Kg 1999 lernproblemegesellschaft

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Klaus Gilgenmann:

Probleme des Lernens in der sogenannten Informations- oder Wissensgesellschaft "Der gegenwärtige Übergang vom Alphabet ins Neue erscheint uns, den Buchstabierenden, wie ein gefährliches Schreiten auf einem Grat zwischen Abgründen. Unseren Enkeln wird er wahrscheinlich wie ein gemütlicher Spaziergang erscheinen. Aber wir sind nicht unsere Enkel, die das Neue bequem im Kindergarten lernen werden." (Vilem Flusser, 1989, Die Schrift, S. 153) "Die Schule muß ... alles tun, was das Kind ermutigt, Subjekt seines Lebens zu sein - sich gegen die Welt der Apparate und Institutionen zu behaupten, von denen und mit denen es lebt. Der Computer dagegen hält das Kind an seinem Stuhl fest, grenzt seine Lebensregungen auf das Feld zwischen Bildschirm und Taste ein, legt alle anderen Sinne lahm, schaltet andere Kontakte aus, bannt den Geist des Kindes auf das Frage-und-Antwort-Schema des Programms oder der Programmierung. Er macht - im Prinzip - alles zunichte, was sich die moderne Pädagogik seit Beginn unseres Jahrhunderts ausgedacht hat - zum Wohl des Kindes wie der Gesellschaft. Er bestärkt die Schule in dem, was man an ihr zu kritisieren hat. Er macht sie unmodern im Zeichen der Modernisierung." (Hartmut von Hentig, Die Flucht aus dem Denken ins Wissen, FAZ 16.8.1993,) Das moderne Bildungssystem ist ein Kind des Buchdrucks und eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die in Europa seit dem 15. Jh. mit dem Übergang von den skriptographischen zu den typographischen Medien eingetreten sind. Diese Gesellschaft befindet sich heute im Übergang zu den digitalen Medien. Die Pädagogik hat jedoch noch kaum begonnen, sich auf diesen Umbruch einzustellen und schwankt noch zwischen Euphorie und Verteufelung der neuen Medien. Im Gegensatz zur pädagogisch engagierten Kritik v.Hentigs kann in historisch-soziologis ch distanzierter Perspektive beobachtet und beschrieben werden, wie durch den Gebrauch der neuen Medien eine Versachlichung des Lernens eintritt, die neue Anforderungen an Lehrer und Erzieher stellt. Um die veränderten Anforderungen zu verstehen, genügt es allerdings nicht, den Gebrauch neuer Medien im Bildungswesen zu beobachten. Das Ausgangsproblem liegt jenseits des Bildungswesens in den veränderten Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskräfte im Berufsleben. Dazu gehört der Wandel von wirtschaftlichen u.a. Organisationen durch die zunehmende Verwendung der neuen Informations- und Kommunikationstechniken und der zunehmende Anteil zu sinkenden Kosten reproduzierbarer Informations-Produkte. Als Folge der veränderten Rolle von Wissen in Arbeitsprozessen wird eine neue soziale Frage prognostiziert: einerseits wird eine enorm gesteigerte Bedeutung von Bildung für die Verteilung von Berufs- und Lebenschancen i.S. intragenerationaler Auf- und Abstiegsmobilität erwartet, andererseits eine Segregation der neuen Wissensarbeiter in der Gesamtheit ihrer Lebensbedingungen gegenüber der restlichen Bevölkerung befürchtet. Hier ist die Frage, wie das öffentliche und allgemeinbildende Schulwesen seine tradierte Aufgabe der Sicherung eines zivilisatorischen Minimums an Chancengleichheit künftig noch erfüllen kann. Ebenen der Problembeschreibung In der folgenden Skizze formuliere ich einige Thesen über Probleme des Lernens unter den Bedingungen der Veränderung der Gesellschaft durch neue Informations- und Kommunikationstechniken.1

Ich ordne die Thesen (relativ grob) durch Unterscheidung von drei Ebenen der pädagogischen Kommunikation und des Bildungssystems, auf denen sich die problematischen Wirkungen zeigen oder auf die sie zurückwirken. 1. Unterricht Auf der Ebene der Interaktion zeigt sich eine schärfere Differenzierung zwischen den personalen und sachlichen Bezügen von Erziehungs- und Bildungsprozessen. Die sachlich-kognitiven Bezüge von Lernprozessen, deren Entfaltung in der Moderne schon stets zur Domäne der Schule gehörte, werden verstärkt in den Umgang mit neuen Medien verlagert. Der ontogenetisch primäre Personbezug könnte dadurch in der schulischen Organisation von Sozialisation (auch wegen zunehmender Instabilität der Familien) eher stärker aufgenommen werden in der Person des Lehrers. Es handelt sich insofern eher um eine lineare Steigerung von Tendenzen, die im modernen Bildungssystem schon angelegt sind, als um einen Bruch. Der schon traditionelle Bruch zwischen familialer und schulischer Sozialisation könnte insoweit eher abgeschwächt werden. Andererseits könnten aber gerade jene Teile des schulischen Lernens geschwächt werden, die aus dem Umgang mit der Schule als Organisation entspringen: das Erlernen universalistischer Regeln im Kontext schulischer Jahrgangsgruppen. 2. Schule Auf der Ebene der Bildungsorganisationen zeigen sich umbruchartige Verlagerungen im Verhältnis zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung. Gegenwärtig boomt die Nachfrage nach Qualifikationen für den Umgang mit neuen Medien auf dem Markt der Weiterbildungsorganisationen, während die allgemeinbildenden Einrichtungen in (ängstlich) abwartender Stellung verharren. Der tradierte Kanon der Allgemeinbildung gerät unter Variationsdruck. Jedoch ist noch weitgehend unklar, welche Neudefinitionen sich aus der neuen Medienkonstellation ergeben. Für die Bildungspolitik ist es daher schwer zu entscheiden, welches Bildungsangebot als öffentliches Gut von Staats wegen vorzuhalten ist. 3. Bildungssystem

