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Unwahrscheinlich große Sozialsysteme1 Die aktuelle Diskussion über Probleme der Globalisierung hat die Aufmerksam­ keit auf sehr große Sozialsysteme gelenkt.2 Vor dem Hintergrund dieser Diskussi­ on möchte ich die Aufmerksamkeit auf eine ältere Fragestellung der Sozialwis­ senschaften richten, nämlich die Frage, ob Probleme sozialer Ordnung etwas mit den Größenverhältnissen menschlicher Sozialsysteme zu tun haben. Schon wenn man die Formen des Soziallebens von Menschen mit denen anderer Lebewesen vergleicht, fallen ja Größenunterschiede auf. Insbesondere fällt die andauernde Größenzunahme menschlicher Sozialsysteme auf. Wenn man nach Erklärungen dafür sucht, liegt es nahe, es mit evolutionstheoretischen Mitteln zu versuchen.

Folie 1: Gliederung 1. Warum Menschen in sehr großen sozialen Einheiten leben 1.1 Biologische Erklärungen 1.2 Sozialwissenschaftliche Erklärungen 1.3 Evolutionstheoretische Erklärungen 2. Ein evolutionstheoretisches Kreislaufmodell 2.1 Ebenen und Einheiten 2.2 Funktionen und Mechanismen 3. Die Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme als riskante Strategie 3.1 Primordiale Mechanismen 3.2 Identifikation und Differenzierung 3.3 Tradierung als Kompatibilitätstest Im ersten Teil stelle ich Beiträge zur Erklärung der Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme aus verschiedenen Theorietraditionen vor und beginne mit dem der Biologie. Im Bezug auf die sozialwissenschaftliche Tradition werde ich grob un­ terscheiden zwischen Beiträgen, die sich vorrangig als Kulturtheorien, als Tech­ niktheorien oder als Evolutionstheorien verstehen. Letztere erscheinen mir geeig­ net, die Erklärungsleistung kultur- und techniktheoretischer Ansätze zu verbinden. Im zweiten Teil stelle ich (in der hier gebotenen Kürze) ein evolutionstheoreti­ sches Erklärungsmodell vor. Dabei unterscheide ich zwischen genotypischen und phänotypischen Einheiten der soziokulturellen Evolution und zwischen vier evolutionären Mechanismen, die auf sie einwirken. Die dahinterstehende Annahme ist, dass die Ausdehnung der menschlichen Sozialsysteme einem allgemeinen Muster der Evolution der Lebewesen folgt, das sich in der soziokulturellen Evolution (in kulturspezifischen Medien und Formen) reproduziert. 1 Skizze eines Vortrags, der am 11.12. 03 im Colloquium zur soziologischen Theorie und Theo­ riegeschichte der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld gehalten wurde. 2 Da ich diesen Vortrag in Bielefeld halte, muss ich damit rechnen, dass ein Beitrag zum Begriff der Weltgesellschaft erwartet wird. Diese Erwartung muss ich zunächst enttäuschen. Als un­ wahrscheinlich groß bezeichne ich Sozialsysteme schon weit unterhalb globaler Phänomene. Ob daraus auch Folgerungen für den Begriff der Weltgesellschaft gezogen werden können, möchte ich der Diskussion überlassen.


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Im dritten und abschließenden Teil versuche ich zu begründen, warum die Aus­ dehnung menschlicher Sozialsysteme eine riskante Strategie ist. Die dahingehend zugespitzte These ist, dass in der (globalen) Ausdehnung menschlicher Sozialsy­ steme eine Tendenz zur Bevorzugung universell verwendbarer Institutionen ange­ legt ist, die sich aber nur soweit evolutionär durchsetzen kann, wie eine Rückkop­ pelung an die (gattungsgeschichtlich verankerte) Präferenz für die partikularisti­ schen Institutionen kleiner sozialer Einheiten gelingt.

1. Warum Menschen in großen sozialen Einheiten leben Die sozialwissenschaftliche Theorietradition hat ihren Ausgangspunkt in der Be­ schreibung der modernen Gesellschaft, also in Phänomenen relativ großer sozialer Einheiten genommen. Um Probleme der modernen Gesellschaft aufzuklären, hat sie sich stets auf kleinere soziale Einheiten bezogen. In der funktionalistischen Theorietradition waren dies entweder Teilsysteme der modernen Gesellschaft – etwa die sog. Primärgruppen3 - oder ältere und einfachere Gesellschaftsformen4, die auf Strukturen und Mechanismen abgesucht wurden, die sozialen Zusammen­ halt herstellen bzw. die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung erklären können.5 Die Größe und Komplexität moderner Sozialsysteme war in der sozialwissen­ schaftlichen Theorietradition allerdings immer schon vorausgesetzt und wurde nicht selbst zum Gegenstand der Erklärung. Im Folgenden soll diese Fragestellung verändert werden: Gefragt wird nicht nach den grundlegenden Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung sondern nach spezifischen Bedingungen, die die Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme erklären können.6

