Kg 2003 transaktionskosten

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Transaktionskosten der Kommunikation von Klaus Gilgenmann 1. Die sonderbare Welt kostenloser Kommunikation 1 2. Das imperfekte Netzwerk der Kommunikation 2 3. Mechanismen soziokultureller Evolution 3 4. Tradition und Individualität 3 5. Hierarchie und Wettbewerb 5 6. Ein Kreislaufmodell 7 Literatur8

1. Die sonderbare Welt kostenloser Kommunikation Den dominanten Strömungen der ökonomischen und der soziolo­ gischen Theoriebildung werden manchmal Stärken und Schwä­ chen nachgesagt, in denen sie sich gewissermaßen ergänzen: Die Ökonomie nähere sich dem Exaktheitsideal der Naturwissen­ schaften um den Preis eines Realitätsverlustes in den für mathe­ matische Modellierung verwendeten Prämissen. Die Soziologie sei in ihren Situationsbeschreibungen realitätsnäher um den Preis des Verlustes einer einheitlichen Theorie - und Methodengrundla­ ge. Ohne diese Gegenüberstellung ernsthaft zu diskutieren, soll hier eine gemeinsame Blindstelle der mainstream-Ansätze beider Disziplinen herausgestellt werden. Zur Beschreibung dieser Stelle bediene ich mich einiger Instrumente der Neuen Institutio­ nen-Ökonomie (NIÖ) 1 und beziehe sie auf einen Gegenstand, der normaler Weise nicht in ihrem Blickfeld liegt sondern eher in dem der Buch- und Sprachwissenschaften, nämlich die menschli­ che Kommunikation. In der Kritik der NIÖ an den Prämissen der neoklassischen Öko­ nomie geht es darum, „die sonderbare Welt kostenloser Transak­ tionen“ (Richter/Furubotn 1996: 9) zugunsten realistischer An­ nahmen zu verlassen. Ihr Bezugspunkt ist der Austausch von Wirtschaftsgütern. Dass Transaktionen nicht kostenlos zu haben sind, gilt allerdings nicht nur für die Wirtschaft. Dasselbe kann für alles soziale Handeln, für das kommunikative Netz der Ge­ sellschaft insgesamt festgestellt werden. In diesem Sinne soll die kritische Stossrichtung des transaktionskostentheoretischen An­ satzes hier auf den Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften insgesamt ausgedehnt werden. Dass wirtschaftliche Transaktio­ nen Kosten der Informationsbeschaffung, des Transports, der Aufbewahrung, Verarbeitung, Überwachung etc. verursachen, gehört zu den inzwischen weitgehend akzeptierten Einwänden der Neuen Institutionenökonomie gegen die idealisierten An­ nahmen der neoklassischen Ökonomie. Dass dieselben Einwände sich auch gegen Grundannahmen der Soziologie und anderer geisteswissenschaftlicher Fächer richten lassen, ist bisher wenig beachtet worden, weil sie sich keine so strikte methodologische Verfassung gegeben haben. Es gibt aber zumindest einen still­ schweigenden Konsens, dass Sinn eine immaterielle Ressource ist, die dem menschlichen Handeln und Erleben gewissermaßen unbegrenzt und kostenlos zur Verfügung steht. Wenn es trotz der Immaterialität der Sinnressourcen Probleme sozialen Handelns bzw. der Kommunikation gibt, dann werden diese nicht auf Transaktionskosten zurückgeführt sondern auf inkompatible Sinnkonstruktionen. Eine solche Sichtweise erweist sich als entweder inkonsistent oder unrealistisch. Inkonsistenzen zeigen sich, wenn einerseits

1 Theorieinstrumente, die mir – als Soziologen – durch die Kooperation mit Jörg Glo mbowski nähergebracht wurden.

betont wird, dass Sinn nicht auf die solitären Beiträge von Indiv i­ duen zurückzuführen ist, sondern erst in der Interaktion bzw. Kommunikation generiert und reproduziert wird, und wenn ande­ rerseits nicht bestritten wird, dass Kommunikationen Operationen in der realen Welt umfassen, die materielle Ressourcen in An­ spruch nehmen. Als unrealistisch zeigen sich (phänomenologi­ sche und systemtheoretische) Theorieansätze, in denen die In­ konsistenz dadurch aufgelöst wird, dass alle Kommunikation auf das Prozessieren von Sinneinheiten reduziert wird. Sie verweisen darauf, dass durch die Mitteilung einer Informatio n weder beim Empfänger Etwas (materiell) hinzukommt noch beim Absender Etwas (symbolisch) verloren geht. Dagegen ist anzuführen, dass jede Mitteilung bereits beim Absender materielle Ressourcen (des Transports) voraussetzt und die Verarbeitung des Mitgeteil­ ten beim Empfänger auf beschränkte Ressourcen (des Gedächt­ nisspeichers, der Rechengeschwindigkeit etc.) stößt. Dies gilt für alle Vorgänge der Kommunikation. Der Begriff der Kommunikation dient hier als Sammelbezeic h­ nung für die konkrete Vielfalt soziokultureller Formen und zu­ gleich als Bezeichnung ihrer operativen Grundeinheit. Kommu­ nikation wird als operative Einheit aus vier Komponenten be­ trachtet: Information, Mitteilung, Anschlusshandeln, Verstehen. Ihre Einheit wird als das Resultat von institutionellen Verknüp­ fungen angesehen. Institutionen werden als basale Elemente und Voraussetzungen der Kommunikation bezeichnet. Die Bezeic h­ nung der vier Komponenten folgt der Kombination von zwei Unterscheidungen: Handeln und Erleben als unterscheidbare Verhaltensweisen, Alter und Ego als unterscheidbare Beiträge menschlicher Teilnehmer. Handeln

Erleben

Alter

Mitteilung

Information

Ego

Anschlusshandeln

Anschlussverstehen

Die Unterscheidung von Handlungs- und Erlebenskomponenten bezieht sich auf Differenzierungen der Kommunikation, die in der Folge von Unterbrechungen der Kommunikation historisch entstanden sind: Handlungsformen haben ihren Gegenhalt im materiellen Realitätskontinuum und Erlebensformen im Gedächt­ nisspeicher der Kommunikation 2. Die prozessierende Einheit der Kommunikation kombiniert operative Offenheit und Geschlos­ senheit. Sie ist offen durch ihre intentionale Ausrichtung auf Anschlussbe iträge, ihre prokursive Verknüpfung mit künftiger Kommunikation. Sie ist zugleich operativ geschlossen durch ihre rekursive Verknüpfung mit vergangener Kommunikation, ihre Angewiesenheit auf Institutionen. Einerseits vollzieht sich in jeder Operation der Kommunikation die Replikation ihrer instit u­ tionellen Verknüpfungen. 3 Andererseits können die Verknüpfun­ gen ihrer Komponenten an jeder Stelle aufgelöst und verändert werden in Folge von Einwirkungen, die den Fluss der Kommuni­ kation unterbrechen und einschränken. Beschränkungen der Kommunikation sind zugleich Bedingungen der soziokulturellen Evolution. Die soziokulturelle Vielfalt der Kommunikation erklärt sich in evolutionstheoretischer Perspekti­ ve gerade aus aus der Verschiedenartigkeit der Umwelten, in denen natürliche und soziale Beschränkungen wirksam werden. Eine Vielzahl möglicher und als Varianten tatsächlich vorkom­ mender Verknüpfungen zwischen Alter und Ego und zwischen den Handlungs- und Erlebenskomponenten bei Alter und Ego werden laufend aus der Kommunikation ausgeschlossen. Erst 2

Der hier skizzierte Kommunikationsbegriff unterscheidet sich von dem der Luhmannschen Theorie – als Einheit von drei Komp onenten, die durch Verstehen abgeschlossen wird – durch den Bezug auf mate­ rielle Ressourcen. Handeln und Erleben sind in der Luhmannschen Theorie nur symbolische Auslegungen der Selbst- und Fremdbezüge der Kommunikation. Luhmanns Kommunikationstheorie abstrahiert unter Berufung auf Sinnkonstitution von den Transaktionskosten (vgl. Luhmann 1986/1983: Kap.2). 3 Nicht nur das heute vielzitierte kulturelle Kapital sondern auch das ökonomische Kapital ist schon eine Form der rekursiven Verknüpfung von Kommunikation.