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Ich akzentuiere für die Zwecke der LV bisher vernachlässigte soziologische Aspekte und vernachlässige hier pädagogische, psychologische und medientechnische Aspekte, die sich in der vorhandenen Literatur häuf iger vorfinden.

Auf der Ebene der Gesellschaft zeigt sich in der neuen Medienkonstellation einerseits eine Angleichung der wirtschaftlichen Chancen verschiedner Regionen (nicht nur im


K.G. (1999) Probleme des Lernens in der sog. Informations- oder Wissensgesellschaft nationalen sondern im Weltmaßstab) und andererseits die Wahrscheinlichkeit zunehmend ungleicher Realisierung von Teilnahmevoraussetzungen an den Berufs- und Lebenschancen. Die tradierte Funktion der öffentlichen und allgemeinbildenden Schulen im Rahmen nationaler Bildungssysteme, für eine Angleichung der Chancen zu sorgen, wird dadurch in gravierendem Maße infragegestellt. 1. Probleme der Interaktionsebene - Medienkompetenz In der einschlägigen Literatur über neue Medien ist viel von Medienkompetenz die Rede. Folglich wird auf die (vermeintlich neue) Aufgabe der Schule verwiesen, für eine solche Kompetenz bei der nachwachsenden Generation (in hinreichendem Umfang) zu sorgen. Dabei wird meist übersehen, daß es sich schon bei den alten „Kulturtechniken“ des Lesen/Schreiben/Rechnens um Medienkompetenzen handelte. Diese Unreflektiertheit mag noch aus der alltagssprachlichen Gewohnheit zu erklären sein, wonach als Medien immer nur die neuen Medien bezeichnet werden, die noch nicht so selbstverständlich und kulturell implementiert erscheinen wie Schrift und Buchdruck. Gravierender wirkt diese mangelnde historische Reflexion allerdings auf den Wissensbegriff zurück, der immer noch so gebraucht wird wie in schriftlosen (Stammes-) Gesellschaften, in denen das kollektive Wissen weitgehend von der Kompetenz individueller Erzähler abhängt, Inhalte ihres persönlichen Gedächtnisspeichers zu bewahren und in die Kommunikation einzubringen (Vgl. Goody, Eisenstein, Giesecke). Seit dem Gebrauch technisch externalisierter Speicher wie Schrift und Buchdruck hat sich jedoch diese enge Koppelung zwischen gesellschaftlichem Wissen und individueller Kompetenz aufgelöst zugunsten einer Co-Evolution, die auf der Seite der Gesellschaft die Dimensionen übersteigt, die ein individuelles Bewußtsein je erfassen kann, und auf der Seite der individuellen Bewußtseinsträger zur komplementären – zunehmend schulisch organisierten - Entfaltung von Medienkompetenz geführt hat. Anstelle der noch in der frühen Blüte des Buchdrucks gepflegten Idee des enzyklopädisch-allwissend gebildeten Individuums tritt damit die Idee der „Gewußt wie“ – i.S. der Kompetenz zum selekt iven Zugriff auf das in den verschiedensten Medien gespeicherten Wissens der Gesellschaft. 2 - Soziales und kognitives Lernen 2

„Die Gutenberg-Galaxis geht unter und die neu entstehende Galaxis der Bildschirmmedien ist heute in einem Zustand, in dem die GutenbergGalaxis sich im 15. oder 16. Jahrhundert befand. Die Schrift geht dabei nicht verloren, wohl aber der Buchdruck als wissenschaftliches Informationsmedium. Das Schriftwissen im elektronischen Medium ist auf Veränderbarkeit, auf schnelle Korrigierbarkeit und auf internationale Kommunizierbarkeit angelegt, nicht auf Nationalsprachlichkeit. Sprachliche Nuancen gehen dabei verloren. Und das Schriftwissen im elektronischen Medium erreicht eine Übergangsgeschwindigkeit und eine Halbwert szeit, wie wir sie beim Buchdruck nicht gekannt haben. ... Teile der geisteswissenschaftlichen Fakultäten werden dadurch untergehen. ... Zugleich entsteht so viel Neues, daß ich keine Angst habe, die Hochschule könnte ihre Funktion verlieren. Ganz im Gegenteil: Sie hat heute eine viel stärkere Funktion, weil die Orientierungslosigkeit der Menschen wächst.“ Zitat aus: „Altlasten des Geistes. Ein Gespräch mit Wolfgang Frühwald, Germanist und Präsident der Deut schen Forschungsgemeinschaft“ Die Zeit, 3.5.96

