation wird damit allerdings gerade nicht bezeichnet. Die Hochschätzung von

6 Information war schon eine Folge des Buchdrucks.35 Sie wird in der naturwissenschaftlich-technischen Einstellung zur Welt kulturell dominant. Die auf Technisierung der Information focussierten Wissenschaftsdisziplinen setzen diese Linie fort, ohne die Paradoxien zu bemerken, die durch die Anwendung der Ingenieurstechnik auf die Kom­ munikationsmittel und Sinnvorräte der Gesellschaft entste­ hen und die Selbstbezüglichkeit des Informationsbegriffs erkennbar werden lassen.36 Destabilisierung der Kommunikation Angesichts des gegenwärtigen Medienumbruchs ist bemerkt worden, daß der epochale Wechsel von der skrip­ tographischen zur typographischen Medienkonstellation in der Geschichtsschreibung der Medien noch gar nicht ange­ messen verarbeitet worden ist.37 Rückblickend wird der Buchdruck gewöhnlich als eine technische Steigerung der Schriftverwendung gedeutet, zumal die Schrift im Druck ja wieder vorkommt. Die vormoderne Schriftverwendung erscheint so gewissermaßen nur als defizienter Modus der entwickelteren Form. Aus der Perspektive vormoderner Schriftkulturen läßt sich aber ebensowohl das Gegenteil vertreten: Die Schrift war fast gleichbedeutend mit Religi­ on, denn im Aufgeschriebenen wurde das Wissen vom Ur­ sprung bewahrt und damit zugleich die Ungewißheit der Zukunft eingeschränkt. Mit dem Buchdruck tritt die kulturelle Bedeutung der Schrift zurück. Sie wird relativiert durch die Information, den Inhalt der Mitteilung, der selbst gar nicht mehr aus der Schrift, d.h. den tradierten Schriften, sondern aus der prakti­ schen Erfahrung stammt. Die Revolution des Buchdrucks besteht gerade darin, von der Traditionlast der Schriften zu befreien. Jeder Text zählt nur insoweit, als seine Informa­ tionen (noch) stimmen. Die empirisch-experimentelle Ori­ entierung der modernen Naturwissenschaft ist ja primär eine Abkehr von der Schriftgelehrsamkeit, wie sehr dann auch immer Publikationen wichtig werden. Das moderne Ver­ hältnis von Wissenschaft und Technik wurde möglich durch die Kombination von praktischem Erfahrungswissen und theoretischem Reflexionswi ssen. Die Brisanz der Mi­ schung ergibt sich aus der Zusammenführung von zwei zuvor getrennt verlaufenden Traditionen gesellschaftlichen Wissens: 38

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Ausführungen dazu Gilgenmann, 1994 Daß die neuen Formen der Interaktivität nicht mit kognitivem Kontroll­ verlusten einhergehen müssen, läßt sich z.B. an den Programmen für die Ein- und Ausgabefunktionen der Kommunikation in elektronischen Net­ zen zeigen. Ein Vorzug der neuen Virtual-Reality-Techniken zeigt sich gerade darin, daß - kompetente Teilnehmer vorausgesetzt - die Unter­ scheidung zwischen Virtuellem und Realem (die ja schon in der typo­ graphischen Medienkonstellation gegeben war) noch einmal gesteigert wird: VR-Technik bei der interaktiven Eingabe von Daten vermeidet ja eher den für den Buchdruck typischen Fehlschluß, worin die Mitteilung (die Verfertigung des Texts) selbst schon für erfolgreiche Kommunika ­ tion gehalten wird. Ein offenbar interessanter Unterschied der neuen Kommunikationstechnik besteht darin, in den simulierten Räumlichkei­ ten Handlungen vollziehen zu können, die in der Realität unserer Pri­ märwahrnehmungen (für die Objekte der Beobachtung oder die Beob­ achter selbst) viel zu gefährlich wären. Die Erzeugung fehlertoleranter Handlungsräume ermöglicht Lernprozesse jenseits bloßer Gedankenex­ perimente (und jenseits der tradierten Formen schulischen Lernens).

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Während in dominant mündlichen Kommunikationsstrukturen die Gefahr des Vergessens über aller Kommunikation liegt - und gerade deshalb für das schon Bekannte institutioneller Aufwand zur Tradierung getrieben werden muß - gilt dieses Problem mit dem Buchdruck als weithin gelöst. Die Kommunikation wird frei, sich für Anderes zu inter­ essieren. Als Problem stellt sich jetzt dar: wie das individuelle Bewußt­ sein noch mithalten kann bei soviel etabliertem Wissen. Der naturwissenschaftlich-technische Informationsbegriff, der zunächst emphatisch die Fremdreferenz der Wahrnehmung akzentuierte als In­ formation (über etwas in der Welt i.S. der ständig gesteigerten Vorstel­ lung eines objektiven Wissensbestandes) reduziert sich in der Informatik auf die kleinste Zeicheneinheit - das bit of information - eine Un ­ terscheidung, die nur Nullen und Einsen unterscheidet und nichts in der Welt bezeichnet. Diese Selbstreferenz des Informationsbegriffs wird heute in den „cognitive schiences“ reflektiert. Darauf hat im Anschluß an M. McLuhans Vorarbeiten v.a. M.Giesecke (1991) mit seiner großen Monographie über den Buchdruck in der frü­ hen Neuzeit hingewiesen. Vgl. Giesecke,1992, zur Aufwertung des Erfahrungswissens der Hand­ werker (S.100) am Bsp. der Entstehung der "Fachprosa" und seine Ver­ knüpfung mit Theoriewissen S. 102


K.G.: Evolution durch neue Medien 1. Das handwerklich-technische Erfahrungswissen, das normalerweise nur mündlich in der situationsbezogenen Interaktion von Anwesenden weitergegeben wird. Die­ ses wird jetzt für den Buchdruck überhaupt erst versprachlicht. 2. Das "gelehrte Wissen" das zwar verschriftlicht existiert, aber nicht unter dem Aspekt alltagspraktischer Anwen­ dungen (nicht welt- sondern transzendenzorientiert) ge­ braucht wird. Das Reflexionswissen wird jetzt durchge­ sehen (unter dem Aspekt seiner Brauchbarkeit revidiert). Die Zusammenführung wird möglich durch die kommunikationsunterbrechende Mitteilungstechnik: die Versprachlichung und schriftliche Fixierung (Speicherung) in der Form der Mitteilung einerseits und andererseits die theoretische Reflexion des Praxiswi ssens in der (von der Mitteilung abgekoppelten) Form des Verstehens. Die Ob­ jektivität der wissenschaftlichen Beschreibung basiert nun auf der kognitiv zugespitzten Form der Übereinstimmung der Wahrnehmungen unter Absehung von allen (eben bloß "subjektiven") Zutaten der Beobachter (oder gar "innerer Stimmen"). Die dominante Linie (objektivitätsorientierter) Wis­ senschaft und (naturbeherrschender) Technik ist seit dem 19.Jahrhundert von Zweifel und Kritik begleitet worden.. Dies hat - besonders ausgeprägt in der deutschen Tradition ­ zu Spaltungsbewegungen innerhalb der Wissenschaft ge­ führt, in denen für den Bereich der menschlichen Gesell­ schaft die Eigentümlichkeit des (subjektiven) Sinnverste­ hens gegenüber der naturwissenschaftlich geprägten Beob­ achtungsmethode verteidigt wird. Blumenberg hat gegen­ über Husserls Kritik der naturwissenschaftlichen Weltan­ schauung darauf hingewiesen, daß es dieselbe Gesellschaft (Kultur, Lebenswelt) ist, die die Objektivierung der Welt und die Subjektivierung des Geistes, die naturwissenschaft­ lich-technische Einstellung und ihre Kritik hervorgebracht hat. Deshalb sei die vielkritisierte Technisierung der Le­ benswelt nicht als Sinnverlust sondern besser als Sinnve r­ zicht zu beschreiben. Blumenberg ve rsteht Technisierung als eine Form der Rückkehr von der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung - hier repräsentiert durch Naturwi ssen­ schaften - zur Ebene der Beobachtung erster Or dnung. Die­ se wird einerseits als unhintergehbare Voraussetzung wis­ senschaftlicher Reflexionsprozesse und andererseits als Folge von Technisierungsprozessen behandelt. Der Reflexi­ onsverzicht durch Technik wird zur Voraussetzung neuer Reflexionsprozesse - es handelt sich um ein evolutionäres Steigerungsverhältnis. Die Entwicklung der Kommunikationsmittel stellt als Technisierungsprozeß innerhalb der Gesellschaft einen Fall von allgemeiner Bedeutung dar, weil sie die strukturelle Koppelung von Kommunikation und Bewußtsein betrifft. Die Steigerung der kognitiven Kontrolle der Kommunikati­ on durch Unterbechung und externe Speicherung steigert zugleich die Möglichkeiten kommunikativer Verknüpfung und setzt damit die vorhandenen symbolischen Strukturen der Gesellschaft unter Variationsdruck. Mit der kognitiven Kontrolle der Kommunikation wird ihr Negationspotential gestärkt.39 Die symbolischen Strukturen der Gesellschaft 39

Luhmann sieht gerade in der wachsenden Kontrollkapazität durch neue Medien einen ambivalenten Fortschritt. Diese Ambivalenz ist allerding in der Linie der sozialen Evolution seit Erfindung der Schrift angelegt: „Im engeren Sinne bedeutet Kontrolle Vergleich von Input mit Gedächt­