K.Gilgenmann (2003) Transaktionskosten der Kommunikation dadurch entstehen bestimmte Formen der Kommunikation, die über eine gewisse Kontinuität verfügen. Im hier skizzierten Modell sind zunächst zwei Arten der Unter­ brechung der Kommunikation zu unterscheiden: materielle, die auf äußere Bedingungen der Kommunikation in Raum und Zeit zurückzuführen sind, und symbolische, die auf Motive und Absichten von Teilnehmern der Kommunikation zurückzuführen sind: Materielle Unterbrechungen wirken primär in der Relation zwischen Alter und Ego. Alter kann Ego nicht erreichen, weil er nicht am selben Ort ist, weil Mittel zum Transport der Mitteilung fehlen oder weil Ego in einer anderen Zeit lebt und Mittel zum Aufbewahren der Mitteilung fehlen. Symbolische Unterbrechun­ gen wirken primär in der Relation zwischen Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation. Alter bezieht sich in seiner Mitteilung auf Egos Anschlusshandlungen unter Aus­ klammerung von dessen Erleben, oder Ego erlebt Alters Mitte i­ lungen unter Ausklammerung möglicher Anschlusshandlungen. Institutionen sind Erlebenskomponenten der Kommunikation, die durch symbolische Generalisierung zu Beschränkungen der Kommunikation geworden sind: „Erwartungserwartungen“ in dem Sinne, dass dieselben Erwartungen im Erleben Anderer vorausgesetzt werden können. Es muss also unterschieden wer­ den zwischen einfachen (bereits gedächtnisgestützten aber nicht notwendig sozial geteilten) Erwartungen und den symbolisch generalisierten Erwartungen auf der Seite der Erlebenskompo­ nenten der Kommunikation, zu denen auch ein technisch erwei­ tertes Gedächtnis gehört, das gepflegt werden muss, also nicht kostenlos zu haben ist. 2. Das imperfekte Netzwerk der Kommunikation Als ein konstitutives Problem der menschlichen Kommunikation wird ihre Anfälligkeit für Täuschungen angesehen4. Das Ausmaß der Täuschungsmöglichkeiten wächst mit den verfügbaren Kommunikationsmitteln. Institutionen können als Vorkehrungen gegen dieses Problem der Kommunikation betrachtet werden. Dass das Netzwerk der menschlichen Kommunikation nicht perfekt ist, kann aber auch der ‘Dummheit‘ seiner Institutionen zugeschrieben werden. Der Blickpunkt verschiebt sich damit von einem moralischen zu einem kognitiven Problem. In dieser Per­ spektive läßt sich besser verstehen, warum Transaktionskosten entstehen. Institutionen können ihre stabilisatorische Funktion innerhalb der Kommunikation nur entfalten, weil sie operativ geschlossen und nicht lernfähig sind. Perfekte Institutionen ver­ ursachen keine Kosten: die Kommunikation fließt ununterbr o­ chen, es gibt keine Koordinationsprobleme. Sie können aber nur in einer stabilen Umwelt perfekt funktionieren. Diese Bedingung ist in der soziokulturellen Welt des Menschen nicht – bzw. in einem gattungstypisch geringeren Maße als bei anderen Lebewe­ sen – gegeben. Die Gründe sind bekannt: Menschen greifen laufend in ihre natürlichen und sozialen Umwelten ein. Sie verändern die ökolo­ gische Nische ihrer Gattung, teils direkt durch Ausdehnung auf Kosten anderer Lebewesen, teils indirekt, indem sie an die Stelle der natürlichen Umweltbeschränkungen die künstlischen Um­ weltbeschränkungen ihrer Institutionen setzen. Beide Eingriffsar­ ten erfolgen – in typisch gesteigertem Umfang in der modernen Gesellschaft – mit technisch erweiterten Mitteln. Alle Technisie­ rungen sind Erweiterungen der Kommunikation in der materie l­ len Dimension (von Raum und Zeit), die Beschränkungen der Kommunikation in der symbolischen Dimension (in der Form der Verknüpfung von Handeln und Erleben) schon voraussetzen. Wenn man annimmt, dass Menschen in die institutionellen Vor­ 4 Der Hinweis auf die konstitutive Täuschungsanfälligkeit der mensch­ lichen Kommunikation ersetzt hier die entsprechenden anthropologi­ schen Annahmen des methodologischen Individualismus. Das Phäno­ men taucht bekanntlich - in einem durch die verfügbaren Kommunika­ tionsmittel beschränktem Maße - bereits in Tiergesellschaften auf.

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aussetzungen ihrer Kommunikation eingreifen, um die Stabilität ihrer Kommunikations- und Lebensverhältnisse zu erhöhen, dann zeigt sich in paradoxer Weise, dass häufig eher das Gegenteil eintritt. Als typisch für die soziokulturelle Evolution erscheint das sich selbst verstärkende Tempo der Veränderungen5. Menschen sind unablässig damit beschäftigt, ihre Kommunikati­ onsmöglichkeiten veränderten Umweltbedingungen anzupassen. Jeder Eingriff in die institutionellen Strukturen der Kommunika­ tion verursacht Kosten, von denen nicht sicher vorausgesagt werden, ob sie die Gewinne nicht übersteigen. In der Transakti­ onskostentheorie werden Institutionen als Mittel der Unsicher­ heitsverarbeitung in Austauschprozessen bezeichnet, die Kosten ersparen. Diese Betrachtungsweise wird häufig auch auf die Entwicklung der technischen Kommunikationsmittel übertragen. Die Übertragung funktioniert jedoch nur unter der Vorausset­ zung, dass Instit utionen schon existieren, die diese Entwicklung tragen6. Wenn Institutionen mehr oder weniger kostenlos funk­ tionieren, dann ist das nur dadurch zu erklären, dass diese Kosten in der Vergangenheit bezahlt worden sind. Als Transaktionskosten der Kommunikation können in erster Näherung alle Kosten bezeichnet werden, die aufgebracht werden müssen, um die Unangepasstheit soziokultureller Institutionen an ihre Umwelten zu kompensieren7. Diese Aussage bezieht sich auf Veränderungen in der natürlichen und in der sozialen Umwelt – also auch auf Relationen zwischen Institutionen. Die Kosten der Unangepasstheit von Institutionen an ihre soziokulturellen Um­ welten müssen auf Veränderungen des institutionellen Netzwerks der Kommunikation durch intentionale Eingriffe zurückgeführt werden. Unter sozialwissenschaftlichen Aspekten interessieren hier besonders solche Eingriffe, die mit technisch erweiterten Mitteln erfolgen und den gegebenen Kommunikationsfluß unter­ brechen8. In typisch wiederkehrenden Konstellationen erfolgende Unterbrechungen der Kommunikation sollen im Folgenden als evolutionäre Mechanismen beschrieben werden, um den Wandel der Institutionen erklären. Wenn es stimmt, dass das Tempo der Veränderungen innerhalb der soziokulturellen Welt des Menschen laufend zunimmt, dann liegt es nahe anzunehmen, dass die Transaktionskosten der Kommunikation in einem prohibitiven Maße steigen, so daß irgendwann die Kommunikation zum Erliegen kommt. Dagegen spricht allerdings die empirische Vielfalt der Kommunikation in der soziokulturellen Welt. Beiden Aspekten soll im Folgenden dadurch Rechnung getragen werden, dass die theoretischen Prin­ zipien, die in der biologischen Evolutionsttheorie zur Erklärung