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Die moderne Schule dient der Verallgemeinerung reflexiver Potentiale der Kommunikation. Sie gehört daher auch zu den Einrichtungen, die wegen ihres immanenten Versachlichungspotentials auf neue Medien schon „gewartet“ haben. Diese Aussage mag auf dem Hintergrund von pädagogischen Theorien, die den Personbezug hervorheben, provokativ klingen. Es kann jedoch als ein Grundzug der pädagogischen Kommunikation in der Moderne beschrieben werden, die Bindung des Lernens von Personen abzulösen und stattdessen Lernvorgänge an Sachthemen zu binden. Diese Versachlichung, die schon in der Frühmoderne als Vorteil der öffentlichen Erziehung gegenüber der Privaterziehung gewertet wurde,3 kommt mit der EDV überhaupt erst auf den Punkt.4 Zugleich mit dieser Versachlichung der schulisch organisierten Lernvorgänge findet innerhalb der pädagogischen Kommunikation jene Differenzierung statt, die den personbezogenen Vorgang der Erziehung gegenüber der traditionellen Kompaktform zur Permissivität gegenüber Kindern ausdifferenziert. Die Rekombination der unwahrscheinlichen Kommunikationsofferten der pädagogischen Handlungssysteme mit der Motivation ihrer Teilnehmer erfolgt im symbolisch generalisierten Medium der Kindheit. Von Befürwortern des verstärkten Einsatzes von Computern wird die - empirisch noch wenig geprüfte - These vertreten, daß dadurch in der Schule der Spielraum für soziales Le rnen wachse. Hierfür werden v.a. drei Argumente vorgebracht: 1. die Lösung von Problemen am Computer (einschl. durch den Computer selbst verursachten Probleme) kann zum Auslöser von Kooperation und Gesprächen auf Interaktionsebene werden. 2. der Computer kann als Medium des Kontakts unter Abwesenden – insbesondere bei der Lösung von Problemen durch Interaktion von Spezialisten – werden. 3. der Computer kann – gerade dadurch daß er rein kognitive und rezeptive Lernprozesse rationeller zu gestalten erlaubt – Zeit freisetzen für soziale Kooperation etc. Zumindest Letzteres kann aber mit guten Gründen bezweifelt werden.5 Die Schule hat bisher wenig organisatorisch reflektierte Erfahrung mit sozialen Lernprozessen. Wo sie stattfinden, finden sie eher nebenbei – vermischt – mit den kognitiven Arrangements statt. Eine weitergehende Entmischung könnte hier die Schule vor zunehmende Probleme stellen. Zumindest wären die institutionellen Umsetzungen noch genauer zu untersuchen. Es genügt nicht, von Freisetzung zu sprechen und dann zu unterstellen, daß das soziale Lernen von selbst diese Freistelle ausfüllt. - Vom Lernen auf Vorrat zum Instant-Lernen 3

S. Stichweh 1991, S. 281f zum Fall der Adelsbildung; s. auch G.W.F.Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd.7, Paragr.238,239 4 „Das Feedback der Lernsysteme ist im Vergleich zu dem der Lehrer ein schnelleres und vollständigeres Feedback, das auch qualitative Unterschiede aufweist. Es kann alle Kriterien, die es für die Beurteilung berücksichtigt, aufweisen, während der menschliche Tutor, um die Kosten der Interaktion mit den Studenten zu reduzieren und die Kommunikation auf die wesentlichsten Informationen zu beschränken, nur wenige Beurteilungskriterien anwendet.“ Guiseppe Mantovani, Was der Computer mit uns macht. [unsinnige Übersetzung des italienischen Titels: La qualità dell`interazione uomo-computer] Sozialpsychologische Aspekte der Kommunikation mit und durch den Computer. Mayntz,1994 5 Vgl. BLK-Gutachten.


