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Die Funktion der Öffentlichkeit im Prozess der europäischen Integration Vortrag am 9. Jan. 2002 im DFG-Graduiertenkolleg „Europäische Integration und gesellschaftlicher Strukturwandel“

Vorbemerkungen Ich fange an mit einigen Einschränkungen. Mein Vortrag war zunächst (etwas vollmundig) angekündigt als „Europäische Integration und gesellschaftlicher Strukturwandel – Strukturwandel der Öffentlichkeit als Bedingung der Integration“. Diese Formulierung entsprach einer Vorgabe des Kollegsprechers, wonach das Thema des Vortrags sich als Unterthema des Kollegsthemas ausweisen sollte. Da lag es nahe, die Verbindung über den Topos Strukturwandel herzustellen. Bei der Ausarbeitung ist mir allerdings klar geworden, daß ich damit zuviel versprochen habe. Wenn vom Strukturwandel der Öffentlichkeit die Rede ist, dann ist eine historische Untersuchung, zumindest eine Skizze historischer Prozesse, zu erwarten. Tatsächlich habe ich hier aber (i.S. des Werkstattcharakters der Kolleg-Vorträge) nicht viel mehr vor, als einen Theorierahmen zu skizzieren, der für eine solche historische Untersuchung geeignet wäre. Auch hinsichtlich des theoretischen Rahmens, den ich in diesem Vortrag skizziere, muß einschränkend gesagt werden, daß ich nicht die Vielfalt der konkurrierenden Theorien zu gesellschaftlichem Strukturwandel darstellen kann (das wäre die akademische Pflichtübung) sondern nur einige Elemente aus verschiedenen Theorietraditionen, die ich in einem theoretischen Modell zu verknüpfen versuche. (Ich verweise im übrigen auf die Fußnoten und anderes Kleingedrucktes im Skript zu diesem Vortrag und auf die erweiterte Literaturliste im Anhang, die ich auf meiner web-site veröffentlicht habe. 1) Ich spreche jetzt also über die „Funktion der Öffentlichkeit im Prozess der europäischen Integration“ und nicht über historische Ereignisse und Ereignisketten, an denen sich ein Strukturwandel der Öffentlichkeit in Europa festmachen ließe. Auch den Prozess der europäischen Integration setze ich im wesentlichen voraus. Ich werde einige Strukturmerkmale öffentlicher Kommunikation bezeichnen und daraus auf ihre Funktion für gesellschaftlichen Strukturwandel schließen. Dann werde ich mich der Frage zuwenden, ob von einem Öffentlichkeitsdefizit auf europäischer Ebene gesprochen werden kann - wie einige Autoren behaupten. Diese Frage läßt sich empirisch nur überprüfen, wenn die Frage nach ihrer Funktion auch theoretisch einigermaßen geklärt ist. 1. Theorierahmen Nach diesen Vorbemerkungen beginne ich damit, Ihnen meinen Theoriebaukasten zu zeigen. Schema 1: Theorierahmen

Kommunikationstheorie

Evolutionstheorie

Institutionentheorie

Öffentlichkeit

Sozialer Wandel

Integration

Öffentlichkeit im Prozess der europäischen Integration Um Struktur und Funktion von Öffentlichkeit im Prozess der europäischen Integration näher zu bestimmen, werde ich auf drei Begriffe aus verschiedenen Theorietraditionen zurückgreifen und sie für die Zwecke der Untersuchung in einem theoretischen Modell verknüpfen: 1. Kommunikation. Die Unterscheidung von Komponenten und Ebenen der Kommunikation dient dazu, die vielfältigen Erscheinungsformen des Sozialen, hier insbesondere Formen der Öffentlichkeit, zu beschreiben.

1 http://data.sozialwiss.uni-osnabrueck.de/~gilgenmann/EU-Kolleg/EU-Kolleg.htm


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2. Evolution. Die Unterscheidung von Mechanismen der soziokulturellen Evolution dient dazu, Prozesse sozialen Wandels, wie den gesellschaftlichen Strukturwandel in Europa, zu beschreiben. 3. Institution. Die Unterscheidung von Institutionen als Medien der Kommunikation und als basale Einheiten der Evolution dient dazu, Bedingungen der Integration zu beschreiben. Ich kann die hinter diesen Begriffen stehenden Traditionen der Kommunikations-, Evolutionsund Institutionentheorie hier nur andeuten. Ich muß allerdings etwas Aufmerksamkeit auf die Verwendung des Institutionsbegriffs richten, weil ich damit nicht nur vom Alltagssprachgebrauch sondern auch vom mainstream der Verwendungen abweiche, die Sie aus politikwissenschaftlichen und politiknahen wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen kennen. Ich bitte also alle Teilnehmer, die den Begriff der Institutionen aus der einschlägigen EU-Forschung kennen, um Nachsicht für diese Zumutung. Ich will mich an dieser Stelle auch nicht darauf berufen, daß sich meine Definition des Institutionenbegriffs auf eine ältere sozialwissenschaftliche Theorietradition stützen kann. Diese könnte ja auch „veraltet“ sein, und in jedem Falle müßte gezeigt werden, wie es zu der Konkurrenz der Auffassungen gekommen ist. Ich hoffe vielmehr, Ihnen zeigen zu können, welche Vorteile die von mir vorgeschlagene kommunikations- und evolutionstheoretische Engführung des Institutionenbegriffs für die Untersuchung gesellschaftlichen Strukturwandels im Kontext der EU haben könnte. 1.1 Kommunikation Ich beginne mit einem anderen vieldeutigen Begriff: dem der Kommunikation. Im mainstream der sozialwissenschaftlichen Theorietradition wird nicht dieser Begriff sondern der der Handlung als Grundbegriff bevorzugt. Gleichwohl ist es unter den konkurrierenden handlungstheoretischen Ansätzen bisher nicht gelungen, einen tragfähigen Konsens über die Relation von bewußtseinsbasierten und organisch-physisch basierten Komponenten der Grundoperation menschlicher Sozia lität herzustellen. In handlungstheoretischen Ansätzen wird stets (hierarchisch oder konsekutiv) das Eine dem Anderen subsumiert. Im Zwang zur Reduktion auf entweder geistige oder materielle Komponenten liegt m.E. ein Auslöser andauernden Paradigmenstreits. Demgenüber erlaubt es ein kommunikationstheoretischer Ansatz, die Grundoperationen menschlicher Sozialität als materiell und geistig konstituierte Einheit zu behandeln und soziale Phänomene als Produkte der Ausdifferenzierung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation zu erklären. Bei der Theorieoption für Kommunikation geht es nicht um einen Letztbegriff i.S. einer nicht weiter reduzierbaren Elementareinheit. (Diese wäre i.S. des hier vertretenen evolutionstheoretischen Modells eher mit dem Begriff der Institution zu bezeichnen). Der Begriff der Kommunikation wird hier v.a. gebraucht, um die phänomenale Formenvielfalt der menschlichen Sozialwelt zu beschreiben. Zu diesem Zweck werde ich vier Komponenten der Kommunikation unterscheiden. Die Unterscheidung der Komponenten Information und Mitteilung kommt in vielen Kommunikations- und Medientheorien vor: u.a. als Unterscheidung von Inhalt und Form, Botschaft und Medium oder symbolische und materiale Seite der Kommunikation. Die Unterscheidung von Anschlußhandeln und Anschlußverstehen als komplementäre und gleichrangige Unterscheidung kommt hingegen so (s. Schema 2) nicht vor. Sie kann sich teilweise stützen auf die in der Luhmannschen Theorie entfaltete Beschreibung von Kommunikation als immer schon rekursiv verknüpfte Operation. Alle Kommunikation ist demnach schon Anschlußkommunikation. Es gibt gar keine Kommunikation, die sich nicht auf andere Beiträge zur Kommunikation rückbezieht. Nur dadurch werden Informationen als Informationen in Mitteilungen unterscheidbar. In Luhmanns Theorie der Kommunikation ist diese Unterscheidungsoperation – das Verstehen – allerdings die abschließende Komponente der Kommunikation und damit auch die einzig relevante Anschlußoperation. In handlungstheoretischen Auffassungen von Kommunikation wird hingegen der Umstand betont, daß die rekursive Verknüpfung der Kommunikation für Beobachter (einschließlich der Beteiligten selbst) bereits in den Anschlußhandlungen deutlich wird – während das Verstehen als kognitive Operation dem Handeln untergeordnet (und als bewußter Akt oft nur marginal beteiligt) ist. Im hier skizzierten Modell soll beiden Auffassungen Rechnung getragen werden durch die Unterscheidung verschiedener Konstellationen der Kommuni-


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kation, in denen entweder die Komponente des Anschlußhandelns oder des Anschlußerlebens dominiert. Schema 2: Komponenten der Kommunikation

Technische Unterbrechung

Institutionelle Verknüpfung

Erleben

Handeln

Alter

Information

Mitteilung

Ego

Anschlußverstehen

Anschlußhandeln

Die Außenbezeichnungen dieses Schemas greifen vor auf die Verknüpfung mit evolutions- und instititutionentheoretischen Überlegungen, die in den beiden folgenden Abschnitten noch genauer bezeichnet werden. Es handelt sich, kurz gesagt, um zwei Arten der Beschränkung der Kommunikation, die evolutionäre Steigerungen ermöglichen: 1. Alle Kommunikation basiert auf institutionellen Verknüpfungen. Schon das bloße Zustandekommen einfacher Formen der Kommunikation zwischen Alter und Ego (die evolutionär unwahrscheinliche Selektion passender Handlungs- und Erlebenskomponenten) basiert auf der Voraussetzung von Institutionen. 2. Alle evolutionären Errungenschaften der Kommunikation basieren auf technischen Unterbrechungen, durch die einerseits Steigerungen der räumlichen und zeitlichen Reichweite der Mitteilungen, andererseits Steigerungen der symbolischen Komplexität und Reflexivität der Informationen ermöglicht werden. Viele sozialwissenschaftliche Theorien tragen diesen Steigerungsformen Rechnung, indem sie zwischen einer Mikro- und einer Makroebene sozialer Phänomene unterscheiden. Damit handeln sie sich allerdings das Problem ein, zu erklären, wie diese Ebenen zusammenhängen. Dieses Problem („Micro-Macro-Link“) ist in verschiedenen Teildisziplinen und Theorietraditionen auf verschiedene Weise verarbeitet worden. In hier skizzierten Ansatz soll es auf Kommunikation als Grundoperation bezogen und in einem evolutionstheoretischen Kreislaufmodell aufgelöst werden. Die Differenz zwischen Handeln und Erleben, die als Selbst- und Fremdzurechnung von Ereignissen eine evolutionäre Errungenschaft des Bewußtseins menschlicher Individuen darstellt, kehrt auf der Makroebene wieder als Differenz zwischen Systemen kollektiven Handelns und Umwelten kollektiven Erlebens. Die auf der Mikroebene der Kommunikation durch Technisierung freigesetzten Handlungs - und Erlebenspotentiale verwandeln sich auf der Makroebene in Systeme von Kollektivakteuren und ihre symbolisch generalisierten Umwelten. Schema 3: Ebenen der Kommunikation

