Kg 1998 organisationgesellschaft

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DIE GESELLSCHAFT EVOLUIERT (DOCH) AUF DER EBENE IHRER ORGANISATIONEN Zusammenfassung Obwohl die Unterscheidung von drei Arten sozialer Syste­ me weiterbesteht, wird die Organisationsebene in Luh­ manns Beschreibung der Gesellschaft ausgeklammert. Be­ obachtbare Veränderungen auf dieser Ebene werden von der Gesellschaftsebene abgeleitet und kommen deshalb als eigenständige Quelle sozialer Evolution nicht in Betracht. Stattdessen wird vom Verf. an ein älteres Theorieprogramm Luhmanns angeknüpft, das soziokulturelle Evolution als Ebenendifferenzierung sozialer Systeme beschreibt. Im Rekurs auf neoinstitionalistische Beschreibungen der Orga­ nisationsebene wird der Vorschlag skizziert, den Selekti­ onsmechanismus der modernen Gesellschaft der Systembil­ dung auf dieser Ebene zuzuordnen. Kaum ein anderer Gegenstandsbereich der Sozialwi ssen­ schaften steht heute so sehr im Zentrum öffentlichen Inter­ esses wie der Wandel der Gesellschaft auf der Ebene ihrer Organisationen. Während eine Vielzahl von Theorien mitt­ lerer Reichweite - insbesondere in den Wirtschafts- und Politikwissenschaften - darum konkurrieren, die weltweit beobachteten Veränderungen auf der Ebene von Organisa­ tionen und Märkten zu erklären, hält sich die Soziologie mit Beiträgen zurück. Sie verharrt in einer Theorietradition, die mit einer Überschätzung von Organisationen einsetzte und sich dann vorrangig für Phänomene interessierte, die der an Zweckmäßigkeit und Mitteleffizienz orientierten Selbstbe­ schreibung von Organisationen entgegenstehen.1 Auch das soziologische Theorieangebot Niklas Luh­ manns steht in dieser Tradition.2 Während aber der main­ stream soziologischer Darstellungen dahin tendiert, die Ebene von Organisationen gewissermaßen „nach unten“ in Richtung auf Mikrostrukturen des Handelns (mit der Unter­ scheidung formeller und informeller Aspekte) aufzulösen, verfolgt Luhmann eine Art Doppelstrategie, die eine mikro­ theoretische Auflösung „nach unten“ und eine makrotheore­ tische „nach oben“ verbindet. Luhmann beansprucht, beide Richtungen der Dekomposition zu integrieren und damit auch das Problem der Unterscheidung verschiedener Ebe­ nen der Gesellschaftlichkeit selbst aufzulösen.3 In gesell­ schaftstheoretischer Hinsicht dominiert die Auflösung in 1 Diese selektive Betrachtung von Organisationen geht einher mit der Bevorzugung mündlicher Kommunikation, die wegen ihres Gebrauchs in Entscheidungssituationen im Vordergrund der Beobachtung steht, während die Kommunikation mit technisch erweiterten Kommunikati­ onsmitteln typischerweise alle diejenigen Vorgänge umfaßt, die routine­ haft ablaufen und damit den technischen Kern von Organisation ausma­ chen. 2 Die folgende Darstellung bezieht sich nur auf die Behandlung der Orga­ nisationsebene in der Gesellschaftstheorie. Der Frage, inweit in Luh­ manns ausführlicher Behandlung der Organisationsebene in anderen Schriften (s.z.B. 1964,1978) die Tendenz einer gesellschaftstheoreti­ schen Auflösung zu erkennen ist, kann hier nicht nachgegangen werden. Es wäre auch zu klären, inwieweit es sich bei der Bevorzugung der gesellschaftstheoretischen Aspekte von Differenzierungsphänomenen um einen deutschen Sonderweg handelt - vgl. dazu Tyrell (1998). 3 Vgl. dazu die Polemik gegen die Mikro-Makro-Unterscheidung in Luh­ mann,1997b. Luhmann ersetzt sie durch die evolutionstheoretische Ein­ heit der Unterscheidung von Mikrodiversität und Selbstorganisation – wobei Letztere gerade nicht Organisationen sondern Funktionssystem­ bildung meint. Es ist jedoch darauf zu verweisen, daß in dem progra m­ matischen Vortrag über „Interaktion, Organisation, Gesellschaft“ von 1975 noch andere Optionen dargestellt werden (Luh mann 1975a).

Richtung auf funktionale Differenzierung. Diese theoreti­ sche Subsumtion wird im Hinblick auf Elementaroperatio­ nen unterstützt durch einen beobachtungszentrierten, seiner materiellen Aspekte entledigten und auf Sinnoperationen beschränkten Begriff der Kommunikation.4 Für die Opera­ tionen der Organisationsebene ergibt sich eine Reduktion auf Entscheidungskommunikation und zugleich die Ab­ straktion von allen Leistungen und Leistungserwartungen, die in anwendungsnäheren Beschreibungen für wichtig gehalten werden.5 In der Einleitung des Differenzierungskapitels der Ge­ sellschaftstheorie schreibt Luhmann: „Wie bereits mehrfach betont, kann das Gesellschaftssy­ stem Kommunikationen nur als systeminterne Operatio­ nen verwenden, also nicht mit der gesellschaftsexternen Umwelt kommunizieren. Dies gilt aber nicht für die durch Differenzierung geprägten gesellschaftsinternen Verhältnisse. Es gibt also durchaus Kommunikationen, die systeminterne Systemgrenzen überschreiten. Daraus ergibt sich ein im Laufe der gesellschaftlichen Evolution zunehmender Bedarf für Organisation. Denn nur als Or­ ganisation, das heißt nur in der Form der Repräsentation seiner eigenen Einheit, kann ein System mit seiner Um­ welt kommunizieren. Dieser Prozess des Nahelegens von Organisationsbildung setzt sich unter den Bedin­ gungen funktionaler Differenzierung innerhalb der Funktionssysteme fort, etwa für Firmen, die ihre Produkte am Markt anbieten bzw. sich die dafür notwendigen Ressourcen am Markt beschaffen müssen; oder für alle möglichen gesellschaftlichen Gruppierungen, die, wenn der Staat einmal organisiert ist, ihm gegenüber spezifische Interesse zu vertreten suchen. Ähnlich wie im Verhältnis Gesellschaft/Interaktion gibt es also auch im Verhältnis Gesellschaft/Organisation einen langfristigen und schwer reversiblen Effekt der Evolution ge­ sellschaftlicher Differenzierungsformen. Wir finden uns hier an der Stelle, an der die soziologische Klassik (Mi­ chels, Weber) "Bürokratie" als Bedingung moderner Ge­ sellschaftsordnung analysiert hatte.“ (607f) Luhmann kehrt die „klassische“ Sicht um: Organisation ist nicht Bedingung sondern Folge der modernen Gesell­ schaftsordnung. Der Bedarf für Organisationen entsteht aus der Evolution ihrer Strukturen. „Aber die Gesellschaft evo­ luiert“ so heißt es schon im Evolutionskapitel „zum Glück oder zum Unglück, nicht auf der Ebene ihrer Organisatio­ nen.“ (470) Wenn aber Evolution der Gesellschaft auf der Ebene ihrer Organisationen nicht stattfindet – wie sind dann die gegenwärtig vielbeschriebenen Turbulenzen auf dieser Ebene zu erklären? Bereits einleitend begründet Luhmann seine Option für einen Begriff der Gesellschaft als Weltge­ sellschaft mit Bezug auf die weltweite Ve rflechtung von Organisationen: „In der heutigen Gesellschaft beruht Interregionalität auf der Operation oder Kooperation von Organisationen, vor allem der Wirtschaft, der Massenmedien, der Politik, der Wissenschaft, des Verkehrs. Die Wirtschaft ist nicht nur durch ihre Märkte (Finanzmärkte, Rohstoff- und Produkt­ märkte, zunehmend sogar Arbeitsmärkte) weltweit ver­ flochten; sie bildet auch entsprechend operierende Organi­ 4 Zur Kritik des Kommunikationskonzepts s. Gilgenmann, 1997. 5 Ich beziehe mich v.a. auf die Relevanz der „Faktorspezifität“ von Auf­ gaben und Produkten in institutionenökonomischen Ansätzen. Schon Max Webers Herausstellung der „Rechenhaftigkeit“ bezieht sich ja eher auf stoffliche Aspekte, also Mengensteuerung und nicht strategische Entscheidungen.