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Manche Beobachter sehen darin das Grundproblem, andere eine Art Superstabilität der modernen Gesellschaft (vgl. Luhmannn 1997: 565). 6 Dass Transaktionskosten, die zur Sicherungserfüllung von Institutio­ nen aufgewandt werden müssen, steigen, läßt sich heute besonders gut an der Ausdehnung der Tauschsphäre ins Internet mit ihren fehlenden Einrichtungen zur Sicherung beobachten. Hier ist also das Paradox aufzulösen, daß das Internet – obwohl seine technische Infrastruktur besonders gut geeignet erscheint, Transaktionskosten zu senken – mangels angemessener Institutionen (zumindest für den Austausch wertvoller Güter) eine prohibitive Steigerung der Transaktionskosten bewirken kann. 7 Zur Bestimmung von Transaktionskosten in der NIÖ vgl. Voigt 2002: 87. 8 Im Unterschied zu vielen Neo-Institutionalisten unterscheidet D. North zwischen technischem und institutionellem Wandel und wirft die Grundsatzfrage auf, wie Beides in einem Modell erklärt werden kann (North 1992: 123f.). Allerdings fehlt bei North eine ähnlich scharfe Grenze zwischen anderen Konstrukten intentionalen Handelns (Re­ geln, Verträgen, Organisationen etc.) und Institutionen. Die schwache Unterscheidung zwischen formlosen und formgebundenen Institutio­ nen geht im Prinzip vom intentionalen Handeln aus, die formlose Insti­ tution wird nur als Negativfall der Formgebundenen bestimmt. Zwar erscheint die formlose Institution historisch vorgängig und der Inten­ tionalität ein Stück weit durch ihre mangelnde Fixiertheit (Schriftför­ migkeit S.55) entzogen – dies jedoch nur graduell und im Zusammen­ spiel mit den formgebundenen Institutionen.


K.Gilgenmann (2003) Transaktionskosten der Kommunikation der Artenvielfalt angewandt worden sind – Variation und Sele k­ tion – zur Erklärung der Vielfalt der Kommunikation fruchtbar gemacht werden. 3. Mechanismen soziokultureller Evolution Wie konnte es überhaupt zu der Idee kommen, dass Transaktio­

nen der Kommunikation kostenlos zu haben sind? Die kurze

Antwort lautet: weil es Institutionen gibt, die dafür sorgen. Aus­

führlichere Antworten befassen sich damit, wie es überhaupt

möglich ist, dass Institutionen verfügbar sind, obwohl die Um­

weltbedingungen, für die sie passende Lösungen beinhalten, sich

laufend ändern. Es geht also um die Evolution von Institutionen –

im Falle des Austauschs wirtschaftlicher Güter um Verfügungs­

rechte und Verträge und verallgemeinert um die Institutionenge­

bilde und -vorräte des kommunikativen Netzwerks der Gesell­

schaft insgesamt 9. Die Annahme, dass Transaktionen der Kom­

munikation kostenlos sind, basiert auf der Erfahrung, dass

Institutionen immer schon da sind, und sie abstrahiert von den

vielfältigen Anstrengungen, die in der Gesellschaft unternommen

werden, um die Kommunikationsmöglichkeiten zu erweitern und

ihre Institutionen an veränderte Umweltbedingungen anzupassen.

Hinter der idealisierenden Abstraktion von den Kosten der

Kommunikation verbirgt sich das Fehlen einer Unterscheidung,

die evolutionstheoretisch von grundlegender Bedeutung ist: die

Unterscheidung zwischen Variation und Sele ktion.

Alle Anstrengungen, die in der Gesellschaft unternommen wer­

den, um Instit utionen zu gestalten, neue Institutionen zu schaffen

etc. müssen in evolutionstheoretischer Hinsicht dem Mechanis­

mus der Variation zugerechnet werden. Es handelt sich um

Variationen der Kommunikation, die als solche von

funktionierenden Institutionen zu unterscheiden sind. Ob zB.

bestimmte Technisierungen der Kommunikation in die

Institutionenvorräte der Gesellschaft eingehen, entscheidet sich

erst in evolutionären Sele ktionsprozessen, die sich intentionalen

Handlungszugriffen entziehen10. Die Verschiedenheit von

Techniken und Institutionen der Kommunikation soll im

Folgenden durch ihre Stellung im evolutionären Kreislauf

gekennzeichnet werden.

Soziokulturelle Evolution kann allgemein gekennzeichnet werden

als eine Sonderform der Evolution, in der symbolische Beschrän­

kungen durch Institutionen an die Stelle materieller Beschrän­

kungen durch natürliche Ressourcen treten. Letztere werden

gewissermaßen symbolisch überschrieben, ohne sie materiell zu

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Neuere ökonomische Theorien betrachten nicht mehr nur die Wirt­ schaft als ihren Gegenstand sondern alle Entscheidungen, die unter dem Gebot der Knappheit erfolgen. Ihr Erklärungsanspruch wird nicht durch einen Gegenstand (Wirtschaftsunternehmen und wirtschaftliche Kre isläufe) begrenzt sondern nur durch andere methodologische An­ sprüche. Unter dem Gesichtspunkt der Knappheit kann innerhalb der Sozialwissenschaften alles oder auch nichts betrachtet werden. Es hängt davon ab, was unter Knappheit verstanden wird. Ginge es nur um die Knappheit natürlicher Ressourcen, dann würde das Meiste, was heute unter Wirtschaft fällt nicht zum Gegenstand der Ökonomie gehö­ ren. Ist Geld knapp? Wenn Geld zum Gegenstand gehört, warum nicht auch Wahrheit, Liebe, Kunst, Moral und andere sinnvolle Dinge, die sozial nur unter eingeschränkten Bedingungen zu haben sind? Fast al­ les, was in der menschlichen Gesellschaft geschieht, geschieht auf­ grund von institutionellen Beschränkungen, die durch die menschliche Kultur selbst erfunden worden sind – ohne dass deshalb die natürlichen Beschränkungen verschwunden wären. Wenn aber die künstliche Knappheit der Institutionen an die Stelle der natürlichen Knappheiten getreten ist, dann wird auch das Erklärungsmonopol der Ökonomie fragwürdig. Das gilt zu mindest dann, wenn es nicht mehr nur darum geht, individuelles Handeln unter (wie auch immer entstandenen) Knappheiten zu erkären, sondern die Entstehung und den Wandel die­ ser Knappheiten, Restriktionen bzw. Institutionen selbst. 10 Diese evolutionstheoretische Unterscheidung ist in vielen Ansätzen des ökonomischen und soziologischen Neo-Institutionalismus nur un­ zulänglich entwickelt – was sich insbesondere in der Gleichsetzung von Organisationen und Institutionen zeigt (vgl. Gilgen­ mann/Glombowski 2003 ).