Mikroebene

Makroebene

Erleben

Unterbrechung durch Technisierung

Handeln

Verknüpfung durch Tradierung

Kommunikation

Verknüpfung durch Institutionen

Umwelten

Unterbrechung durch Differenzierung

Systeme

Um die historische Vielfalt der Kommunikation zu erklären, genügt es nicht, ihre Verknüpfung durch Institutionen zu beschreiben. Denn diese Einrichtungen der Kommunikation können nur deshalb zur Steigerung sozialer Komplexität durch immer neue Verknüpfungen beitragen, weil ihnen Unterbrechungen der Kommunikation vorausgehen. Es handelt sich (i.S. von Schema 3) um zweierlei Unterbrechungen und Verknüpfungen:


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In der Horizontale: materielle Unterbrechungen der Kommunikation durch Technisierung und symbolische Unterbrechungen durch Differenzierung der Institutionen, In der Vertikale: symbolische Verknüpfungen der Kommunikation durch Institutionen und materielle (technikgestützte) Verknüpfungen durch Tradierung der Institutionen selbst. Techniken verhalten sich zu Kommunikation wie externe Wirkungen zu ihren (sozialen) Ursachen. Institutionen verhalten sich zu Kommunikation wie latente Strukturen zu manifesten Phänomenen. Soziokulturelle Evolution gewinnt ihre Dynamik und Stabilität aus Beschränkungen der Kommunikation.

1.2 Evolution Die Unterscheidung von evolutionären Mechanismen stammt aus der ältesten (und in gewisser Weise allgemeinsten, auf hoher Abstraktionsstufe ansetzenden und fächerübergreifenden) der hier berücksichtigten Theorietraditionen. Die Evolutionstheorie Darwins kennt im wesentlichen zwei Mechanismen: Variation und Selektion. Die biologische Reproduktion der Organismen erzeugt laufend auch Abweichungen (Mutationen). Unter veränderten Umweltbedingungen können die abweichenden Formen bevorzugt werden. Die Vielfalt der biologischen Arten wird damit erklärt aus der Vielfalt der natürlichen Umweltbedingungen – historisch zufällig, ohne Schöpfungsplan. In der neueren biologischen Evolutionstheorie kommt als ein weiterer Mechanismus die Replikation der Gene hinzu. Damit radikalisiert sich der Gesichtspunkt der Zufallsabhängigkeit evolutionärer Veränderungen. Die Gene als basale Einheiten der Evolution sind operativ geschlossen, sie lernen nicht aus Umwelterfahrungen – wie ihre Träger, die lebenden Organismen, je nach organisch-kognitiver Ausstattung. Sie passen sich auch nicht an: Anpassung erfolgt immer durch Umweltselektion. Obwohl die Evolutionstheorie als eine Theorie der Geschichte in der Wechselwirkung von biologischen und soziologischen Ideen des 19. Jahrhunderts entstanden ist, ist ihre Anwendung auf die soziokulturellen Verhältnisse des Menschen stets (auch innerhalb der Sozialwissenschaften) umstritten geblieben. Dies hat nicht nur mit ihrem Mißbrauch für politische Zwecke zu tun („Sozialdarwinismus“), sondern auch mit Problemen der Übertragbarkeit der in der Biologie erprobten Ansätze. In dieser Hinsicht sind v.a. drei Theorieprobleme zu lösen: Erstens ist das Problem der kausalen Unabhängigkeit der Mechanismen in der soziokulturellen Evolution theoretisch zu lösen. Kritiker der soziologischen Anwendung evolutionstheoretischer Begriffe argumentieren, daß die kausale Unabhängigkeit in der Wirkungsweise der Mechanismen nicht gewährleistet und für die soziokulturellen Verhältnisse des Menschen typisch gerade die Intentionalität des Handelns und der durch Technisierung verstärkte Durchgriff der Handlungspläne auf alle möglichen soziokulturellen Wirkungen sei. Dagegen kann angeführt werden, daß die soziokulturelle Evolution selbst Interdependenzunterbrechungen hervorgebracht hat, die intentionale Durchgriffsmöglichkeiten strikt beschränken. Als solche Beschränkungen werde ich im Folgenden a. die (horizontale) Differenzierung zwischen Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation und b. die (vertikale) Differenzierung zwischen einer Mikro- und einer Makroebene der Kommunikation betrachten. Auf der Makroebene verwandelt sich die Verselbständigung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation in die Differenz von Systemen und Umwelten. Zweitens ist das Problem der Bestimmung der basalen Einheiten in der soziokulturellen Evolution theoretisch zu lösen. Kritiker der soziologischen Anwendung evolutionstheoretischer Begriffe argumentieren, daß sich in der soziokulturellen Evolution keine basale Replikationseinheit finden läßt, die eine operative Geschlossenheit wie die genetischen Strukturen in der organischen Evolution aufweisen. Dagegen kann angeführt werden, daß in der sozialanthropologischen Institutionentheorie Elementarformen der Sozialität beschrieben werden, die eine vergleichbare operative Geschlossenheit aufweisen. Mit den so beschriebenen Institutionen als Elementareinheiten kann die prinzipielle Besonderheit kultureller Evolution gegenüber der Natürlichen berücksichtigt werden – ihre „lamarckistische“ Abweichung vom biologischen Muster: die Vererbung erworbenen Wissens – ohne das Grundprinzip der operativen Geschlossenheit und Zufallssteuerung aufzugeben. Es sind eben nicht Institutionen sondern lebende Menschen, die aus Umwelterfahrungen lernen und diese Erfahrungen mit symbolischen und technischen Mitteln vererben. Und es sind nicht Menschen, sondern Institutionen, die unter sich verändernden Umweltbedingungen (positiv oder negativ) selegiert werden.


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Drittens ist das Problem der Beschleunigung der soziokulturellen Evolution theoretisch zu verarbeiten. Kritiker der soziologischen Anwendung evolutionstheoretischer Begriffe argumentieren, daß allein der Tempovergleich die Übertragbarkeit des biologischen Modells auf soziokulturelle Verhältnisse unplausibel macht. Bekanntlich hat sich an der organischen Ausstattung des Menschen in dem Zeitraum, der für seine soziokulturelle Evolution reklamiert wird, nicht viel verändert. Die organische Evolution verfügt in ihren Elementareinheiten über Sperren gegen rasche Veränderung, die erst durch die soziokulturelle Evolution – durchschlagend heute mit der Gentechnik – durchbrochen werden. Der unbestreitbare Tempounterschied kann aber in einem theoretischen Modell der soziokulturellen Evolution (einem Vorschlag Luhmanns folgend 2) berücksichtigt werden durch die Einführung eines zweiten Selektionsmechanismus, der die durch das Tempo soziokultureller Variation und Selektion beschleunigten Effekte restabilisiert (sie gewissermaßen künstlich verzögert), indem er sie in ein bestehendes Institutionengefüge einbindet. Schema 4: Mechanismen soziokultureller Evolution

System-Umwelt-Differenzierung

Kommunikations- Mikroebene EbenenDifferenzierung Makroebene

Erleben

Handeln

Replikation durch Tradierung

Variation durch Technisierung

Restabilisation durch Differenzierung

Selektion durch Wettbewerb

Umwelten

Systeme

Die Außenbezeichnungen dieses Schemas greifen zurück und vor auf die Verknüpfung der evolutionstheoretischen Aspekte mit den kommunikations- und instititutionentheoretischen Aspekten (die in 1.1 und 1.3 umrissen werden). Im Rekurs auf Kommunikation als soziale Grundoperation ermöglicht der evolutionstheoretische Ansatz eine Erklärung der Bedingungen der Möglichkeit und des Wandels sozialer Institutionen. Evolutionstheoretische Ansätze verlangen die Bestimmung von kausal voneinander unabhängigen Wirkungsmechanismen der Variation und Selektion. Der Selektionsmechanismus kann i.S. der Darwinschen Prämissen nicht durch die Intentionalität des Handelns oder rational kalkulierende Nutzenerwartungen gesteuert werden. Die Selektivität, die in der Intentionalität des Handelns liegt, kann in evolutionstheoretischer Perspektive nur als ein Moment der Variation gedeutet werden. Dies ist auch nicht wenig, denn auf dem Variantenreichtum des Institutionenpools basiert ja die evolutionäre Anpassungsfähigkeit einer Art gegenüber ih rer Umwelt. In der Technisierung von Handlungskomponenten der Kommunikation – insbesondere im Gebrauch technischer Kommunikationsmittel selbst – kann ein treibender Mechanismus der Variation und in der Institutionalisierung von Erlebenskomponenten der Kommunikation ein Mechanismus der selektiven Restabilisierung des gesellschaftlichen Netzwerks der Kommunikation rekonstruiert werden. Institutioneller Wandel vollzieht sich im Wettbewerb – in der modernen Gesellschaft, wie zu zeigen sein wird, in Medien und Formen öffentlicher Kommunikation – als Umweltselektion aus dem geteilten Institutionen-Pool konkurrierender Akteure.