1.1. Biologische Erklärungsansätze In paläoanthropologischen Beschreibungen der soziokulturellen Evolution des Menschen werden zwei Phasen unterschieden: 7 1. die sehr lange Periode von den Australopithecinen bis zum Auftreten des homo sapiens, für die angenommen wird, dass Kultur (dh. v.a. Werkzeuggebrauch, Sprache und soziale Organisation) und biologische Ausstattung in einem koe­ volutionären Prozess verflochten waren. 3 Vgl. die Entwicklung der Parssonsschen pattern variables mit Bezug auf Cooleys Konzept der Primärgruppe. 4 S. den methodologischen Bezug auf Stammesgesellschaften bei Durkheim, der dann zur Ausdifferenzierung der Ethnologie als eigener Disziplin führte. 5 Die methodologische Alternative zu diesem Vorgehen ist der Bezug auf menschliche Individuen als kleinste soziale Einheiten (mit der Analyse ihrer Handlungsmotive und Bewußtseinsstruktu­ ren als kausalem Erklärungsansatz). 6 Wenn die Größe gegenwärtiger Gesellschaftsformen nicht mehr zum Ausgangspunkt der Be­ trachtung sondern selbst zum Gegenstand der Erklärung gemacht wird, ist die Ordnungsfrage natürlich nicht vom Tisch - sie wird nur von einer anderen Seite aufgerollt. 7 Die hier im Anschluß an Hallpike referierte Zeitangabe ist die kürzeste Angabe diesbezüglich. Nach anderen paläontologische Schätzungen hat sich die kognitive und motorische Ausstattung menschlicher Lebewesen in den letzten 70.000 Jahren nicht geändert (so Gould 1998, im letzten Kap.). Die Archäologen Richard Klein und Blake Edgar vertreten die These, dass die letzte Ver­ änderung in der genetischen Grundausstattung des Menschen vor etwa 50.000 Jahren stattgefun­ den habe und mit einer Steigerung seiner kognitiven Fähigkeiten die soziokulturelle Sonderevo­ lution des Menschen ermöglicht habe. (Klein und Edgar, 2003)


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2. die sehr viel kürzere Periode von den Anfängen des Neolithikums (um 16.000 v.u.Z.) bis heute, die durch die Domestikation von Tieren durch Jäger und Sammler, Herausbildung von Landwirtschaft, Entstehung von schriftlichen Aufzeichnungen, staatliche Organisation der Gemeinschaften, spezialisiertesWissen etc. gekennzeichnet ist. Ein Unterschied der zweiten Phase gegenüber der Ersten ist v.a. darin zu sehen, dass keine Koevolution von Kultur und genetischer Ausstattung des Menschen mehr stattgefunden hat. Die mit dem Beginn der zweiten Phase vorliegende Aus­ stattung des Menschen war an das Leben in relativ kleinen sozialen Einheiten an­ gepasst. Der menschliche Organismus (und insbesondere sein neuronales System) hat sich seitdem nicht mehr verändert. Die Frage ist also: wie ist es zu erklären, dass die soziokulturellen Einheiten des Menschen – trotz unveränderter biologi­ scher Ausstattung – sich so stark veränderten (und insbesondere immer größer wurden) ? Biologische Antworten laufen auf die relativ unspezifische Aussage hinaus, dass die menschliche Natur flexibel genug ist, eine solche Veränderung ihrer sozialen Umweltbedingen zu ermöglichen. Wir müssen nach sozialwissenschaftlichen Antworten suchen, die diese Aussage spezifizieren können.

1.2 Sozialwissenschaftliche Erklärungsansätze Obwohl jedes Handbuch der Biologie die Sozialwissenschaftler eines Besseren belehren könnte,8 wird in großen Teilen ihrer Literatur über Formen des sozialen Zusammenlebens so gesprochen, als ob Sozialität ein Merkmal wäre, das Men­ schen von anderen Lebewesen unterscheidet.9 Wenn Sozialität aber kein Allein­ stellungsmerkmal von Menschen ist, dann kann es auch nicht zur Erklärung dafür herangezogen, dass Menschen in so unwahrscheinlich großen sozialen Einheiten leben. Was kommt stattdessen in Frage? Im Folgenden sollen zunächst zwei kon­ kurrierende Theorietraditionen – sozialwissenschaftliche Kultur- und Technik­ theorien – kurz (und entsprechend grob vereinfachend) und dann eine dritte Tradi­ tion, die der Evolutionstheorien – ausführlicher behandelt werden. Als Kulturtheorien möchte ich hier zunächst summarisch alle Erklärungsansätze bezeichnen, die von besonderen Ordnungsmerkmalen der Gesellschaft ausgehen und diese (gewissermaßen top down) als bestimmend für alle Ereignisse betrach­ ten, die in den jeweiligen sozialen Einheiten möglich sind. Die Bestimmungs­ gründe können eher in normativer Hinsicht übergeordnet erscheinen wie im main­ stream der Soziologie (Durkheim, Parsons) oder in kognitiver Hinsicht überge­ ordnet wie in der Luhmannschen Systemtheorie und neueren kulturtheoretischen Ansätzen (Bourdieu, Reckwitz). In diesen Theorien finden sich kaum Ansatz­ punkte für eine Erklärung der unwahrscheinlichen Ausdehnung menschlicher So­ zialsysteme, weil sie sich – soweit sie überhaupt historisch vergleichend argumen­ tieren – vorrangig auf die Differenz zwischen traditionellen und modernen Gesell­ schaftsformen beziehen.10 Ansatzpunkte finden sich v.a. in jenen kulturtheoreti­ 8 Die Darwinsche Evolutionstheorie ist ohne Bezug auf das Zusammenleben der Individuen einer Art in Populationen gar nicht denkbar. Insofern ist die Evolutionsbiologie immer schon Sozio­ biologie – und nicht erst dort, wo sie Rückschlüsse auf die menschlichen Sozialformen probiert. 9 Dh. seine Sozialität wird mit Kultur gleichgesetzt. Damit entzieht sich die Besonderheit der soziokulturellen Evolution aber der vergleichenden Betrachtung. 10 S. allerdings den ungewöhnlich starken Bezug auf quantitative Aspekte in der einleitenden Pas­ sage des Evolutions-Kapitel der Luhmannschen Gesellschaftstheorie „Eine weitere Annahme,


