Kg 2003 aschke rezension

Page 1

Klaus Gilgenmann: Rezension für »Soziale Systeme« über Manfred Aschke, Kommunikation, Koordination und soziales System. Theoretische Grundlagen für die Erklä­ rung der Evolution von Kultur und Gesellschaft. 2002, 375 S., Lucius und Lucius Verlag: Stuttgart Der Autor erhebt mit diesem Buch den Anspruch, ein Konzept der Erklärung soziokultureller Evolution ent­ wickelt zu haben, das Elemente der soziologischen Sy­ stemtheorie und der individualistischen Handlungstheo­ rie schlüssig miteinander verbindet. Aschke ist von Haus aus Jurist. Im Vorwort erläutert er deshalb seinen Aus­ gangspunkt bei rechtssoziologischen Fragen. Die vorlie­ gende Ausarbeitung hat sich jedoch gegenüber diesen Ausgangsmotiven weitgehend verselbständigt. Nur noch in Teilen der Einleitung und im letzten Abschnitt des letzten Kapitels nimmt der Autor vorrangig rechtssozio­ logische Fragen auf. Ansonsten richtet sich die Argu­ mentation allgemein auf theoretische Grundlagen für die Erklärung der Evolution von Kultur und Gesellschaft. Kap. 1 referiert Luhmanns Theorie der Evolution sozialer Systeme und identifiziert das Axiom der operativen Ge­ schlossenheit sozialer Systeme als entscheidenden Grund der Abweichung von den Prämissen der Darwinschen Theorie bezüglich Umweltselektion. Kap. 2 beschreibt im Rekurs auf die Informationstheorie von B.O.Küppers Möglichkeiten der externen Entstehung und Übertragbarkeit von Information, die vom Autopoie­ sis-Konzept abweichen. Kap. 3 erweitert die informationstheoretische Umstellung der evolutionstheoretischen Grundlagen im Rekurs auf Piagets handlungsbasierte Theorie der Äquilibration kognitiver Strukturen. Kap. 4 schlägt im Rekurs auf individualistische Hand­ lungstheorie den Begriff der Koordination als Lösung für eine mit dem Darwinschen Modell kompatible Selekti­ onstheorie vor. Kap. 5 fasst den als pragmatische Synthese bezeichneten Ansatz Aschkes zusammen. Die theoretische „Erklä­ rungslast“ für die Evolution von Kultur und Gesellschaft wird auf die Einheiten Kommunikation, Koordination und soziales System verteilt. Soziale Lernprozesse wer­ den als Ineinandergreifen der Makroevolution von Kultur und Gesellschaft und der Mikroevolution des individuel­ len Bewusstseins erklärt. Mit seiner ausführlichen und sorgfältigen Darstellung des Luhmannschen Beitrags erweist Aschke dessen heraus­ ragender Stellung innerhalb der sozialwissenschaftlichen Beiträge zur Theorie soziokultureller Evolution seine Reverenz. Als Maßstab der kritischen Auseinanderset­ zung dient ihm der Vergleich mit der biologischen Evo­ lutionstheorie, aus der er den Anspruch auf eine theoreti­ sche „Erklärung der Möglichkeit der Entstehung der vorfindlichen Vielfalt und Stabilität kultureller und so­ zialer Phänomene“ ableitet (116). Das entscheidende Defizit der Luhmannschen Evolutionstheorie sieht Asch­ ke in der Verweigerung von Erklärungen für die Bedin­ gungen der Möglichkeit sozialer Systeme. Er wirft die Frage auf, ob ein Ansatz i.S. der Darwinschen Prinzipien als evolutionstheoretisch bezeichnet werden kann, der die