1.3 Institution Ich komme endlich zum dritten Theoriebegriff, der in dem hier skizzierten Rahmen eine Rolle spielen soll, dem der Institution. Ich habe den Begriff schon vorgreifend und anders verwendet, als dies in der politischen Alltagssprache, in den Medien der Massenkommunikation, insbesondere auch im Hinblick auf die Instititutionen der Europäischen Union üblich geworden ist. Organisationen und Institutionen können als verschiedene Formen der Verarbeitung von Unsicherheit beschrieben werden. Im mainstream der wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Literatur wird in dieser Hinsicht kein Unterschied gemacht. Im Anschluß an die Neue Institutionenökonomie kann allerdings gezeigt werden, daß Organisationsbildung einerseits als Mittel zur Reduktion von Unsicherheit im Wettbewerb ergriffen wird, das Mittel selbst aber

2 Vgl. Luhmann, Niklas 1981, Geschichte als Prozess und die Theorie sozio-kultureller Evolution, in: Soziologische Aufklärung 3, Westdt.V. Opladen, 178-197 und Ders. 1997, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Kap. 3, Frankf.M.


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auch die Stellung im Wettbewerb verschlechtern kann, wenn Institutionen fehlen, die ihrerseits diese Unsicherheit absorbieren. 3 Im hier skizzierten Modell kommt es auf den Unterschied an, daß Organisationsbildung in kollektiven Formen des Handelns ansetzt, während Institutionenbildung in kollektiven Formen des Erlebens zum Tragen kommt.

Ich versuche, den Begriff der Instititutio n zugleich enger und weiter zu definieren: nämlich einerseits als organisationsfern und handelnden Zugriffen weitgehend entzogen, andererseits als grundlegend für das Verständnis sozialer Identitäten und sozialen Wandels. Instititutionen sind einerseits operativ geschlossene Elementareinheiten der soziokulturellen Evolution – und als solche weder handlungs- noch entscheidungs - noch lernfähig. Sie entfalten andererseits ihre spezifische Wirkung (als symbolische Mittel der Verknüpfung und Beschränkung i.S. der Schemata 3 und 4) als Stabilisatoren des kommunikativen Netzwerks der Gesellschaft. Ich verzichte an dieser Stelle auf Ausführungen zur Theorietradition4 und füge stattdessen einen kleinen Exkurs zur Verwendung des Instititutionsbegriffs in verschiedenartigen Kontexten ein. Exkurs: Zur Verwendung des Institutionsbegriff in der politischen und wissenschaftlichen Kommunikation Wenn in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen Bezeichnungen verwendet werden, die in mehr oder weniger diffuser Weise auch in der Alltagssprache vorkommen, dann gilt es als legitim, das damit Bezeichnete für wissenschaftliche Zwecke genauer zu definieren. Es empfiehlt sich jedoch nicht, dabei Definitionen zu verwenden, die sich von der alltagssprachlichen Verwendung der Bezeichnungen allzu sehr entfernen. Denn sozialwissenschaftliche Analysen müssen berücksichtigen, daß ihr Gegenstandsbereich selbst in erheblichem Maße durch die Deutungen bestimmt ist, die sich in der alltagssprachlichen Verwendung der Bezeichnungen niederschlagen. Allerdings ist die alltagssprachliche Verwendung von Bezeichnungen auch nicht homogen - und manchmal setzt sich in besonderen Bereichen der Kommunikation ein anderer Sprachgebrauch durch als in Anderen. Bei der Bezeichnung „Institution“ (meist aber im Plural vorkommend) ist das in auffälliger Weise der Fall. So schreibt der Ministerpräsident des Landes NRW im Hinblick auf eine bevorstehende Regierungskonferenz: „Gelingt es, die europäischen Institutionen von Grund auf zu erneuern, dann wird die Gemeinschaft gestärkt aus der anstehenden Reform hervorgehen.“ 5 Dieser Satz erscheint typisch nicht nur für die Redeweise von Politikern sondern auch für viele politikwissenschaftliche Abhandlungen über Institutionen.6 Was ist es für eine Auffassung von Instititutionen, wenn von ihnen gesagt wird, daß sie durch Maßnahmen, die auf einer Konferenz beschlossen werden sollen, „von Grund auf erneuert“ werden könnten? Offensichtlich werden Institutionen in enge Verbindung mit Gesetzen, Rechtsvorschriften, Verhandlungsergebnissen u.ä. Resultate des intentionalen Handelns politischer Akteure gebracht. 7 Diese Verbindung wird nur durch die Erfahrung relativiert, daß nicht jedes Gesetz, nicht jedes Verhandlungsergebnis gelingt, und daß selbst bei bestem Wissen und Wollen der Beteiligten, unerwartete Effekte auftreten können.8 Aber wie kommt es zu diesen Effekten, warum sind sie nicht erwartbar? Ist es

3 In vielen sozialwissenschaftlichen Beiträgen wird Vertrauen als entscheidender Beitrag der Institutionen bezeic hnet. Die Neue Institutionenökonomie sieht darin besonders die Ersparnis von Aufsichtskosten. In der Soziologie wird dieser Beitrag als Mechanismus der Reduktion von Komplexität generalisiert. Vgl. Luhmann, 1973, . vgl. im Anschluß an Parsons Wenzel, 2001, Abenteuer der Kommunikation. 4 Zur älteren sozialwissenschaftlichen Theorietradition H. Dubiel, 1976, Institution – S. 417-424 in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hg. J. Ritter u.a - mit bes. Berücksichtigung auch der philosophischen Anthropologie Rehberg, Karl-Siegbert u.a. Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM). Leitfragen und Grundkategorien. Abschlußbericht zum DFG-Projekt im Rahmen des Schwerpunktprogrammes "Theorie politischer Institutionen", Dresden, 1999. 5 S. FAZ 16.11.01 mit Bezug auf die Regierungskonferenz in Laeken. 6 Als Ausnahme hier hervorzuheben: F.W.Scharpf, 2000 Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, Leske+BudrichV. Opladen S. 73-84 7 Im Sinne dieser Auffassung von Institutionen werden gewöhnlich Normen und Werte in einem Atemzug genannt, obwohl es sich bei Normen ersichtlich um Produkte intentionalen Handelns, zielgerichteter Aushandlungsprozesse handelt, während Werte - ungeachtet individueller Präferenzunterschiede - dem intentionalen Handeln vorausgesetzt und damit nicht verhandelbar sind. 8 Ausgeklammert bleibt hier auch die umfangreiche rechtswissenschaftliche und theologische Literatur zu Institutionen. Juristen haben für die moderne Gesellschaft und Theologen für die Tradition gewissermaßen zu enge Bezie-


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überhaupt so, daß Institutionen in Parlamenten (und anderen Formen der Organisation von Politik) „gemacht“ werden? Diese Fragen lassen sich in die methodologische Fragestellung übersetzen, ob es zweckmäßig ist, den Begriff der Institution so handlungsnah zu definieren, wie dies Europapolitiker und viele ihrer wissenschaftlichen Beobachter tun 9 – oder ob man evtl. mehr oder Anderes sehen kann, wenn man ein anderes Institutionen-Konzept zugrundelegt. Ich werde im Folgenden ein anderes Konzept vertreten. Als Institutionen werden in der älteren Theorietradion nicht Organisationen und Verträge sondern eher „außervertragliche Voraussetzungen von Verträgen“ bezeichnet. Ich möchte der Beschreibung gesellschaftlicher Integrationsprozesse am Falle der politischen Einigung Europas ein evolutionstheoretisches Konzept von Institutionen zugrundelegen, in dem Diese einerseits dem intentionalen Zugriff individueller und kollektiver Akteure vollständig entzogen, andererseits aber vor dem Hintergrund verschiedener und sich verändernder Umweltbedingungen der Akteure dem Wettbewerb ausgesetzt sind. Auf dieser Grundlage läßt sich dann auch die besondere Bedeutung von Öffentlichkeit für strukturelle Wandlungsprozesse wie die Einigung Europas zeigen. Wenn Institutionen weder handlungs- noch entscheidungs- noch lernfähig sind, dann – so könnte man meinen – sind sie auch nicht demokratiefähig. Die Provokation der Auffassung von Institutionen als operativ geschlossene Einheiten der Kommunikation läßt sich jedoch ein Stück weit zurücknehmen durch ihre Einordnung im evolutionstheoretischen Modell. Das konservative Moment von Institutionalisierung – der Rekurs auf prästabilisierte Strukturen – wird dadurch relativiert als eine von vier Manifestationsformen im evolutionären Kreislauf der Institutionen. Gesellschaftlicher Strukturwandel kann nur erklärt werden, wenn auch gezeigt wird, wie und wodurch Institutionen selbst dem Wandel unterworfen sind. Schema 5: Kreislauf der Institutionen