K.G.: Die Gesellschaft evooluiert (doch) auf der Ebene ihrer Organisationen sationen, die versuchen, von den vorgefundenen Differen­ zen zu profitieren. ... Auch Organisationen sind ausdiffe­ renzierte Sozialsysteme, wir werden darauf zurückkom­ men, aber sie durchsetzen mit ihrer Eigendynamik die Funktionssysteme der Gesellschaft. Ihre Evolution folgt dem Entscheidungsbedarf und der Notwendigkeit, Ent­ scheidungen zu kommunizieren, um die Ausgangspunkte für weitere Entscheidungen festzulegen. Sie legen sich zwischen die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme auf der einen und die Interaktionen unter Anwesenden auf der anderen Seite. Und sie machen in allen Sektoren der Ge­ sellschaft einen weltweiten Verbund unvermeidlich. Da dies aber in der Gesellschaft geschieht und nicht gegen die Gesellschaft, ist es kaum möglich, noch an einem regiona­ len Gesellschaftsbegriff festzuhalten.“ (166) Luhmann relativiert also gegenwärtige Beobachtungen über den Wandel auf der Organisationsebene durch den Hinweis auf gegebene Strukturen funktionaler Differenzierung, die von der Eigendynamik weltweiter Organisationsbildungen nur „durchsetzt“ werden.6 Der Abschnitt im Kapitel über Differenzierung, mit dem er dann zur Betrachtung von Or­ ganisationen zurückkehrt, dient explizit dem Ausschluß der Organisationsebene von den für die Beschreibung der Ge­ sellschaft und ihrer Evolution relevanten Gegenstandsberei­ chen. Bevor ich Probleme dieser Theorieentscheidung und ei­ ne Alternative benenne, greife ich in einem Zwischenschritt Theorieansätze auf, die gegenwärtig Beachtung finden, weil sie Angebote zur Deutung des Wandels auf der Organisati­ onsebene anbieten. Wenn Luhmann davon abrät, die theoretische Rekonstruktion gesellschaftlichen Wandels auf der Ebene von Organisationen anzusetzen, bezieht er sich eher auf ältere Theorietraditionen, in denen die Gesellschaft insgesamt - in positiver oder negativer Ei nstellung - als Organisation beschrieben wurde. Aber niemand entwirft mehr ein Bild von der Gesellschaft nach dem Muster eines stählernen Gehäuses der Hörigkeit oder bastelt an einer Utopie der geplanten Gemeinschaft.7 Das gegenwärtig zu beobachtende Interesse an Organisationen hat ja weniger mit der Macht von Organisationen als mit der Befürchtung des Verlusts organisationsverbürgter Sicherheiten zu tun. Der organisationstheoretische Rekurs auf Instititutionen der Gesellschaft In den traditionell mit Organisationen befaßten Disziplinen ist eine Rückkehr zu Begriffen zu beobachten, die an Aus­ gangsmotive der Soziologie erinnern. Dies kommt v.a. in der Verwendung des Institutionsbegriffs in der Selbstbe­ zeichnung neuerer Theorieansätze zum Ausdruck. Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften geht der Rekurs auf Instititu­ tionen einher mit der Abkehr von formalen Rationalitäts-, Informations- und Gleichgewichtsunterstellungen der neo­ klassischen Theorietradition zugunsten historisch kontin­ genter, normativer, asymmetrischer Grundlagen von Gesell­ schaftlichkeit. Auch Luhmann hat sich in seinen organisati­

6 Obwohl diese Entwicklungen erst im 20. Jh. und nur in den entwickelt­ sten Regionen der Weltgesellschaft beobachtet werden können, hält Luh mann es für geboten, von deren „Vollrealisation“ bereits mit dem Strukturwandel der europäischen Gesellschaft im 18. Jh. auszugehen (1997a, 809) 7 S. Di Maggio, P.J. / Powell, W.W. (1991): The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields. In: Powell, W.W./ DiMaggio, P.J. (1991)