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schen Ansätzen, die sich vergleichend auf primitive und vorgeschichtliche Gesell­ schaftsformen beziehen, also in der Kulturanthropologie. Allerdings gilt auch hier einschränkend, dass das kulturtheoretische Interesse einseitig auf Fragen der so­ zialen Ordnung fixiert ist und die Frage nach den Quellen der Veränderung selbst weitgehend ausgeklammert bleibt. Die Kulturanthropologen Richerson und Boyd haben die für die soziokulturelle Evolution des Menschen typische Sozialform als „Ultrasozialität“ bezeichnet: Diese evolutionäre Formation sei durch Verwandtschaftsselektion, Reziprozitätso­ rientierung und die (spontane) Sanktionierung von Abweichungen nicht zu erklä­ ren. Diese Mechanismen der sozialen Selektion, die die Bildung kleiner sozialer Einheiten abstützen und z.T. schon in Tiergesellschaften zu finden sind, seien zweifellos auch im menschlichen Sozialleben wirksam, allerdings nicht zurei­ chend, um die Bildung großer sozialer Einheiten zu erklären.11 Die Sozialformen der menschlichen Gattung seien nur durch einen kulturell erweiterten Mechanis­ mus der Vererbung zu erklären, der geeignet ist, die genetisch verankerten Me­ chanismen (der Verwandtschaft, Reziprozität und Dominanz) zu ersetzen oder zu überformen.12 Nach Auffassung von Richerson und Boyd wird die Bildung großer sozialer Einheiten v.a. ermöglicht durch symbolische Grenzziehungen. Symboli­ sche Markierungen sind mächtige Wirkungsfaktoren, um Ingroups von Outgroups zu unterscheiden und auf diese Weise eine kulturelle Gruppenselektion einzurich­ ten, die Empathie und Altruismus weit über die Grenzen der Verwandtschaft und der Interaktion unter Anwesenden hinaus reguliert. Richerson und Boyd sehen den Ursprung dieses Mechanismus der kulturellen Gruppenselektion in den ethnolinguistischen Institutionen von Stammesgesell­ schaften des Pleistozäns, mit denen die Grenzen von Jäger- und SammlerGesellschaften gesprengt wurden. Wenn einmal die durch Verwandtschaft und Reziprozität auferlegten Beschränkungen durch kulturelle Gruppenselektion auf­ gelöst sind, gebe es keine natürlichen Grenzen mehr für die Evolution der menschlichen Koooperation. Große hierarchisch organisierte Einheiten erwuchsen in den letzten 10.000 Jahren zunächst in Agrarregionen und darüberhinaus, ohne dass bisher Anzeichen für die Erreichung eines abschließenden Gleichgewichtszu­ standes zu erkennen wären. Die Wirksamkeit des Mechanismus kultureller Grup­ penidentifikation bestätige sich (zur Überraschung vieler Sozialwissenschaftler) auch in den komplexen Strukturen der modernen Gesellschaft. für die wir empirische Evidenz in Anspruch nehmen, lautet, daß im Laufe der Evolution die auf dem Erdball zu findende Biomasse und ebenso, seitdem es Sprache gibt, die Menge der kom­ munikativen Ereignisse zugenommen hat. Dies ist zunächst eine rein quantitative und insofern leicht verifizierbare Feststellung. Will man den Befund erklären, führt das zu der Annahme, daß Mengensteigerungen dieser Art nur durch Differenzierungen möglich sind. ... Hinter der Annahme eines quantitativen Wachstums steht also die Voraussetzung struktureller Differen­ zierungen nichtbeliebiger Art.“ Luhmann stellt seine evolutionstheoretische Erklärung primär auf die strukturelle Verarbeitungskapazität von Systemen ab. Eine Erklärung für die Größen­ zunahme selbst, also für die dynamische Seite des Phänomens, steht bei ihm nicht im Vorder­ grund. 11 Auf die von Richerson und Boyd (1998) herausgestellten evolutionären Formen kinship, reci­ procity and punishment beziehen sich auch Ansätze des methodologischen Individualismus zur Erklärung menschlicher Sozialität. 12 “Thus human ultra-sociality arose by adding a cultural system of inheritance to a genetic one that normally supports small-scale societies based on kinship and reciprocity.” Richerson, Peter J., und Robert Boyd, 1998: The Evolution of Human Ultra-Sociality. S. 71- 95 in: Irenäus EiblEibesfeldt und Frank K. Salter (Hrsg.): Indoctrinability, Ideology, and Warfare. Evolutionary Perspectives. New York: Berghahn Books.