7 müssen sich anpassen, um das gesteigerte Maß an Möglich­ keiten selektiv auf ein gesellschaftsverträgliches Maß an Verknüpfungen reduzieren zu können. Luhmann sieht den Variationsmechanismus der Ge­ sellschaft in einem basalen Sinne in der sprachlichen Codie­ rung der Kommunikation. Er bezieht sich dabei einerseits auf den Verweisungsreichtum allen Sinns - also auch schon der (nichtkommunikativen) Wahrnehmung, soweit sie im Bewußtsein sprachlich artikuliert ist - und andererseits auf das Negationspotential der Sprache - die Bifurkation der (kommunikativen) Anschlußmöglichkeiten durch die Mög­ lichkeit der Verneinung.40 Für Negationen gibt es keine Entsprechung in der Welt. Jede Negation setzt zumindest einen Beobachter voraus, der über einen Gedächtnisspeicher verfügt. Es geht beim Negationsgebrauch offenbar nicht um die Semantik der Sprache, nicht um die Variation der Sinn­ vorräte durch differenzierten Sprachgebrauch sondern um ein Potential, über das in elementarer Form bereits die frühe Mutter-Kind-Kommunikation zu verfügen scheint.41 Für die vorliegende Darstellung kommt es v.a. darauf an, daß dieses Potential durch technisch erweiterte Kommunikationsmittel gattungsgeschichtlich gesteigert wird: i.S. einer gesteigerten Kontrolle der Kommunikation durch Beobachtung.42 Die Ausdifferenzierung von Kommunikation als Be­ obachtung zweiter Ordnung vollzieht sich im Medium der Unterscheidung zwischen einer Informations- und Mittei­ lungsebene der Kommunikation.43 Dem Zeichenausdruck von Mitteilungsoperationen ist dieser Unterschied nicht anzusehen: weder eine mündliche Rede noch ein Brief­ wechsel oder ein Buch zerlegen sich von selbst in die Diffe­

nis und zwar nur mit Gedächtnis; das heißt, Ve rgleich der Gegenwart nicht mit der Zukunft, sondern mit der Vergangenheit. Kontrolle in die ­ sem Sinne bedeutet Blick zurück. Diese Fähig keit hat sich seit der Erfin ­ dung der Schrift und natürlich des Buchdrucks kontinuierlich erweitert. Die Computertechnologie multipliziert noch einmal unsere Speicherka­ pazität, unsere Kapazität der Verarbeitung und Analyse gespeicherter In­ formation und ihres Vergleichs mit hereinkommenden Neuigkeiten. Sie steigert in keiner Weise unsere Fähigkeit, unsere Ziele zu erreichen. Na ­ türlich können Ziele Teil unseres Gedächtnisses sein. In diesem Sinn sind sie als vergangene Phantasie gegeben. Daher kann wachsende Kon­ trolltechnologie eine wachsende Fähigkeit bedeuten – Enttäuschungen zu erleben.“ Luhmann, 1989b S13f. 40 41

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S. Luhmann 1983 S. 198 Hinweisen in der Entwicklungsychologie auf ein gewissermaßen natür­ liches Negations- und Variationspotential der Kommunikation steht die in den Sprachwissenschaften seit W.v.Humboldt dominierende Auffas­ sung gegenüber, die den natürlichen Sprachwandel in Wortverschmel­ zungs- und Abschleifungsprozessen (also gerade nicht in sprachlicher Differenzierung). Wahrscheinlich läßt sich dieser Gegensatz auflösen mit der Unterscheidung zwischen Kommunikation als Beobachtung zweiter Ordnung und ihrer Normalisierung auf der Ebene der Beobach­ tung erster Ordnung. Trotz der Hinweise auf ein gewissermaßen eingeborenes Negationspo­ tential der sprachlichen Kommunikation ziehe ich es vor, den Variati­ onsmechanis mus nicht in der Sprache an sich sondern in der Kommuni­ kationsunterbrechung zu sehen. Ausgehend von der Erfahrung mit tech­ nischen Kommunikationsmitteln ist es freilich möglich, den Unterbre ­ chungsmechanismus schon im Einbau von Beobachtung in mündliche Kommunikation i.S. einer Technisierung der Oralität zu rekonstruieren. In diesem Sinn definiert Luhmann: „Sprache ist ein Medium, das sich durch Zeichengebrauch auszeichnet. Sie benutzt akustische bzw. opti­ sche Zeichen für Sinn.“ (1984, S.223) Er sieht davon ab, daß schon vor­ sprachliche Wahrnehmungen mit solchen Zeichen möglich sind, weil es ihm um den für die Verstehensselektion entscheidenden Vorgang der „Regulierung der Differenz von Mitteilungsverhalten und Information“ geht, die erst durch Schriftsprache in der hier unterstellten Form möglich wird (so ausdrücklich: 1984, S.223).


K.G.: Evolution durch neue Medien renz von Information und Mitteilung. 44 Die Differenz wird am wahrnehmbaren Ausdruck (der Mitteilung) „verstehend“ rekonstruiert. Die Unterscheidung von Information und Mitteilung wird historisch notwendig in einer Medienkon­ stellation, in der sich die Erwartung generalisiert hat, daß wichtige Informationen nur in schriftlich fixierter Form zugänglich sind.45 Die Verstehensselektion hat sich als eine Form der Selbstbeobachtung der Kommunikation von den Wahrnehmungen des Bewußtseins abgelöst und in den Auf­ zeichnungen der Kommunikation ve rselbständigt. 46 Andererseits werden in der Kommunikation selbst laufend Ereignisse der Beobachtung zweiter Ordnung zu der Primärwahrnehmung gleichrangigen Wahrnehmungen nor­ malisiert.47 Von den an Kommunikation beteiligten Me n­ schen braucht also der Umstand, daß es sich um Beobach­ tung zweiter Ordnung handelt, gar nicht wahrgenommen zu werden. Die Teilnahme kann im Vertrauen auf die bewähr­ ten Zeichenausdrücke und Sinngebungen erfolgen. Das hat wahrnehmungsökonomisch entscheidende Vorteile. Jede Beobachtung zweiter Ordnung (sei es nun reflexiv in theoretischer Einstellung oder als bloße Operation) setzt als „blinden Fleck“ eine Ebene der Beobachtung erster Ord­ nung voraus. Kommunikation findet einfach statt, wenn mitgeteilte Informationen verstanden werden. Innerhalb der Interaktion unter Anwesenden funktioniert das normaler­ weise problemlos, weil die dafür benötigten Motive bereits in der Primärsozialisation (face-to-face) erwo rben werden. Jede Normalisierung der Kommunikation im Gebrauch technisch erweiterter Kommunikationsmittel muß an die hier erworbenen Motive anknüpfen. 48 Die Möglichkeit, an ein Kommunikationsangebot ne­ gativ anzuschließen, es also abzulehnen, bildet unter ent­ wickelteren Gesellschaftsverhältnissen keine nachhaltigen 44

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Allerdings gibt es dafür in der schriftlichen Kommunikation typische Hilfsmittel: Das die Echtheit der Mitteilung verbürgende Siegel ist ein Relikt der älteren Schriftkultur. Ähnlich die persönliche Unterschrift, die vom Buch- und Zeitungsautor nicht mehr verlangt wird, und heute auch zB. im elektronischen Zahlungsverkehr durch die persönliche Identifika ­ tionsnummer (PIN) ersetzt wird. In einer bloß auf Oralität und Interaktion basierenden Medienkonstella­ tion bestand vermutlich kein Bedarf für die Unterscheidung von Infor­ mation und Mitteilung. Luhmann, 1984, S.223 Anfänge einer mit dieser Unterscheidung operierenden Beobachtung lassen sich erst mit der Ver­ wendung (hand)schriftlicher Aufzeichnungen rekonstruieren. Und erst mit dem Buchdruck kann die Differenz von Information und Mitteilung sich in der Unterscheidung von objektiver Realität und subjektiver (Au­ toren-)Wahrnehmung reflektieren. Vgl. Gilgenmann, 1994 In Luhmanns Kommunikationstheorie wird die Verstehensoperation von den Wahrnehmungen der Teilnehmer abgelöst als rein kommunikations­ interne Angelegenheit behandelt. (1984, S. 196, 198f) Dadurch ensteht eine Doppelung des Verstehensbegriffs in psychisches und soziales Ve r­ stehen, deren Nachvollzug Schwierigkeiten bereitet. (Wie kann Verste­ hen zugleich Teilkomponente von Kommunikation und aus Kommuni­ kation als Letztelement zusammengesetzt sein?) Für die Theoriekon­ struktion entscheidend ist m.E., daß die Kommunikation in struktureller Koppelung an das, was das Bewußtsein als Verstehen zur Verfügung stellt, ihrerseits selektiv anders anschließt. Ich bezeichne daher hier die Verstehensselektion der Kommunikation als kommunikativ verselbstän­ digte Form der Beobachtung und leite sie aus der Kommunikationsun­ terbrechung durch Medien ab. Es handelt sich um ein „recycling“ von der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung auf eine Ebene der Beobachtung erster Ordnung inner­ halb der Kommunikation. Die Beobachtung erster Ordnung ist also kei­ neswegs als etwas Ursprünglich-Natürliches aufzufassen. Der Hinweis auf Beobachtung erster Ordnung fungiert hier als Rekurs auf immer schon vorausgesetzte Stabilität der Gesellschaft und andere­ rerseits als Verweis auf den hier nicht behandelten Restabilisierungsme­ chanismus der Gesellschaft.