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onstheoretischen Schriften auf diese Theorieentwicklungen bezogen.8 Den theoretischen Ausgangspunkt der neuen Institutio­ nenökonomie bilden die vielfältigen Austauschbeziehungen zwischen den spezialisierten Akteuren arbeitsteiliger Sy­ steme. Der Begriff des Akteurs wird zwar methodologisch vom einzelnen Individuum her konstruiert, dann aber um­ standslos auf Organisationen hin verallgemeinert.9 Neu ist die Einbeziehung der Umwelt der Akteurssysteme in die Beschreibung, auf die dann Handlungen direkt nicht mehr zugerechnet werden können und die doch als Voraussetzung der Wirksamkeit ihrer Handlungen in Betracht zu ziehen ist. Diese Voraussetzungen umfassen i.w.S. alle Institutionen als sanktionierbare Erwartungen der Gesellschaft. Zwischen der Koordination von Transaktionen über Organisationen oder über Märkte ergibt sich eine fließende Grenze, die sich in ökonomischer Hinsicht an der Höhe der Transaktionsko­ sten bemißt, die ihrerseits von der Wirksamkeit außeröko­ nomischer Institutionen abhängen. Nicht der zwischen spe­ zialisierten Akteuren stattfindende Leistungsaustausch steht im Focus der Beobachtung sondern die davon analytisch zu unterscheidende Übertragung von Verfügungsrechten (pro­ perty rights). Diese wird als Transaktion bezeichnet. Im Rahmen der Transaktionen entstehen dann jene ökonomisch interessierenden Kosten (der Anbahnung, Vereinbarung, Abwicklung, Kontrolle und Anpassung) von Verträgen, die die Beteiligten zur Verwirklichung des Leistungsaustauschs zu tragen haben. 10 Organisation wird in der Institutionenökonomie als eine Einrichtung zur Realisierung von Vorteilen arbeitsteiliger Kooperation beschrieben. Deren Unwahrscheinlichkeit wird auf zwei fundamentale Probleme zurückgeführt: kognitive Defizite der Information (Ungewißheit) und normative Defizite des Verhaltens (Opportunismus). Die organisatori­ schen Lösungen dieser Probleme lassen sich als Technisie­ rungen der Kommunikation (und daher in mathematischen Modellen) beschreiben: einerseits als Technik der Steuerung von Information über Entscheidungshierarchien und ander­ seits als Technik der Steuerung von Leistung über Anreiz­ und Sanktionsmittel.11 Wenn man Organisation als eine über Verträge geregelte „Maschine“ zur Kompensation von kognitiven und normativen Defiziten betrachtet, sieht man auch, daß Diese selbst Kosten verursacht, die unter den Bedingungen kognitiv stabilisierter Gewißheiten und nor­ mativ stabilisierten Vertrauens entfallen könnten. Die Insti­ tutionenökonomie ist damit offen für die Einführung „we i­ cher Faktoren“ wie Gewißheit, Vertrauen, Moral, Religion etc. in die Theorie und begibt sich damit auf ein Feld, in dem die Soziologie mit der Suche nach nichtve rtraglichen

8 S. Luhmann 1978 – Vgl. Epilog (1994) zur Wiederauflage seiner Schrift über „Funktion und Folgen formaler Organis ation“ mit dem einschrän­ kenden Hinweis auf mangelnde Tragfähigkeit des Begriffs der Instituti­ on S. 402 9 Die Verallgemeinerung ist an institutionelle Voraussetzungen gebunden, deren Reflexion die Frage nahelegen würde, ob nicht die Organisation ­ also der moderne Kollektivakateur - die primäre Grundlage des Ak­ teursbegriffs ist und die Anwendung desselben - kommunikativ verselb­ ständigten - Handlungskonzepts auf Individuen eher das abgeleitete Phänomen bildet. 10 Vgl. Coase,1937, Williamson, 1975, hier nach Picot, 1997 S. 66 11 In dieser Beschreibung wird erkennbar, daß die zugrundeliegenden Probleme nicht als anthropologische Konstanten aufgefaßt werden mü s­ sen. Sonst könnten sie auch durch den Einsatz neuer Kommu nikations­ technik nicht beeinflußt werden.


K.G.: Die Gesellschaft evooluiert (doch) auf der Ebene ihrer Organisationen Grundlagen der Bindungswirkung von Ve rträgen (insbe­ sondere des „Gesellschaftsve rtrages“ selbst) einsetzte. An dieser Stelle zeigen sich instruktive Parallelen zwi­ schen den grundlegenden Defizitannahmen neoinstititutio­ nalistischer Organisationstheorien und dem funktionalisti­ schen Theorem der doppelten Kontingenz, das bei Luhmann zum fundamentalen Erklärungsansatz des Sozialen wird (1984, 148ff). Die Erklärung von Bindungswirkungen wird damit umgestellt von Vertrags- auf Systembildung (1984, 179ff). Wenn man das an der Interaktion unter Anwesenden plausibilisierte und generalisierte Modell rüc kbezieht auf die voraussetzungsreichere Situation an wirtschaftlichem Austausch interessierter Akteure, we rden die Kontingenz­ annahmen spezifizierbar i.S. der Defizitannahmen der Insti­ tutionenökonomie: Einerseits gibt es Kontingenz in bezug auf das Verhalten Alters (als Handeln) mit bezug auf die Unterstellung individueller Nutzenorientierung, die im Hin­ blick auf wirtschaftlich tragfähige Verträge das unaufhebba­ re Risiko des opportunistischen Unterlaufens einschließt. Andererseits gibt es Kontingenz auch in bezug auf das Ve r­ haltens Egos selbst (als Erleben) nämlich in der Unterstel­ lung beschränkter Rationalität des eigenen Entscheidens auf der Grundlage von stets unzulänglicher Information über die diesbezüglich relevanten Strukturen bzw. Ereignisse der Welt. Die Prämisse der beschränkten Rationalität gilt daher neben der Opportunismusprämisse als zentrale Begründung für die Bildung von Organisationen. Gäbe es kein Informa­ tionsdefizit, bedürfte es keiner Entscheidungen – es genüg­ ten Programme, heute zB. auf Computern. Unter den Be­ dingungen der Verfügbarkeit technisch erwe iterter Kom­ munikationsmittel, die in dieser Beschreibung historisch vorausgesetzt sind, respezifiziert sich die Doppelung der Kontingenz entlang der Differenzierung zwischen Handeln (Alters Handlungspotential) und Erleben (Egos Beobach­ tungspotential). In neueren Ansätzen der Institutionenökonomie wird dem Einsatz von Kommunikationstechnik eine ähnliche Funktion zur Senkung von Transaktionskosten zugeschrie­ ben wie dem Vorhandensein von Ve rtrauensbeziehungen unter den Beteiligten (Picot u.a. 1996, 270ff). Daß der Ein­ satz von Technik Leistungssteigerungen bzw. Kostensen­ kungen ermöglicht, gehört zu den normalerweise nicht hin­ terfragten Grundannahmen von Organisationstheorien. Den neuen Informations- und Kommunikationstechniken kommt jedoch eine andere Stellung als traditionellen Produktions­ techniken, da sie nicht in gleicher Weise – als property rights - monopolisierbar sind. Ihre Wirkung auf die Trans­ aktionskosten ist kaum kalkulierbar, da ihr Einsatz die Grenze zwischen hierarchischer und Marktkoordination leicht überspringt. Damit verschieben sich Grenzen sowohl in der Binnendifferenzierung von Organisationssystemen als auch gegenüber spezifischen Umweltbedingungen. Bezieht man den Gebrauch neuer Kommunikationstech­ niken auf das kognitive Grundproblem der Institutionenö­ konomie, so wird erkennbar, daß eine Technik, die zugleich über mehr Interaktionsmöglichkeiten und mehr Speicher­ möglichkeiten verfügt, in doppelter Weise offen ist, die Problemlage zu verändern: Durch weiterreichende Interak­ tionsmöglichkeiten kann die Ungewißheit im Außenve r­ hältnis von Organisationen (zB. im Erreichen neuer Märkte) verringert aber auch erhöht werden. Durch mehr Speicher­ möglichkeiten können innerorganisatorischen Entschei­ dungsprobleme verringert aber auch erhöht werden. Bezieht man den Gebrauch neuer Kommunikationstechniken auf das