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ersetzen. Hinzu kommt jedoch der für die soziokulturelle Evolu­ tion charakteristische Umstand, daß auch die symbolischen Be­ schränkungen der Kommunikation laufend überschrieben werden können durch technische Eingriffe, ohne sie symbolisch (als Institutionen) ersetzen zu können. Die Offenheit soziokultureller Evolution für intentionale Eingriffe ist der Grund, warum viele Autoren die Anwendung der Darwinschen Evolutionstheorie ausschließen11. Im hier skizzierten Modell wird versucht, diesen Einwänden durch die Unterscheidung von Ebenen und die Be­ rücksichtigung eines Mechanismus der institutionellen Restabili­ sierung Rechnung zu tragen 12. Makroebene

Systeme

Restabilisation Institutionen

Replikation InstitutionenTräger

Selektion Hierarchien Mikroebene

Handeln

Umwelten

Variation Kommunikationen

Erleben

Die intentionale Absicherung und teilweise Substitution instit u­ tioneller Voraussetzungen der menschlichen Kommunikation durch technische Konstrukte intentionalen Handelns ist ebenso konstitutiv für die soziokulturelle Evolution wie die Ausdifferen­ zierung ihrer Institutionen. Es muss allerdings zwischen interner und externer oder Ebenen der Selektion unterschieden werden. Die interne Selektion durch technische oder organistorische Handlungsverknüpfungen ist eine adaptive Verarbeitung von Erfahrungen mit externer Selektion. Da jedoch die künftige Se­ lektion damit nicht wirklich vorweggenommen wird, handelt es sich bei interner Selektion auch nicht um Selektion im Darwin­ schen Sinne sondern nur um eine Voraussetzung von Variationen zweiter Ordnung. Jeder der vier im evolutionären Kreislaufmodell positionierten Mechanismen kann einerseits als Rückwirkung auf bestehende Institutionengefüge (Wandel, Variation) und andererseits als Schritt im Entstehungsprozess neuer Institutionen (Emergenz, Selektion) beschrieben werden. Wenn evolutionäre Mechanismen als Ereignisse beschrieben werden, die in gegebene institutionelle Strukturen der Kommunikation eingreifen, dann muss für jeden Mechanismus gezeigt werden, welche Möglichkeiten der Weiter­ entwicklung von Institutionen im Gefolge dieser Unterbrechung entstehen. Wird in der Beschreibung evolutionärer Wirkungen der Aspekt der Neubildung von Institutionen isoliert, dann kommt die Rückwirkung auf die Erlebenskomponenten und ihre Entfaltung im symbolischen Horizont der Kommunikation in den Blick. Aus der Vielzahl symbolischer Umweltbeschränkungen sollen im Folgenden v.a. zwei typisch wiederkehrende Ereignis­ konstellationen herausgestellt werden: Hierarchie und Wettbe­ werb, die auch vorrangig im Blickfeld der Transaktionskoste n­ ökonomie stehen. Sie werden hier als historisch voraussetzungs­ reiche Konstellationen der Kommunikation betrachtet, in denen kausal voneinander unabhängige Wirkungsmechanismen der soziokulturellen Evolution zum Zuge kommen. Um das bisher Skizzierte im evolutionstheoretischen Modell einzuordnen, müssen noch zwei Besonderheiten soziokultureller Evolution skizziert werden: Tradierung und Individualisierung. Beide Phänomene sind sowohl als evolutionäre Mechanismen wie auch unter methodologischen Gesichtspunkten zu betrachten. 4. Tradition und Individualität Die Darwinsche Evolutionstheorie hatte nur zwischen den Me­

11 S. Ausf. zum Replikationsmechanismus im nächsten Abschnitt. 12 Eine detailliertere Version dieses Schemas, die die folgenden Aus ­ führungen aufnimmt, findet sich im Schlussabschnitt.


K.Gilgenmann (2003) Transaktionskosten der Kommunikation chanismen der Variation und Selektion unterschieden. Die neuere biologische Evolutionstheorie hat im Rekurs auf Entdeckungen der Molekularbiologie auch den dabei immer schon vorausge­ setzten Mechanismus der Replikation näher bestimmt. Den Ein­ wänden, dass die Darwinschen Prinzipien auf die soziokulturel­ len Verhältnisse des Menschen gar nicht anwendbar seien, weil eben hier zuviel intentionales Handeln (v.a. repräsentiert in For­ men der Technik) im Spiel ist, wird hier mit der strikten Unter­ scheidung zwischen intentionalen Handlungskonstrukten und Institutionen als operativ geschlossenen Basiseinheiten der Kommunikation begegnet. Von soziokultureller Evolution im Darwinschen Sinne soll nur gesprochen werden mit Bezug auf den Wandel von Institutionen. Natürlich kann jeder Beitrag zur Kommunikation (und sogar jede ihrer Komponenten) bereits als Selektion und auch als Variation im Vergleich mit vergangenen Beiträgen betrachtet werden. Jedoch handelt es sich dabei nicht um die Art von Variation und Selektion, an der sich soziokulturelle Evolution festmachen läßt. Die im Hintergrund der Kommunikation wirkenden Institutionen werden durch die Variation und Selektion einzelner Beiträge gar nicht erreicht. Der springende Punkt in der Beschreibung des Replikationsmechanismus der soziokulturellen Evolution besteht darin, die „lamarckistische“ Besonderheit der Vererbung lebens­ geschichtlich erworbener Erfahrungen mit Bezug auf die operati­ ve Geschlossenheit der basalen Einheiten im evolutionären Wan­ del kompatibel mit den Darwinschen Prämissen der Zufallssteue­ rung zu halten. Als evoluierte Kondensate lebensgeschichtlicher Erfahrungen sind Institutionen gegenüber Handlungszugriffen geschlossen. Analog zur Funktion der Gene in der biologischen Evolutionstheorie werden Institutionen hier als operativ ge­ schlossene Basiseinheiten der soziokulturellen Evolution betrach­ tet13. Der Institutionenvorrat einer Population14 entspricht dabei dem Gen-Pool15. Formen der Tradierung von Instutionen replizieren die in den Erlebenskomponenten der Kommunikation gespeicherten Ver­ knüpfungsstrukturen (z.B. die Formen der Inklusion und Exklu­ sion von Akteuren in ihren Populationen) ohne sie zu verändern. Sie sichern die Kontinuität evolutionär bewährter Erfahrungen im Wechsel der Generationen. Institutionen sind generalisierte For­ men des Erlebens, in denen das Wissen über Selektionen gespe i­ chert ist, die in der Vergangenheit stattgefunden haben. Die Transaktionskostenersparnis entspringt aus dem abgespeicherten und tradierten Wissen. Sie ist auch in gewissem Umfang una b­ hängig davon, ob die Institutionen zu den aktuellen Umwelten der Kommunikation „passen“. Neue Transaktionskosten fallen erst an, wenn die Wir ksamkeit der Institutionen in Frage gestellt wird. Die Auffassung von Institutionen als Wissensspeicher impliziert nicht, dass dieses Wissen individuell bewußt gemacht werden muss. Für jeden einzelnen Teilnehmer an Kommunikati­ on bedeuten diese Speicher die Ersparnis von Informationsbe­ schaffungskosten. Das heißt wiederum nicht, daß sie nicht Ko­ sten verursachen. Es handelt sich, wie noch zu zeigen, um Kol­ lektivgüter.