8 Effekte der Variation.49 Solange innerhalb der Gesellschaft die Ablehnung nicht hinreichend „legitimiert“ erscheint, also ihrerseits nur abgelehnt wird, bleibt die Verneinung folgenlos. Variation - i.S. der Erweiterung des Pools für strukturrelevante Selektionen - kann aus den Negationsmög­ lichkeiten der Kommunikation nur erwachsen, wenn die vorhandenen Selektionsmittel der Gesellschaft selbst durch das Ausmaß an abweichender Kommunikation unter Legi­ timationsdruck geraten, so daß auch negative Selektion nicht mehr zum status quo ante zurückführt. Luhmann ver­ weist auf beschleunigende Mechanismen der sozialen Evo­ lution, die die Wahrscheinlichkeit von Negationen und anschließender Neugenerierung von Erwartungsstrukturen erhöhen und erwähnt hier v.a. Recht, Religion und Wissen­ schaft.50 In allen Fällen ist die Kommunikationsunterbre­ chung durch Technisierung prominent beteiligt: Für die Austragung von Konflikten mit Rechtsmitteln ist (trotz angelsächsischer Sonderentwicklungen) die Abkoppelung von mündlichen Auslegungsfreiheiten durch schriftliche Fixierung entscheidend. Die Modernisierung der Religion in der abendländisch-christlichen Tradition ist mit der Durch­ brechung des mündlichen Auslegungsmonopols durch die Gutenbergsche Publikation eingeleitet worden. Und erst recht war die Durchbrechung dieses Monopols und die Freiheit der Publikation eine entscheidende Entwicklungs­ voraussetzung für die moderne Wissenschaft. In evolutionstheoretischer Perspektive hat Luhmann damit Medien der Kommunikation beschrieben, deren ent­ scheidende Funktion darin besteht, das durch Entwicklung der technischen Kommunikationsmittel freigesetzte Negati­ onspotential für die Gesellschaft wieder einzubinden: „Je stärker der Variationsmechanismus zur Geltung gebracht wird, und dies geschieht schubweise vor allem durch Al­ phabetisierung der Schrift und durch Erfindung des Buch­ drucks, desto größere Anforderungen werden an Kommuni­ kationsmedien gestellt. Sie müssen trotz Negierbarkeit ope­ rieren, müssen Negationen überwinden können.“51 Sie tun dies, indem sie symbolische Generalisierungen zur Verfü­ gung stellen, die auf einer übergeordneten Ebene der Ko m­ munikation als nicht zu hinterfragende Vo raussetzungen der Kommunikation erscheinen, die Kontingenzen der Kommu­ nikation reduzieren und sie als Beobachtung erster Ordnung normalisieren. Die von Parsons entlehnte Bezeichnung dieses zweiten Typs von Medien als „symbolisch generali­ siert“ bringt die - zumindest für die Moderne dann typisch gewordene - Ambivalenz dieser Medien nicht angemessen zum Ausdruck. Als symbolische Generalisierungen fungie­ ren bestimmte semantische Formen - in der Moderne v.a. solche, die Funktionsprimate für die Gesellschaft symboli­ sieren. Wer mit Luhmann das Medium beobachtet, das sich hinter diesen symbolischen Formen verbirgt, dem zeigen sich eher „diabolische“ Generalisierungen: 52 so v.a. die Technisierung der Kommunikation durch Binärcodierun­ gen, deren beide Seiten im Hinblick auf kommunikative

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Anders als in Stammesgesellschaften, traditionellen Gruppen mit hohem Konformitätsdruck oder intimen Interaktionssystemen. Luhmann 1983 S. 198f Luhmann 1983 S. 199 Diabolik entsteht für Beobachter schon, wenn der Zusammenhang zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung auseinandergerissen wird ­ wenn mit dem latenten Hintergrund die Form im Vordergrund zu ver­ schwinden droht.


K.G.: Evolution durch neue Medien Verknüpfung zunächst gleichwertig erscheinen.53 Diese Diabolik bleibt jedoch normalerweise im Verborgenen. Sie wird einerseits gebannt durch die Überzeugungskraft der kulturell übergeordneten Symbole und wird andererseits unsichtbar im routinemäßigen Gebrauch und der Respezifi­ zierung der Codewerte durch Handlungsprogramme.54 Anders sieht es aus, wenn die etablierten symboli­ schen Strukturen der Gesellschaft nicht mehr ausreichen, um der Variation durch neue Medien standzuhalten. Wenn die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien selbst als Formen der Kommunikation beobachtet werden, hören sie auf, als Medien zu funktionieren. Derartige Beob­ achtung ist historisch als Variationsmechanismus der Kommunikation schon immer dann in Erscheinung getreten, wenn es darum ging, alte symbolische Strukturen zu destru­ ieren (zB. das Gottesgnadentum des Regenten in der Poli­ tik) und damit Platz zu schaffen für Neues. Die in der mo­ dernen Gesellschaft auf Beobachtung spezialisierte Wissen­ schaft wirkt diabolisch, sobald sie über die Grenzen des Wissenschaftssystems hinauswirkt.55 In dem Generalisie­ rungsprozeß wissenschaftlicher Beobachtungen liegt be­ kanntlich kein Sicherheitsgewinn sondern eher Verunsiche­ rung für kommunikative Anwendungen. Dies kann im je­ weiligen Kontext als Variationsspielraum gesucht und ge­ nutzt werden.56 Diese Art „diabolischer Generalisierung“ wird aber nicht nur von hochspezialisierten Beobachtern sondern v.a. mit den Mitteln der modernen Massenkommu­ nikation betrieben. Ihre Funktion - die Zerstörung des La­ tenzschutzes für generalisierte Symbole - könnte aber gera­ de in der Anpassung der Selektionsmittel der Gesellschaft an erhöhten Variationsdruck bestehen. Doppelte Kontingenz und Systembildung In der frühmodernen Gesellschaftstheorie sind die Er­ folgsaussichten der menschlichen Ge sellschaft in höchstem Maße auf ihr kognitives Potential gestützt worden. Die im 19. Jahrhundert daran entstandenen Zweifel sind in der soziologischen Theorietradition aufgenommen und sozial erfolgreiches Handeln unter den Bedingungen moderner Gesellschaftsverhältnisse an die Voraussetzung symbolisch geteilter Werte gebunden worden. Parsons hat diese Auffas­ sung in sein Modell der Entstehung sozialer Systeme durch doppelt kontingente Interaktion eingebaut. Luhmann hat die Parsonssche Prämisse der Wertbindung alles Sozialen kriti­ siert und damit das Modell der doppelten Kontingenz radi­ kalisiert. Diese Radikalisierung führt - freilich ohne das 53

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Luhmann, 1981, S.257-260 – hier mit bezug auf Geldtheorie – und Hinweisen auf Übertragbarkeit der „Diabolik“ auf andere Medien so zB.auf Macht. Technisierung ist immer Koppelung einer Unterscheidung an ein Pro­ gramm, das die Entscheidung für eine Seite des Unterschiedenen vor­ zeichnet und entproblematisiert. Was von seiten der unfreiwillig Betrof­ fenen bekanntlich immer auch beobachtbar ist als unzulässige Simplifi­ kation sozialer Komplexität, als Entproblematisierung des Sozialen um den Preis der Unerkennbarkeit von Alternativen. Dies läßt sich am einfachsten beobachten in Interaktionszusammenhän­ gen, in denen eine Form der Kommunikation, in der ausschließlich Erle ­ ben zählt, und in der sich der Beobachter dem Handeln entzieht, auch im moralischen Sinne als diabolisch wahrgenommen wird. Es gibt dabei allerdings wohl keine eingebaute Stopregel für die De­ struktion des Latenzschutzes symbolischer Strukturen - nur ihre laufende Regeneration i.S. eines Rekurses auf noch „unverbrauchte“ symbolische Ressourcen - und das dann sowohl in progressiver wie regressiver Ein ­ stellung.

9 Fortschrittspathos der Aufklärung - zurück auf die evolutio­ näre Bedeutung kognitiver Potentiale. Verschiedene Beob­ achter mit jeweils verschiedenen Unterscheidungen beo­ bachten sich wechselseitig im Hinblick auf die Einheit die­ ser Unterscheidungen und erzeugen damit eine Situation doppelter Ko ntingenz, die zu sozialer Systembildung führt.57 Bei Parsons erscheint die Lösung des Problems der doppelter Kontingenz in immer schon vorausgesetzter So­ zialität. Luhmann hingegen fragt nach den Bedi ngungen der Möglichkeit dieser Sozialität - und steigert damit die Be­ gründungslast des Theorems. Die Provokation der Luh­ mannschen Formulierung liegt in der Zuspitzung auf eine Art autokatalytischen Effekts sozialer Systembildung. Dop­ pelte Kontingenz erscheint (theoretisch) als ein Problem, das seine Lösung immer schon mit sich führt. In empiri­ scher Hinsicht könnte jeder Zufall zum Auslöser der Sy­ stembildung werden. Das Erklärungsmodell bezieht seine Suggestivkraft von der Ebene der Interaktion unter Anwesenden, obwohl es darüber gar nichts ausssagt. Auf der Ebene der Interakti­ on unter Anwesenden kann doppelte Kontingenz - man denkt vielleicht an das leichte Zögern, ob man zu erkennen geben soll, daß man erkannt hat, daß der Andere Einen erkannt hat - nur als Ausnahme, als Produkt verfeinerter Sitten o.ä. beobachtet werden. Normalerweise reguliert sich die Kommunikation unter Anwesenden von selbst - ganz ohne doppelte Kontingenz - durch die Spontaneität der wechselseitigen Wahrnehmung und auf einer eleme ntareren Ebene: durch genetisch verankerte Antriebe und Wahrneh­ mungsmuster. Wann also tritt doppelte Kontingenz über­ haupt auf? Luhmann betont, daß das Theorem der doppelten Kontingenz i.S. der Frage nach den Bedingungen der Mög­ lichkeit sozialer Systeme eine evolutionstheoretische und keine historisch-genetische Rekonstruktion darstellt.58 Es geht nicht um die Beschreibung eines Anfangs für Folgeer­ eignisse sondern von Mechanismen, die das Zustandekom­ men der Ereignisse an den zustandegekommenen Ereignis­ sen selbst erkennbar machen. Doppelte Kontingenz ist also kein Einmalereignis sondern etwas, das in jeder sozialen Situation vorkommt. Luhmanns Fassung setzt - was durch ihre suggestive Formulierung leicht übersehen wird - nicht nur Menschen mit Bewußtsein sondern schon emergente Sozialsysteme als Beteiligte vo raus.59 Er bezeichnet die laufende Wiederherstellung doppelter Kontingenz als Teil der Autopoiesis sozialer Systeme und verweist auf Mö g­ lichkeiten, „im System ein neues System mit eigener Sy­ stem/Umwelt-Differenz zu bilden - und vielleicht ein Sy­ stem, das länger dauern wird als das Ausgangssystem.“60 57

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Interessanterweise unterscheidet Luhmann in seiner diesbezüglichen Parsons-Revision zwei Auswirkungen doppelter Kontingenz: einerseits die Ausdifferenzierung sozialer Systeme (die er an dieser Stelle als Handlungssysteme bezeichnet) und andererseits die Ausdifferenzierung der Sozialdimension als einer besonderen Sinndimension, die „als Pro­ blem der Gleichsinnigkeit oder Diskrepanz von Auffassungen“ auch oh­ ne Kommunikation zugänglich ist. 1984, S. 152f Luhmann, Vorlesung zur Theorie sozialer Systeme Bd.14 (Audiokasset­ te) Bei Luhmann erscheint allerdings nur die Formulierung: „zwischen psychischen“ und „zwischen sozialen“ Systemen. Warum der Fall der Interaktion zwischen psychischen und (schon emergenten) sozialen Sy­ stemen hier nicht interessiert, wird verständlich, wenn man sieht, daß der paradigmatische Fall der Kommunikationsunterbrechung und Aus­ differenzierung von Kommunikation als Beobachtung in der Emergenz von Handlungssystemen besteht. Luhmann, Soziale Systeme S.258.