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normative Grundproblem, so wird erkennbar, daß eine Technik, die zugleich über mehr Interaktionsmöglichkeiten und mehr Speichermöglichkeiten verfügt, in doppelter Wei­ se geeignet ist, die Problemlage zu verändern: Durch ra­ schere (bis zeitgleiche) Interaktionsmöglichkeiten kann der Opportunismus in vertragsförmigen Beziehungen im Au­ ßenverhältnis von Organisationen verringert aber auch er­ höht werden. Durch mehr Speichermöglichkeiten kann der innerorganisatorische Opportunismus (auch bei standortve r­ teilter Kooperation) verringert aber auch erhöht werden. Die Verwendung neuer Kommunikationstechniken bie­ tet im Sinne der Transaktionskostentheorie keine zureichen­ de Erklärung für die tatsächlich beobachtbaren Veränderun­ gen auf der Organisationsebene.12 Wenn es trotz steigender Transaktionskosten eine Ve rschiebung der Grenzen von entscheidungs- zu marktbasierten Formen der Koordination gibt,13 dann sind die Ursachen vielleicht gar nicht auf seiten der Technik sondern eher auf der Seite des Vertrauens zu suchen: als Vertrauen in Technik selbst (der Information Highway als technische Utopie) und als Vertrauen in die Institutionen (neue Märkte, neue Wissensordnung). In der einfachen Gleichsetzung von Technik und Ve rtrauen als Faktoren, die Veränderungen auf der Organisationsebene erklären sollen, steckt vielleicht noch zu viel „Vertrauen in Technik“ (Wagner, 1994). Mit dem Begriff des Vertrauens hat die Institutionenö­ konomie eher vage einen Mechanismus bezeichnet, dessen Funktionieren vorausgesetzt werden muß, weil und soweit er durch Organisation nicht ersetzt werden kann. 14 Dieser wird zum Thema, weil sein Funktionieren unter den un­ wahrscheinlichen Bedingungen der Interaktion mit tech­ nisch erweiterten Kommunikationsmitteln nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt we rden kann. Hier liegt das Problem, das den Bedarf nach (neuen) symbolisch generalisierten Medien der Gesellschaft auslöst - im Falle der Wirtschaft z.B. nach neuen Formen des Geldes (bzw. „Kredits“).15 Diese Medien werden gebraucht, wenn Vertrauen als pri­ mordiale Ressource der Kommunikation nicht mehr aus­ reicht. Zur Erweiterung der Annahmen über die institutio­ nellen Voraussetzungen des Wandels auf der Ebene von Organisationen soll an das Luhmannsche Theorieangebot angeknüpft werden. 12 Die betriebswirtschaftliche Beschreibung konstatiert bez. des Einsatzes von IuK-Technik in Unternehmen ein „Produktivitätsparadox“ (Picot 1996, S. 187ff ). Daß neue Kommunikationstechnik generell Transakti­ onskosten senkt, läßt sich nicht nachweisen. Plausibler erscheint sogar, daß ihr Einsatz die Transaktionskosten steigert und damit eher die Aus­ differenzierung von Organisationen statt marktförmiger Koordination begünstigt. Gründe dafür sind bei Picot (1996,188) aufgezählt: hohe Umstellungskosten, mehr noch in bezug auf Personen (individuelles Lernen) als in bezug auf Hard- und Software. 13 Die Annahme, daß sich hier in der Bilanz eine Verlagerung in Richtung auf mehr marktförmige und dezentrale Koordination ergäbe, erscheint jedoch nicht zwingend. Saskia Sassen (1997) verweist auf die gleichzei­ tige Zunahme von zentralen Funktionen bei global operierenden Unternehmen. 14 Picot u.a (1997 404f) beziehen sich dabei auf Luhmann 1989 (zuerst 1973) - freilich ohne die im Anschluß an Parsons hier eingeführte Theo­ rie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien aufzuneh­ men. 15 Die für Ausführungen des hier skizzierten Ansatzes wichtige Frage, wa s sich an der Beschreibung ändert, wenn man stattdessen politisches, rechtliches, wissenschaftliches, pädagogisches oder anderes Handeln betrachtet, muß ausgeklammert werden. Die Grenze zwischen entschei­ dungsbasiertem Handeln und marktförmiger Vernetzung wird in jedem Funktionssystem anders nachzuziehen sein. Die Darstellung am Falle wirtschaftlicher Akteure hat hier keine systematischen sondern nur theo­ riegeschichtliche Gründe.