Erleben

Handeln

Mikroebene

; Traditionen Replikation des Institutionenpools

" Techniken Variation des Institutionenpools

Makroebene

Strukturen ! Restabilisation von Institutionen

Öffentlichkeiten 8 Selektion von Institutionen

Umwelten

Systeme

Die in der soziologischen und anthropologischen Theorietradition vertretene Auffassung von Institutionen entspricht eher der Erlebensseite, die in der wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Theorietradition vertretene Auffassung von Institutionen eher der Handlungsseite des o.a. Schemas. Der Gegensatz läßt sich allerdings nur auflösen, wenn nicht nur zwischen Erleben und Handeln sondern auch zwischen Wirkungsmechanismen auf der Mikroebene und solchen auf der Makroebene unterschieden und die Mechanismen insgesamt zirkulär verknüpft werden. Die Pfeile im o.a. Schema sollen einerseits die rekursive Verknüpfung der evolutionären Mechanismen und andererseits die temporale Richtung des institutionellen Wandels andeuten. (Statt der geometrischen „Quadratur des Kreises“ also eine historische „Zirkularisation des Quadrats“.) Die hier bezeichneten Mechanismen sind – in einer für evolutionäre Veränderungen konstitutiven Weise – „blind“. Jeder Mechanismus ist immer nur rekursiv mit den Wirkungen der Anderen verknüpft. Jeder Vorgriff (zB. auf bewährte Strukturen im Wettbewerb der Akteure) ist nur ein Rückgriff auf vergangene Wirkungen im Kreislauf der Institutionen und kann deshalb den wirklichen Prozess nicht voraussehen und steuern. Mit der Tradierung von Institutionen als Replikationsmechanismus ist der allgemeine Ausgangspunkt bezeichnet, an dem die Sonderevolution der soziokulturellen Sphäre des Menschen ansetzt. Mit der Entwicklung von Techniken wird hier in ähnlich allgemeiner Weise der Variationsmechanismus bezeichnet, dessen Evolution selbst in vielen Einzelschritten nachzuvollziehen wäre. Hier muß der Hinweis genügen, daß zur Technisierung von Handlungskomhungen zum Gegenstand. Diese fachspezifischen Literaturen bieten mit Bezug auf Institutionen eher empirische Belege als Theorien. 9 Vgl. die entsprechende Selbstdarstellung unter http://europa.eu.int/index_de.htm


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ponenten der Kommunikation schließlich auch die Bildung moderner Organisationen zu rechnen ist. Mit dem Bezug auf Öffentlichkeiten wird hier ein spezifisches - erst in der Moderne voll entfaltetes - Moment des Selektionsmechanismus bezeichnet, dessen allgemeine Form in der Konkurrenz kollektiver Akteure unter Umweltbeschränkungen zu sehen ist. Da nun diese Konkurrenz immer schon durch Institutionen vorreguliert ist – der Hobbesche Naturzustand ist ebenso eine Fiktion wie der Rousseaus – kann im Rekurs auf institutionalisierte Strukturen der Restabilisationsmechanismus der Gesellschaft gesehen werden. (Auch dessen historische Ausformung unterliegt wie die aller anderen Mechanismen selbst der Evolution).

Die spezifische Funktion von Öffentlichkeiten läßt sich in dem soweit umrissenen Theorierahmen nun näher bestimmen durch den symbolischen Ort im „Lebenszyklus“ von Institutionen, in dem sie selbst (durch kollektives Erinnern und Vergessen) der evolutionären Selektion unterliegen. Im Hinblick auf diese Ortsbestimmung ist allerdings zu unterscheiden zwischen Formen der Öffentlichkeit auf der Mikroebene und Solchen auf der Makroebene. Nur auf der Makroebene des kommunikativen Netzwerks der Gesellschaft lassen sich Öffentlichkeiten als Momente ihres Selektionsmechanismus bestimmen. 2. Öffentlichkeit „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ Wir wissen nicht, ob Niklas Luhmann diesen Satz, mit dem er seine Untersuchung über „Die Realität der Massenmedien“ beginnt, 10 so ganz ernst gemeint hat. Gewiß hätte der Satz auch von Johannes Gensfleisch Gutenberg stammen können, dem wir die wichtigste Innovation in der Entwicklung der modernen Massenmedien verdanken. Er hätte die Aussage allerdings nur auf die gedruckte Bibel als die Quelle allen wahren Wissens bezogen.11 Auch andere Autoren haben den Medien der Kommunikation, die sich in der modernen Gesellschaft herausgebildet haben, eine religionsähnliche Funktion zugeschrieben. 12 Der Vergleich liegt nahe aufgrund der Licht- und Offenbarungsmetaphorik, die das Publikationswesen seit Beginn der Moderne begleitet. Zwischen Religionen und Ideologien modernen Typs (Marxismus, Nationalismus etc.) muß dabei kein Unterschied gemacht werden. Es geht um Systeme aus Zeichen und Symbolen, die den Menschen die Welt erklären, einer Gemeinschaft ihre Identität vermitteln und die Inklusion der Individuen in das Kollektiv ermöglichen sollen. In dieser funktionalen Perspektive ist entscheidend nur, daß einem einzigen symbolischen System die Kraft zugeschrieben wird, die Bindungskräfte („Ligaturen“) der Gesellschaft zu verbürgen, dh. ihre Institutionen zu bilden und abzusichern. Als ein solches – funktional nicht weiter differenziertes – System erscheinen die Medien und Formen der Öffentlichkeit. 13 Insbesondere Jürgen Habermas hat den Formen der Öffentlichkeit eine transzendente Qualität zugeschrieben 14 und sie daraus abgeleitet, daß in aller sprachlichen Kommunikation schon das Ziel der Verständigung enthalten sei. In vielen normativen Theorien der Öffentlichkeit (die sich auf Habermas oder schon auf Dewey 15 berufen können) wird die integrative Funktion der Öffentlichkeit durch Rückbindung an ein ideales Modell der symmetrisch-reziproken Interaktion hergestellt, wie es in der Diskussion unter räumlich Anwesenden entfaltet werden kann. Eben dieses normative Modell wird aber durch das Raum- und Zeit transzendierende Potential der technisch erweiterten Kommunikationsmittel selbst in Frage gestellt. Das Lesepublikum interagiert nicht mehr mit dem Autor, das Fernsehpublikum nicht mit dem Sender. Beschreibungen moderner Massenkommunikation müssen sich entscheiden, ob sie die Entwicklung der Medien 10 N.Luhmann, Die Realität der Massenmedien 1996, Opladen, S.9 11 Vgl. M. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, Ffm. 1991. Diese großangelegte Untersuchung ist u.a. inspiriert durch die Medientheorie von M.McLuhan, der den religionsähnlichen Charakter der Medien in die ironische Formel brachte: „Das Medium ist die Botschaft!“ 12 Die meisten Versuche, soziale Phänomene als Religionsersatz zu deuten, haben geringen Erkenntniswert. Sie sind ja auch nie ganz falsch, da Religionen in älteren Gesellschaftsformationen viele Funktionen erfüllt haben, die sich in der Moderne exklusiv ausdifferenzieren. Wenn man Religion allerdings als die Kunst interpretiert, dem paradoxen Begründungsproblem von Institutionen zu entgehen, dann ergibt sich ein besonderer Bezug zu Öffentlichkeit, wenn man in ihren Medien und Formen die innerweltliche Lösung dieses Problems sieht. 13 Im Anschluß an Luhmann, zugespitzt auf eine „negative“ Integrationsfunktion argumentiert Hellmann, Kai-Uwe Integration durch Öffentlichkeit. Zur Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft. In: Berliner Jour nal für Soziologie 1/1997 14 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft; mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. 4. Auflage 15 John Dewey, 1996 (1927) Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, Bodenheim: Philo V.


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und Formen der Öffentlichkeit als defizient bezeichnen oder den normativen Bezug auf Interaktion aufgeben wollen.16 Mit den folgenden Ausführungen plädiere ich für Letzteres. 2.1 Form Historischer Ausgangspunkt für die Betrachtung von Öffentlichkeit im hier skizzierten Modell ist die Annahme, daß Kommunikation als operative Einheit durch die Verwendung technisch erweiterter Kommunikationsmittel sich in kollektiven Formen des Handelns und Erlebens ausdifferenziert hat. Die primordiale Ein heit von Handlungs- und Erlebenskomponenten im Fluß der Kommunikation wird damit unterbrochen und in Formen wieder zusammengesetzt, die (in Verbindung mit externen Gedächtnisspeichern) kognitiv verselbständigte Potentiale aufweisen. Die kognitive Unterbrechung der Kommunikation setzt Handlungspotentiale der Kommunikation frei, die in der operativen Technisierung von verselbständigten Handlungsabläufen (ohne die in der primordialen Verknüpfung von Handeln und Erleben eintretenden Verzögerungen) zur Wirkung kommen. Eine evolutionäre Konsequenz dieser Verselbständigung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation zeigt sich in der Bildung von Kollektivakteuren, unter Bedingungen der Unsicherheit konstituierte Formen der Sozialität, in denen die technisch verselbständigten Handlungsabläufe durch kognitiv vorgeschaltete Entscheidungsprogramme gebündelt werden. Unter den Bedingungen der Verallgemeinerung schriftlicher Kommunikation durch Buchdruck und Schulpflicht hat sich die Technisierung des Handelns und die Bildung von Kollektivakteuren (in der modernen Form von Organisationen) zu einem Phänomen entwickelt, das die Kommunikation der Gesellschaft in zuvor nicht gekannter Weise durchdringt. Die Beschreibung der Gesellschaft trägt dem Rechnung, indem sie von emergenten Strukturen (einer Makroebene) der Gesellschaft ausgeht, die sich gegenüber dem individuellen Handeln und Erleben in hohem Maße verselbständigt haben und durch die System-Umwelt-Beziehungen von Kollektivakteuren bestimmt werden. In der Form ihrer Organisationen weist die moderne Gesellschaft eine asymmetrische Kombination der verselbständigten Handlungs- und Erlebenskomponenten auf, die unter Leistungsgesichtspunkten als zweckrational bezeichnet wird. Um die Strukturen der modernen Gesellschaft angemessen beschreiben zu können, genügt es allerdings nicht, die Formen der Rekombination kognitiver und operativer Potenzen der Kommunikation in der Form von Organisationen, also gewissermaßen ihre Innenseite, zu beschreiben. Ebenso wichtig ist es, die Außenseite, ihre Umweltbeziehungen zu beschreiben. Das schließt zunächst die anderen Akteure ein, mit denen sie im Austausch stehen und mit denen sie konkurrieren, aber auch die materiellen Ressourcen in ihrer natürlichen Umwelt und die symbolischen Ressourcen in ihrer sozialen Umwelt. Für die Umweltwahrnehmung in einer von Organisationen durchdrungenen Gesellschaft ist ein spezifischer Typ von Organisationen zuständig, der von der Entwicklung der technischen Kommunikationsmittel in einer Weise Gebrauch macht, die allen Akteuren (allgemeine und spezielle) Informationen zur Verfügung stellt, mit deren Hilfe sie sich in ihrer Umwelt orientieren können. Der uneingeschränkte Zugang zu solchen Informationen in der Form von Öffentlichkeit wird häufig als ein für das Funktionieren der Gesellschaft konstitutives Prinzip bezeichnet. Die Frage ist hier nur: welche Funktion ? Ist sie als Integration richtig bezeichnet? Bevor ich (im Rekurs auf das skizzierte evolutionstheoretische Modell) eine Antwort auf diese Frage zu geben versuche, soll die Funktionsweise moderner Öffentlic hkeit noch etwas näher gekennzeichnet werden.