Frage nach der Adaption sozialer Systeme an ihre Um­ welt durch Verweis auf deren Existenz schon für beant­ wortet hält und kausal-genetische Erklärungen für evolu­ tionäre Errungenschaften zurückweist (S.111 ff). Aschke betont, dass es ihm nicht um eine Reduktion von Kultur und Gesellschaft auf Biologie oder individuelle Erkenntnis gehe, sondern darum, die Logik evolutionärer Erklärung zu erfassen und für das Konzept der Erklärung kultureller und sozialer Evolution fruchtbar zu machen. Er wirft der Luhmannschen Evolutionstheorie vor, dass sie die Erklärungslast für das Zustandekommen struktu­ reller Koppelungen sozialer Systeme mit ihrer (nichtso­ zialen) Umwelt externalisiere, um das Evolutionskonzept dem Konzept autopoietischer Systeme einordnen zu kön­ nen, ohne dass ersichtlich würde, wie und wodurch das Problem dann extern gelöst werden könnte (S. 122). Der Rezensent kann Aschkes Problembeschreibung gut nachvollziehen. Er vermag jedoch nicht der Auffassung zu folgen, dass die Lösung im Rückgriff auf eine indivi­ dualistische Handlungstheorie gefunden werden kann. Auch die instruktiven Rekurse Aschkes auf Küppers biologisch fundierte Informationstheorie und auf Piagets psychologisch fundierte Kognitionstheorie zwingen nicht zu diesem Schluss. Eine Theorie, die den Mechanismus der Selektion im Wahlverhalten menschlicher Individuen verankert sieht, ist m.E. ebensowenig mit dem Darwin­ schen Konzept der Umweltselektion vereinbar wie das verallgemeinerte Autopoiesis-Konzept. Wenn Aschke darauf insistiert, dass die Evolution der Kartographie die Bewährung der Landkarten bei der Orientierung in der realen Landschaft voraussetzt, bleibt unverständlich, warum er diese Landschaft methodisch auf Phänomene individuellen Bewusstseins reduziert. Schwierigkeiten des methodologisch individualistischen Theoriepro­ gramms, Makrophänomene der Gesellschaft zu erklären, sind Aschke bewußt (S.8-12). Er glaubt jedoch, sie durch die Kombination mit dem Luhmannschen Theoriepro­ gramm überwinden zu können. Der von Aschke zunächst eingeschlagene Weg des Ver­ gleichs der Luhmannschen Theorie mit der Architektur der biologischen Evolutionstheorie würde eine andere Lösung nahelegen: die Unterscheidung zwischen einer genotypischen und einer phänotypischen Ebene und die rekursive Verknüpfung der darin wirksamen Mechanis­ men. Aschke wählt jedoch nicht diesen Weg. Er arbeitet mit der verbreiteten Annahme, dass die soziokulturelle Evolution sich von der biologischen Evolution durch die Vererbbarkeit sozialer Errungenschaften (ihren Lamark­ kismus S.24) unterscheide. Während für Luhmann das gesamte phänomenale Spektrum sich durch operative Geschlossenheit auszeichnet, bestreitet Aschke operative Geschlossenheit auch auf der Ebene der basalen Replika­ tionseinheiten. Wie bei Luhmann fehlt damit die Unter­ scheidung zwischen phänotypischen und genotypischen Einheiten und ein gesonderter Replikationsmechanismus für Letztere. Aschke schließt sich Luhmanns Auffassung an, dass eine der biologischen Evolutionstheorie vergleichbare Sepa­ rierung der Ebenen (Gene, Individuen, Population) für die soziokulturelle Evolution nicht festgestellt werden


K.G.: Rezension über M.Aschke: Kommunikation, Koordination und soziales System könne (S.53). Luhmanns Lösung besteht bekanntlich in der Unterscheidung von Ebenen der kommunikativen Operationen, der Strukturen und Systeme insgesamt. Aschkes abweichender Vorschlag besteht darin, im Hin­ blick auf die Selektionsfunktion auf der mittleren Ebene anstelle von Strukturen auf individuelle Handlungskoor­ dination umzustellen. (S. 304) Auf dieser Ebene bleibt jedoch unklar, ob es sich um Einheiten handelt, auf die evolutionäre Mechanismen einwirken, oder eher um diese Wirkungen selbst. Auch Luhmanns Bestimmung des Restabilisationsmechanismus interpretiert Aschke so, dass er mit der evoluierten Einheit – etwa als funktional differenzierte Gesellschaft – schon zusammenfällt. Wie kommt es, dass Aschke die Entsprechung zum Dar­ winschen Mechanismus der Umweltselektion in der Se­ lektivität des Individualhandelns sucht, statt zunächst (wie aufgrund der S.22f herausgestellten Anforderungen an Theoriekritik im Anschluss an W.L.Schneider zu er­ warten) einer anderen Interpretation der Luhmannschen Evolutionstheorie den Vorzug zu geben? Aschke hat sich zu den handlungstheoretischen Anleihen durch Formulie­ rungen Luhmanns verleiten lassen, in denen – alltags­ sprachlich kontraintuitiv, im Sinne seiner Theoriekon­ struktion aber konsequent – menschliches Bewusstsein und menschliche Organismen der Umwelt der Kommu­ nikation zugeordnet werden. Er greift Luhmanns Argu­ ment auf, dass die Kommunikation keinen Direktzugang zur nichtsozialen Umwelt habe, sich also nur durch Be­ wusstsein „irritieren“ lasse. Aschkes abweichender Vor­ schlag ist daher zunächst auf die Frage focussiert, ob und inwieweit die Kommunikation vom Bewusstsein nicht nur „irritiert“ sondern informiert werden kann. Daher der Rekurs auf Küppers hinsichtlich des Informationstrans­ fers in der Biologie und auf Piaget mit Bezug auf die Entwicklung der Strukturen des Bewußtseins. Der Bedarf für eine handlungstheoretische Ergänzung der Evolutionstheorie drängt sich auf als Folge der Luh­ mannschen Reduktion von Kommunikation auf Sinnope­ rationen. Indem Aschke bei der Suche nach einem ange­ messenen Mechanismus der Umweltselektion Luhmanns Verortung von Menschen als externer Voraussetzung der Kommunikation folgt, versperrt er sich andere Erklä­ rungsmöglichkeiten, die durch den evolutionsbiologi­ schen Vergleich mit der Sozialität anderer Lebewesen nahegelegt werden, die auch ohne Bewusstsein auskom­ men - zumindest ohne ein so individualisiertes Bewusst­ sein, wie es hier unterstellt wird. Die Umwelt, die inner­ halb der soziokulturellen Sphäre des Menschen Selekti­ onsdruck auslöst und unpassende Variationen eliminiert, kann nicht die Welt des individuellen Bewusstseins oder des körperbasierten Handelns von Menschen sein. Die Umwelt, die die besonderen Formen der Selektion in der soziokulturellen Evolution auslöst, muss zuerst als sozia­ le bzw. kulturelle Umwelt beschrieben werden. Insofern trifft Luhmanns Auffassung von interner Selektion auf der Ebene der evoluierenden Einheiten durchaus zu. Die Beschränkung dieser Sicht auf eine bestimmte Ebene der soziokultureller Evolution könnte dann interne Umwelt­ selektion (durch Systemdifferenzierung) und externe