K.G.: Die Gesellschaft evooluiert (doch) auf der Ebene ihrer Organisationen Evolution der Gesellschaft - ein Dreiebenenmodell Die Bedeutung dieses Angebots für disziplinübergreifende Anschlüsse liegt v.a. in der Verknüpfung der drei Theorie­ stränge (die auch die Kapiteleinteilung der Gesellschafts­ theorie bestimmen): der Kommunikationstheorie, die die neuere Tradition historischer und philosophischer Sprach­ und Medienforschung verarbeitet, der Evolutionstheorie, die die ältere Tradition sozialwissenschaftlicher Anleihen bei der biologischen Theorie wiederaufnimmt, und der System­ theorie, die die sozialwissenschaftliche Tradition der Diffe­ renzierungstheorie verarbeitet.16 Der evolutionstheoretische Strang hat v.a. die Funktion, übervereinfachende Kausalan­ nahmen in der Darstellung gesellschaftliche r Veränderun­ gen zu vermeiden. Aus diesem Grund stellt Luhmann im Anschluß an das Darwinsche Schema die theoretische Not­ wendigkeit der Rekonstruktion kausal voneinander unab­ hängiger Mechanismen auch für die Beschreibung sozialer Evolution heraus (1997a, 452f; 1975b, 195). Andererseits sieht Luhmann hier keine Anhaltspunkte für eine Separation der Mechanismen entlang verschiedener Systemarten, etwa i.S. der älteren Unterscheidung von Interaktion, Organisati­ on, Gesellschaft, die der von Zellen, Organismen, Popula­ tionen in der biologischen Evolutionstheorie vergleichbar wäre.17 Statt dessen schlägt er vor, „die unterschiedlichen Komponenten der Evolution auf unterschiedliche Komponenten der Autopoiesis des Gesell­ schaftssystems zu beziehen, und zwar in folgender Weise: (1) Durch Variation werden die Elemente des Systems vari­ iert, hier also die Kommunikationen. Variation besteht in einer abweichenden Reproduktion der Elemente durch die Elemente des Systems, mit anderen Worten: in unerwarte­ ter, überraschender Kommunikation. (2) Die Selektion betrifft die Strukturen des Systems, hier also Kommunikation steuernde Erwartungen. Sie wählt an Hand abweichender Kommunikation solche Sinnbezüge aus, die Strukturaufbauwert versprechen, die sich für wie­ derholte Verwendung eignen, die erwartungsbildend und -kondensierend wirken können; und sie verwirft, indem sie die Abweichung der Situation zurechnet, sie dem Verges­ sen überläßt oder sie sogar explizit ablehnt, diejenigen Neuerungen, die sich nicht als Struktur, also nicht als Richtlinie für die weitere Kommunikation zu eignen scheinen. (3) Die Restabilisierung betrifft den Zustand des evoluieren­ den Systems nach einer erfolgten, sei es positiven, sei es negativen Selektion. Dabei wird es zunächst um das Ge­ sellschaftssystem selbst im Verhältnis zu seiner Umwelt gehen. ... Im weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Evo­ lution verlagert die Restabilisierungsfunktion sich dann mehr und mehr auf Teilsysteme der Gesellschaft, die sich in der innergesellschaftlichen Umwelt zu bewähren haben. Dann geht es letztlich um das Problem der Haltbarkeit ge­ sellschaftlicher Systemdifferenzierung.“ (1997a, 454) 16 Daß auch die soziologische Differenzierungstheorie mit biologischen Anleihen (insbesondere der Organismus-Analogie) ausgearbeitet worden ist, zeigt Tyrell (1998). 17 Programmatisch heißt es dagegen 1975 (1975a 13) noch: „Man kann die soziokulturelle Evolution beschreiben als zunehmende Differenzierung der Ebenen, auf denen sich Interaktionssysteme, Organisationssystemen und Gesellschaftssysteme bilden.“. Auch in der Einleitung zu Soziale Systeme (1984, 15f ) kehrt die Unterscheidung wieder im Rah men eines analytischen Unterscheidungsschemas, das auf der Ebene sozialer Sy ­ steme auf Selbstabstraktionen, also Ebenendifferenzierung als Evolution verweist.

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Luhmanns Ausführungen werden dem evolutionstheoreti­ schen Anspruch nicht gerecht, weil hier auf eine Unter­ scheidung verschiede ner Ebenen sozialer Systembildung verzichtet wird. Der Unterschied zwischen dem System der Gesellschaft und seinen Strukturen erscheint als eine nur noch analytische Unterscheidung (wie die zwischen einem Gegenstand und seinen Eigenschaften). Soziale Emergenz wird auf zwei Ebenen reduziert: die Ebene funktionaler Differenzierung, die zugleich die Struktur der Gesellschaft und ihre Form beschreibt, und die Ebene der elementaren Operationen, die in einer Teilmenge funktionssystemspezi­ fische Operationen, in ihrer Gesamtmenge aber die Gesell­ schaft beschreibt, die sich in jeder einzelnen Operation reproduziert. Der Ausschluß der Organisationsebene aus der evoluti­ onstheoretischen Betrachtung geht einher mit dem Ein­ schluß in die Beschreibung funktionaler Differenzierung, der sie konstituierenden Medien, Codes u.a. Einrichtungen von Funktionssystemen.18 Das betrifft nun insbesondere den Mechanismus der Selektion, den Luhmann mit symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien verbindet. Da je­ doch die Wirkungsweise dieser Medien (zumindest in ihrer entwickelten modernen Gestalt) von der Wirkung funktionaler Differenzierung nicht zu trennen ist, kann der evolutionstheoretische Anspruch kausaler Unabhängigkeit der Wirkungsmechanismen - im Verhältnis von Selektion und Restabilisierung - damit nicht mehr eingelöst werden. Im Kommunikationskapitel ist allerdings mit der Un­ terscheidung von technischen und symbolischen Kommuni­ kationsmedien der Ansatzpunkt für eine trennschärfere Formulierung der evolutionären Mechanismen gegeben. Für die Ebene elementarer Operationen der Kommunikation hat Luhmann mit dem Bezug auf Sprache einen Variationsme­ chanismus bezeichnet, der für die moderne Gesellschaft durch den Gebrauch technischer Kommunikationsmittel spezifiziert wird (1997a, 456ff). Den symbolischen Kom­ munikationsmedien wird demgegenüber eine Wirkung zu­ geschrieben, die man eher als stabilisierend (statt selektiv) verstehen kann, nämlich Anschlußprobleme der Kommuni­ kation zu lösen, die durch die Ausdifferenzierung evolutio­ när unwahrscheinlicher Formen (also auf einer anderen Ebene bereits vollzogene Selektionen) entstanden sind (1997a S. 316ff). Diese Unterscheidung von Variation und Restabilisierung ermöglicht nun eine Reinterpretation des Wandels auf der Organisationsebene. Die institutionökonomische Darstellung stellt die hohe Variabilität der Grenzziehungen auf der Organisationsebene heraus. Hier geht es nicht allein um Ve ränderungen von Organisationssystemen (ihrer Binnenstruktur, Hierarchie) und auch nicht bloß um Veränderungen auf der anderen Seite dieser Unterscheidung, auf Märkten (ihrer Ausdeh­ nung, Teilnehmerschaft) sondern v.a. um die laufende Ve r­ änderung der Grenzen zwischen Organisation und Markt, zwischen zentraler und dezentraler Koordination. In evolu­ tionstheoretischer Perspektive läßt sich an dieser Stelle die Frage nach dem Mechanismus wiederaufnehmen, der diese Verschiebungen bewirkt. Wenn man die Organisationsebene als eine eme rgente Ebene der Sozialität betrachtet, dann wird (wi eder) erkenn­ bar, daß das gemeinsame Element aller Formen dieser Ebe­ 18 Eine der diesbezüglichen Hilfskonstruktionen verknüpft die symboli­ schen Kommunikationsmedien mit Organisation über symbiotische Symbole (1997a, S. 382).