Die Operationsweise moderner Öffentlichkeiten kann anhand der Differenz zur Operationsweise moderner Kollektivakteure charakterisiert werden. Die Selektivität von Organisationen setzt an den kommunikativen Anschlußmöglichkeiten des Handelns an - als Reduktion von sachlicher Komplexität durch Zweck-Mittel-Relationen und von sozialer Komplexität durch personale Inklusion und Exklusion. Die Selektivität von Öffentlichkeiten setzt an den kommunikativen Anschlußmöglichkeiten des Erlebens an - als Reduktion von Umweltkomplexität durch den Gebrauch und die Regenerierung von Unterscheidungen. In Formen des Wettbewerbs kollektiver Akteure ereignet sich Selektion aufgrund der Handlungen und Beobachtungen konkurrierender Teilnehmer. Märkte differenzieren sich aus, neue Marktnischen werden gesucht, um Konkurrenz zu vermeiden. Die Ausdifferenzierung von Märkten setzt ihrerseits Institutionen wie Geld, Macht u.a. symbolisch generalisierte Medien voraus. In Formen der Öffentlichkeit ereignet sich Selektion aufgrund von Themen, durch Generalisierung sinnhafter Unterscheidungen der Teilnehmer, die bestimmte Wirklichkeiten für die Kommunikation als gegeben („Fakten“) erscheinen lassen. Zugleich differenzieren sich Öffentlichkeiten aus, entstehen spezielle Öffentlichkeiten, um Komplexität zu reduzieren und selektiv zu steigern.

16 Natürlich wird das von vielen Autoren nicht in dieser Alternative gesehen. Sie zahlen dafür den Preis komplizie rter Hilfskonstruktionen. Als Versuch, ein empirisch abgestütztes Öffentlichkeitskonzept anstelle des normativen Konzepts der Habermas-Schule vorzustellen s. Gerhards, Jürgen (1997) »Diskursive versus liberale Öffentlic hkeit«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 49(1), S. 1-34. Diese Gegenüberstellung krankt jedoch daran, daß sie die Prämisse einer Integrationsfunktion der Öffentlichkeit nicht in Frage stellt.


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In Bezug auf den Wettbewerb kollektiver Akteure lassen sich zwei Arten von Institutionen unterscheiden: Solche, die die selektiven Wirkungen des Wettbewerbs zwischen Organisationen vorregulieren (durch Medien wie Macht, Geld etc.), die also primär negative Selektion stabilisieren, und Solche, die die Wettbewerbsmöglichkeiten durch Umweltdifferenzierung erweitern, die also sekundär den Spielraum für positive Selektion regulieren. Die Institutionalisierung von Konkurrenz in geregelten – und häufig dadurch erweiterten - Formen des Wettbewerbs ist selbst eine Funktion von Öffentlichkeit. Wenn hier von Wettbewerb als einem Wirkungsmechanismus soziokultureller Evolution die Rede ist, dann ist nicht der Wettbewerb von Personen 17 sondern der Wettbewerb von Institutionen gemeint. 18 Die Beschreibung des evolutionstheoretisch relevanten Phänomens des Instit utionenwettbewerbs setzt allerdings die Form des Wettbewerbs der Akteure in einem gegebenen institutionellen Rahmen voraus. Es ist also zu unterscheiden zwischen Formen des Wettbewerbs erster und zweiter Ordnung, dem Wettbewerb der Akteure und dem Wettbewerb der Institutionen (oft auch als System-Wettbewerb bezeichnet). Wenn Schüler sich dem schulischen Notensystem aussetzen, handelt es sich um einen Wettbewerb erster Ordnung. Wenn sie (mittels ihrer Eltern) auf eine Privatschule oder in ein anderes Land (mit anderem Schulsystem) wechseln, kann das als Selektion zweiter Ordnung: als Wettbewerb der Institutionen wirken. Wenn Staatsbürger sich einem öffentlichen Leistungs-Transfer-System (der Steuern, Subventionen, Wohlfahrtsleistungen etc.) aussetzen, befinden sie sich in einem Wettbewerb erster Ordnung. Wenn sie die Option haben, die Staatsbürgerschaft (oder den Sitz ihres steuerpflichtigen Unternehmens) zu wechseln, kann das einen Wettbewerb zweiter Ordnung auslösen. Wenn polit ische Parteien in einem demokratisch-parlamentarischen System sich dem Wettbewerb durch Wahlen (einem WählerPublikum) aussetzen, ist das ein Wettbewerb erster Ordnung. Wenn sie sich jedoch dafür entscheiden, das Wahlsystem zu ändern oder die parlamentarische Demokratie abzuschaffen, kann das einen Institutionen-Wettbewerb durch Abwanderung der Staatsbürger auslösen.

Jeder Wettbewerb zweiter Ordnung setzt einen Wettbewerb erster Ordnung schon voraus, in dem es Teilnehmer gibt, die über eine Austrittsoption verfügen. Die Wahrnehmung von Austrittsoptionen treibt den Institutionen-Wettbewerb an. Wenn die Mobilitätschancen für Staatsbürger innerhalb der Europäischen Union steigen, so kann dies den Instititionen-Wettbewerb antreiben. Wenn der Wettbewerb der Steuersysteme (oder der Bildungssysteme, der Rechtssysteme etc.) in Europa durch politische Entscheidung beschränkt („harmonisiert“) wird, kann sich die Selektivität des Institutionenwettbewerbs auf eine nächsthöhere Stufe der innergesellschaftlichen Umwelt verlagern („globalisieren“). Analog zur Unterscheidung von Wettbewerben erster und zweiter Ordnung ist nun auch zu unterscheiden zwischen Öffentlichkeiten erster und zweiter Ordnung. Schema 6: Öffentlichkeit als Medium des Institutionenwettbewerbs

Erleben

Handeln

Mikroebene

Öffentlichkeit 1.Ordnung

Wettbewerb 1.Ordnung

Makroebene

Öffentlichkeit 2.Ordnung

Wettbewerb 2.Ordnung

Umwelten

Systeme

Als Öffentlichkeiten erster Ordnung sind alle Formen zu bezeichnen, die als Interaktion unter Anwesenden lokalisiert werden kann: Versammlungen, Marktplätze, Parlamente. Öffentlichkeit wird hier durch die Verhandlungsformen (Tagesordnungen, Preisauszeichnungen, Rednerlisten etc.) bestimmt. Die Frage der Zugänglichkeit zu den Verhandlungen ist entweder durch Anwesenheit schon gelöst oder sie wird organisationsförmig durch Mitgliedschaft geregelt. Jeder Teilnehmer hat eine Stimme, auch wenn deren Gewicht nicht immer gleich verteilt sein muß. Im Unterschied zu diesen Primärformen von Öffentlichkeit haben sich in der modernen Gesellschaft – unter Inspruchnahme technisch erweiterter Kommunikationsmittel – Sekundärformen 17 Ausgeschlossen ist damit auch die Hobbesche Konstruktion einer primordialen Konkurrenz aller gegen alle, die noch durch keinerlei Institutionen vorgeregelt wäre. 18 Zum Begriff des Institutionenwettbewerbs im Anschluß an von Hayek s. M.Wohlgemuth, Institutional Competit ion - Notes on an Unf inished Agenda, Journal des Economistes et des Etudes Humaines, Vol. 6 (1995), 277-299. und Ders. 2001, Institutioneller Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. Zur Rolle von Abwanderung und Widerspruch im Europäischen Binnenmarkt, Vortragsskript, Witten-Herdecke