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Teilnehmer statt. In entwickelteren Netzwerken der Kommunika­ tion ergibt sich jedoch eine Unterbrechung durch die Divergenz zwischen den institutionellen Errungenschaften der Kommunika­ tion und den natürlichen Kompetenzen der Teilnehmer, sich diese qua Sozialisation des Bewußtseins anzueignen. In der Konse­ quenz ergeben sich einerseits Variationen durch Kopierfehler und andererseits intentionale Anstrengungen der Populationen zur Bewältigung dieses Problems durch Erziehung und Bildungsor­ ganisation. Der Replikationsmechanismus ändert prinzipiell nichts an beste­ henden Institutionen – außer durch Übertragungsfehler (abwei­ chende Sozialisation etc.). Im Anschluss hieran kann dennoch ein Beitrag zur Institutionenneubildung rekonstruiert werden, weil sich bereits im Vorgang der Replikation die Differenz zwischen den Konstrukten vergangenen kollektiven Erlebens und dem individuellen Erleben einer neuen Generation von Menschen auftut. Man kann also sagen, daß in der Form der Replikation (ähnlich wie in der organischen Evolution) bereits ein primordia­ ler Variationsmechanismus angelegt ist: Zur Kontinuierung von Institutionen wird die Implementation in immer wieder nach­ wachsenden Generationen von Menschen benötigt – in dem „weichen“ Trägermaterial ihres Bewußtseins, ihrer kognitiven Modelle und Einste llungen. In diesem Transfer sind Kopierfehler (Mutationen) und Datenverluste (Vergessen) schon eingeschlos­ sen. In den Sozialwissenschaften geht es nicht um die Erklärung individueller und historisch einmaliger sondern soziale r und regelmäßig wiederkehrender Phänomene 16. Die Bezeichnungen der konkurrierenden Paradigmen innerhalb der Sozialwissen­ schaften – individualistisch vs. holistisch – suggerieren einen polaren Gegensatz, der so gar nicht existiert. Methodologischer Individualismus ist eine Methode zur Erklärung sozialer Phäno­ mene durch Beschreibung des Zusammenwirkens von Individuen unter Abstraktion von deren Individualität. Was im modernen Selbstverständnis die Individualität von Menschen ausmacht, wird gerade nicht zur Erklärung herangezogen. Die Beschreibung des menschlichen Verhaltensspektrums wird reduziert auf das Modell des (beschränkt) rationalen Nutzenmaximierens mit der Folge, dass alle empirisch gehaltvollen Erklärungen in die situa­ tiven Randbedingungen des Verhaltens gelegt werden. Auch für alle konkurrierenden Ansätze gilt, daß sie von der menschlichen Individualität im Vollsinne abstrahieren, nur mit dem Unter­ schied, dass sie sich nicht auf ein so reduziertes Verhaltensspe k­ trum (wie das des einsamen Nutzenmaximierers) festlegen. Das hat den Vorteil, dass auch die Verarbeitung von Erfahrungen mit bestimmten Umweltbedingungen – also Tradierung durch Sozia­ lisation – in die Beschreibung des Verhaltensspektrums aufge­ nommen werden kann.

Der Mechanismus der Replikation durch Tradierung muss den Kommunikationsfluss nicht unterbrechen. Replikation findet in aller Kommunikation schon mitlaufend als Sozialisation der

Zur Analyse der historischen Form von Individualisierungspr o­ zessen ist es notwendig, zwischen den evolutionären Mechanis­ men der Replikation und der Variation zu unterscheiden, die in der Beschreibung der Bildungsprozesse von Individuen eng gekoppelt erscheinen. Im Blick auf Replikationsvorgänge können Prozesse der Sozialisation als Kopiervorgänge von Institutionen im Trägermaterial lebendiger Individuen aufgefasst werden. Diese Tradierungsperspektive ist zu erweitern um den ganzen

13 Die Interpretation von Institutionen als Elementareinheiten sozioku l­ tureller Evolution ist ausführlicher entwickelt in: Gilgen­ mann/Glombowski 2003. Die Unterscheidung und Bezeichnung evolu­ tionärer Mechanismen ist hier etwas anders angesetzt. 14 Zum Populationsbegriff in der neuen Institutionenökonomie siehe Hannan/Freeman 1995, in der evolutionstheoretischen Methodologie siehe Kappelhoff 2002: 68. 15 Wie in der organischen Evolution nicht einzelne Gene sondern Wechselwirkungen im Genom phänotypische Formen des Lebens fes t­ legen, so gilt auch hier, dass Formen der Kommunikation nicht durch einzelne Institutionen sondern durch deren Relationierung in komple­ xen Institutionengebilden festgelegt werden. North (1992: 164) spricht in dieser Hinsicht von einer Institutionen-Matrix.

16 Der Rekurs auf das Verhältnis von Tradierung und Individualisierung in der soziokulturellen Evolution verbindet sich mit einer Abgrenzung gegenüber Postulaten des methodologischen Individualismus. Zur An­ wendung evolutionstheoretischer Methoden in den Sozialwissenschaf­ ten siehe Campbell 1970, und insbes ondere zur Abgrenzung vom me­ thodologischen Individualismus Kappelhoff 2002. – Mit dem Bezug auf Kommunikation als übergreifender Form sozialer Phänomene (als Bezeichnung für die Grundoperation sozialer Prozesse) ist für das hier skizzierte evolutionstheoretische Modell ein methodologischer Ansatz gewählt, in dem nicht Individuen sondern Institutionen als basale Ein­ heiten der Beschreibung fungieren. Das Vorkommen menschlicher In­ dividuen wird damit selbstverständlich nicht bestritten, Individualisie­ rung aber als institutionenabhängiges Phänomen bezeichnet.


K.Gilgenmann (2003) Transaktionskosten der Kommunikation Komplex des kollektiven Gedächtnisses mit technisch erweiter­ ten Mitteln einschließlich der im Gebrauch der Technik angele g­ ten Fehleranfälligkeit. Die primäre Variation kann in gattungsge­ schichtlicher Perspektive als Individuation bezeichnet werden. Sie ist zu erweitern um all jene Individualisierungsvorgänge, die aus der Differenz zwischen phylogenetisch Tradiertem und onto­ genetischem Rezeptionspotential erwachsen. Variation kann hier unter dem Aspekt der durch Individualisierung gesteigerten Voraussetzungen für die Teilname an funktional differenzierter Kommunikation oder auch unter dem Aspekt der abweichenden Sozialisation – als Ergebnis der Überforderung durch normali­ sierte Sozialisationserwartungen – betrachtet werden. 17 Als evo­ lutionärer Mechanismus wirkt Variation immer zufällig – gleic h­ gültig, ob dabei (ex ante) Intentionen oder (ex post) Funktionen in den Blick kommen. In der Organisation von Bildungsprozessen wird das Zusamme n­ spiel der kausal unabhängigen Mechanismen der Replikation und Variation wirksam. Erziehung ist der Intention nach eine konser­ vative, auf Tradierung des Bewährten ausgerichtete Form der Kommunikation. In den Organisationen des Bildungswesens handelt es sich jedoch immer schon um eine Form der Technisie­ rung der Kommunikation, die Variation auslöst. Individualisie­ rung in Bildungsprozessen ist die rekursiv erlebensbezogene Seite der Variation und die Entlastungswirkung der Technisie­ rung ihre prokursiv handlungsbezogene Se ite. In der Beschreibung von Individualisierungsprozessen geht es um eine historisch steigerbare Form, die in der Spannung zwischen dem historischen Institutionenvorrat einer Population oder Ge­ sellschaft einerseits und der immer beschränkten Verarbeitungs­ kapazität von Individuen einer nachwachsenden Generation andererseits steht. Dieses Spannungsverhältnis ist nicht nur un­ vermeidlich sondern auch funktional i.S. der Teilnahmevoraus­ setzungen am kommunikativen Netzwerk einer funktional diffe­ renzierten Gesellschaft. In evolutionstheoretischer Perspektive handelt es sich hier zunächst um Variationen des Bewußtseins und Verhaltens von Individuen als lebendigen Trägern des insti­ tutionellen Wissens auf der Mikroebene der Kommunikation und damit nicht schon um die Ebene instutionellen Wandels, die im Folgenden betrachtet werden soll. 5. Hierarchie und Wettbewerb Der Institutionenbegr iff hat eine lange Tradition in den Sozia l­ wissenschaften (siehe Menger 1883: 140f.; Durkheim (1895) 1961: 100.) Der Glanz der Neuentdeckung von Institutionen in der NIÖ ist zum Teil durch ihre Verleugnung in den Modellen der dominanten ökonomischen Theorie tradition zu erklären. Das Neue ist jedoch darin zu erkennen, dass Institutionen nicht mehr nur in der Funktion des Explanans sondern auch des Explana n­ dum vorkommen (vgl. Voigt 2002: 181) 18. Erst damit eröffnet sich die Möglichkeit einer evolutionstheoretischen Erklärung institutionellen Wandels. Dass das Fehlen passender Institutionen sich in steigenden Transaktionskosten bemerkbar macht, ist bekanntlich zuerst am Fall von Wirtschaftsunternehmen be­ schrieben worden (vgl. Coase 1937). Wenn die Institutionen des Marktes perfekt funktionieren würden, wie es die neoklasssische Theorie unterstellt, dann wäre gar nicht zu erklären, warum es überhaupt Firmen, kollektive Verknüpfungen von Akteuren –

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Kontrolle ist teuer – das gilt eben auch (und anders als im main ­ stream der normativen Soziologie unterstellt) für Kontrolle durch So­ zialisation: einerseits aufgrund der Auflösung institutioneller Voraus­ setzungen in der Familienwelt und andererseits aufgrund der steigen­ den Kosten des organisierten Bildungssystems. 18 Genetische Erklärung von Institutionen ist auch in der soziologischen Theorietradition kaum versucht worden, obwohl die Soziologie (teilwe ise unter anderen Bezeichnungen wie Struktur oder System) stets an ihrer Relevanz festgehalten hat. Eine Ausnahme stellen individualistische Wahlhandlungsansätze dar, die jedoch nicht zureichend zwischen intentional gesetzten Normen und Institutionen unterscheiden.