K.G.: Evolution durch neue Medien Jede Teilnahme an Kommunikation reproduziert demnach das Problem der doppelten Kontingenz - und löst es durch neue bzw. veränderte Systembildung. Wenn das Problem in dieser Weise beschrieben wird, dann erscheint es umso rätselhafter, wie in jeder sozialen Situation auch schon seine Lösung enthalten sein soll. Woher kommt die prästabilisierte Garantie für die Auflösung des Problems auf der Ebene komplexer, strukturdeterminierter Sozialsyste­ me? Wenn die Gesellschaft mit doppelter Kontingenz und Systembildung schon ihre eigene Variation und Selektion reguliert - wie kann es dann noch soziale Evolution geben? Eine Antwort auf diese Frage könnte sich ergeben, wenn gezeigt werden kann, daß die Gesellschaft in ihrer jeweili­ gen Medienkonstellation beides stabilisiert: das Problem und seine Lösung. Das Theorem der doppelten Kontingenz entfaltet sein Erklärungspotential im Kontext einer Ko m­ munikation mit technisch erweiterten Mitteln. Doppelte Kontingenz läßt sich nur auf dem Hintergrund der gesteiger­ ten kognitiven Kontrolle der Kommunikation in der Print­ medienkonstellation beobachten - also gerade nicht auf der Mikroebene der Interaktion unter Anwesenden, auf die es als Modell projiziert wird. Die technische Erweiterung der Kommunikationsmit­ tel durch Schrift und ihre Verallgemeinerung durch den Buchdruck wird häufig unter dem Aspekt der (territorialen) Ausdehnung der kommunikativen Verknüpfungen (der verlängerten Handlungsketten) über den Kreis der räumlich Anwesenden hinaus beschrieben. Die Veränderungen in der Zeitdimension erscheinen demgegenüber zweitrangig (oder werden in der Beschreibung vorschnell mit Ersteren zu­ sammengezogen). Aus gegenwärtiger Sicht erscheint die Veränderung in der Zeitdimension nicht gerade bemer­ kenswert: der Brief erreicht erst mit tagelanger Verzögerung seinen Adressaten, das Buch manchmal erst nach Jahren seine Leser. Diese eher technische Perspektive verstellt allerdings den Blick auf die evolutionäre Errungenschaft: die Steigerung der kognitiven Kontrolle der Kommunikati­ on. Die eigentliche „Fernwirkung“ des Buchdrucks liegt also nicht in der Steigerung der räumlichen Reichweite der Mitteilung sondern in der Steigerung der kognitiven Kon­ trolle der Ko mmunikation durch Interaktionsunterbrechung und die technische Externalisierung sozialer Sinnvorräte. Rückblickend läßt sich erkennen, daß in der mit dem Buchdruck entstandenen Medienkonstellation eine Entwick­ lung angelegt ist, die zu einer folgenreichen Bifurkation der Kommunikationsweise geführt hat: Auf der einen Seite gibt es (durch Buchdruck und Alphabetisierung verallgemeinert) die schriftliche Ko mmunikation mit scharfer Unterbrechung des laufenden Vollzugs der Kommunikation und einer star­ ken Beschränkung der Teilnehmer auf die kognitive Seite menschlicher Beitragspotentiale und auf der anderen Seite (durch Wahrnehmung der Differenz gesteigert) die mündli­ che Kommunikation mit voller Reziprozität der Wahrneh­ mung wechselseitigen Handelns und Erlebens. Schriftlichkeit der Kommunikation ist als solche schon eine Form der Distanzierung von umittelbarem Han­ deln und Erleben. Sie ermöglicht die Ausdifferenzierung einer Ebene der Beobachtung zweiter Or dnung erstens da­ durch, daß sie den Vollzug der Kommunikation unterbricht und zweitens dadurch, daß das schriftlich Gespeicherte dem Bewußtsein nicht unmittelbar als Vergangenes in der Ge­ genwart zur Verfügung steht, sondern erst gelesen (also gedeutet, mit Wie-Fragen versehen) werden muß. Schon bei der Formulierung von Mitteilungen erzeugt die Schriftlich­

10 keit erhöhte Kontrollansprüche. Der Mitteilende kann nicht antezipieren, in welcher Situation das Mitgeteilte erlebt wird, muß deshalb (relativ kontextfrei) formulieren, damit die Mitteilung verständlich werden kann. Dem entspricht die methodisch kontrollierte Bemühung des Lesers beim Verstehen von Mitteilungen (verallgemeinert durch Schu­ len). So liegen Welten zwischen der Verteilung gesellschaftlichen Wissens über mündliche Kommunikation (durch Erzählung, die ja auch nicht bloße Unmittelbarkeit ist) und seiner Verteilung über schriftliche Kommunikation, die nicht nur spezifische Techniken des Lesens und Schrei­ bens verlangt sondern eine Steigerung der kognitiven Kon­ trolle der Kommunikation bis hin zur Ausdifferenzierung eines Funktionssystems für Wissenschaft. Doppelte Kontingenz läßt sich auf dem skizzierten Hintergrund als Problem der Kommunikation unter Bedin­ gungen der technischen Unterbrechung und gesteigerten Beobachtung beschreiben. Wenn das für die Kommunikati­ on als Interaktion unter Anwesenden typische Oszillieren zwischen Handeln und Erleben durch das Dazwischentreten der Schriftlichkeit unterbrochen und einseitig auf Erleben reduziert, wenn andererseits das Verstehen kommunikativ verselbständigt und durch methodische Reflexion gesteigert wird, dann entsteht das Problem, daß das Zustandekommen von Kommunikation auf selektive Vorgaben (auf Asymme­ trisierung) angewiesen ist, die durch Ausdifferenzierung als System bzw. schon emergente Strukturen von Systemen möglich werden. Es handelt sich um ein Problem, das seine Lösung insofern schon mit sich führt, als es überhaupt erst auf einer spezifischen Ebene der Kommunikation, der Aus­ differenzierung sozialer Systeme auf der Mesoebene der Gesellschaft, auftritt.61 Die Emergenz dieser Systeme kann zugleich als Auf­ lösung und Reproduktion des Problems der doppelten Kon­ tingenz beschrieben werden.62 Das Problem reproduziert sich auf dieser Ebene, weil mit der gesteigerten kognitiven Kontrolle der Kommunikation keineswegs automatisch ein gesteigerter Erfolg i.S. kommunikativer Handlungsan­ schlüsse einhergeht. So ist zu verstehen, daß das Problem zugleich als Folge und als Voraussetzung neuer Systembil­ dung auftreten kann. Mit der Steigerung der kognitiven Kontrolle der Kommunikation durch neue Medien werden evolutionäre Errungenschaften bezeichnet, die die Bedin­ gungen kommunikativen Erfolgs verändern. Es geht um die Beschreibung sozialer Einheiten, die sich - im Unterschied zur Interaktion unter Anwesenden wie auch zur Gesellschaft insgesamt - durch kollektive Handlungsfähigkeit auszeich­

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Primärform der Systembildung - auf dem Hintergrund der skizzierten Medienkonstellation des Buchdrucks - ist die der organisierten Hand­ lungssysteme - und nicht etwa die der Interaktionsysteme. Auf der Ebe­ ne der Interaktion lassen sich erst sekundär - als Folge der Ausdifferen­ zierung der Handlungssysteme auf der Mesoebene und gewissermaßen in Abgrenzung dazu - Formen der operativen Schließung erkennen. Luhmann unterscheidet als emergente Folgen soziale Systembildung und Veränderungen der sozialen Wahrnehmung. „Doppelte Kontingenz in diesem gegenüber Parsons modifizierten Verständnis hat eine zweifa ­ che Auswirkung. Sie ermöglicht die Ausdifferenzierung einer besonde­ ren Weltdimension für sozial unterschiedliche Sinnperspektiven (Sozial­ dimension), und sie ermöglicht die Ausdifferenzierung besonderer Handlungssysteme, nämlich sozialer Systeme. Soziales ist danach an allem Sinn zugänglich als Problem der Gleichsinnigkeit oder Diskrepanz von Auffassungsperspektiven. Es ist zugleich ein besonderer Anlaß zur selektiven Akkordierung von Handlungen in Systemen, die sich von ih­ rer Umwelt unterscheiden können.“ 1984 S. 152f


K.G.: Evolution durch neue Medien nen und ihre Umwelt unter dem Aspekt konkurrierender Einheiten beobachten..63 Handlungssysteme und Märkte Das Lesen von Büchern und die Mitgliedschaft in modernen Organisationen haben etwas gemeinsam: In bei­ den Fällen handelt es sich für die beteiligten Personen dar­ um, sich auf eine Kommunikation einzulassen, die bereits in hohem Maße selektiv vorstrukturiert ist. Bei schriftlichen Texten handelt es sich um die Vorentscheidung über Beob­ achtungen, bei Organisationen um die Vorentscheidung über Handlungen. 64 Schriftliche Texte sind kognitive Pro­ gramme, Organisationen Handlungsprogramme. Die Mög­ lichkeiten der spontanen Korrektur von Beobachtungen und Handlungen sind in beiden Fällen eingeschränkt: durch Interaktionsunterbrechung. Die Parallelen ließen sich fortführen - wichtiger ist ein Unterschied: Bei der Produktion und Rezeption von Texten ist es der Gebrauch des Mediums selbst, der die Kommunikationsunterbrechung veranlaßt. Organisationen benutzen die Kommunikationsunterbrechung durch Medien auf der Grundlage doppelter Kontingenzwahrnehmung und steigern sie durch operative Schließung auf der Grundlage von Entscheidungsprogrammen.65 Die selektive Verknüp­ fung von Handlungsanschlüssen durch (protokollierfähige) Entscheidungsoperationen unterbricht alle Interaktivität des Systems in bezug auf Ereignisse in der Welt und ordnet sie neu unter dem Gesichtspunkt systemspezifischer Umweltre­ lationen (i.e.S. dann Konkurrenz-, Kooperations- und Lei­ stungsbeziehungen). Die Ausdifferenzierung von Handlungssystemen läßt sich in doppelter Hinsicht als Kommunikationsunterbre­ chung beschreiben:66 63