K.G. (1999) Probleme des Lernens in der sog. Informations- oder Wissensgesellschaft Viele Beobachter meinen, daß die Globalisierungstendenzen auf den Märkten zu einer Umwälzung des (europäisch geprägten) Bildungssystems in dem Sinne führen, die angesichts der sich dramatisch verkürzenden Verfallszeiten von Wissensvorräten von den tradierten Belehrungskulturen, die auf dem Prinzip der Bildung eines lebenslang ausreichenden Wissensvorrats basieren, wegführen zum Erlernen von Einstellungen, die lebenslange Offenheit für neues Wissen – also Lernen des Lernens (an mehr oder weniger beliebigem Stoff) oder kritischer formuliert: "Instant-Lernen" – ermö glichen (vgl. R. Kahl, TAZ 4.8.97). Die Rede vom lebenslangen Lernen ist ja innerhalb der pädagogischen Dikussion keineswegs neu, wird aber jetzt mit höherer Dringlichkeit formuliert. Das Lernen selbst wäre damit wieder - wie unter vormodernen Verhältnissen auf eine Art zufallsgesteuerte Mutation des Bewußtseins reduziert. Es handelte sich um nicht intendierte Folgen der Teilnahme an Kommunikation. Die pädagogische Intention hätte sich allein auf die Motivationsstruktur der Lernenden, die Unterstützung der Fähigkeit des Selbstlernens zu richten. - Selektivität der Medien und Selektionskompetenz der Nutzer In bildungspolitischen Stellungnahmen zum Thema Medienerziehung wird viel von Werten und Moral gesprochen. Im Gebrauch der (neuen) Medien scheint eine Bedrohung etablierter Werte und Moralvorstellungen zu liegen. Diese Wirkung wird jedoch gewöhnlich nicht erklärt sondern wie selbstverständlich vorausgesetzt. Wie kommt es zu der Annahme, daß Medien der Kommunikation nicht bloß „neutrale“ Träger von Mitteilungen sind ? In der Behandlung dieses Themas wäre zunächst eine Paradoxie zu entfalten: die übliche Wahrnehmung des Problems neuer Medien, insbes. der Computernetze bezieht sich ja auf die Notwendigkeit der Steigerung von Selektivität. Die pädagogische Empfehlung lautet: Medienkompetenz als Steigerung des Selektionsfähigkeit des Nutzers gegenüber der Informationskomplexität. Auf den ersten Blick im Widerspruch dazu steht eine andere Wahrnehmung, die das Problem eher in der „versteckten“ Selektivität der Medien selbst sieht. Hier geht es gerade darum, durch distanzierte Beobachtung des Mediums die in seiner Evolution entfaltete Vorstrukturierung der Mitteilungsmöglichkeiten – die zugleich Steigerung und Reduktion von Komplexität beinhaltet – zu erkennen. Die pädagogische Methode bestünde hier also darin, die Selektivität des Mediums ein Stück weit zurückzunehmen, um die Selektivität des Nutzers zu steigern. - Pädagogik in Zeiten der Computernetze Häufig wird der Einsatz von Computerprogrammen in der Schule im Verhältnis zum Einsatz von Lehrern alternativ diskutiert. Dabei wird gern betont, daß die Unersetzlichkeit lebendiger Menschen als Lehrpersonen in der Flexibilität und dem Motivationsgehalt der face-to-face-Kommunikation liege, und daß der Nachteil des Computers in der Rigidität liege, mit der er dem Lernen seine Operationslogik aufzwinge. Beide Aussagen treffen jedoch die Problemlage des schulischen Lehrens und Lernens nur sehr ungenau. Die individualisierte Interaktion des Lehrers mit Schülern ist häufig schon aus quantitativen Gründen beschränkt. Und ein

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Vorteil des Computers kann gerade in seiner unendlichen „Geduld“ und „Nachsicht“ gesehen werden, mit der er Schülern immer wieder dieselben Fragen vorlegt. Die Vorzüge des Computereinsatzes in der Schule können häufig deshalb nicht gesehen werden, weil schon die pädagogische Aufgabe des Lehrers nicht vollständig gesehen wird: als Doppelaufgabe der Förderung und Bewertung. Sie wird stattdessen einseitig - häufig in kritischer Einstellung zu dem, was in der Schule tatsächlich geschieht - in der pädagogischen Förderung des einzelnen Schülers gesehen. Die schulpädagogische Literatur zeigt, daß es für Lehrpersonen nicht leicht ist, die Balance zu wahren zwischen der Aufgabe der individuellen Förderung und der Aufgabe der Leistungsbewertung. Der Computer kann dies jedoch erleichtern, indem er den Lehrer gerade von den eher repetitiven Teilen der pädagogischen Förderung entlastet und diese genau auf das individuelle Leistungsvermögen abstellt. Im Sinne dieser doppelten Aufgabenstellung ist als Kern des Lehrerhandelns zu erkennen: einerseits jene Permissivität, die es unter den besonderen Bedingungen alterstufenspezifischen Gruppierung in der Schule als „pädagogische Provinz“ - erlaubt, Fehler zu machen, die außerhalb der Schule sofort und härter „bestraft“ würden; andererseits jene Selektivität, mit der die Fehler beobachtet und den Schülern, die sie gemacht haben, mitgeteilt wird, daß sie nur begrenzte Zeit zur Verfügung haben, um daraus zu lernen.