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Richerson und Boyd verbinden ihre Hypothese über den Ursprung soziokulturel­ ler Evolution in den stammesgesellschaftlichen Identitätszuschreibungen des Plei­ stozäns mit der Erwartung, dass zu den bekannten Konflikten zwischen dem gene­ tisch verankerten Kleingruppenaltruismus und dem ethnolingual verankerten Großgruppenaltruismus neue Konflikte mit Verhaltenserwartungen treten, die aus der Ausdehnung sozialer Einheiten in der Moderne erwachsen und weder zu den angeborenen noch zu den kulturell erworbenen sozialen Verhaltensmustern pas­ sen. Der springende Punkt in der Beschreibung des Mechanismus der ethnolingualen Gruppenselektion – die Erklärung des soziokulturellen Take-offs – muss darin gesehen werden, dass dieser Mechanismus zur Ablösung von den genetisch verankerten Bindungsmechanismen beiträgt und als solcher für kommunikative Überformungen offen ist.13 In den meisten Kulturtheorien kommen Veränderungen vorrangig in der Zeitdi­ mension in den Blick, Es geht um das gesteigerte Tempo soziokultureller Verän­ derungen, das „Veloziferische“14 der modernen Gesellschaft.15 Die räumliche Ausdehnung der menschlichen Sozialität wird vermutlich deshalb kaum beachtet, weil traditionelle hochkulturelle Sozialitäten (wie zB. das Heilige römische Reich deutscher Nation) zumindest an ihren Rändern eine größere Ausdehnung aufwie­ sen als moderne Nationalstaaten.16 Veränderungen in der Raumdimension sind erst unter dem Stichwort Globalisierung wieder in den Blick gekommen,17 und dann vorrangig unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher Verflechtungen bzw. unter Bezug auf die neuen Kommunikationstechniken, die globale Vernetzungen ermöglichen. Soweit kommunikations- und verkehrstechnische Verflechtungen zur Erklärung soziokulturellen Wandels herangezogen werden, werden die institu­ tionellen Mittel der Integration dabei schon vorausgesetzt, ihr Wandel also nicht erklärt.18 Damit sind wir bei den Techniktheorien, die teils eingebettet in Kultur­ theorien, teils (v.a. in der ökonomischen Theorietradition) davon losgelöst vor­ kommen. Technikhistorische Untersuchungen zeigen, dass technische Innovationen in im­ mer wieder neuen Schüben der Menschheitsgeschichte zu der enormen Steigerung der räumlichen und zeitlichen Reichweite der Kommunikation geführt haben, oh­ ne die die Ausdehnung soziokultureller Systeme nicht zu erklären wäre.19 Tech­ 13 Vgl. zur Beschreibung dieses Take-offs – die diesbezüglichen Erklärungsansätze der Soziobio­ logie zusammenfassend – Wieser, 2003 14 s. Goethe 15 S. in dieser Hinsicht noch einmal: Virilio. 16 Den Begründern der US-Verfassung galt „als "natürliche" Grenze eines Staates ... die Entfer­ nung, die es den Volksvertretern gerade noch erlaubte, sich so oft zu treffen wie für die Verwal­ tung der öffentlichen Angelegenheiten nötig. Es war damit klar, daß es eine der Hauptaufgaben der Union sein würde, Straßen zu bauen und auszubessern. Straßenbau bekam Verfassungs­ rang.“ So H.Ritter in seinen Ausführungen zu den „Federalist Papers“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.2003, Nr. 274 / Seite 10 17 Wobei in manchen Theorien – wie zB. in der Luhmannschen Gesellschaftstheorie – gerade unter Bezug auf diese Ausdehnung geleugnet wird, dass der Raumdimension überhaupt noch ei­ ne Relevanz für die Beschreibung moderner Verhältnisse zukommt. Die Mehrzahl der Globali­ sierungsliteratur optiert hier allerdings anders – s. zB. Hermann Lübbe, (1996) Globalisierung. Zur Theorie der zivilisatorischen Evolution, in: Biskup, Reinhold (Hg.) (1996) Globalisierung und Wettbewerb, Bern/Stuttgart/Wien S.39-63; Castells, Manuel, (2000) The Information Age: Economy, Society and Culture. Upd. Edition. 3Bde. Oxford 18 Vgl McLuhan, Lübbe u.a. 19 So schreibt Michel Serres: „Schon vor einem halben Jahrhundert belegte eine Studie, daß für die gesamte Menschheitsgeschichte das Gesetz des exponentiellen Wachstums der Technolo-


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niktheorien sind allerdings zumeist nur an einem bestimmten Modus sozialer Ver­ änderung interessiert. Es sind Erklärungsansätze, die sich auf das Handeln einzel­ ner Menschen, ihre Intentionen und Nutzenerwägungen beziehen. Wenn Technik­ theorien in Kulturtheorien eingebettet sind, dann wird das instrumentelle Verhält­ nis zur Welt, das in der Präferenz für bestimmte Technisierungen der Kommuni­ kation zum Tragen kommt, selbst schon auf bestimmte kulturelle Muster zurück­ geführt, die den Handlungsentscheidungen der Individuen zugrundeliegen.20 Weitgehend losgelöst von kulturtheoretischer Reflexion wird Technik in der öko­ nomischen Theorietradition unter Aspekten der Innovation, als Wettbewerbsvor­ teil, behandelt. Technische Innovationen verändern (natürliche und soziale) Um­ weltbedingungen in einer Weise, die von den Erstnutzern als Wettbewerbsvorteile bewertet werden. Komplementär dazu wird Technik in der soziologischen Theo­ rietradition unter Aspekten unbeabsichtigter Handlungsfolgen, als Risiko und Ge­ fahr, behandelt. Technologien verändern die Umweltbedingungen in einer Weise, die von den Betroffenen als Bedrohung institutioneller Strukturen wahrgenommen wird. Institutioneller Wandel kann weder in der ökonomischen noch in der sozio­ logischen Technikbeobachtung angemessen erfasst werden. Um es vorläufig zusammenzufassen: Theoretische Ansätze der Erklärung über Merkmale der Kultur sind geeignet, Phänomene der Integration, der Selektivität und Stabilität sozialer Systeme zu erklären und eher ungeeignet, die Dynamik und die Größenverhältnisse sozialer Systeme zu erklären. Theoretische Ansätze der Erklärung über Merkmale der Technik sind geeignet, Phänomene der Variation, die Variabilität und das Größenwachstum sozialer Systeme zu erklären und eher ungeeignet, die Selektivität und Stabilität sozialer Systeme zu erklären.