2

Umweltselektion (durch natürliche Bedingungen) ein­ schließen. Die in dieser Hinsicht unausgeschöpfte Interpretation bestünde zunächst darin, diejenigen Operationen, die von Luhmann selbst als Mechanismen der Selektion bezeich­ net werden als innergesellschaftliche Umweltselektionen zu erkennen. Zwar hat Luhmann das evolutionsbiologi­ sche Konzept der Umweltselektion als mit den Prämissen einer Theorie autopoietischer Systeme unverträglich bezeichnet und zumindest für die Anwendung auf sozio­ kulturelle Evolution ausgeschlossen. Andererseits hat er die Differenzierung zwischen Interaktion und Gesell­ schaft als primären Selektionsmechanismus und damit doch ein innergesellschaftliches System-UmweltVerhältnis als selektionswirksam bezeichnet. Nicht nur in diesem Sinne gibt es bei Luhmann – obwohl er die Ter­ minologie vermeidet – Umweltselektion. Sie lässt sich auch in den symbolisch generalisierten Medien funkti­ onssystemischer Kommunikation wiederfinden, wenn man bedenkt, dass sie den Wettbewerb in mediengestütz­ ten Öffentlichkeiten schon voraussetzen, die Luhmann als „innere Umwelt“ der Funktionssysteme bezeichnet. Gegenüber methodologisch-individualistischen Ansätzen hätte eine solche Interpretation des Luhmannschen An­ satzes sogar den Vorteil der größeren Kompatibilität mit dem Darwinschen Konzept der Populationen als evoluie­ rende Einheiten. Ihre Grenze liegt allerdings in der Tota­ lisierung des Konzepts der operativen Geschlossenheit (dessen Anwendung auf den institutionellen Kern großer sozialer Einheiten durchaus passen würde) und in der einseitig auf Sinnkonstitution ausgelegten Auffassung von Kommunikation, die von Aschke – trotz des Rekur­ ses auf die pragmatische Dimension im Anschluß an Küppers - nicht genug hinterfragt wird. Die Auffassung von der Selektivität kommunikativer Strukturen der Ge­ sellschaft als Umweltselektion ist allerdings nur dann mit der Evolutionstheorie kompatibel zu machen, wenn diese Strukturen als kausal unabhängig von Strukturen der Kommunikation auf anderen Ebenen der Sozialität (etwa Organisationen und Interaktionen) beschrieben werden. Sie ist also auch nicht vereinbar mit der Annahme, dass sich die Strukturen der Gesellschaft (zB. ihre funktionale Differenzierung) als Voraussetzungen ihrer operativen Geschlossenheit und Anschlussfähigkeit in jeder Kom­ munikation reproduzierten. Die Probleme der Rezeption der Luhmannschen Evolu­ tuionstheorie, die sich am Konzept der Selektion festma­ chen, verweisen auf Probleme, die sich aus Luhmanns Beschränkung auf eine evolutionstheoretische Analogie­ konstruktion ergeben. Aschke insistiert zu Recht auf dem evolutionstheoretischen Erklärungsanspruch für die strukturellen Koppelungen sozialer Systeme mit ihrer nichtkulturellen Umwelt. Wenn die soziokulturelle Son­ derevolution als Teil der Evolution des Lebens betrachtet wird, ist kaum zu bestreiten, dass sie an grundlegenden ökologischen Beschränkungen nichts ändern kann, die auch in die soziokulturelle Evolution hinein und in ihr fortwirken. K.Gilgenmann, Fb Sozialwissenschaften, Univ. Osnabrück


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.