2. Probleme der Organisationsebene - Allgemeine und berufliche Bildung Das Problem der Gesellschaft, das durch die Ausdifferenzierung schulischer Organisationen bearbeitet wird, zeigt sich im Besonderen in der Zeitdimension von individuellen (lebensgeschichtlichen) Lernprozessen. Diese lassen sich typischerweise durch marktförmige Entscheidungen allein nicht sinnvoll steuern. Das ist zB. an dem gegenwärtigen Boom im Weiterbildungsbereich zwecks Erlangung der Kompetenz zum Umgang mit den neuen Medien zu erkennen. Dieser Anpassungsvorgang erzeugt erhebliche Ungleichheiten und vermutlich nicht die Voraussetzungen für eine intergenerative Reproduktion auf einem höheren Durchschnittsniveau der Teilnahmevoraussetzungen. Die Kosten für Weiterbildungsmaßnahmen im Bereich der Medienkomptenz steigen vermutlich überproportional (und sind zugleich für die Unternehmen untragbare Kosten, sofern sie die qualifizierte Arbeitskraft nicht binden können). Diese Kosten erzeugen Druck zur Steigerung der allgeme inen Durchschnittskompetenz über das allgemeinbildende Schulsystem. - Funktion schulischer Notengebung Die Notengebung wird im emphatischen Selbstverständnis der Pädagogen (einschließlich ihrer erziehungswissenschaftlichen Ausbilder) häufig marginalisiert und als eher störende Randbedingung päd. Handelns beschrieben. Im Zusammenhang mit dem Gebrauch neuer Medien in der Schule wird gelegentlich sogar der alte Traum der Pädagogen von


K.G. (1999) Probleme des Lernens in der sog. Informations- oder Wissensgesellschaft der Abschaffung der Noten und Zeugnisse wiederhervorgeholt. Eine soziologische Beschreibung hätte demgegenüber die Paradoxie zu entfalten, daß die Bewertung schulischer Lernprozesse mit Noten zwar einerseits das Schulsystem mit der Gesellschaft und insbes. ihrem Beschäftigungssystem verknüpft (insofern also in der Schule zu Recht als Repräsentant externer Kausalitäten wahrgenommen wird) andererseits aber doch die Schule vor den unmittelbaren Wirkungen dieser Umwelt schützt, also die pädagogische Autonomie überhaupt erst ermöglicht und mit ihr das pädagogisch konstitutive Recht der Schüler, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen (das in bestimmter Hinsicht durch den Gebrauch der neuen Medien neu strukturiert wird). - Bildung und Wissenschaft Bildung läßt sich verstehen als eine Entwicklung des menschlichen Bewußtseins, die es Menschen erlaubt (passende Angebote der Gesellschaft vorausgesetzt) in einer technisierten und versachlichten Lebenswelt nicht nur zurecht zu kommen, also die latenten Strukturen dieser Welt kommunikativ mitzuvollziehen, sondern auch die wissenschaftlich-theoretische Einstellung selbst (im Prinzip) nachzuvollziehen, die die Technisierungen der Kommunikation ermöglicht, bevor sie als Technik in die latenten Strukturen der Lebenswelt eingeht. Es handelt sich hier um das methodische Stellen von Wie-Fragen, eine Form der Beobachtung zweiter Ordnung, die die laufenden Vorgänge der Technisierung und Versachlichung zumindest theoretisch reversibel hält. Dieser Bildungsvorgang ist jedoch nicht abgeschlossen (bliebe insofern „Halbbildung“) solange er nicht auf eine Ebene der Kommunikation als Beobachtung erster Ordnung zurückführt. Die Betrachtung von Lernfähigkeit (als personale Voraussetzung des Wandels der Gesellschaft auf der Organisationsebene) muß erweitert werden um die Betrachtung des Bildungswesens (und seiner Organisationen) dessen Leistung gerade darin besteht, Lernfähigkeiten der Individuen (massenhaft) an die Strukturen der modernen Gesellschaft und das Tempo ihres Wandels anzupassen. Dann wird erkennbar, daß die Funktion der Bildung in einem Punkt dem der Wissenschaft (einschließlich wissenschaftlich induzie rter technischer Innovationen) diametral entgegengesetzt ist: Hier geht es nicht um die Infragestellung des Gewohnten, um Zweifel und Innovation sondern um die Gewöhnung an Neues, um die Ausbildung von Habits - also in gewisser Weise auch: um die Wieder-Herstellung von Vertrauen in die sozialen Voraussetzungen.6 6

Die Methode schulischer Unterweisung unterscheidet sich prinzipiell von der problematisierenden Methode der wissenschaftlichen Beobachtung und Beschreibung. Deshalb besteht in der wissenschaftlichen Ausbildung und Beratung von Lehrern und Erziehern das Problem der wechselseitigen Instrumentalisierung (bzw. Verunreinigung): der pädagogische Diskurs wird entkräftet durch Wissenschaft der wissenschaftliche Diskurs wird entkräftet durch die auf Problemlösungen ausgerichtete Pädagogik. – Es kann sich bei wissenschaftlicher Ausbildung - angesichts der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems - nicht um den detaillierten Nachvollzug der einzelwissenschaftlichen Entwicklung handeln sondern nur um den Nachvollzug der theoretischen Einstellung, die einerseits Distanz gegenüber den je konkreten (technischen und nichttechnischen) Strukturen der Lebenswelt im Horizont anderer Möglichkeiten erlaubt (d.i. gewissermaßen die geisteswiss.-kulturelle Seite), und die andererseits zur Voraussetzung werden kann, um aktiv an der Umgestaltung der Lebenswelt durch neue Techniken mitzuwirken (gewissermaßen die naturwissenschaftlich-technische Seite). Insoweit sie (neben der anwendungsbezogenen Forschung) eine Kommunikation