1.3 Evolutionstheoretische Erklärungsansätze Was treibt das Größenwachstum soziokultureller Einheiten? Und was ermöglicht ihre Stabilisierung? Wenn die Antwort auf die erste Frage Technik und die Ant­ wort auf die zweite Frage Kultur ist, dann liegt es nahe, beide Antworten in einer Theorie der Evolution zusammenzuführen. Die Steigerung der räumlichen und zeitlichen Reichweite der Kommunikation mit technischen Mitteln ist offenkundig eine entscheidende Variable für die Bildung großer sozialer Einheiten. Diese Beobachtung könnte (i.S. der ökonomischen Theorietradition) durch eine Nachfragetheorie erklärt werden: Techniken werden unter Nutzengesichtspunkten nachgefragt. Alternativ könnte man als Angebots­ theorie formulieren: neue Techniken schaffen sich ihre Nachfrage selbst. Aller­ dings wird in beiden Antworten schon vorausgesetzt, was erst zu erklären wäre: dass die institutionellen Mittel vorhanden sind – oder sich nach Bedarf neubilden ­ um die erweiterten Sozialitäten zu stabilisieren.

gien gilt. Dieses Gesetz läßt sich bis in die Zeit zurück verfolgen, als die Menschen begannen, Steine zu behauen. Da das exponentielle Wachstum eine Konstante in der geschichtlichen Entwicklung ist, sollte dieser Tatsache nichts Beunruhigendes anhaften. Die Studie, auf die sich Serres im Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. Oktober 2000 (S. 53) bezieht, ist von J.D. Bernal, Science in History, London 1954 (deutsch: Die Wissenschaft in der Geschichte, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1957) 20 Etwa als frame selections. Diese Selektionen können dann – wie unten auszuführen - auf der Makroebene noch einmal in Wettbewerb zueinander treten.


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Die kulturelle Stabilität und Reproduktion großer Sozialsysteme wird häufig funk­ tionalistisch erklärt. In einer funktionalistischen Analogie zur soziobiologischen These von der Selbstausbreitungstendenz der Gene21 könnte man von einer Ten­ denz der Institutionen ausgehen, die sich der Technik zu ihrer eigenen Ausbrei­ tung bedient. Unter dieser Prämisse müsste dann allerdings auch erklärt werden, wie es zu dem auffälligen Wandel der Institutionengebilde im Gefolge der Aus­ dehnung sozialer Systeme (etwa als funktionale Differenzierung) kommt. Die Antwort auf diese Frage kann nicht in der Eigendynmik der Instititutionen, sondern muß in Umweltselektionen gesucht werden. Sie verweist auf Selbstver­ stärkungsprozesse der soziokulturellen Evolution, die zur selektiven Bevorzugung allgemeiner und dekontextualisierter Institutionen geführt hat, die unter den Be­ dingungen der Ausdehnung soziokultureller Einheiten zu sehr verschiedenen Umweltbedingungen passen.

2. Ein evolutionstheoretisches Kreislaufmodell Evolutionstheoretische Ansätze sind geeignet, die Aspekte der Variabilität und der Selektivität sozialer Systeme zu verbinden. Es gelingt allerdings häufig nicht, eine den methodologischen Ansprüchen der Evolutionstheorie entsprechende Unab­ hängigkeit der evolutionären Mechanismen im Bezug auf die soziokulturellen Verhältnisse des Menschen aufzuzeigen. Ein Modell zur Beschreibung soziokultureller Evolution muss sich v.a. mit zwei Einwänden gegen die Übertragbarkeit des biologischen Evolutionsmodells aus­ einandersetzen: 1. mit dem Einwand, dass für die Funktionen der Variation und Selektion keine im strengen Sinne kausal unabhängig voneinander wirkenden Mechanismen an­ geben lassen. 22 2. mit dem Einwand, dass für die Funktion der Replikation der basalen Einheiten kein Mechanismus angegeben werden kann, der in vergleichbarer Weise geschützt vor Umwelteinflüssen abläuft.23 Beiden Einwänden soll mit der Konstruktion des im Folgenden skizzierten Mo­ dells im ersten Schritt durch die Unterscheidung von zwei Ebenen und zwei Ein­ heiten der soziokulturellen Evolution Rechnung getragen werden. Im zweiten Schritt werden in diesem Modell vier evolutionäre Mechanismen bezeichnet, de­ ren rekursives Zusammenwirken soziokulturellen Wandel erklären soll.