K.G.: Die Gesellschaft evooluiert (doch) auf der Ebene ihrer Organisationen ne in Vertragsbeziehungen besteht.19 Die Funktion der Ve r­ tragsform tritt in den verschiedenen Sozialformen der Orga­ nisationsebene zutage als Mittel der Auflösung und Rekom­ bination von Handlungs- und Beobachtungsanteilen der Kommunikation und als Bedingung evolutionär unwahr­ scheinlicher Formbildungen. Rückt man die Vertragsform ins Zentrum der Beobachtung und Beschreibung der Orga­ nisationsebene, dann wird zunächst erkennbar, was die emergenten Formen dieser Ebene von anderen Formen der Sozialität unterscheidet. Andere Ebenen der Kommunikati­ on lassen sich gerade durch die Abwesenheit vertraglich regulierter Beziehungen kennzeichnen: - Für die Interaktionsebene erscheint die unmittelbare Ve r­ knüpfung von Handlungen als das konstitutive Element. Zwar bezeichnet Luhmann diese Ebene aus der Perspektive kommunikationstechnisch fortgeschrittener Verknüpfungen als Kommunikation unter Anwesenden. Jedoch löst sich die Eindeutigkeit der Beschreibung der Operationsweise auf dieser Ebene der Systembildung heute gerade dadurch auf, daß die Reichweite - nicht nur kommunikativ sondern als gleichzeitiges Handeln mit technischen Mitteln über die physischen Grenzen lokaler Einheiten hinausreicht. Es geht hier also generell um die elementare Ebene kommunikativer Verknüpfungen, um das Netzwerk der Kommunikation, diesseits aller ve rtragsförmigen Regulierung. - Für die Gesellschaftsebene ist die Verknüpfung von Beob­ achtungen (mit funktionsspezifischen Bezeichnungen und binärcodierten Unterscheidungen) das konstitutive Ele­ ment.20 In der Luhmannschen Theoriekonstruktion wird zwar die Unerreichbarkeit dieser Ebene für Handlungen betont (also auch für Verträge, wie die Soziologie schon immer betont hat), die Reduktion auf Beobachtungen jedoch nicht ebenenspezifisch aufgefaßt sondern übergeneralisiert. Es kommt hier aber darauf an, die Verselbständigung von Beobachtungen in symbolisch generalisierten Kommunika­ tionsmedien, Codes und Programmen als eine Ebene der Selbststeuerung der Gesellschaft zu betrachten, die keines­ wegs auf alle anderen Ebenen durchgreift. Für die Organisationsebene ist in der Konsequenz dieser Unterscheidung von Interaktion und Gesellschaft entlang von Handlungen und Beobachtungen als konstitutives Ele­ ment gerade deren Rekombination zu betrachten. Die Ve r­ knüpfung erfolgt - auf dem Hintergrund ihrer Entknüpfung durch den Gebrauch technisch erweiterter Kommunikati­ onsmittel - durch Verträge und als typische Lösung des Problems der doppelten Kontingenz: Nach innen als Bin­ dung der Kontingenz individueller Handlungsoptionen (Nutzenmaximierung, Opportunismus) durch Verträge und sanktionierte Erwartungen (sei es zwischen Organisation und Mitgliedern oder zwischen selbständigen Akteuren). 19 S. Durkheim, 1992, 261 – Teubner (1997) beschreibt die „Institution des Vertrags“ als einen Akt der „heute“ (er deutet an, daß dies historisch zu verstehen sei) in eine Mehrheit von (koevoluierenden) Systemopera­ tionen zerfällt: T. schließt aus dieser Beschreibung in der (top down) Perspektive funktionaler Differenzierung auf einen „blinden Fleck“, weil sich die Einheit des Vertragsgeschehens in dieser Perspektive nicht dar­ stellen läßt. Er verwirft dabei m.E. vorschnell (S.316f) die Möglichkeit einer Rekonstruktion entlang der Unterscheidung verschiedener System­ ebenen. 20 Die Eigendynamik der Organisationsebene kommt bei Luhmann gerade dort in den Blick, wo er ihre Auswirkungen auf die Gesellschaftsebene thematisiert: „Die Organisationen entfalten eine Eigendynamik, die im Funktionssystem mit Verfahren der Beobachtung zwe iter Ordnung auf­ gefangen wird...“ (1997a, 846) Zur Tradition der Beschreibung funktio­ naler Differenzierung als Reflexionsebene der Gesellschaft s. die beein­ druckenden Dilthey-Zitate bei Tyrell (1998) (im Skript S. 22f)