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Dieser konservative Primäraspekt von Erziehung und Bildung, der in der Formel vom Lernen des Lernens verdeckt wird, ist als eine Paradoxie der modernen Pädagogik von Anfang an bewußt gewesen (und in der Doppelfunktion der universitären Organisation von Lehre und Forschung institutionalisiert worden).

3. Probleme der Gesellschaftsebene - Autonomie und Wettbewerb im Bildungssystem Von einer Ausdifferenzierung der Bildungseinrichtungen i.S. eines autonomen Funktionsbereichs der modernen Gesellschaft läßt sich (erst) sprechen, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: 1. muß die rekrutive Verteilungsfunktion von den Berufsorganisationen auf die Bildungseinrichtungen übergegangen sein und 2. müssen die Bildungseinrichtungen dazu freigesetzt sein, unter dem Aspekt ihrer Leistungen für spezifische Bildungsmärkte zu konkurrieren. Die Koppelung zwischen Bildungsabschlüssen und Berufszugängen, die traditionell nur für wenige („höhere“) Bildungsgänge und Berufe galt (zuerst für Kirchen- dann für Staatspersonal, sowie noch für spezielle Gewerbe im Bereich der beruflichen Bildung) verwandelt sich damit zu einem Instrument des Bildungssystems, das tendenziell alle Berufszugänge kontrolliert. Dies gilt positiv und negativ - in negativer Hinsicht für jene Berufe, die ohne Bildungsabschluß auskommen, dann aber auch nur noch deshalb gewählt werden. (S. als Gegenbeispiele zB. die „Staatsexamina“ der Lehrer für eine noch immer eingeschränkte Autonomie der Universitäten bezüglich der Selektion.) Mit dem Übergang der Selektion auf die Bildungsorganis ationen verändert sich die Struktur der Koppelung zwischen Bildungsabschlüssen und Berufszugängen: Es handelt sich nurmehr um lose Koppelung, die keine Zugänge mehr garantieren sondern nur noch Mindestbedingungen setzen kann. Die Abwehr von Bildungsansprüchen wird damit zu einer Funktion des Systems. Komplementär zu dem verringerten Einfluß der Berufsorganisationen kann ein gesteigerter Einfluß der Bildungsaspiranten (Eltern, Schüler, Studenten etc.) auf die Bildungsorganisationen als Moment der funktionale Differenzierung erwartet werden. Es handelt sich um die Ausdifferenzierung der Publikumsrollen des Funktionssystems auf spezifischen Bildungsmärkten. Am deutlichsten ist der Trend zur Freigabe der Konkurrenz der Bildungsorganisationen heute im Hochschulbereich zu erkennen. Aber auch der gesteigerte Einfluß von Elternverbänden auf die bildungspolitischen Debatten über das Angebot an weiterführenden Schulen kann schon in diesem Sinne gedeutet werden. In der Publikumsrolle wird einerseits direkt Einfluß ausgeübt durch Teilnahmeentscheidungen, die die Stellung der jeweilgen Organisation in der Konkurrenz verändern. Die Publikumsrolle ist andererseits selbst organisierbar und kann dann qua Organisation indirekt Druck ausüben. (S. u.a. deren Akzeptanz in der Massenkommunikation, ranking lists etc.) - Verteilung des Wissens hervorbringen, die solche Bildungsprozesse erlaubt, sind die Universitäten zugleich höhere Bildungsanstalten.