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Zur Ausdifferenzierung dieser Ebene zwischen Interaktion und Gesell­ schaft vgl. Soziale Systeme S. 270-274 – Luhmann verwendet den Be­ griff des Handlungssystems nur dort, wo er direkt an Parsons anschließt 1984, S. 152f und zieht es im übrigen vor, von Organisationssystemen zu sprechen. Ich halte hier das Festhalten am Handlungsbegriff - gerade auf dem Hintergrund der von Luhmann, 1984 S. 191ff erfolgten Neube­ stimmung des Verhältnisses von Kommunikation und Handlung - für gerechtfertigt. Alle sozialen Systeme operieren auf der Basis von Kom­ munikation - aber nur Organisationssysteme sind in dem besonderen Sinne kommunikationsfähig, daß „im Namen“ des Systems kommuni­ ziert werden kann. M.E. ist dieser Bezug auf Eigennamen ein hinrei­ chender Grund, um hier von Handlungen (von Handlungsfähigkeit und von Systembildung im Hinblick auf Handlungserfolg) zu sprechen. – Auch wenn diese Redeweise als Beobachterkonstrukt bezeichnet werden kann, so handelt es sich hier doch um eine Konstruktion, die das System selbst verwendet (die also durch Beobachtung des Beobachters zu ge­ winnen ist) und die sich im Umweltverhältnis von Organisationen be­ währt (als kommunikativ anschlußfähig erwiesen) hat. Vgl. dagegen Luh mann 1993b S.97 Schrift und Buchdruck verändern nicht bloß die räumliche und zeitliche Reichweite der Mitteilung von Informationen. Sie bilden v.a. auch hochorganisierte Formen der Information selbst: die Organisation der Information als Text stellt eine Vorentscheidung über kommunikativ verfügbare Wirklichkeitskonstruktionen dar. Texte sind insofern nicht einfach Mitteilungen sondern als Mitteilung zur Verfügung gestellte Kollektionen von Informationen. Sie sind nur möglich als Artefakte von auf Beobachtung spezialisierten Systemen. In der Theorietraditon wird deshalb von Gedanken- und Ideensystemen gesprochen. Ich vermeide diese Analogie, weil es sich bei Texten jedenfalls nicht um soziale Sy­ steme handelt und weil sie hier primär als Medien der Kommunikation in Betracht kommen. Zur Operationsform des Entscheidens s. Luhmann 1993b, S. 92ff In einer ausgeführten Fassung wäre die hier skizzierte These der Entste­ hung bzw. Veränderung kollektiv organisierter Handlungssysteme aus der Kommunikationsunterbrechung durch neue Medien auf historisch

11 1. Nach innen als Differenzierung durch Abkoppelung der Teilnahmemotive vom Organisationszweck.67 Dadurch ist jegliche Interaktion, die nicht den Regeln des Organi­ sationshandelns folgt, Umwelt des Systems. Die Interak­ tion in der organisationsrelevanten Nahumwelt verwan­ delt sich in Konkurrenz um Karrieren, Stellen, Einfluß in der Organisation. 2. Nach Außen als Differenzierung durch Konstruktion einer systemspezifischen Umwelt, die sich von der Ge­ sellschaft insgesamt als soziale Umwelt des Systems un­ terscheidet: Kollektive Handlungssysteme verwandeln alle für sie relevanten Umweltereignisse in solche der Konkurrenz.68 Es geht hier um kollektive Handlungssysteme und Märkte als Komplementärphänomene, deren Emergenz als die einer spezifischen Ebene der Kommunikation (zwischen Interaktion und Gesellschaft) zu beschreiben ist.69 Zugleich mit der Bildung von kollektiv handlungsfähigen Systemen entstehen systemspezifische Umwelten. Handlungssysteme interagieren nicht mit ihrer Umwelt. Die Grenze zwischen System und Umwelt ist ja gerade durch Kommunikations­ unterbrechung konstituiert. Durch Beobachtung konkurrie­ render Handlungssysteme entstehen Märkte. Kollektive Handlungssysteme steigern die Erfolgsaussichten ihrer Handlungsangebote durch Beobachtung der diesbezüglich relevanten Umwelt.70 Markt- bzw. Publikumsbeobachtung wird in diesem Sinne zu einem konstitutiven Bestandteil der Kommunikation auf der Mesoebene.71 Je größer die zu beobachtenden Märkte (heute international) desto schärfer die Unterbrechung der Kommunikation zwischen System verschiedene Medienkonstellationen zu beziehen (in starker Vergröbe­ rung): die Herrschaftsverwaltung traditionaler Hochkulturen durch Schrift (schriftliche Aufzeichnungen); die Ausdifferenzierung wirt ­ schaftlicher Handlungssysteme (mit nationalen Märkten) durch den Buchdruck; schließlich die netzwerkartige Verbreitung und Internationa­ lisierung von Handlungssystemen durch die neuen elektronischen Medi­ en. 67

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Der soziologische Rollenbegriff hat diesen Differenzierungsvorgang zur Voraussetzung. In vorsoziologischer Theorietradition wurde der Vo r­ gang - angesichts der Vorreiterrolle ökonomischer Handlungssysteme ­ als Trennung des Produzenten von seinem Produkt bezeichnet. Das läßt sich m.E. auch für Handlungssysteme behaupten, die über ein Monopol verfügen wie zB. der Staatsapparat. Dieses ist ja immer sach­ lich, räumlich und zeitlich begrenzt, bedroht durch konkurrierende Ein ­ flüsse, muß also verteidigt werden etc. Handlungssysteme und Märkte sind in der Theorietradtion meist geson­ dert behandelt worden: In der Ökonomie seit Adam Smith und Marx eher der Markt, in der Rechtslehre und Soziologie seit M. Weber v.a. der rationale Zweckverband. Ein Zusammenhang ist zunächst nur unter ne­ gativen Aspekten gesehen worden: beides löst tradierte Formen der Ve r­ knüpfung von Kommunikation auf. „Organisationen sind Beobachtungen beobachtende Systeme.“ so Luh­ mann, 1992b S. 206 unter Bezug auf die Kybernetik H.v.Foersters. – Für kollektive Handlungssysteme gilt es zweierlei Handlungseinheiten in der Umwelt zu beobachten: Menschen (personifizierte Handlungseinheiten, die keine Systeme sind) und andere Systeme desselben Typs (die intern selektiv verknüpfte Entscheidungen bündeln und nach außen wie Perso­ nen als Handlungseinheit auftreten). Sie verschaffen sich durch Beob­ achtung - insbes. im Vergleich mit handelnden Einzelpersonen - spez. Handlungsvorteile in der Konkurrenz. Nach Coleman liegt in dieser Beobachtungsfunktion der Grund für die Ausdifferenzierung soziologischer und sozialpsychologischer For­ schung. Als „feed-back-Mechanismus“ der korporativen Akteure gehört sie zum Inventar der Mesoebene (ohne privilegierten Zugang zur Beob­ achtung der Gesellschaft). Vgl. Coleman, 1986, S. 143f mit Bezug auf Lazarsfeld und Stanton als Beispiele für die US-amerikanische Wissen­ schaftsgeschichte und dem Hinweis auf ältere europäische Beispiele in der Erforschung „sozialer Probleme“.


K.G.: Evolution durch neue Medien und Umwelt. Die Steigerung des kognitiven Potentials für diese Zwecke kann ihrerseits ausgelagert werden an Markt­ forschungsinstitute, Organisationsberatung etc. Auch zwischen organisierten Handlungssystemen und ihrem Publikum gibt es keine unmittelbare Interaktion. So wie der Leser für den Buchautor prinzipiell anonym bleibt, so ist es das Publikum der Organisation. Die Personen, die als Käufer, Wähler, Staatsbürger, Bildungsteilnehmer, Ra­ diohörer etc. in Publikumsrollen an den Leistungen der Handlungssysteme partizipieren, operieren in der Umwelt dieser Systeme. Handlungssysteme kommunizieren also mit einem Publikum, das sie nicht kennen (können). Diese Kommunikation läßt sich nur einseitig nach dem Muster der Interaktion unter Anwesenden modellieren, nämlich dann, wenn die Teilnehmer in Publikumsrollen die Kommunikati­ onsangebote der Handlungssysteme annehmen (und nicht ablehnen oder ignorieren). In diesem Sinne erfolgreiche Kommunikation läßt sich beobachten - sei es auch bei An­ deren, bei konkurrierenden Handlungssystemen. Zuneh­ mender oder abnehmender Erfolg läßt sich beobachten in Relationen von Angebot und Nachfrage (am deutlichsten im Wirtschaftssystem anhand von Preisen). Am Fall des Wirtschaftssystems hat Luhmann ge­ zeigt, daß eine angemessene Beschreibung es verlangt, Organisation und Markt nicht als gegensätzliche (wie im Fall von „Plan vs. Markt“ sich ausschließende) Formen sondern als System/Umwelt-Relation aufzufassen: „Der Begriff des Markts bezeichnet ... kein System sondern eine Umwelt - aber eine Umwelt, die nur als System, in diesem Fall als Wirtschaftssystem ausdifferenziert werden kann.“72 Organisation und Markt sind in dieser Aufassung keine Gegenbegriffe sondern komplementär ve rbunden. Über Märkte, auf denen sie konkurrieren, ordnen sich Organisa­ tionen (eher lose) bestimmten Funktionen der Gesellschaft zu: Märkte bilden die „inneren Umwe lten“ von Funktions­ systemen. Organisationen sind Systeme, die technisch erweiterte Kommunikationsmittel intern benutzen, um kommunikative Operationen durch entsprechende Programme so zu ve r­ knüpfen, daß sie nach Außen zu Handlungseinheiten ge­ bündelt erscheinen und als Leistungen des Systems angebo­ ten (und erwartet) werden können. Organisationssysteme operieren in dieser Hinsicht selbst als Beobachter und be­ nutzen die technisch erweiterten Kommunikationsmittel, um mit anderen Systemen in ihrer Umwelt in Konkurrenz zu treten. Die gesteigerte Reichweite der Beobachtung erzeugt (translokale) Märkte, die nicht mehr durch Interaktionsbe­ dingungen sondern (tendenziell nur noch) durch die Ve r­ gleichbarkeit der Leistungen begrenzt we rden.