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entwickelt, die sich in einem zentralen Punkt unterscheiden: das Publikum hat keine Stimme sondern nur Austtrittsoptionen. 19 Das Publikum der Massenkommunikation ist kein Interaktionsteilnehmer, es widerspricht nicht, es wandert ab. Genau dies ist nun aber die Form, in der in der Öffentlichkeit der modernen Gesellschaft über Themen – im Vordergrund über die damit verbundenen Handlungsinteressen, im Hintergrund aber auch über die damit verbundenen Institutionen – entschieden wird. Die zum Publikum „versammelten“ Individuen werden nicht als Handelnde gebündelt sondern nur als Erlebende. Sie teilen nur das Bewußtsein, gemeinsam adressiert zu sein. Die Struktur der öffentlichen Massenmedienkommunikation ist strikt asymmetrisch und gerade dadurch selektionswirksam. Sie wirkt als Umweltselektion im Sinne einer innergesellschaftlichen Umwelt der jeweiligen funktionsspezifisch organisierten Akteure. In den Formen der modernen Öffentlichkeit wird die Wahrnehmung von Exit-Optionen – die Abwanderung, die im Prinzip jede soziale Ordnung bedroht – zu einem Mechanismus der Selektion. 2.2 Funktion Öffentlichkeit kann als eine Meta-Institution betrachtet werden, weil in ihren Medien und Formen der Wandel von Institutionen sich vollzieht. In historisch vergleichender Perspektive kann Öffentlichkeit auch als eine säkularisierte Form der Legitimation von Institutionen beschrieben werden. Für deren Wirkung erscheint es konstitutiv, daß der Umstand verborgen bleibt, daß es sich um spezifische (auf das kollektive Erleben spezialisierte) Formen der Kommunikation handelt. Im Unterschied zu einfachen und älteren Formen handelt es sich allerdings bei den modernen – über technische Kommunikationsmittel ermöglichten - Formen der Öffentlichkeit um Formen der Beobachtung zweiter Ordnung. Das hierin freigesetzte Reflexionspotential wirkt auf Institutionen primär destruktiv (eher „diabolisch“ 20 als symbolisch integrierend). Es trägt nur insofern zur Stabilisierung des Institutionenpools der Gesellschaft bei, als es unpassend gewordene Institutionen eliminiert. In evolutionstheoretischer Perspektive ist Öffentlichkeit deshalb als ein Moment des Selektionsmechanismus der Gesellschaft zu betrachten. Zugänglichkeit der Information ist das primäre, Gedächtnis und damit ermöglichte Reflexivität der Kommunikation das sekundäre Merkmal moderner Öffentlichkeit. 21 In vielen Darstellungen wird ein kritisch gemeinter Begriff von Öffentlichkeit an die Reflexionsleistungen der Kommunikation unter Anwesenden gebunden.22 Zwar wird gesehen, daß moderne Öffentlichkeit durch Buchdruck, Zeitung und im 20. Jahrhundert dann durch Funk und Fernsehen vermittelt wird. Jedoch erscheinen die technischen Mittel als eher äußerliche Bedingung, während der normative Anspruch aus dem Austausch der Argumente unter Anwesenden abgeleitet wird. 23 Das Kriterium der Zugänglichkeit der Information, das einmal wichtig erschien, als der Zugang noch kei19 Die Unterscheidung von Albert O. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch, Tübingen 1974. 20 So Luhmanns auf Religionsfunktionen anspielende Formulierung s. u.a. 1981, S.257-260 mit bezug auf das Medium Geld. 21 Angesichts der Konjunktur, die das Thema des sozialen Gedächtnisses gegenwärtig in den Geisteswissenschaften hat, erscheint es nicht unwichtig zu betonen, daß es bei dem Gebrauch, der in der modernen Form der Öffentlic hkeit von den technischen Kommunikationsmitteln gemacht wird, nicht nur auf die Speicherkomponenten sondern auch auf die Verbreitungskomponenten ankommt. Das gilt schon für alle auf den Buchdruck gestützten Formen der Öffentlichkeit und mehr noch für Funk und Fernsehen. Es gilt schließlich auch für das Internet, soweit es neue Formen der Öffentlichkeit ermöglicht. Hier steht wiederum die Frage der Zugänglichkeit so sehr im Vordergrund, daß es manchen Beobachtern so erscheint, als ob es auf die das Netz ermöglichenden Speicherkomponenten gar nicht mehr ankomme. 22 Habermas räumt in neueren Überlegungen zum Begriff der Öffentlichkeit (in: Faktizität und Geltung, 1994) zwar ein, daß in deren Kommunikationsstrukturen das Publikum typischer Weise von Handlungsentscheidungen entlastet ist (S.437) besteht dann aber doch darauf, daß die „Kommunikationskanäle der Öffentlichkeit ... an die dichten Interaktionsnetze von Familie und Freundeskreis,wie auch an die loseren Kontakte mit Nachbar, Arbeitskollegen, Bekannten usw.“ angeschhlossen seien „und zwar so, daß die Raumstrukturen einfacher Interaktionen erweitert und abstrahiert, aber nicht zerstört werden.“ So bleibe„ die in der Alltagspraxis vorherrschende Verständigungsor ientierung auch für eine Kommunikation unter Fremden erhalten, die in komplex verzweigten Öffentlichkeiten über weite Distanzen geführt wird.“ (S. 442) Und so bleibt für Habermas der Begriff der Öffentlichkeit gebunden an die Interaktionsformen, die er schon beim bürgerlichen Lesepublikum des 17. und 18. Jh.s verortet hat. 23 Die Rückkoppelung an in diesem Sinne handlungsfähige „Mini-Öffentlichkeiten“ wird als konstitutiv für die Erfüllung ihrer integrativen Funktion in der Gesellschaft angesehen. So Kettner und Schneider, (2000) Öffentlichkeit und entgrenzter politischer Handlungsraum: Der Traum von der „Weltöffentlichkeit“ und die Lehren des europäischen Publizitätsproblems. In: Hauke Brunkhorst / Matthias Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien. Frankfurt a.M.


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neswegs sicher gewährleistet war, tritt in dieser normativen Sicht in den Hintergrund. Das Kriterium der Zugänglichkeit ist nämlich normativ nur hinsichtlich des uneingeschränkten Zugangs und nicht hinsichtlich der Informationen selbst, ihrer Bewertung und Reflexion. In der modernen Gesellschaft wird Öffentlichkeit ganz überwiegend in den anonymisierten Formen technisch vermittelter Massenkommunikation realisiert. In der Form der Realisierung dieses Prinzips ist eine asymmetrische Kombination der Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation angelegt, die umgekehrt komplementär zu der von Organisationen verläuft: Handelt es sich bei Organisationsbildung um die technische Bündelung von Handlungskomponenten mittels kognitiv verselbständigter Entscheidungsprogramme, so bei der über Massenkommunikationsmittel erzeugten Öffentlichkeit um die Bündelung von Erlebenskomponenten mittels technisch verselbständigter Kommunikationsprogramme. Daß in der Form der Öffentlichkeit eine spezifische Selektivität angelegt ist, kann beobachtet aber nicht gezielt beeinflußt werden. In der Beobachtung von öffentlicher Kommunikation kann man sehen, daß es sich hier nicht nur um die Verbreitung von Informationen sondern auch um eine Form der Reflexion handelt. Die Medien der Öffentlichkeit erscheinen als moderne Form des sozialen Gedächtnisses, indem sie Erinnern und Vergessen zugleich organisieren. 24 Für diese Form der asymmetrischen Kommunikation ist es typisch, daß sie sich jeder normativen Ausrichtung entzieht. Ihre Wirkung beruht auf Themenselektion ohne Festlegung der Anschlußkommunikation. Die Programme moderner Massenmedien erreichen das Erleben des Publikums gerade auf der Grundlage des Verzichts auf jede (direkte) Handlungssteuerung. In dem häufig gegen Organisationen der Massenkommunikation vorgetragenen Verdacht, daß sie die öffentliche Meinung manipulierten, indem sie relevante Themen nicht oder nicht zureichend repäsentieren, steckt ein grundlegendes Mißverständnis ihrer Wirkungsweise. Die Manipulationsthese beruht auf der Beobachtung, daß Macht nicht nur dadurch zur Geltung gebracht werden kann, dass Entscheidungen durchgesetzt werden, sondern auch durch „Nichtentscheidungen“ – durch Vorentscheidung über die Alternativen, die als entscheidbar öffentlich wahrgenommen werden. Die pauschale Übertragung dieser (für politische Entscheidungsprozesse sicher nicht irrelevanten) Beobachtung auf die Themenauswahl der Massenmedien verkennt jedoch, daß jede Form der Thematisierung auf Unterscheidungen beruht, die nur mittels anderer Unterscheidungen beobachtet werden können. Und daß jede Bezeichnung eines Themas schon auf einer Unterscheidung beruht, die sich zumindest für die Dauer dieser kommunikativen Operation selbst der Legitimation in reflexiver Form entzieht.

In der alltäglichen Wahrnehmung zeigt sich die Selektivität öffentlicher Kommunikation darin, daß Themen gesetzt und fallengelassen werden. Es ist auch leicht zu erkennen, daß in der Form der Themensetzung – im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit des Publikums – schon eine prinzipielle Bevorzugung von neuen Themen (news) angelegt ist. Aber erst unter dieser Oberfläche zeigt sich das grundlegendere Muster der Selektivität, auf dem die historische Sonderstellung der Medien und Formen der Öffentlichkeit in der Evolution von Institutionen beruht: Es besteht in der laufenden Konstruktion und Destruktion von symbolisch generalisierten Unterscheidungen. Mit jedem Thema, das öffentlich formuliert wird, werden Unterscheidungen transportiert. Die Bezeichnung eines Themas beruht schon auf Unterscheidungen und die Art seiner Formulierung führt eventuell neue Unterscheidungen ein. Man spricht zB. von europäischer Politik und unterscheidet Diese von nationaler oder von außereuropäischer Politik oder von europäischer Wirtschaft – je nach Ausführung des Themas. Unterscheidungen wirken als Institutionen, weil sie den jeweiligen Bezeichnungen vorausgesetzt und damit der Thematisierung entzogen sind. Dies gilt freilich nur in actu – in der jeweiligen Operation der Bezeichnung. Jede Unterscheidung – zB. die zwischen Europa und dem Rest der Welt – kann selbst thematisiert und in der Diskussion destruiert werden. Allerdings werden für diese Diskussion dann nur wieder andere Unterscheidungen gebraucht (die ihrerseits diskutiert und aufgelöst werden können etc. 25). In dieser Diskussion kann bemerkt werden, daß für selbstverständlich gehaltene Unterscheidungen – zB. die zwischen Regierung und Opposition – in einigen Teilen der Welt vorkommen und in anderen nicht. Sie können dann selbst als Institutionen für wertvoll gehalten und also bestätigt werden. Was in den Medien und Formen der Öffentlichkeit jenseits der wechselnden Themen sich vollzieht, ist das Phänomen, daß Unterscheidungen als Institutionen – positiv oder negativ – selegiert werden. Institutionen lassen sich auch beschreiben als implizites Wissen (tacit knowledge), das in Handlungen zum Tragen kommt, aber dem Handelnden selbst reflexiv nicht verfügbar ist. Institutionen geraten dort in den Wettbewerb, wo das implizite Wissen reflektiert wird. Das ist der Fall, wenn generalisierte Unterscheidungen öffentlich diskutiert werden und wenn sie das Säurebad öffentlicher Diskussion überstehen oder nicht überstehen. Es ist aber auch dann der Fall, wenn 24 Eine Formulierung von Luhmann ... im Anschluß an v. Foerster 25 Das ist das Geschäft der Intellektuellen-Diskurse, der „öffentlichen Vordenker“.