K.G. (1999) Probleme des Lernens in der sog. Informations- oder Wissensgesellschaft Die Verknüpfung des Themas Informationsgesellschaft mit Bildungsfragen erfolgt am deutlichsten in der These der Entstehung neuer sozialer Ungleichheiten (nach Auffassung des ehem. Wissenschaftsminister Rüttgers die neue soziale Frage des 21. Jh.s). Die pessimistische Variante dieser These unterstellt eine Art Segregation der neuen Wissensarbeiter in der Gesamtheit ihrer Lebensbedingungen gegenüber dem Rest Bevölkerung (als Modernisierungsverlierer). Die optimistische Variante impliziert zumindest eine enorm gesteigerte Bedeutung des Bildungswesens für die Verteilung von Berufs- und Lebenschancen i.S. intragenerationaler Auf- und Abstiegsmobilität. (Vgl. die Wissenskluftthese bei Saxer, Bonfadelli) Um diese These (zunächst theoretisch) besser zu fundieren, muß die veränderte Rolle des Guts Wissen (i.S. einer in Bildungsprozessen erwerbbaren, vom lebendigen Individuum nicht abtrennbaren Kompetenz zum Umgang mit Informationstechnik) in Arbeitsprozessen und insbesondere in Organisationen beschrieben werden. Dazu gehört i.e.S. die Beschreibung der sog. Wissensökonomie, der Wandel auf der Ebene wirtschaftlicher Organisationen durch sinkende Transaktionskosten und die Folgen der Verlagerung von materiell-physischen zu symbolisch-geistigen und beliebig reproduzierbaren Gütern am Gesamtprodukt.7 Und i.w.S. der entsprechende Wandel der Organisationen und des Austauschs in anderen Funktionssystemen, u.a. auch des Bildungssystems selbst.8 Aufgrund der Umbrüche in den Beschäftigungsverhältnissen der Informationsgesellschaft zeichnet sich ein grundlegender Verteilungskonflikt zwischen den Ausgaben für Bildung (für die nachkommende Generation) und den tradierten Ausgaben für soziale Sicherheit (für die aus dem Erwerbsleben ausscheidende Generation) ab (vgl. Heuser S.207f). Für viele Beobachter ergibt sich aus dem Gebrauch neuer IuK-Technologien in vielen Berufen eine Betonung der Funktion der Bildung im Wandel der Gesellschaft (vgl. Heuser im Unterschied zu Tully und Haefner). Eher optimistische Einschätzungen beziehen sich auf die Folgen, die die immateriellen Eigenschaften der neuen Wirtschaft („Ideenökonomie“) für die entsprechend qualifizierten Arbeitnehmer haben (indem sie ihre Stellung gegenüber Arbeitgebern generell verbessern). Diese Einschätzung impliziert allerdings nicht schon die Gewährleistung von Chancengleichheit, die zum klassischen Aufgabengebiet der öffentlichen und allgemeinbildenden Schule gehört.

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Im Gegensatz zu gängigen Thesen über die Verlagerung aller relevanten Probleme in der Informat ionsgesellschaft von der Ebene physischer auf die Ebene geistiger Arbeit möchte ich allerdings die unauflösbare Koppelung physischer und geistiger Komponenten in jeder kommunikativen Operation betonen. Es wandelt sich aber offenbar die Art der Koppelung (i.S. einer Dynamik der Koppelung und Entkoppelung). Auf die physische Seite bezieht sich die Herstellung von wirtschaftlich verwertbaren Verfügungsrechten und damit eine wesentliche Bedingung der Ausbreitung neuer Kommunikationstechniken. Auf die geistige Seite beziehen sich die gesteigerten Anforderungen an die Teilnehmer und damit auf eine wesentliche Bedingung der schulischen Organisation von Lernprozessen. 8 Hier wäre mit dem ökonomischen Produktivitätsparadox anzuschließen – d.h. dem Umstand, daß angesichts der hohen Lernkosten die tatsächliche Entwicklung der neuen IuK-Techniken – zumindest i.S. der Transaktionskostenersparnis – gar nicht zu erklären wäre. Lernaufwand wird zum handicap im Wettbewerb.

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- Die Wissensgesellschaft als Bildungsgesellschaft Von Vertretern der Politik und der Wirtschaft wird heute gern und oft zur Charakterisierung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse die Bezeichnung als Wissensgesellschaft verwendet. Was rechtfertigt diese Bezeichnung? War nicht in allen Gesellschaftsformen der Menschheit (schon bei den weisen Männern der Stammesgesellschaften oder den Klosterbibliotheken des Mittelalters) das Wissen eine zentrale Ressource? Schon die Frage, ob von einer Zunahme des Wissens in der Moderne gesprochen werden kann, beruht auf Annahmen, die man mit guten Gründen bestreiten kann. Der zugrundeliegende Wissensbegriff bezieht sich nämlich immer nur auf explizites, kommunizierbares, mithilfe technischer Ko mmunikationsmittel transportierbares und speicherbares Wissen. Er klammert jenes implizite Wissen aus, über das im Alltagshandeln und auch in beruflich spezialisierten Handlungszusammenhängen stillschweigend verfügt wird (und dessen Verfügbarkeit nur dann zum Problem wird, wenn der soziokulturelle Kontext wechselt, in dem es zur Verfügung steht). Der Begriff des expliziten Wissens, für den der Gebrauch technischer Kommunikationsmittel konstitutiv ist, legt es bei genauerer Betrachtung nicht nur nahe, von einer Zunahme des Wissens zu sprechen sondern zugleich von einer Zunahme des Nichtwissens, das die Perpektive der Individuen beschreibt, die sich den verselbständigten Wissensvorräten der Gesellschaft gegenübersehen. Da sich nun aber Wissen als sinnhafte Ressource jeder quantifizierenden Definition sich entzieht - auch die Zahl der Publikationen oder der Internetseiten ist da nur ein schwaches Indiz - könnte es sich auch um ein Nullsummenspiel handeln. Das schließt nicht aus, daß es bei diesem Spiel Gewinner und Verlierer gibt. Gewinner sind jedenfalls jene pädagogischen Organisationen der Gesellschaft, die seit Beginn der Moderne einen zunehmenden Teil der Lebenszeit der jeweils nachwachsenden Generation dafür in Anspruch nehmen, die Differenz zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen der Gesellschaft auszugleichen (offenkundig eine Sisyphos-Arbeit, wie schon S.Bernfeld bemerkte). Der Buchdruck hat die Vorstellung eines endlichen (enzyklopädisch abspeicherbaren) Wissens gefördert. Die Schule hatte weitgehend die Funktion, den Zugang zu diesem Wissensvorrat zu erschließen. Die neue Medienkonstellation der Computernetze ist dabei, die Vorstellung eines endlichen, erschöpfbaren Wissensvorrats wieder aufzulösen. Die Schule verliert damit die Autorität, die ihr aus der Vermittlung eines abgeschlossenen Wissensvorrats erwuchs. Sie verliert jedoch nicht die Funktion des Vermittlers von Zugängen, die sich aus der unendlichen Vielfalt technisch erweiterter Kommunikationsmöglichkeiten ergibt. - Zwei Arten des Lernens N. Bolz hat (in einem am 1. Februar 2001 in Osnabrück gehaltenen Vortrag) darauf hingewiesen, daß die in pädagogisch-politischen Reden immer wiederkehrende Formel vom „lebenslangen Lernen“ eine wichtige Unterscheidung unterschlägt, nämlich die zwischen einem kumulierenden Hinzulernen und einem umwälzenden Neulernen. Ersteres ist weitgehend unproblematisch und stößt allenfalls auf bestimmte Begabungsgrenzen. Letzteres aber stellt die eigentliche Herausforderung der Gegenwart, die Identitätsbe-