12 Auf Märkten wird Handel getrieben. Was Märkte konstituiert, ist jedoch nicht Handeln sondern eher Hand­ lungszurückhaltung zugunsten gesteigerter Beobachtung: „Konkurrenz neutralisiert ... das Problem der »doppelten Kontingenz« und damit die Notwe ndigkeit, Kommunikatio­ nen zu suchen und zu finden, auf die mit »ja« und nicht mit »nein« reagiert wird. Die durch Konkurrenz strukturierte Sozialdimension preßt geradezu eine Ziel- und Sachorien­ tierung heraus.“73 Leistungen sind Angebote, die in der Konkurrenz der vergleichenden Beobachtung ausgesetzt werden, bevor es zur effektiven Nachfrage und damit zum kommunikativen Erfolg kommt. In der Leistungsperspekti­ ve gibt es für Organisationen nur eine relevante Umwelt: diejenige Sphäre, in der sie mit anderen Systemen um Macht, Einfluß, Anerkennung oder andere Marktanteile konkurrieren. In den Grenzen des Funktionsprimats gibt es konkurrierende Angebote vo n Organisationen für fast jeden Lebensbereich. Man kann wählen zwischen Gebrauchsarti­ keln, Dienstleistungen, politischen Parteien - in gewissem Grenzen sogar zwischen Staaten. Luhmann hat darauf hingewiesen, daß die großen Funktionssysteme der Gesellschaft entsprechende Kommu­ nikationsunterbrechungen zur Beobachtung ihrer system­ spezifischen Umwelten eingerichtet haben: Die Wissen­ schaft mit ihren Publikationen, die Wirtschaft mit ihren Marktpreisen, die Politik mit der veröffentlichten Mei­ nung. 74 Diese Beobachtungen laufen über Schrift und ande­ re technisch erweiterte Kommunikationsmittel. Neben Geld­ und Warenmärkten lassen sich Märkte für politische Ent­ scheidungen, Wissensmärkte, Bildungsmärkte, Heirats- und Liebespartnermärkte, Krankenbehandlungsmärkte, Kunst­ märkte, Religionsmärkte etc. beobachten. Die Ausdifferen­ zierung von Märkten als innerer Umwelt von Funktionssy­ stemen fällt nicht zusammen mit dem historisch ersten Auf­ treten entsprechender Handlungssysteme.75 Jedoch scheint die wechselseitige Bobachtung von Handlungssystemen auf entsprechenden Märkten der wesentliche Motor für die Ausdifferenzierung systemspezifischer Eigenwerte in der Orientierung an Funktionsprimaten zu sein.76 73

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Vgl. Luhmann 1988a, S. 94 Hier läßt sich generalisierend anschließen und Markt als Wissensform beschreiben: als Konstrukt von Beobach­ tern, die ihre Entscheidungen selektiv von Umweltereignissen abhängig machen. Marktereignisse bilden einen Zusammenhang nur aus der Per­ spektive des Beobachters, der daran die Erfolgschancen seines Handelns abliest. Märkte sind insofern Konstrukte des gesteigerten kognitiven Po­ tentials organisierter Handlungssysteme. Deshalb stellt die Gesellschaft ihre symbolisch generalisierten Strukturen in der Form von Binärcodie ­ rungen der Kommunikation entlang der durch Märkte definierten Funk­ tionen zur Verfügung.– Zum Begriff des Markts als Konstrukt von Be­ obachtungen zweiter Ordnung mit der hier wichtigen Unterscheidung zwischen Operation und Beobachtung s. ausf. Dirk Baecker, 1988. S.198-252 – Empirische Belege über die Ausdifferenzierung von Märk­ ten durch wechselseitige Beobachtung von Organisationen s. Harrison White, 1981

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Luhmann, 1988a, S.102 - an dieser Stelle ausführlicher: „Daß Konkur­ renz eine soziale Orientierung ohne soziale Interakt ion, das heißt ohne Herstellung konkreter sozialer Systeme ermöglicht, hat weittragende Folgen. Es entfallen die Beschwerlichkeiten, Umständlichke iten und der hohe Zeitbedarf der Interaktion, aber auch ihre Kontrollmöglichkeiten und die Sicherheit, die sie zu gewähren vermag. Die Sensibilität des Wirtschaftssystems und sein Reaktionstempo beruhen sehr wesentlich darauf, daß Interaktion eingespart wird. Die Reaktion wird nicht über lange Ketten von Interaktion zu Interaktion erzeugt, sondern durch eine fast gleichzeitige Reaktion vieler auf das, was viele als Reaktion anderer unterstellen.“ 1988a, S.102f Luhmann, 1992b, S. 244 Vgl. auch Luhmann, 1995 Typoskript Kap. 13, IV: „Organisationen sind die wesentlichen Träger von Interdependenz­ unterbrechungen.“ Daß die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen entlang ihrer inne­ ren Märkte steigerbar ist, kann man in der BRD heute z.B. im Bildungs­ system beobachten, wo es angesichts der ausgeprägt staatlichen Traditi­ on überrascht, daß nicht nur die Absolventen von Schulen (und beson­ ders Hochschulen) auf Arbeitsmärkten sondern Diese selbst auf Märkten konkurrieren. Ich habe unterstellt, daß sich die von Luhmann am Fall des Wirtschafts­ systems beschriebene System-Umwelt-Relation von Organisationen und Märkten auf andere Funktionssysteme übertragen läßt, ohne dies hier detailliert zeigen zu können. Vgl. in diesem Sinne auch Coleman, 1986 S. 140-168 – Die Verallgemeinerung ist m.E. schon bei Parsons angelegt in der am Beispiel des Geldes gewonnenen Beschreibung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. – Gerade in der Verwendung von Marktmechanismen - also den externalisierten Entscheidungen -


K.G.: Evolution durch neue Medien Neue Kommunikationsmittel wirken auf die Gesell­ schaft wie ein Angebot, das man nicht ablehnen kann. Die Nachfrage ist schon da - was immer die einzelnen Kommu­ nikationsteilnehmer darüber denken mögen. Ein von sozia­ ler Vorabstimmung unabhängiger, gewissermaßen technisch auf soziale Ordnung einwirkender Mechanismus bestimmt die Nachfrage: die Konkurrenz.77 Konkurrenz gibt es be­ kanntlich nicht erst unter den besonderen Bedingungen eines funktional ausdifferenzierten, rechtlich und politisch stabilisierten Wirtschaftssystems sondern, wo immer Knappheit der Güter oder Leistungen entstehen kann. Kommunikation als Sinnressource, als Operation, als Bei­ trag zu einem Thema, gehört nicht zu den knappen Gütern. Sie wird laufend vermehrt, ohne daß deshalb an irgendei­ nem anderen Ort Mangel entstünde. Es ist jedoch zwischen der Unerschöpflichkeit von Sinn und der Erschöpflichkeit technischer Ressourcen zu unterscheiden. In der Konkur­ renz um technisch erweiterte Kommunikationsmittel liegt sozial erzeugte Knappheit vor. Hier wird der Umstand ge­ nutzt, daß alle Kommunikation auf physikalische Träger zur Realisierung der „Schnittstelle Mensch“ (mit seinen Sinnes­ organen) angewiesen ist. Dies macht einerseits ihre Attrak­ tivität für technische Erweiterung und andererseits ihre Monopolisierbarkeit, ihre potentielle Knappheit aus. Unter den Voraussetzungen technischer Standardisie­ rung kann die Konkurrenz um Kommunikationsmittel i.S. eines unter Knappheitsgesichtspunkten erzeugten und ve r­ markteten Wirtschaftsguts einsetzen. Das Angebot erzeugt die Nachfrage, und wenn diese erst genügend stark ist, er­ zeugt sie sich die erforderliche Knappheit selbst. Obwohl diese Aussage auf Strukturen (und insbesondere die Selbst­ verstärkungsmechanismen) der modernen Gesellschaft bezogen ist, läßt sie sich rückblickend verallgemeinern für allen technisch erweiterten Mediengebrauch. „Wissen ist Macht“ - weil es durch technisch erweiterte Kommunikati­ onsmittel monopolisierbar ist. Die Verfügung über Kom­ munikationsmittel mit größerer Reichweite, mehr Speicher­ kapazität, mehr Übertragungsgeschwi ndigkeit für größere Datenmengen, erweiterten Darstellungsmöglichkeiten für raschere Wahrnehmung etc. - kurz: die Steigerung des ko­ gnitiven Potentials der Kommunikation - wird hier als ent­ wird ja der Bedarf für ein symbolisch generalisiertes Medium - hier zu ­ nächst Geld - erkennbar. Es ist das Ve rdienst von Parsons, im Geld nicht nur ein Zahlungsmittel, ein Mittel zur Technisierung des Austauschs, sondern ein Mittel der Kommunikation zu erkennen. Die Reflexion über die nichttechnischen, symbolisch generalisierten Voraussetzungen dieses Tauschmittels hat den Zugang zur soziologischen Beobachtung und Be­ schreibung anderer Kommunikationsmedien (politische Macht, wissen­ schaftliche Wahrheit, pädagogische Bildung etc.) eröffnet, die ver­ gleichbare Funktionen in anderen Teils ystemen der Gesellschaft wahr­ nehmen. 77

Zum Begriff der Konkurrenz bei Luhmann, 1984 S.521ff. – Zur Be­ stimmung der Konkurrenz als Selektionsmechanismus würde die im Anschluß an Darwin und Spencer in der Soziologie (bei Simmel, Mann­ heim, v.Wiese) verankerte Auffassung von Konkurrenz passen. Sie reicht allerdings nicht aus, um den Selektionsmechanismus der moder­ nen Gesellschaft zu beschreiben. In gewisser Weise generalisiert die Theorie der symbolischen Kommunikationsmedien im Anschluß an Par­ sons nicht nur den Primärfall des Geldes sondern knüpft an dem schon generalisierten Fall des Konkurenzverhaltens an. Was daran fehlte, war die Übertragung von Personen (Einzele xemplaren der Gattung) auf kol­ lektive Handlungssysteme. Die theoretische Anknüpfung an die Be­ schreibung der Konkurrenz als Selektionsmechanismus war hier durch die in antimoderner Einstellung formulierte Anwendung des Konzepts auf Kollektiveinheiten vom idiosynkratischen Typ (ethnischer, rassi­ scher, religiöser Gemeinschaft) blockiert. Vg l. Rammstedt, 1976, S. 970-974.