21 s. Dawkins, Selfish Gene 22 Gould meint, dass in der soziokulturellen Evolution zuviel Intentionalität im Spiel sei. Luh­ mann ersetzt die Unterscheidung kausal unabhängiger Wirkungsketten durch die eher analyti­ sche Unterscheidung von Operationen, Strukturen und Systemen. Obwohl Luhmann viele Hin­ weise auf die Auslösefunktion technischer Kommunikationsmittel für Variation gibt, bevorzugt er als Erklärung für Umbrüche der Gesellschaft die strukturlogische Erklärung im Rekurs auf immanente Problemverarbeitungsgrenzen bestimmter Differenzierungsformen. 23 In dem Vorschlag von Dawkins zur Beschreibung von „Memen“ als soziokulturellen Äquiva­ lenten der Gene gibt es keinen Hinweis auf einen entsprechenden Schutzmechanismus. In Luh­ manns Bezeichnung von Kommunikation als basaler Einheit gibt es keinen Bezug auf einen ge­ sonderten Replikationsmechanismus.


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Folie 2: Ebenen und Einheiten

Vergleichsschema biosozialer und soziokultureller Einheiten

Einheiten Genotyp Phänotyp

Funktionen Replikation und Variation Selektion

Evolution

biosozial

soziokulturell

Gene

Institutionen

Individuelle Organismen Genpool der Population

Soziale Handlungen oder Kommunikationen Institutionenpool soziokultureller Systeme

Ebenendifferenzierung soziokultureller Einheiten

Makroebene Mikroebene

Phänotyp

Genotyp

Populationen

Institutionenpool

Kommunikationen, Institutionalisierte Organisationen Interessen

2.1 Ebenen und Einheiten Eine gemeinsame Prämisse von Bio- und Sozialwissenschaften ist die Unterschei­ dung verschiedener Ebenen der Beobachtung. Für die Sozialwissenschaften gilt, dass nicht ohne Weiteres von der Beobachtung von Phänomenen der Mikroebene auf Phänomene der Makroebene geschlossen werden darf, weil jeweils verschie­ denartige Wirkungen zu beobachten sind. Was auf der Ebene der Interaktion unter Anwesenden als gut und nützlich gilt, kann auf der anderen Ebene falsch und schädlich sein (z.B. altruistisch motivierte Entwicklungshilfe oder auch umge­ kehrt politischer Machiavellismus). Der sozialwissenschaftlichen Methodenstreit bricht dann an der Frage auf, wie die theoretische Verknüpfung der Ebenen herzu­ stellen ist.24 Für die biologische Evolutionstheorie ist die Unterscheidung kausal unabhängiger Mechanismen, die auf verschiedenen Ebenen wirken, von grundlegender Bedeu­ tung. Sie hat es anscheinend auch leichter, eine solche Ebenenunterscheidung zu vollziehen, da sie die Wirkungsmechanismen auf verschiedene Einheiten – Gene und Organismen – beziehen kann. In der Evolutionsbiologie ist die Annahme (in­ zwischen) unumstritten, dass die Gene der Organismen informationell geschlos­ sene Einheiten in dem Sinne darstellen, dass lebensgeschichtliche Erfahrungen der Organismen darin nicht eingehen und weitergegeben werden können. Daher wer­ den Veränderungen von Populationen lebender Organismen durch Umweltselek­ tion auf der Grundlage zufälliger Variation erklärt. Mechanismen der Selektion 24 Wobei die Antwort auf diese Frage auch davon abhängt, dass die Unterscheidung selbst als beobachterabhängig – nur als ein Konstrukt der wissenschaftlichen Beobachtung oder im Ob­ jektbereich selbst verankert – angesehen wird.


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wirken auf die Einheit des Organismus, Mechanismen der Variation auf die Ein­ heit des Genoms. Mit Bezug auf die soziokulturellen Phänomene bei Menschen wird bezweifelt, dass eine ähnlich klare Abgrenzung der Einheiten, auf die evolutionäre Mecha­ nismen einwirken, getroffen werden kann.25 Im Folgenden soll dagegen gezeigt werden, dass eine solche Abrenzung auch für die evolutionstheoretische Erklä­ rung soziokulturellen Wandels getroffen werden kann. Als phänotypische Einhei­ ten werden vielfältige Phänomene der Kommunikation bezeichnet, die der Um­ weltselektion ausgesetzt sind. Als genotypische Einheiten werden dagegen Institu­ tionen bezeichnet, die als latente Voraussetzungen der Kommunikation repliziert und der Variation ausgesetzt werden. Institutionen werden hier als basale Einhei­ ten betrachtet, die in ähnlicher Weise informationell geschlossen gegen Umwelt­ eindrücke operieren wie die Gene der Organismen.26 Das Problem der Übertragung der evolutionsbiologischen Unterscheidung auf soziokulturelle Verhältnisse des Menschen wird also nicht in mangelnder operati­ ver Geschlossenheit der basalen Einheiten gesehen sondern eher darin, dass sich die Unterscheidung genotypischer und phänotypischer Einheiten nicht in gleicher Weise auf verschiedene Beobachtungsebenen übertragen lässt wie in der Biologie. Ausgehend von der in den Sozialwissenschaften eingeführten Unterscheidung zwischen einer Mikro- und einer Makroebene sozialer Phänomene, müssen näm­ lich phänotypische und genotypische Einheiten auf beiden Ebenen berücksichtigt werden.27 Aus diesem Grunde wird im Folgenden mit der Kombination der beiden Unterscheidungen in einer Vierfelder-Tafel gearbeitet, die es erlaubt, die Unter­ scheidung der Einheiten in der horizontalen Dimension abzubilden. Die Unterscheidung verschiedener Ebenen und Einheiten der soziokulturellen Evolution ist selbst als ein Produkt der Evolution zu betrachten. Kommunikation ist auf einer primordialen Ebene immer schon vorausgesetzt. Alle Phänomene der Kommunikation sind handlungsgestützt. Sie basieren auf Handlungen, die in der physisch gegebenen und sinnlich wahrnehmbaren Welt wirken. Alle Institutionen der Kommunikation sind erlebensgestützt. Sie basieren auf der rekursiven Ver­ knüpfung von Kommunikation mit vergangener Kommunikation, die in der menschlichen Wahrnehmung hergestellt wird. Die Unterscheidung und Bezeich­ nung von Phänomenen und Institutionen der Kommunikation wird aber historisch erst möglich aufgrund der realen Verselbständigung von Handlungs- und Erle­ benskomponenten der Kommunikation auf der Makroebene. Ebenenendifferenzie­ rung ist damit historisch schon vorausgesetzt.