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und nicht nur den Austausch individueller Akteure – gibt. Es muss evolutionäre Vorteile für die kommunikative Verknüpfung von Akteuren in der Form von Hierarchien gegenüber ihrer Ver­ knüpfung in den Formen des Austauschs geben. Diese Vorteile ergeben sich negativ aus den Unsicherheiten des Austauschs, der Unvollständigkeit von Verträgen u.a. Imperfektionen19. In evolu­ tionstheoretischer Perspektive ist der Vorteil hierarchischer Ver­ knüpfungen der Kommunikation nicht als universelle Gegebe n­ heit zu betrachten sondern abhängig von den jeweiligen Umwelt­ bezügen20. Daher lag es nahe, die am Fall der Firma entwickelte Erklärung umzukehren und nach den Transaktionskosten der hierarchischen Verknüpfung von Akteuren zu fragen. Der Prinzi­ pal-Agenten-Ansatz hat gezeigt, dass hierbei Informations- und Überwachungskosten anfallen, die ihren evolutionären Vorteil beschränken oder in Vorteile für marktförmige Lösungen verke h­ ren können. Hierarchie ist eine bewährte Lösungsform für Probleme der Kommunikation 21. Dass hierarchische Lösungen nicht kostenlos zu haben sind, weil institutionelle Voraussetzungen dafür fehlen oder unsicher sind, ist eine Einsicht, die in dieser Form wohl erst in der modernen Gesellschaft gemacht werden konnte. Diese historische Einschränkung gilt auch für die hierarchischen Lö­ sungsformen des sogenannten Kollektivgutproblems (Olson 1965) durch den Staat oder andere Kollektivakteure, die damit beauftragt werden, Güter bereit zu stellen, für deren Erstellung in den Institutionen des Marktes wegen der gemeinschaftlichen Nutzung keine zureichenden Anreize gegeben sind. Ein solches Gut ist z.B. auch die Ordnung des Wettbewerbs selbst, die durch staatliche Sanktionsmacht (Recht, Gesetze, Polizei etc.) garantiert werden muss. Die Imperfektion des kommunikativen Netzwerks zeigt sich darin, dass Institutionen nicht einfach als latente Hin­ tergrundvoraussetzungen funktionieren sondern der Absicherung durch einen externen Sanktionsmechanismus bedürfen. Auch hier handelt es sich um eine Form des technischen Eingriffs in gege­ bene Strukturen der Kommunikation, die zunächst einmal nur Variation erzeugt. Es handelt sich gewissermaßen um ein „outsourcing“ der Hierar­ chie, wegen der für einzelne Akteure untragbaren Kontrollkosten. Sie sind nicht der Höhe nach untragbar, sondern wegen des Trit t­ brettfahrerproblems. Aus der Suche nach Lösungen für dieses Problem ist die Emergenz einer Makroebene abzuleiten, die viele Akteure zu einer Population integriert. Die Einrichtung von privaten und öffentlichen Sanktionsmonopolen muss als eine Form der Technisierung der Kommunikation betrachtet werden, die zur Folge hat, dass die Transaktionskosten steigen. Sofern ein Arrangement gefunden werden kann, in dem konkurrierende 19 Diese Imperfektion ist auf andere Weise in der soziologischen Theo ­ rietradition angesprochen, wenn von außervertraglichen Voraussetzun­ gen von Verträgen die Rede ist. Für die Institutionenökonomie argu­ mentiert Voigt, dass wechselseitige Selbstverpflichtungen, wie sie für Verträge typisch sind, nicht schon Institutionen sind oder begründen können (vgl. Voigt 2002: 38 - im Gegensatz zu Williamson 1990: 17). Der Bezug auf Regelhaftigkeit als Kern von Institutionen (vgl. Burns/Dietz 1995) bietet dafür allerdings keine zureichende Erklärung. Im Anschluss an eine Definition von Ostrom (1986: 5) hebt Voigt (2002: 34) hervor, daß institutionelle Regeln gemeinhin bekannt sein müssten. Das ist ein Zusatz zum Regelbegriff, der nicht zu seiner Definition gehört. Regeln können durchaus willkürlich und von Einzelnen aufgestellt, oder durch Beobachtung festgestellt werden, ohne „gemeinhin bekannt“ oder als bekannt unterstellt zu sein. Aber erst durch diesen Zusatz wird plausibel, was für die Genese von Instititutionen unabdingbar ist: sie müssen in und durch Öffentlichkeit akkreditiert sein. 20 Als universelle Voraussetzung sowohl hierarchischer wie wettbe ­ werblicher Formen der Kommunikation muß allerdings die Materialität der Kommunikation in Betracht gezogen werden, die die Bildung von Eigentumsrechten an Kommunikationsmitteln ermöglicht hat. 21 Das Spektrum reicht bekanntlich von modernen Organisationsformen zurück bis zu den Hackordnungen von Primatenhorden. Es dürfte kaum möglich sein, eine scharfe Grenze zwischen genetisch veranker­ ten und institutionell tradierten Hierarchien zu ziehen.