13 scheidender Vorteil für die Erbringung systemspezifischer Leistungen „erkannt“. Die Nachfrage nach neuen Kommu­ nikationsmitteln ist also ein autopoietisches Phänomen, das auf Märkten entsteht, bestehende Märkte ve rändert und sich seinen eigenen Markt schafft. Neue symbolische Generalisierungen? Um Distanz für die Beschreibung des gegenwärtigen Wandels der Medienkonstellation der Gesellschaft zu ge­ winnen, ist nach vergleichbaren Phänomenen in jener Um­ bruchsphase gesucht worden, die durch die Erfindung der Druckpresse markiert wird:78 1. Das neue Medium war billiger. Der Buchdruck erwies sich als leistungsstark bei geringeren Kosten als das handschriftliche Textkopieren und wurde dadurch u.a. zu einem Treibsatz der wirtschaftlichen Entwicklung. 2. Das neue Medium war schneller. Die Verbreitung von Kommunikation mit Drucktexten (Büchern und Zeitun­ gen) wurde durch die problemlose Vervielfältigung schneller und erreichte gleichzeitig mehr Adressaten. 3. Das neue Medium machte freier. Die Entwicklung der typographischen Medien wurde getragen durch die Er­ wartung einer Befreiung der Kommunikation von den Kontrollen durch die Kirche (und aller Schriftgelehr­ samkeit).79 Zumindest die positiven Erwartungen, die sich mit neuen Medien verbinden, werden gegenwärtig unter densel­ ben Aspekten beschrieben: „billig, schnell und unkontrol­ lierbar!“80: 1. Das Angebot der neuen Medien zeichnet sich durch seine exzeptionelle Stellung innerhalb des Warenmarkts aus: die gesamte Hardware und Software (letztere nur etwas langsamer) wird ständig billiger (bzw. bei gleichen Prei­ sen leistungsfähiger). 2. Mitteilungen erreichen immer schneller immer mehr Adressaten. Die Raum-Dimension als Kommunikations­ bremse verschwindet (zumindest terrestrisch). Die Weltgesellschaft erscheint als reales Kommunikations­ angebot.81 3. In den elektronischen Netzen entstehen für Kontrollan­ sprüche fast unzugängliche Informationsangebote und 78 79

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Vgl. Giesecke, 1991, 1992 Diese Erwartung war verbunden mit der Vorstellung einer unmittelbaren (dh. nicht über Kirchenpersonal vermittelten) Kommunikation mit Gott Die große Projektion, die nach Giesecke den Medienwechsel im Falle des Buchdrucks begleitet hatte, verbirgt sich in der Bezeichnung des Mittelalter als einer Zwischenphase mit der Hoffnung auf Wiederherstel­ lung des (auf die Antike projizierten) Direktzugangs zu Wissen wie in der paradiesischen face-to-face-Kommunikation mit Gott oder in göttli­ chen Eingebungen im Traum. Zit. aus TV-Sendung Aspekte 12.4.94 ZDF Als Marshall McLuhan die Vision vom globalen Dorf formulierte, war die Kommunikationstechnik noch ziemlich weit von einer globalen Ve r­ netzung der Kommunikation entfernt. Die Ansatzpunkte für seine Vision bezog er weitgehend nur aus der Verbreitung des Fernsehens, dessen Funktion im Alltagskontext er mit dem des Lagerfeuers in Dorfgemein ­ schaften verglichen hat. Trotz des geringen Entwicklungsgrads der neu­ en Medien war der Grundgedanke darin schon angelegt: Wenn das Zeit­ alter des Buchdrucks die Vergesellschaftung auf der Grundlage einer Standardisierung territorial beschränkter Hochsprachen und damit natio­ nale Identitätsbildung ermöglichte, so mußte eine Medienkonstellation, in der Schrift, Ton und bewegte Bilder kombiniert werden können, es ermöglichen, die Grenzen nationalsprachlicher Vergesellschaftung zu überschreiten und der Idee einer Gesellschaft, die die ganze Menschheit umfaßt, eine praktikable Grundlage verschaffen.


K.G.: Evolution durch neue Medien globale Vernetzungen. Damit einher gehen neue Frei­ heitsprojektionen82 und neue Einheitsprojektionen.83 Viele Beschreibungen des Gesellschaftswandels durch neue Medien weisen unter evolutionstheoretischem Aspekt er­ hebliche Kurzschlüsse auf. Von Variation ist die Gesell­ schaft zunächst nur auf der Ebene der Einzelereignisse der Kommunikation betroffen. Der Variationsmechanismus erzeugt Komplexität, die reduziert werden muß, sonst könn­ ten keine Sozialsysteme bestehen. Diese Funktion hat der Mechanismus der Selektion. Nur was aus dem Pool variier­ ter Ereignisse der Kommunikation selegiert wird, kann sich innerhalb (veränderter) Systemgrenzen reproduzieren. In entwickelteren Gesellschaftsverhältnissen wird darüberhi­ naus Stabilität durch Kombination der operativen Geschlos­ senheit der (positiven oder negativen) Selektion mit Offen­ heit für erneute Variation erzeugt. Wenn eine Häufung von Variationen die Gesellschaft zur Mobilisierung von Selekti­ onsmitteln zwingt, ist damit nicht vo rentschieden, ob die Selektion positiv oder negativ ausfällt. Andererseits kann die Wirkung von Selektionsdruck auf Strukturen der Gesell­ schaft durchschlagen, gleichgültig wie sie ausfällt. In einer an evolutionstheoretischen Begriffen diszi­ plinierten Beschreibung gibt es keine voraussehbaren Effek­ te, die von der Mikroebene kommunikativer Variationen bis zur Makroebene gesellschaftlicher Strukturbrüche reichen. Es läßt sich allerdings im Rahmen der hier skizzierten Ar­ gumentation auch keine Plausibilität für die vielfach in kulturkritischer Absicht vertretene These gewinnen, wonach die bisherige Linie der evolutionären Steigerung der kogni­ tiven Kontrolle der Kommunikation im Übergang von einer durch den Buchdruck bestimmten zu einer durch elektroni­ sche Medien bestimmten Konstellation abbrechen könnte. Selbstverständlich konnte hier keine Analyse der neuen Medienkonstellation vorgestellt werden. Hierfür sollten allenfalls die theoretischen Instrumente verbessert werden. Deshalb ging es um die generelle Funktion von technisch erweiterten Kommunikationsmitteln für die Kommunikation. Diese generelle Bestimmung kann besser an einer Medienkonstellation vorgeführt werden, die uns vertraut ist wie die der Printmedien. Andererseits kann un­ terstellt werden, daß die empirische Voraussetzung dieser Beobachterdistanz zur Printmedienkonstellation eben darin besteht, daß ein Umbruch zu einer anderen Medienkonstel­ lation bereits stattgefunden hat, auch wenn wir noch gar nicht in der Lage sind, die Wirkungen dieses Umbruchs zu überblicken.84

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Die neuen Netze entziehen sich jeder Zentralsteuerung (wie sie in der Architektur der alten Großrechenanlagen noch angelegt war) und breiten sich wuchernd aus. Dies hat anarchischen Freiheitsprojektionen neuen Raum verschafft. - S. das heute in allen Feuilletons behandelte Phäno­ men von 25 Mio.Teilnehmern an dem - ursprünglich für militärische und wissenschaftliche Zwecke geschaffenen - Internet. Zu den Projektionen in bezug auf neue Formen der Gemeinschaftlich­ keit, von Integration im Rahmen von Weltgesellschaft s.schon McLu­ han, 1968. In den elektronischen Netzen gibt es darüberhinaus soge­ nannte Cyber-Communities und die dazugehörigen Freiheitshelden (Hacker) die gegen die zunehmende Kommerzialisierung der neuen Net­ ze ankämpfen. Vgl. Howard Rheingold, 1993. Ein Beispiel für aktuelle Probleme der symbolischen Generalisierung stellt die Implementation einer gemeinsamen europäischen Währung (ECU) dar, die als Technik durch die elektronischen Kommunikations­ mittel erst möglich und zugleich zwingend geworden ist.