25 Dies wird sowohl aus der Perspektive der biologischen Evolutionstheorie bezweifelt – vgl. Gould mit Bezug auf die Intentionalität menschlichen Handelns, Technik etc. – wie auch aus so­ ziologischer Perspektive – vgl. Luhmanns Vorschlag für die eher analytische Unterscheidung zwischen Kommunikationen, Strukturen und Systemen. 26 Die Auffassung von Institutionen als operativ geschlossene Einheiten verlangt, dass Diese – i.S. der älteren sozialwissenschaftlichen Theorietradition und im Gegensatz zu dem heute üblichen Gebrauch in den Wirtschafts- und Politikwissenschaften – strikt unterschieden werden müssen von Organisationen u.a. Formen des intentionalen Handelns. 27 Im Vergleich mit evolutionstheoretischen Ansätzen in der Ökonomie, der Psychologie und in Teilen der Soziobiologie, besteht der spezifisch soziologische Ansatz hier darin, die individuali­ stischen Unterstellungen aufzulösen, die zB. in der vielzitierten Metapher vom „egoistischen Gen“ (Dawkins) durchdringt. Gene sind weder egoistisch noch altruistisch, sondern per se tran­ sindividuelle (wenn man so will: kollektive) Einheiten. Die Operationsweise der Gene ähnelt in­ sofern mehr der von Institututionen als der von Individuen.


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Die Verselbständigung von Handlungs- und Erlebenskomponenten in asymmetri­ schen Ego-Alter-Konstellationen der Kommunikation ist Teil der evolutionären Veränderungen, die die Ausdifferenzierung verschiedener Ebenen (Mikro- und Makrophänomene) wie auch verschiedener Einheiten (genotypische und phänoty­ pische) begleiten. Diese doppelte Differenzierung ist nicht nur als hypothetischer Ausgangspunkt der soziokulturellen Evolution zu betrachten, sondern auch als Teil eines andauernden Prozesses, in dem sich soziokulturelle Differenzen ver­ stärken und weitere Differenzierungen erzeugen können. Die Ausdifferenzierung der Makroebene soziokultureller Phänomene - als Differenzierung gegenüber der Mikroebene wie auch als institutionelle Binnendifferenzierung - wird im Folgen­ den auf eine kulturelle Ausbreitungstendenz der Institutionen zurückgeführt. Folie 3: Evolutionäre Funktionen und Mechanismen Systeme

Restabilisation (Variation II) �

Umwelten

Makroebene

Populationen

Differenzierung Institutionen Makroebene

� Selektion

Wettbewerb

Kreislaufmodell

Tradierung

Replikation (Selektion II) �

Technisierung

Interessen

Mikroebene

� Variation

Erleben

Mikroebene Organisationen Handeln

2.2. Funktionen und Mechanismen Um die unwahrscheinliche Ausdehnung sozialer Einheiten beim Menschen zu erklären, setze ich im Folgenden vier kausal unabhängig wirkende Mechanismen in das oben bezeichnete Vier-Felder-Schema der Ebenen und Einheiten soziokul­ tureller Evolution ein. Aufgrund der Annahme, dass die evolutionären Mechanis­ men in ihrer Wirkung auf die soziokulturellen Einheiten rekursiv verknüpft sind, bezeichne ich das Modell als evolutionstheoretisches Kreislaufmodell. Die Doppelbezeichnung „sozio-kulturelle“ Evolution28 steht im hier skizzierten Modell für die Kombination von zwei verschiedenen Merkmalen: Solchen, die die Lebensformen von Menschen mit anderen Lebewesen gemeinsam haben, und Solchen, die sie von den Lebensformen anderer Lebewesen unterscheiden. Die Gemeinsamkeit besteht in der Form des sozialen Zusammenlebens in Populatio­ nen. Die Differenz besteht in der Schaffung kultureller Sonderumwelten in der Form von Institutionen. • Die Bezeichnung „sozio-“ steht in dem hier skizzierten Kreislaufschema für die aufsteigende Linie: die auf dem Gebrauch materieller Ressourcen basie­ rende, expansive Strategie menschlicher Akteure, die Bildung immer größerer