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diese Unterscheidungen nicht diskutiert sondern einfach verwendet oder nicht weiter verwendet werden. Das Publikum entscheidet. 26 3. Europäische Integration Daß Öffentlichkeit ein konstitutives Merkmal moderner Gesellschaftlichkeit sein könnte, ist in der politischen Institutionenlehre häufig noch gar nicht bemerkt worden. Auch in politikwissenschaftlichen Standardwerken zur EU wird Öffentlichkeit nicht als eine wesentliche Institution angesehen. 27 Andererseits sprechen gegenwärtig viele Beobachter von einem Demokratiedefizit in den Formen der politischen Organisation der europäischen Integration und stellen in diesem Kontext das Fehlen entsprechender Formen der Öffentlichkeit heraus. 28 Neben dem Mangel an gemeinsamen Organen der Willensbildung (europäische Parteien) wird der Mangel an kollektiver Identitätsbildung (demokratische Loyalitätssicherung) und an öffentlicher Kontrolle (europäische Massenmedien) hervorgehoben.29 Oft wird Identitätsbildung und öffentliche Kontrolle auch zusammengezogen i.S. der These von der Integrationsfunktion der Öffentlichkeit, die dann auf europäischer Ebene nur noch Fehlanzeige zu ermöglichen scheint. 30 Wenn die These vom Öffentlichkeitsdefizit der EU stimmen würde, dann wären gravierende Störungen des Integrationsprozesses zu erwarten oder in der bisherigen Entwicklung zu identif izieren. Um die These empirisch überprüfbar zu machen, müßte allerdings zunächst theoretisch geklärt und entschieden werden, welche Funktion der Öffentlichkeit in Prozessen gesellschaftlichen Strukturwandels überhaupt zugeschrieben werden soll. Es wäre ja auch möglich, daß Defizite transnationaler Öffentlichkeiten - zB. aufgrund von Beschränkungen in der nationalsprachlichen Medienentwicklung31 – festgestellt werden, ohne daß daraus auf Mängel im europäischen Integrationsprozess geschlossen werden muß. 32 3.1 Differenzierung Im Sinne des hier skizzierten evolutionstheoretischen Modells kann die These vom Öffentlichkeitsdefizit nicht unmittelbar auf die Funktion der politischen Integration bezogen werden. Aus 26 Die Rekonstruktion von Institutionalisierungsprozessen ist keine Top-Down-Konstruktion, keine Deduktion aus vorgegebenen Strukturen, sondern Beschreibung der Genese und Veränderung von Institutionen unter höchst kontingenten Bedingungen – in denen allerdings nicht das Entscheidungsverhalten Einzelner sondern v.a. das von anonymen Massen zum Tragen kommt: die themenzentrierte Interaktion von Publikationsorganen und ihren jeweiligen Publika. 27 Das Stichwort Öffentlichkeit kommt weder im Lexikon der Politik – Bd. 5 Die EU 1996, noch in der Einführung von F.R.Pfetsch, 2001(2.Auf.) vor. 28 Vgl. Jürgen Gerhards, 2000, Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 40, Jg. 52, 2000, S. 277-305 und Eder, Klaus und Cathleen Kantner, 2000, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa. Eine Kritik der Rede vom Öffentlichkeitsdefizit, im gleichen Heft S. 306-331 29 Drei Defizitanzeigen nach Grözinger (Tagungsvortrag in Herdecke, 2001) im Anschluß an Habermas, Offe, Grimm, Kielmannsegg, Lepsius, Scharpf u.a. 30 R. Bubner beklagt „das Nichtvorhandensein einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit, die in Medien, welche jedem ohne Schwierigkeit zugänglich sind, alle Probleme von generellem, überlokalem Interesse tatsächlich thematisieren. Die hypothetische Verfassungsdebatte ersetzt die Volksidentität, die Europa fehlt.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.10.2001, Nr. 250 / Seite I 31 Andere Gründe für eine unzulängliche Entfaltung transnationaler Öffentlichkeiten werden – eher tautologisch - in der Intransparenz politischer Entscheidungsprozesse auf der EU-Ebene gesehen. Dem entsprechen Vorschläge zur (gewissermaßen pädagogisch gemeinten) Rückverlagerung zentraler Entscheidungen in die nationalen Parlamente (Grözinger, Vortrag, 2001) 32 Eine Möglichkeit, die Defizithypothese theoretisch zu entfalten, läge m.E. darin, sie vergleichend auf strukturelle Defizite anderer Mechanismen sozialer Integration zu beziehen. Öffentlichkeit hätte dann Korrekturfunktionen 1. gegenüber dem „blinden“ Mechanismus der Markterweiterung 2. dem „wissensanmaßenden“ Mechanismus zentraler Planung und 3. dem „partikularistischen“ Mechanismus interessierter Akteursverhandlungen. Neben den bekannten komplementären Beschränkungen von Markt und Hierarchie wird vermehrte Aufmerksamkeit dem Mechanismus der Aushandlung gewidmet, wg. der politischen Legitimationsprobleme transnationaler bzw. überstaatlicher Akteure im Falle der EU-Integration. Für diesen dritten Mechanismus könnte gelten, daß seine immanenten Defizite – die Risiken opportunistischer Lösungen auf Kosten Dritter – sich tendenziell schrankenlos auswirken würden, wenn ihm nicht Öffentlichkeit als komplementärer Mechanismus entgegenwirken würde. In dieser Beschreibung könnten auch immanente Defizite des Mechanismus medienvermittelter Öffentlichkeit diskutiert werden – hier käme v.a. die Verantwortungslosigkeit des Publikums für die durch es erzeugten Selektionen in den Blick.


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dieser Analyse ergibt sich, daß von den Medien und Formen der Öffentlichkeit keine Bindewirkung i.S. der normativen Integrationskonzepte zu erwarten ist. Die unmittelbare Wirkung der Öffentlichkeit erscheint eher de- als restabilisierend für Institutionen. Ihre Wirkung wird zumindest als zwiespältig („diabolisch“) empfunden. Aber auch wenn man das Integrationskonzept entdramatisiert und berücksichtigt, daß es im Prozess der europäischen Integration vorrangig um Organisationen und ihre funktionsspezifische Verknüpfung unter erweiterten Wettbewerbsbedingungen geht 33, erscheint es wenig angemessen, die Integrationsfunktion der Öffentlichkeit zuzuschreiben. Die Medien und Formen der Öffentlichkeit können offensichtlich nicht die restabilisierende Funktion eines vorgegebenen Institutionengefüges ersetzen. Eine hierauf fixierte Untersuchung kann nur zur Defizitanzeige führen. Wenn man hingegen die Funktion von Öffentlichkeit evolutionstheoretisch mit dem Mechanismus der Selektion verknüpft, dann läßt sich auch ihre Funktion im Prozess der europäischen Integration neu bestimmen. Sie kann – und muß – dafür sorgen, daß Institutio nen, die ihre Funktion im kommunikativen Netzwerk unter veränderten Umweltbedingungen nicht mehr erfüllen, zur Disposition gestellt werden und Platz machen für die Selektion von Alternativen aus dem Institutionenpool der Gesellschaft. Sie trägt damit indirekt zur Regeneration des Pools bei. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, daß ein anderer Mechanismus identifiziert werden kann, dem sich – unter den Bedingungen rapiden gesellschaftlichen Wandels – restabilisierende Wirkungen auf das Institutionengefüge zuschreiben lassen. Als einen solchen Mechanismus habe ich im skizzierten evolutionstheoretischen Modell den Mechanismus der Differenzierung bezeichnet. Schema 7: Integration durch institutionelle Differenzierung

Erleben

Unterbrechung

Handeln

Mikroebene

; Tradierung

Privatheit

" Technisierung

Verknüpfung

Institutionalisierung

Makroebene

Differenzierung! Umwelt

Organisation Öffentlichkeit

Wettbewerb8 System

Bei jeder Analyse des Institutionenwandels der EU ist zu beachten, daß nicht nur EU-interne Prozesse wirksam sind. Interne Prozesse sind relevant für die Reproduktion des Institutionenpools durch Tradierung und für seine Veränderung durch Technisierung – evolutionstheoretisch also i.S. der Mechanismen der Replikation durch Tradierung und Variation durch Technisierung. Die Technisierung der Kommunikation durch neue Medien ist schon lange ein zentrales Thema der Politik – und ihre Folgen für die EU insbesondere auch in den Formen transnatinaler Öffentlichkeit sind noch keineswegs zureichend analysiert. 34 Die Tradierung von Institutionen der Kommunikation durch Bildungsprozesse der Individuen ist erst neuerdings – aufgrund ländervergleichender Untersuchung der Bildungsorganisationen 35 - wieder zu einem zentralen Thema der Politik geworden. (Ich kann aus Zeitgründen auf diese Prozesse der Mikroebene hie r nicht eingehen.) 33 Es geht also um Systemintegration und nicht um Sozialintegration, wie Lockwood anschlußreich formuliert hat. Es geht mit Blick auf EU nur um die Makroebene bzw. die Sachdimension bzw. funktionale Differenzierung. Im Sinne des evolutionstheoretischen Kreislaufmodells bleibt es jedoch wichtig, die Bedingungen dieser Möglichkeit einzuordnen und abzugrenzen von Integration in der personalen Dimension (Rolleninklusion etc.) auf der Mikroebene. 34 Was häufig als „Verlust der Öffentlichkeit“ durch neue Medien, als Verfallsgeschichte eines idealisierten Typs von Öffentlichkeit thematisiert wird, könnte sich gerade als treibendes Moment des hier infrage stehenden Wandels erweisen. S. u.a. Dahinden, Urs (2000) Demokratisierung dank Internet? Zum Austauschverhältnis zwischen neuen elek tronischen und massenmedialen Öffentlichkeiten. In: Otfried Jarren / Kurt Imhof / Roger Blum (Hrsg.), Zerfall der Öffentlichkeit? Wiesbaden; Leggewie, Claus, 1996, Netizens oder: der gut informierte Bürger heute. Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichke it? Chancen demokratischer Beteiligung im Internet - anhand USamerikanischer und kanadischer Erfahrungen; Geser, Hans, 1998, Auf dem Weg zur Neuerfindung der politischen Öffentlichkeit. Das Internet als Plattform der Medienentwicklung und des sozio-politischen Wandels Soziologisches Institut der Universität Zürich (Web-Version 20.3.98) 35 S. nur die PISA-Studie http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/