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Nach außen als Bindung der Kontingenz der nur der Beob­ achtung zugänglichen Umwelt (Ungewißheit, mangelnde Information) im Rekurs auf vorausgesetzte, symbolisch generalisierte Bezeichnungen und Unterscheidungen, die auf der Organisationsebene (im Unterschied zu den nichtre­ gulierten Netzen der Kommunikation) zur verbindlichen Prämisse des Entscheidens und kollektiven Handelns ge­ macht werden. Ich schlage also vor, die Veränderungen auf der Organi­ sationsebene als Wirkungen des Selektionsmechanismus der modernen Gesellschaft zu deuten.21 Der evolutionäre Me­ chanismus muß in der Grenzziehung zwischen System und Umwelt - also in der Systembildung selbst - gesehen wer­ den. Der Mechanismus wird damit keineswegs auf die Ope­ rationen von Organisationen reduziert. Die Grenze wird zwar immer durch Systemoperationen - in der Form des Zustandekommens von Verträgen - gezogen.22 Verträge sind jedoch immer unvollständig, nicht alle Wirkungen sind einplanbar.23 Die Verschiebung der Systemgrenzen auf der Organisationsebene reagiert auf technische Veränderungen im basalen Netzwerk der Kommunikation und übt nachhal­ tige Wirkungen auf die symbolisch generalisierten Struktu­ ren der Gesellschaft aus. Damit kommen alle jene Verände­ rungen in den Blick, die heute unter dem Stichwort Globali­ sierung beschrieben we rden.24 Vertraglich regulierte Kommunikation auf der Ebene von Organisationen und Märkten kann als Problem interpre­ tiert werden, das durch Evolution - nämlich kommunikati­ onstechnischen Variationsdruck - entsteht und durch Evolu­ tion - nämlich die Stabilität funktionaler Differenzierung ­ gelöst wird. 25 Die Begriffe Technik und Vertrauen können 21 Die historischen Voraussetzungen für diesen Vorschlag wären entlang der Ausdifferenzierung von Organisations- und Gesellschaftsebene in der Moderne zu bestimmen. Der Vorschlag folgt insoweit der Luhmann­ schen Auffassung, wonach die Ausdifferenzierung evolutionärer Me­ chanismen selbst als Evolution zu beschreiben ist. 22 Der Bezug auf die Operationen einzelner Organisationen kann schon deshalb nicht ausreichen, weil immer schon unkontrollierbare Effekte des gleichzeitigen Operierens konkurrierender Akteure mitspielen. In evolutionstheoretisch argumentierenden Ansätzen der Neuen Institutio­ nenökonomie wird daher von vornherein auf „Populationen“ von Orga­ nisationen Bezug genommen. S. Hannan/Freeman, 1989 23 Relativ vollständige Verträge garantieren niedrige Transaktionskosten, wenn externe Faktoren stabil bleiben. Bei Umweltturbulenzen können sich unvollständigere Verträge, die viel Vertrauen voraussetzen, als vor­ teilhaft erweisen. 24 Wegen der Vertragsförmigkeit ihrer Operationen ist die Organisations ­ ebene an rechtliche Vorleistungen gebunden, die bisher auf national­ staatlicher Grundlage erbracht wurden, die heute zunehmend durch trans- und supranationale Institutionen ersetzt werden. Saskia Sassen sieht darüberhinaus die „wirtschaftliche Globalisierung von einem brei­ ten Spektrum an kulturellen Formen umgeben, die in allgemeinen Darstellungen (der Medien) oder in Expertenberichten nicht als kulturelle betrachtet werde, sondern der Welt der Technik und des Spezialistenwissens zugeschrieben werden.“ Sassen, 1997. 25 Die hier vorgeschlagene Verknüpfung evolutionärer Mechanismen mit verschiedenen Ebenen der Systembildung unter Einbeziehung aller drei Stränge des Luhmannschen Theorieangebots läßt sich in folgen­ dem Schema darstellen: Kommunikations­ SystemEvolutions­ Ebene \ Theorie theorie theorie theorie Operationsweise Systembil­ Mechanismen dung Kommunikations­ symbolisch/technisch einfache Variation ebene diffus Netze Organisations­ technisch spezialisiert kollektive Selektion ebene Akteure Gesellschafts­ symbolisch generali­ Funktionssy­ Restabilisie­ ebene siert steme rung


K.G.: Die Gesellschaft evooluiert (doch) auf der Ebene ihrer Organisationen auseinandergezogen werden i.S. evolutionärer Mechanis­ men der Variation und Restabilisierung der Selektionen, die auf der Ebene von Organisationen stattfinden. Einerseits setzt der Gebrauch neuer Kommunikationstechnik das Ve r­ trauen in die Institutionen des Marktes (der Geldwirtschaft, funktionierender Zahlungen) des Rechtes (funktionierender Verträge) und der Bildung (funktionierender Arbeitsmärkte) und anderer Funktionsbereiche immer schon voraus. Ande­ rerseits setzt dieser Gebrauch die Gesellschaft unter Druck, ihre Institutionen in globalen Funktionssystemen auszudif­ ferenzieren.

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scription of society has been neglected. In the latter case, observe­ able changes have been derived from the level of society and therefore organizations and markets are not considered to be inde­ pendent sources of evolution. The present author, however, would like to return to an older theoretical program of Luhmann's which describes socio-cultural evolution as a differentiation of the levels of social systems, and, by relying on neo-institutional descriptions of the level of organizations, propose an outline which assigns the mechanism of selection of modern society to the emergence of systems on the organizational level.

Ablehnende Begutachtung und Kommentare Literatur Coase, Ronald H., (1937): The Nature of the Firm, in: Ec onomica Vol. 4: 386-405 Durkheim, Emile, 1992, Über soziale Arbeitsteilung (1893) Frankf.M. Gilgenmann, Klaus, (1997): Kommunikation - ein Reißverschluß­ modell, in: Soziale Systeme Jg.3 H. 1, S.33-57 Hannan, Michael T. / Freeman, John, (1989): Organizational Ecol­ ogy, Cambridge, Mass. Luhmann, Niklas, (1964): Funktion und Folgen formaler Organisa­ tion, Berlin, Duncker u Humblot (Neuauflage 1995) Luhmann, Niklas, (1973): Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduk­ tion sozialer Komplexität, (3. Aufl. 1989) Stuttgart. Luhmann, Niklas, (1975a): Interaktion, Organisation, Gesellschaft, in: Soziologische Aufklärung, Bd.2 Opladen, Westdt. Verlag, 1975, S.9-20 Luhmann, Niklas, (1975b): Systemtheorie, Evolutionsthe orie und Kommunikationstheorie, in: Soziologische Aufklärung, Bd.2 Opladen, Westdt. Verlag, 1975, S.193-202 Luhmann, Niklas, (1978): Organisation und Entscheidung, in: ders. Soziologische Aufklärung, Bd.3 Opladen Westdt. Verlag, 1981 Luhmann, Niklas, (1984): Soziale Systeme, Frankf.M. Luhmann, Niklas, (1994): Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankf.M. Luhmann, Niklas, (1997a): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankf.M. Luhmann, Niklas, (1997b): Selbstorganisation und Mikr odiversi­ tät: Zur Wissenssoziologie des neuzeitlichen Individualismus, in: Soziale Systeme Jg.3 Heft 1, S. 23-33. Picot, Arnold / Dietl, Helmut / Franck, Egon, (1997): Organisati­ on. Eine ökonomische Perspektive, Stuttgart Picot, Arnold / Reinwald , Ralf / Wigand, Rolf, (1996): Die gren­ zenlose Unternehmung – Information, Organisation und Ma­ nagement. Lehrbuch zur Unternehmensführung im Informati­ onszeitalter. BWL-V. Gabler, Wie sbaden Powell, W.W./ DiMaggio, P.J. (Hg.) (1991): The New Insitutiona l­ ism in Organizational Analysis. Chicago/London Sassen, Saskia, (1997): Die globale Ökonomie, in: Telepolis (http://www.heise.de/bin/tp-issue) (20. Nov.97) Teubner, Gunter, (1997): Im blinden Fleck der Systeme. Die Hy­ bridisierung des Vertrags in: Soziale Systeme Jg.3 Heft 2, 313, 327 Tyrell, Hartmann, (1998): Zur Diversität der Differenzierungs­ theorie. Soziologiehistorische Anmerkungen, in: Soziale Sy­ steme Jg.4 Heft 1, S. ... Wagner, Gerald, (1994): Vertrauen in Technik, in: Zeitschrift für Soziologie, H.2 S. 145-157 Williamson, Oliver E. (1975): Markets and Hierarchies. Analysis and Antitrust Implications, The Free Press, New York Summary:

Although the distinction of three types of social systems has con­

tinued to be explored, the organizational level in Luhmann's de­

From: Soziale Systeme <Soziale.Systeme@post.uni-bielefeld.de> 5.2.98 To: "K.Gilgenmann" <K.Gilgenmann@t-online.de> Subject: Re: Beitragsangebot [In Serif-Schrift Kommentare KG]

Lieber Herr Gilgenmann,

zwischenzeitlich haben wir ueber Ihren Text "Aber die

Gesellschaft evoluiert ..." beraten. Dabei hat ein Gutachten

zugrunde gelegen, das ich Ihnen als mail-Text am Ende

beifuege).

Das Gutachten faellt relativ kritisch aus und moniert insbe­

sondere die Skizzenhaftigkeit der Darstellung der relevanten

Theorien zur Organisation, auch wenn man beruecksichtigt,

dass der Beitrag ja kein ausgewachsener wissenschaftlicher

Text sein soll.

In unserer Diskussion stand eher die Frage im Vordergrund,

inwieweit der Text mit einem klaren Verständnis des Evolu­

tionskonzepts argumentiert. Insbesondere bleibt u.E. der

Teil Ihres Te xts ueber Organisation in seiner Bedeutung

fuer das spaeter praesentierte Evolutionsmodell und die

Zuordnung zu den verschiedenen Evolutionsmechanismen

unklar. Die im Abstract zu findende These, dass die Organi­

sation den Selektionsmechanismus gesellschaftlicher Evolu­

tion darstellt, findet sich im Text so nicht wider. Genau das

ist aber eine spannende Frage.

Das finde ich auch: die Hälfte des Textes befaßt sich damit, war­ um Luhmanns Bestimmung des Selektionsmechanismus evolu­ tionstheoretischen Anforderungen nicht genügt, die andere Hälf­ te (in lockerer Anknüpfung an die NIÖ) mit dem Voschlag, den Selektionsmechanismus auf der Organisationsebene - und hier in der System/Umwelt-Grenzziehung - zu erkennen. Wir koennen Ihnen aufgrund der genannten Kritik leider

keine Publikationszusage machen. Auch scheint uns die

Form des Essays fuer Ihre Überlegungen vielleicht doch

nicht angemessen, da es sich um ein gewichtiges Theorie­

problem/-konzept handelt.

Ich bedauere, Ihnen keine erfreulichere Nachricht zukom­

men lassen zu koennen und verbleibe mit den besten Grues­

sen

Johannes Schmidt

Anlage: Gutachten zu Gilgenmann: Aber die Gesellschaft evoluiert

...

Ich halte die Idee des Theorienvergleichs für interessant,

finde aber das Paper noch zu skizzenhaft, um für eine Ve r­

öffentlichung in Betracht zu kommen.

Zum ersten ist fraglich, ob der Autor Luhmanns Hinweis

darauf, daß die Gesellschaft nicht auf der Ebene ihrer Orga­

nisationen evoluiert, richtig verstanden hat. Die Gesellschaft

evoluiert nicht auf dieser Ebene - was nichts darüber aus­

sagt, wie die Evolution der Organisationen vonstatten geht.


K.G.: Die Gesellschaft evooluiert (doch) auf der Ebene ihrer Organisationen Nicht nur im Kapitel über Organisationen, sondern verstreut

über das Buch finden sich dazu zahlreiche Hinweise, die

zusammenzutragen aufschlußreich wäre.

Ich habe mir alle Hinweise angesehen und sehe keine andere

Interpretationsmöglichkeit - welche meint der Gutachter?

Die Darstellung der ökonomischen Institutionentheorie ist

sehr flüchtig. Die Betonung von Verträgen ist typisch für

Williamson, die von Kommunikationstechniken ist typisch

für Picot. Daneben gäbe es aber noch die Betonung der

shared mental models bei North, oder, kaum zu umgehen,

die zusammenfassende Darstellung bei Furubotn/Richter.

Überraschend ist, daß der Hinweis auf Vertrauen, der die

Insitutionenliteratur seit ihren Anfängen begleitet, so her­

vorgehoben wird. Das Problem liegt doch gerade darin, daß

eine rational-choice-Theorie - und dazu zählt sich die Insti­

tutionenthorie explizit - für Vertrauen keinen theoretischen

Ort findet. Ungeklärt bleibt auch, woher die Bindungswi r­

kung von Verträgen kommt, wenn man nicht auf eine ganz

schlichte Durchsetzungsgewalt des Staates rekurriert.

Genau das habe ich auch gegenüber der NIÖ eingewandt und damit zur Anknüpfung an (ein modifiziertes) LuhmannTheorieangebot übergeleitet. Der Vorschlag zum Einbau der Organisationsveränderung in die Gesellschaftsevolution, der in den beiden letzten Absätzen angedeutet wird, bleibt für mich undurchsichtig. Technik zur Variation und Vertrauen zur Restabililisierung - das scheint mir sehr reduziert. Das liegt an flüchtiger Lektüre. Auch wenn der Vorschlag hier nur sehr knapp skizziert ist, so kommt er doch nicht erst in der redu­ zierten Version der beiden letzten Absätze. Wie gesagt, man könnte aus dem Material sicher ein inter­ essantes Referat für ein Forschungskolloquium machen, aber das gibt noch keinen Aufsatz.

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