14 Mit der hier vertretenen evolutionstheoretischen The­ se der Variation der Kommunikation durch neue Medien kann zweierlei gezeigt werden: 1. daß vergangene Entwicklungen, insbesondere die des Buchdrucks, dadurch in einem neuen Licht erscheinen, daß sie sich in ihrer Bedingtheit durch technische Kom­ munikationsmittel (als Kontinuitätsbruch durch Unter­ brechung) beschreiben lassen; 2. daß gegenwärtige Entwicklungen, insbesondere die der elektronischen Datenverarbeitung, wegen der Wieder­ herstellung von Interaktivität mit technischen Mitteln sich als erneuter Kontinuitätsbruch beschreiben lassen. Wenn sich für die Printmedienkonstellation zeigen läßt, daß ihr evolutionäres Potential in der Steigerung der kognitiven Kontrolle der Kommunikation liegt, so läßt sich ein vergleichbarer Steigerungseffekt in der neuen Medien­ konstellation gerade in der technischen Herstellung von Interaktion (Interaktivität) ve rmuten. Die Herstellung von Interaktivität ohne die für die Printmedien unüberwindbare Raum-Zeit-Schranken ist offenkundig nicht einfach Wie­ derherstellung des „natürlichen“ Flusses der Kommunikati­ on (unserer ontogenetischen Primärerfahrung) sondern eine technisch kontrollierte Errungenschaft, die die (für die Printmedien typische) Möglichkeit der kognitiven Kontrolle durch (zeitlich terminierte) Kommunikationsunterbrechung noch einschließt. Theoriemittel, die uns retrospektiv helfen können, die Medienkonstellation des Buchdrucks besser zu verstehen, können in umfangreicheren Analysen darauf geprüft we r­ den, ob sie uns auch dazu verhelfen, die gegenwärtige Me­ dienkonstellation der Gesellschaft besser zu verstehen. In praktischer Perspektive wäre allerdings zu fragen, wo über­ haupt das Problem liegt, das den Theorie- und Methoden­ aufwand wissenschaftlicher Beobachtung lohnt. Das in vielfältigen Alltagsformen spürbare Problem, auf das sich die hier vorgestellten Überlegungen beziehen, ist das Pro­ blem der Wiederherstellung funktionierender Sinnstruktu­ ren.85 Die Kommunikationsunterbrechung durch neue Me­ dien läßt sich beschreiben als ein Problem, das Unordnung (Variation) in gegebenen Kommunikations- und Wissens­ strukturen produziert. Die praktisch interessierte Frage, wie da (wieder) Ordnung hineinzubringen sei, wird in der wi s­ senschaftlichen Beschreibung aufgenommen i.S. der (für die Soziologie disziplinkonstitutiven) Fragestellung, wie soziale Ordnung überhaupt möglich ist. Die Frage wird damit zu­ gleich entdramatisiert und radikalisiert: Einerseits wissen wir - aus vergangenen Medienumbrüchen - schon, daß (die Wiederherstellung von) Ordnung möglich ist. Andererseits wissen wir - angesichts des gegenwärtigen Medienum­ bruchs - noch nicht, wie das das geschehen kann. Die inter­ essante Frage lautet also: Wie ist es möglich, daß durch technische Kommunikationsmittel kontingent gewordene 85

Vgl. meine Ausführungen im Abschnitt zur Destabilisierung der Kom­ munikation durch neue Medien oben mit den (im Anschluß an Blumen­ berg und Luhmann formulie rten) Hinweisen auf die vorausgesetzte Sta­ bilität vorhandener Sinnstrukturen auf einer Ebene der Beobachtung er­ ster Ordnung. Der Restabilisierungsmechanismus kommt hier gewis­ sermaßen von seiner Kehrseite, der Destabilisierung durch Variation in Betracht. Es handelt sich um Vo rgänge, in denen aus Beobachtungen zweiter Ordnung Formen der Beobachtung erster Ordnung kondensie­ ren. Oder anders gesagt: für Vorgänge, in denen Variationen selegiert und stabilisiert werden. Auf eine genauere Unterscheidung zwischen dem Selektionsmechanismus und dem Restabilisierungsmechanismus der Gesellschaft kann hier jedoch nicht eingegangen werden.


K.G.: Evolution durch neue Medien Strukturen des Wissens wieder die Selbstverständlichkeit (symbolisch generalisierter Strukturen) des Alltagswissens zurückgewinnen? 86 Literatur Baecker, Dirk, 1988, Information und Risiko in der Marktwirt­ schaft, Frankf.M. Blumenberg, Hans, 1993, Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, in: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Reclam, Stuttgart, S.7-54 (1963, edizioni di filoso­ fia, Torino) Blumenberg, Hans, 1983, Die Lesbarkeit der Welt, Frankf.M. Flichy, Patrice, 1994, Tele. Geschichte der modernen Kommunika­ tion, Campus, Ffm./New York Gilgenmann, Klaus, 1994, Kommunikation mit neuen Medien. Der Medienumbruch als soziologisches Theorieproblem, Sociolo­ gia Internationalis, 32. Band, Heft 1, S.1-35 Giesecke, Michael, 1991, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer In­ formations- und Kommunikationstechnologien, Frankf.M. Giesecke, Michael, 1992, Sinneswandel, Sprachwandel, Kultur­ wandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesell­ schaft. Frankf.M. Heintz, Bettina, 1993, Die Herrschaft der Regel. Zur Grundlagen­ geschichte des Computers. Frankf.M.: (Campus), Luhmann, Niklas 1975, Evolution und Geschichte, in Soziologi­ sche Aufklärung 2, Westdt.v. Opladen, 150-169 Luhmann, Niklas 1981a, Die Unwahrscheinlichkeit der Kommu­ nikation, in: Soziologische Aufklärung 3, Westdt.V. Opladen, 309-320 Luhmann, Niklas 1981b, Geschic hte als Prozess und die Theorie sozio-kultureller Evolution, in: Soziologische Aufklärung 3, Westdt.V. Opladen, 178-197 Luhmann, Niklas, 1981c, Veränderungen im System gesellschaft­ licher Kommunikation und die Massenmedien, in: Ders. Soziologische Aufklärung 3, Westdt.V. Opladen, S.309-320 Luhmann, Niklas, 1983, Evolution - kein Mensche nbild. In: Evo­ lution und Menschenbild, Hg. J.Riedl und F.Kreuzer, Ham­ burg, S.193-205 Luhmann, Niklas, 1984, Soziale Systeme. Grundriß einer allge­ meinen Theorie, Frankf.M. Luhmann, Niklas, 1987, Was ist Kommunikation? in: Soziologi­ sche Aufklärung 6. Westdt.V. Opladen, 1995, S. 113-124 Luhmann, Niklas, 1988, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankf. M. Luhmann, Niklas, 1989a, Reden und Schweigen, in Luh­ mann/Fuchs 1989, Reden und Schweigen, Frankf. M. S.7-20 Luhmann, Niklas, 1989b, Kommunikationsweisen und Gesell­ schaft, in: Technik und Gesellschaft, Jahrbuch 5: Computer, Medien und Gesellschaft, Frankf.M. / New York S.11-18 Luhmann, Niklas, 1990, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankf. M. Luhmann, Niklas, 1992a, Das Moderne der modernen Gesell­ schaft, in: Beobachtungen der Moderne, Westdt.V. Opladen, S.11-50

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Die Frage nach Möglichkeiten der Restabilisierung der sozialer Ordnung bleibt trivial, solange nur zwischen Ordnung und Unordnung unter­ schieden werden kann. Es muß einen dritten Wert geben, damit die Wiederherstellung von Ordnung erklärt werden kann. Die evolutions­ theoretische Erweiterung der Beobachtungsmöglichkeiten liegt darin, daß nicht mehr nur zwischen Ordnung (Selektion) und Unordnung (Va ­ riation) sondern auch zwischen Un/Ordnung und ihrer Wiederherstel­ lung (Restabilisierung - i.S. der Einführung der Variation in die Selekti­ on) unterschieden werden kann. Es kommt für die Verwendung evoluti­ onstheoretischer Beschreibungsmuster in der Soziologie zunächst darauf an, alle drei evolutionären Mechanismen i.S. unterscheidungsfähiger sozialer Größen neu zu bestimmen.

15 Luhmann, Niklas, 1992b, Ökologie des Nichtwissens, in: Beob­ achtungen der Moderne, Westdt.V. Opladen, S.149-220 Luhmann, Niklas, 1992c, Schranken der Kommunikation als Be­ dingung für Evolution, Typoskript, 16 S. Bielefeld Luhmann, Niklas, 1993a, Das Recht der Gesellschaft, Frankf. M. Luhmann, Niklas, 1993b, Die Politik der Gesellschaft, Typoskript, Bielefeld Luhmann, Niklas, 1994, Ansprüche an histor ische Soziologie, Soziologische Revue, Jg. 17, S. 259-264 McLuhan, Marshall, 1968, Die magischen Kanäle, Düsseldorf, Wien, (1964, Understanding Media) Rammert, Werner, 1995a, Computerwelten: Volle ndung der Mo­ derne oder Epochenbruch zur Postmoderne? in: Soziologische Revue Jg. 18, S. 39-46 Rammert, Werner, 1995b, Soziologische Zugänge zur künstlichen Intelligenz, in: Rammert, W. 1995, Soziologie und Künstliche Intelligenz . Produkte und Probleme einer Hochtechnologie, Frankf.M: Campus, S. 7-36 Rammstedt, Otthein, 1976, Konkurrenz, in: Histor isches Wörter­ buch der Philos ophie, hg. von J.Ritter und K.Gründer, Bd.4, Basel, S. 970-974 Rheingold , Howard 1993, Virtue lle Gemeinschaft. Soziale Bezie­ hungen im Zeitalter des Computers, Bonn (Addison-Wesley) Schmid, Michael, 1995, Soziologische Evolutionstheorie, in: Protosoziologie Heft 7, Frankf.M. S. 200-210 Schneider, Wolfgang Ludwig, 1995, Objektive Hermeneutik als Forschungsmethode der Systemthe orie, Soziale Systeme Heft 1, (Leske + Budrich) Opladen, S. 129-152 White, Harrison, 1981, Where do markets come from? American Journal of Sociology, 87, 3, S. 517-547

Summary The focus of this contribution is a theoretical definition of the function of technical communication media in the evolution of social systems. The use of these media is indicated as mechanism of variation of the society. The effect of variation is attributed to technical interruption of the current interaction process. It is ar­ gued, that by this means observing potential is released and set independent from consciousness, which allows increasing cogni­ tive control of communication. Referring to the emerging of or­ ganizations and markets it is pointed to structures of society, that use (and select) these variations of communication. It is not ex­ pected, that the described line of social evolution will break off in the new constellation of electronic media. Im Sommer 1995 für die Zeitschrift »Soziale Systeme« verfaßter Beitrag, der nicht angenommen wurde. Vorliegende Fassung mit kleinen red. Änderungen Nov. 95


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