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Der vorsichgehende Wandel läßt sich jedoch nicht zureichend verstehen ohne die Beobachtung von Bedingungen, die sich dem handelnden Zugriff der Akteure der Gemeinschaft entziehen – das sind einerseits Veränderungen in der Umwelt, die durch Akteure außerhalb der EU ausgelöst werden können (zB. die USA, Weltmarkt etc.) und das sind andererseits Faktoren, die zwar als interne zu betrachten sind, sich jedoch als institutionelle Bedingungen auch dem Zugriff der Akteure entziehen – also evolu tionstheoretisch i.S. der Mechanismen der Selektion und Restabilisation. Selektion durch Wettbewerb und Restabilisation durch Differenzierung müssen zunächst als kausal von einander unabhängig wirkende Mechanismen verstanden werden, um zu verstehen, wie die (im Medium der Öffentlichkeit ermöglichten) Effekte des Institutionenwettbewerbs in Differenzierungsprozessen der symbolisch generalisierten Umweltwahrnehmung verarbeitet werden. (Kein Wettbewerb kann die Institutionalisierung seiner Folgen vorwegnehmend steuern. ) Das dominante Muster des Wandels, das die Sozialwissenschaften in der Entwicklung Europas (bzw. des „Okzidents“) seit dem 18.Jahrhundert erkennen, ist das der funktionalen Differenzierung. Das ist nun allerdings kein Muster, aus dem sich ein Organisationsstatut mit Mitgliedschaftsregeln ableiten ließe, sondern eher eine Reihe von Prinzipien mit universalistischem Anspruch.36 Tatsächlich kann man wohl behaupten, daß sich heute die meisten Länder auf dem Planeten an diesen Prinzipien orientieren.37 Wenn Europa diese Prinzipien in besonders perfekter Weise realisiert, mag das gut oder schlecht für Europa sein, ist jedoch weder ein Identitätsmerkmal noch ein Ausschlußkriterium. Funktionale Differenzierung muß als dominante Form des Restabilisationsmechanismus und insofern auch als ein wesentliches Moment europäischer Integration betrachtet werden. Dieser evolutionäre Mechanismus kann in der Institutionalisierung von System-UmweltUnterscheidungen gesehen werden: Die EU bildet eine „innere Umwelt“ für ihre Akteure insofern, als sie die wirtschaftliche, politische, kulturelle Konkurrenz anderen Regeln unterwirft, als sie in der äußeren Umwelt, der globalen Konkurrenzen gelten. Typisch für diese Binnenwelt ist u.a. ein gesteigertes Maß an funktionaler Differenzierung (das sich zB. in ökonomischer Hinsicht in der Produktdifferenzierung und Skaleneffekten durch größere Einheiten niederschlägt). Die Vorteile dieser funktionalen („systemischen“) Integration erzeugen bekanntlich auch Sogkräfte auf außenstehende Akteure – mit der möglichen Folge neuer Grenzziehungen, neuer System-Umweltverhältnisse, die den gemeinsamen Pool von Institutionen, die die Innenwelt definieren, eher de- als restabilisiert, jedenfalls nicht unverändert lassen. Es liegt also nahe zu fragen, ob der – in der Moderne dominant gewordene – Mechanismus funktionaler Differenzierung nicht zu ihrer Selbstgefährdung führt. 38 Die Antwort auf diese Frage kann jedoch in empirischer Hinsicht durchaus offen gehalten werden, da es nicht zwingend ist anzunehmen, daß funktionale Differenzierung die einzige Ressource für restabilisierende Wirkungen im institutionellen Gefüge der Gesellschaft ist. Um die Stabilität institutioneller Strukturen unter den Bedingungen raschen gesellschaftlichen Wandels zu verstehen, erscheint es wichtig, zwischen verschiedenen (historisch verschiedenen, heute koexistierenden) Formen der Differenzierung zu unterscheiden. 39 3.2 Stabilität Als evolutionärer Mechanismus ist funktionale Differenzierung zugleich ein Indikator zunehmender Integration, denn die wechselseitige Abhängigkeit funktional verschiedener Teilberei36 Stichweh bezieht in diese Deutung sogar Europa selbst als Begriffskonstruktion ein: „Der Europabegriff eignet sich seiner durch das Hervorbringen von Universalismen geprägten Geschichte nach nicht, um eine begrenzte Indentität innerhalb einer Weltgesellschaft zu bezeichnen.“ S.10 in: R.Stichweh, 2000, Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen. (stw 1500) Frankf. M - Vgl. Niklas Luhmann, Europa als Problem der Weltgesellschaft, in Berliner Debatte 2/94, S. 3-7 37 Diese Alternativlosigkeit kann auf eine eurozentrische Sichtverengung des Verf. zurückgeführt werden. Sie impliziert allerdings keine Prognose hinsichtlich der erfolgreichen Umsetzung und globalen Durchsetzung der Prinzipien funktionaler Differenzierung. 38 Eine Frage, die in vielen sozialwissenschaftlichen Makrotheorien gestellt und kontrovers beantwortet wird. 39 Die in der sozialwissenschaftlichen Differenzierungstheorie tradierte Unterscheidung verschiedener Formen der Differenzierung ist häufig mit historischen Epocheneinteilungen verknüpft worden. Ihre unbestreitbare Koexistenz wirft jedoch noch viele theoretische Fragen auf.


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che der Gesellschaft nimmt damit zu. Funktionale Differenzierung gefährdet durch die empirisch immer mögliche Expansion eines Teilbereichs (zB. der Wirtschaft oder der Politik) auf Kosten Anderer die Reproduktion der Gesellschaft insgesamt. Deshalb erzeugt sie (im Medium teilsystemübergreifender Öffentlichkeit) einen Druck zur gleichmäßigen Ausdifferenzierung funktionsverschiedener Teilsystem-Umwelten (zB. des Rechts oder der Bildung für eine funktionierende Wirtschaft). Die Reproduktion der Gesellschaft (als Summe und Relation ihrer System-Umwelt-Unterscheidungen) wird daher auch nicht (wie häufig diagnostiziert wird) durch die schrankenlose Expansion von Teilsystemen gefährdet, sondern durch das Prinzip funktionaler Differenzierung selbst: Der Grund dafür liegt in der nichtsubstitutiven Beziehung der TeilSystem-Umwelten zueinander. Deshalb fehlen alternative instititutionelle Lösungen, wenn in ihrer Evolution eine gravierende Fehlanpassung durch veränderte Umweltbedingungen vorkommt. Gerade das Beispiel der EU lehrt, daß es im Hinblick auf Differenzierungsprozesse angemessener sein könnte, zwischen funktionaler Differenzierung und segmentärer Differenzierung zu unterscheiden. Erstere verlagert sich von der Länder- zur EU-Ebene, Letztere persistiert auf der Länderebene und nimmt auf regionaler Ebene vielleicht sogar zu. In dieser Perspektive könnte sich der Mechanismus der Restabilisation durch Differenzierung institutionell in ihrer Mehrebenenstruktur entfalten: funktionale Differenzierung findet auf der jeweils obersten Ebene statt und darunter reproduziert sich (gewissermaßen zur evolutionären Absicherung der Vielfalt des Institutionenpools) segmentäre Differenzierung (als historisch ältere Differenzierungsform) auf der Ebene der Organisationen und anderer Kollektivakteure (Gruppen, Organisationen, Regionen, Nationalstaaten, Religionsgemeinschaften etc.). Auf dieser Ebene kann die historischempirische Vielfalt institutioneller Verknüpfungen der Kommunikation gewissermaßen subsid iär der Restabilisation zur Verfügung stehen. Ein großer evolutionärer Vorteil im Prozess der europäischen Integration – es ist oft gesagt worden, evolutionstheoretisch aber nicht trivial – muß in der Vielfalt der Institutionen gesehen werden und nicht in deren Vereinheitlichung. Gerade deshalb, weil Institutionen für sich genommen nicht lernfähig sind, weil ihre stabilisierende Funktion gerade in dieser Unbeweglichkeit liegt, kann nur die Vielfalt selektiv verfügbarer Institutionen die Anpassungsfähigkeit garantieren. Die Vielfalt des gemeinsamen Institutionenpools, der durch das kommunikationstechnische Zusammenwachsen der europäischen Länder entstanden ist, garantiert den evolutionären Vorsprung, die höhere Adaptionsfähigkeit europäischer Sozialstrukturen in einer sich rasch wandelnden Weltgesellschaft. 40 Schlußbemerkung Ich habe Sie eingangs gewarnt, daß von diesem Vortrag keine empiriegesättigten Forschungsergebnisse zu erwarten sind. Ich konnte und wollte Sie nur (am Fall der Öffentlichkeit) zu einem Gedankenexperiment einladen, dessen Ergebnis darin bestehen könnte, daß Sie die Möglichkeiten der Untersuchung europäischer Integrationsprozesse in einem etwas anderen Theorierahmen sehen, und daß Sie selbst mit einigen anderen Theoriebegriffen experimentieren, als sie in der Europaforschung üblich sind.

40 Auch die Frage, ob das europä ische Integrationsprojekt eine historische Zwischenstation auf dem Wege zur instit itutionellen Neuordnung der Weltgesellschaft oder eher eine vorübergehende Nische (ein Rückzugsort) in den Wirren der Globalisierung, entscheidet sich durch Evolution – also weder durch guten Willen noch durch qualifizierte Pläne der Beteiligten. Im Sinne der Evolutionstheorie kann man nur sagen, daß es in diesem Prozess darauf ankommt, eine hinreichende Vielfalt an Institutionen im Gen-Pool des europäischen Systems verfügbar zu halten.


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