K.Gilgenmann (2003) Transaktionskosten der Kommunikation Formen der Technisierung zur Wahl stehen, kann sich die ko­ stengünstigere Variante im Wettbewerb durchsetzen. Dies kann – sofern nicht Pfadabhängigkeiten die Wahl beschränken22 – zu passenderen Institutionengefügen führen (vgl. Voigt 2002: 209f.). Das Problem, dass hierarchische Lösungen nicht kostenlos zu haben sind, wiederholt sich auf dieser Ebene. In entsprechender Perspektivenumkehr – und in der Erwartung komplementärer Problemlösungen mit entsprechenden Kostenvorteilen – wird deshalb auch von einem Wettbewerb der Regime oder Institutio­ nen gesprochen (vgl. Voigt 2002: 197). Der hier wirksame Sele k­ tionsmechanismus ist von Hirschman (1970) treffend mit der Option der Abwanderung bezeichnet worden. Wenn nur einem Teil der Akteure einer von kostenungünstigen Problemlösungen betroffenen Population die Alternative zwischen Opposition und Abwanderung zur Verfügung steht, dann entsteht ein entspre­ chender Wettbewerbsdruck. In evolutionstheoretischer Perspekti­ ve wäre es allerdings eine erhebliche Verengung, wenn nur der Wettbewerb hierarchischer Lösungsansätze – insbesondere der heute vielbeobachtete Wettbewerb unter Nationalstaaten – als Institutionenwettbewerb bezeichnet würde. Hirschmans Erklärung für institutionellen Wandel durch die Option der Abwanderung kann auch als Sonderfall eines allge­ meineren Mechanismus der anonymisierten (und geringe Kosten verursachenden) Entscheidung interpretiert werden, der umfas­ sender und funktional ausdifferenziert in den massenmedienge­ stützten Formen der Öffentlichkeit stattfindet. Die Wahrnehmung der Publikumsrolle entspricht hier der Abwanderungsoption, die kostengünstiger einzunehmen ist als eine Funktionsträgerrolle (bzw. Opposition). In diesem Sinne kann von Institutionenwett­ bewerb als einem Wettbewerb zweiter Ordung gesprochen wer­ den, der Medien und Formen der Öffentlichkeit voraussetzt. Erst damit erreicht die sozialwissenschaftliche Beschreibung die Ebene, auf der der Wandel von Institutionen nicht mehr nur als Hintergrund vorausgesetzt sondern an entsprechenden Phänome­ nen sichtbar gemacht und analysiert werden kann. Die Wirkung des Restabilisationsmechanismus (der Institutio­ nenbildung) beruht auf einer Unterbrechung reziproker Interakti­ vität der Kommunikation, die in der modernen Gesellschaft v.a. in den Medien und Formen der Öffentlichkeit erzeugt wird: 1. Was öffentlich gesagt wird, kann nicht gut bestritten werden. Der Absender der Mitteilung hat sich festgelegt. Das wird nicht nur von Vielen wahrgenommen, vielmehr ist es wichtig, dass sich jeder einzelne Empfänger der Mitteilung als einer von Vielen erlebt. Ein Teil der restabilisierenden Wirkung beruht auf einem sozialen Opportunismus, der gattungsge­ schichtlich verankert ist 23. 2. Was öffentlich gesagt wird, legt die Empfänger der Mitteilung wenig fest. Egos Handlungsfreiheit bleibt von dieser Konste l­ 22 Die in Analogie zur Pfadabhängigkeit technischen Wandels konstru ­ ierte Pfadabhängigkeit institutionellen Wandels erklärt sich aus dem Umstand, daß es sich bei den technischen Maßnahmen zur Absiche­ rung von Institutionen stets um hochspezifische Investitionen handelt, die stets auch implizites (nichttechnisiertes) Wissen transportieren und deshalb nur beschränkt substitutionsfähig sind. 23 Vgl. Noelle -Neumann (1980) in der Begründung ihrer Theorie der „Schweigespirale“. Die NIÖ lehrt uns, dass das Problem des Opportu­ nismus in allen Formen der sozialen Kooperation ernst genommen werden muss. Sie sagt aber nicht genau, worin opportunistisches Verhalten besteht. Als typisch gilt die eigeninteressierte Wahrnehmung materieller Interessen, die dann lediglich durch Grenzen der Informati­ on beschränkt ist. Dieses Verhaltensmuster wird idealtypisch einem Verhaltensmuster, das sich an intrinsisch verankerten Normen orien­ tiert, gegenübergestellt: Hier stehe ich und kann nicht anders. Diese Typisierung verkennt jedoch die vielfältigen Phänomene des Normen­ konformismus, die auch als opportunistisches Verhalten gedeutet wer­ den können, ohne auf einen materiellen Eigenvorteil zurückgeführt werden zu können. Vgl. Voigt 2002: 229 im Rekurs auf die ältere sozi­ alwissenschaftliche Institutionentheorie und die generalisierte Bereit­ schaft, sich das Wohlwollen Anderer zu erhalten.

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lation weitgehend unberührt. Weil die Transaktionskosten ge­ ring sind, kann das Veröffentlichte zur stabilen Vorausset­ zung individueller Handlungswahl werden. Die asymmetri­ sche Struktur der Massenkommunikation ermöglicht es of­ fensichtlich in der Publikumsrolle, Ablehnung oder Zustim­ mung zu sehr geringen Kosten zu äußern. Ebendies macht diese Medien zu einem zuverlä ssigeren Barometer für sich verändernde Einstellungen, Wertungen etc. als die durch vie­ lerlei Rücksichten belastete reziprok-symmetrische Interakti­ on unter Anwesenden24. Es geht hier um eine Form kollektiver Wahlhandlungen, in der die Handlungskomponente extrem reduziert – also für die Teil­ nehmer mit geringen Kosten verbunden ist. Die transaktionsko­ stensenkende Funktion der Massenmedien zeigt sich besonders in der öffentlichen Darstellung von Defekten der Kommunikation (Skandale, investigativer Journalismus). Diese Funktion ergibt sich aus dem spieltheoretisch nachgewiesenen Effekt, dass De­ fektion im Prinzip immer nur dann lohnt, wenn die Wahrschein­ lichkeit gering ist, dass der Betrüger mit dem Betrogenen wie­ derholt in Interaktion tritt. Daher ist die Betrugswahrscheinlic h­ keit geringer in kleinen Gemeinschaften und höher in erweiterten und tendenziell anonymisierten Sozialstrukturen. Um diesen Effekt zu kompensieren, gibt es in größeren Gemeinschaften nicht nur Recht und Polizei sondern eben auch das Mittel der öffentlichen Markierung des Betrügers. Wie für alle evolutionären Mechanismen gilt auch für die Be­ schreibung des Restabilisationsmechanismus, dass er selbst als Produkt der soziokulturellen Evolution aufzufassen ist und dass seine Anfänge weit zurück liegen. Prototypische Formen sind in allen Formen der öffentlichen Mitteilung zu sehen, in denen reziproke Interaktion unterbunden ist. Das gilt zB. für alle For­ men der religiösen Verkündigung. Traditionelle und tribale Ge­ meinschaften haben die Differenz zwischen den für intentionales Handeln erreichbaren Formen der Kommunikation und ihren Institutionen durch religiöse Erhöhung gesichert. Die moderne Form der Öffentlichkeit kann als eine säkularisierte Form dieser Institutionenbildung betrachtet werden. Auf der Senderseite genügt nicht mehr die autoritative Mitteilung (das Orakel) son­ dern Begründung wird Pflicht. Allerdings wäre es wohl eine Illusion anzunehmen, dass es darauf ankomme, dass diese Grün­ de vom oder mit dem Publikum diskutiert werden25. Die genetische Erklärung von Institutionen im hier skizzierten Kreislaufmodell bezieht sich auf die Entstehung einer Konstella­ tion auf der Makroebene der Kommunikation, in der eine deutli­ che Trennung zwischen technisch verselbständigten Handlungs­ potentialen auf der einen Seite und symbolisch verselbständigten Erlebenspotentialen auf der anderen Seite eingetreten ist. Diese Konstellation ist durch die Asymmetrie zwischen einem als Kollektivakteur identifizierbaren Sender und vielen anonymen Empfängern von Mitteilungen (die nur das Wissen vereint, die­ selbe Mitteilung zu empfangen) gekennzeichnet. In dieser Kon­ stellation entscheidet sich, welche der – in vorgängigen Variati­ ons- und Selektionsprozessen entstandenen – Erwartungen an Kommunikation in den geteilten Wissensvorrat einer Population von Akteuren übernommen (oder nicht übernommen) werden26.