K.G. (1999) Probleme des Lernens in der sog. Informations- oder Wissensgesellschaft drohung der Wissensgesellschaft dar: daß ein Lernen zugemutet wird, in dem das bisher Erlernte in Frage gestellt, verlernt werden muß. Im Blick auf den Begriff der Wissensgesellschaft wird häufig die Frage gestellt, wie es möglich ist, daß Wissen zu einem Faktor werden kann, der Macht, soziale Ungleichheit etc. bewirkt, obwohl doch Wissen dem stofflichen Charakter nach kein knappes Gut darstellt, dessen Weitergabe für den Gebenden einen (zB. in Geld kompensationsbedüftigen) Verlust darstellt. Es geht bei dieser Frage nicht um die Frage nach dem Schutz geistigen Eigentums für den die Gesellschaft bekanntlich schon viele Mechanismen entwikkelt hat - Patente etc. - sondern um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit ungleicher Verteilung und sogar der Monopolisierung des Wissens unabhängig von und schon vor allen institutionellen Eingriffen. Die Antwort ist in einem Vergleich mit den (paradoxen) Effekten der Technisierung im Bereich der organisierten Kollektivakteure zu erkennen, wo einerseits Technik als typische Neuerung betrachtet wird und doch zugleich ein Trägheitsmoment als Folge technischer Investitionen beschrieben werden kann, das in der Konkurrenz selektionswirksam wird. Die Analogie im Bezug auf Wissen zeigt sich in der Notwendigkeit der lernenden Aneignung der objektivierten Wissensvorräte durch lebende Individuen: Lernen kann einerseits als Akt der Innovation (im jeweiligen Bewußtsein) betrachtet werden, ist jedoch zugleich auch als ein Akt der Investition mit eben jenem Trägheitsmoment behaftet, das selektionswirksam wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn jedes neue Lernen zugleich als Verlernen schon vertrauter Wissensbestände rekonstruiert wird. Die Ressourcenknappheit ergibt sich hier letztlich aus der begrenzten Lebenszeit für Bildungsprozesse. - Bildung und Massenkommunikation Veränderungen in den Systemen der pädagogischen Kommunikation und der Massenkommunikation können als Beispiele für ein Rearrangement der Funktionen in der neuen Medienkonstellation der Gesellschaft vergleichend beobachtet werden: Beide Systeme konkurrieren (wie jeder Lehrer heute leidvoll weiß) unter dem Aspekt der strukturellen Koppelung von Kommunikation an Bewußtsein. Das Bildungssystem, in dem einmal (unter dem perennierenden Aspekt der Reformpädagogik) bahnbrechende Leistungen für die Modernisierung i.S. von Aufklärung erwa rtet wurden (und das diese Funktion in Teilen der Welt auch heute noch hat) verlagert seine Funktion zunehmend auf Steigerung der Selektivität auch in dem „konservativen“ Sinne der Abweisung von Variation, Verzicht auf Speicherung (Vergessenlassen) etc. Das System der Massenkommunikation hingegen steigert seine Funktion im Hinblick auf Innovationen auf der Ebene nichthinterfragbarer symbolischer Generalisierungen. Es produziert eine global verständliche Bildersprache, die als latenter Hintergrund für die Annahme unwahrscheinlicher Kommunikationsangebote fungiert. Es operiert dabei „affirmativ“ i.S. nicht (oder nur schwer) negierbarer Aussageeinheiten.

Literatur

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