24 Vgl. North 1992: 101 am Beispiel der Sklaverei – allerdings ohne Reflexion auf Öffentlichkeit. Gerade weil die Änderungskosten niedrig sind, kann funktionale Evolution hier einsetzen. Vgl. dagegen Esser 2000: 379. 25 Ansätze der Kritik an fehlender normativer Rückbindung von Öffent ­ lichkeit an Interaktion (vgl. Dewey 1996; Habermas 1990) müssen da­ her als Missverständnis der evolutionären Funktion von Öffentlichkeit bezeichnet werden. 26 In vielen Beiträgen der Institutionenökonomie werden Medien und Formen der Öffentlichkeit aus dem Prozess der Institutionenbildung ausgekla mmert. Soweit dies überhaupt explizit gemacht wird, wird es damit begründet, dass Informationen noch keine Regelwirkung zu­ kommt (vgl. Voigt/Kiwit 1995). Diese Aussage greift jedoch in einem entscheidenden Punkt zu kurz: Zeitungen u.a. moderne Massenmedien


K.Gilgenmann (2003) Transaktionskosten der Kommunikation Institutioneller Wandel kann demnach als Folge des Wettbewerbs konkurrierender Kollektivakteure in Medien und Formen öffent­ licher Kommunikation beschrieben werden. Die im Wettbewerb der Kollektivakteure gegebenen Unsicherheiten zweiter Ordnung werden durch Ausdifferenzierung einer zweiten Ebene der Beob­ achtung verarbeitet. Funktionsbezogene und andere Untersche i­ dungen in Bezug auf die innergesellschaftliche Umwelt der je­ weiligen Population werden zu Prämissen der Kommunikation; symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sorgen für (evolutionär unwahrscheinliche, translokale und funktionsspezif i­ sche) Verknüpfungen. Die auf die innergesellschaftliche Umwelt der Akteure bezogenen Unterscheidungen gewinnen ihre für die soziokulturelle Evolution benötigte Stabilität erst dadurch, dass sie die Medien und Formen der Öffentlichkeit 27 durchlaufen – wie ein Säurebad, das Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation trennt. 6. Ein Kreislaufmodell Zur Erklärung der Transaktionskosten der Kommunikation wur­ den in diesem Beitrag die Formen der Hierarchie und des Wett­ bewerbs in einen Kreislauf eingeordnet, in dem sie sich wechsel­ seitig ablösen: die kostensteigernde Substitution und Absiche­ rung von Institutionen durch technische Eingriffe erster und zweiter Ordnung, und die kostensenkende Regeneration von Institutionen durch Wettbewerb erster und zweiter Ordnung. Die grundlegenden Mechanismen der Darwinschen Evolutionsthe o­ rie, wurden im Blick auf Besonderheiten der soziokulturellen Evolution erweitert. Daraus ergab sich ein Kreislaufmodell mit vier institutionellen Grundkonstellationen, in denen sich die Differenz von Variation und Sele ktion reproduziert. Systeme

Restabili­ sation Umwelten fi Institutio­ Gesellnen schaft wettbewerb

Makroebene

Populationen

Makroebene

› Selektion

Akteurswettbewerb

Kreislauf modell

Tradition

Replikation fl

Mikroebene

Hierarchien

Kommunikation

Individuen

Mikro­ ebene

Handeln

‹ Variation

Erleben

Der Wandel von Institutionen wurde als eine Folge von evolutio­ nären Unterbrechungen und institutionellen Rekombinationen der Kommunikation gedeutet. Dass es sich dabei um einen kreisför­ migen Verlauf handelt, soll hier noch einmal in sieben Schritten umrissen werden28: 1. Jede Form der Technisierung der Kommunikation unterbricht

enthalten ja nicht nur einen Haufen Informationen die sich für Rezi­ pienten als neu, nützlich (oder nicht) erweisen können. Sie transportie­ ren immer auch schon Unterscheidungen zwischen verschiedenen Ar­ ten von Informationen, Nachrichtengattungen, Nachricht/Kommentar, Politik/Wirtschaft/Feuilleton, als Regeln, die sich dem Rezipienten als Suchhilfe anbieten und seine Rezeption im Hintergrund beeinflussen. Dasselbe läßt sich auch schon für den speziellen Fall von Preisen sa­ gen, deren Informationsgehalt ohne dahinterstehende qualitative Un­ terscheidungen gar nicht rezipierbar wäre. 27 Hier ist der Plural zu beachten: mit Formen der Öffentlichkeit ist keineswegs nur die Form der öffentlichen Meinungsbildung i.S. der Politik gemeint, sondern verschiedenartige Öffentlichkeiten in ver­ schiedenen Funktionsbereichen der Gesellschaft. 28 Ich setze in dieser zusammenfassenden Darstellung an anderer Stelle im Kreislauf ein als in der vorhergehenden Darstellung.

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den Kommunikationsfluss auf der Mikroebene, indem sie Hand­ lungs- und Erlebenskomponenten gegeneinander verselbständigt. Raum-zeitliche Beschränkungen der Kommunikation werden damit trans zendiert, gegebene institutionelle Verknüpfungen der Kommunikation der Variation ausgesetzt. 2. Hierarchiebildung kann als evolutionär bewährte Lösung für Probleme der Kooperation bezeichnet werden, die auch in mo­ dernen Formen von Organisationen mit technisch erweiterten Mitteln (und entsprechender Verselbständigung von Handlungs­ und Erlebenskomponenten) eingesetzt wird. Das PrinzipalAgenten-Modell formaler Organisationen ist mit dem Problem behaftet, dass die Kontrollkosten die Gewinne übersteigen kön­ nen. 3. Wettbewerb wird als Lösung für die Kostenprobleme hierar­ chischer Modelle beschrieben. Unter der Voraussetzung bereits hierarchisch organisierter Akteure können auch die Formen des Wettbewerbs als Formen der Unterbrechung der Kommunikation analysiert werden (Reduktion auf wechselseitiges Beobachten). Das Adam-Smith-Modell arbeitsteiliger Spezialisierung im Aus­ tausch ist mit dem Problem behaftet, dass es ordnungstechnische Eingriffe in das Netzwerk der Kommunikation voraussetzt, die nicht kostenlos zu haben sind. 4. Die Auslagerung der Ordnungs- und Gewährleistungsfunktio­ nen in der Form von Staat und Politik i.S. einer Hierarchiebil­ dung zweiter Ordnung wird als Lösung der Kollektivgutprobleme von Populationen konkurrierender Akteure betrachtet. Das Hob­ besianische Modell ist mit dem Problem behaftet, dass die Ko­ sten der Auslagerung (Steuerabgaben und staatliche Willkür) die Ordnungsgewinne übersteigen können. 5. Der Wettbewerb politischer Regime i.S. eines Wettbewerbs zweiter Ordnung wird als Lösung für die Probleme politischer Machtmonopole beschrieben. Das Hirschman-Modell wird hie r­ für als typisch, aber zu eng für die Beschreibung institutionellen Wandels bezeichnet. Als erweiterte Mechanismen der Restabili­ sierung durch Wettbewerb – im Sinne der Auflösung und Neu­ bildung von Institutionen – werden Medien und Formen der Öffentlichkeit identifiziert. Die Regeneration und Stabilisierung des Institutionenvorrats zeigt sich in der Ausdifferenzierung innergesellschaftlicher Umweltbezüge, ist allerdings mit de m Problem ihrer Kontinuierung in der Zeitdimension behaftet. 6. Umwelt differenzierung als Ergebnis des Institutionenwettbe­ werbs kann als ein institutioneller Variantenraum beschrieben werden, der durch Mechanismen der Tradition selektiv vererbt wird. Die Tradierung der Institutionenvorräte in den Formen der Sozialisation und ihrer technischen Erweiterung in Bildungsor­ ganisationen wird als Lösung für das Kontinuitätsproblem und als Replikationsmechanismus der soziokulturellen Evolution beschrieben. Der Replikationsmechanismus der intergenerativen Tradierung ist mit dem Problem der wachsenden Komplexität der Institutionenvorräte und dem beschränkten Rezeptionspotential in der ontogenetischen Entwic klung von menschlichen Individuen behaftet. 7. Das Ergebnis der Tradierung kann wiederum als Variante n­ produktion bezeichnet werden, die sich in Formen abweichender Sozialisation und gesteigerter Individualisierung zeigt. Die Muta­ tion institutioneller Verknüpfungen der Kommunikation in der Folge abweichender Sozialisationsprozesse und gesteigerter Formen der Individualisierung kann als Moment der spontanen Regeneration des institutionellen Netzwerks der Gesellschaft gedeutet werden, das sich auf der Mikroebene der Kommunikati­ on mit den vielfältigen Variationen verbindet, die durch technisch intendierte Eingriffe ausgelöst werden.


K.Gilgenmann (2003) Transaktionskosten der Kommunikation

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