28 S. zur Verwendung dieser Terminologie zuerst Campbell, 1965


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sozialer Einheiten in der Konkurrenz mit gleichartigen und andersartigen Ak­ teuren in derselben ökologischen Nische. • Die Bezeichnung „kulturell“ steht in dem hier skizzierten Kreislaufschema für die absteigende Linie – die materielle Ressourcen sparende Steuerung sozialer Einheiten mit symbolischen Mitteln – und damit für das dominante Merkmal, die Besonderheit dieser Evolution, die Ausdiffererenzierung kultureller Son­ derumwelten. Das Leben menschlicher Populationen wird durch das Merkmal der Kultur, die Ausdifferenzierung institutioneller Umwelten modifiziert und spezifiziert. Es bleibt jedoch – wie im letzten Teil des Vortrags gezeigt werden soll - auch dabei noch an seine ökologische Nische und damit an die in der Biologie beschriebenen Mechanismen der Evolution gebunden. In diesem Modell erscheinen die auf einer Ebene wirksamen institutionellen Mit­ tel sozialer Ordnungsbildung rekursiv verknüpft mit den Mitteln, die auf der ande­ ren Ebene wirken. Die Verknüpfung der Ebenen wird in aufsteigender Linie – von der Mikro- zur Makroebene – ermöglicht durch Mechanismen der Hierarchisie­ rung (i.S. von Autonomiebeschränkungen mit Sanktionsmitteln) und des Wettbe­ werbs. Sie wird in absteigender Linie – also von der Makro- zur Mikroebene – ermöglicht durch Mechanismen der Institutionalisierung und Tradition (i.S. inter­ generativer Weitergabe institutionell bewährter Beschränkungen). Die Mechanis­ men, die diese Verknüpfung herstellen, sind zugleich hochselektiv in ihrer Wir­ kung auf die Einheiten der jeweils anderen Ebene. Die Selektivität der Mechanis­ men des (interessenorientierten) Wettbewerbs und der (institutionenorientierten) Tradierung sorgt also zugleich für die Erhaltung (und Verstärkung) der Differenz zwischen Mikro- und Makroebene. Die Mechanismen der Selektion und Replikation stellen jeweils ebenenspezifische Ordnungsmittel – Hierarchien und Institutionen – für die Evolution soziokulturel­ ler Systeme zur Verfügung. Um die unwahrscheinliche Ausdehnung dieser Sy­ steme zu erklären, müssen jedoch vor allem die Mechanismen der Variation und Restabilisation spezifiziert werden. Der soziokulturelle Mechanismus der Variati­ on ist in dem Gebrauch von Technik zu sehen. Technisierung ist in evolutions­ theoretischer Hinsicht nicht nur als ein Mittel der Leistungssteigerung zu verste­ hen, sondern auch als ein Mechanismus der laufend in institutionelle Strukturen der Kommunikation eingreift und Variationen erzeugt. Die Ausdifferenzierung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation in komplexen Konstellationen der Makroebene ist auf die auflösende Wirkung der Technisie­ rungen für die institutionellen Strukturen der Kommunikation auf der Mikroebene zurückzuführen. Dieser Effekt kann im Blick auf primordiale Strukturen der Kommunikation bereits für einfache Formen der menschlichen Sozialität rekon­ struiert werden. Der Mechanismus der Technisierung sorgt durch seine Variationseffekte im Insti­ tutionenpool soziokultureller Populationen für erweiterte Anpassungsmöglichkei­ ten an verschiedene Umweltbedingungen. Die unwahrscheinliche Ausdehnung soziokultureller Systeme kann jedoch nur dann zureichend erklärt werden, wenn man noch einen zweiten Variationsmechanismus in Rechnung stellt, der auf der Ebene soziokultureller Makrophänomene für Beschränkungen des (hierarchiebil­ denden) Wettbewerbs und eine entsprechende Ausdehnung der Vielfalt soziokul­ tureller Sonderwelten sorgt. Soziokulturelle Differenzierung sorgt als ein zweiter


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Mechanismus der Variation für eine Restabilisierung der kulturellen Ausbrei­ tungstendenz der Institutionen. Wenn man die Beschreibung evolutionärer Kreisläufe auf der Mikroebene be­ ginnt, dann hat man es zunächst mit zwei (sehr verschiedenen) Mitteln zu tun, die zur Ordnungsbildung beitragen: Interessen und Institutionen. Die Wahrnehmung der Interessen autonom agierender Individuen führt in vielen Situationen zu spon­ taner Ordnungsbildung. Dies funktioniert unter zwei Voraussetzungen: relativ kleine Sozialitäten mit häufig wiederkehrenden Teilnehmerbegegnungen und rela­ tiv feststehenden Präferenzen der Interessenwahrnehmung. Beide Voraussetzun­ gen sind aber in kulturell erweiterten Formen der Sozialität so nicht mehr gege­ ben. Sie müssen also durch erweiterte Mechanismen der Ordnungsbildung ersetzt werden. Der natürlich gegebene Präferenzrahmen (etwa die genetisch verankerte Ver­ wandtschaftsselektion) ist deshalb bereits auf der Mikroebene erweitert und er­ setzt durch institutionalisierte Präferenzen, die in primären und sekundären Sozia­ lisationsprozessen von den Individuen internalisiert und auf diese Weise tradiert werden. Mit dem Bezug auf individuelle Interesssen ist keine Festlegung auf be­ stimmte Inhalte verbunden. Der Rekurs auf eigennützige Handlungsentscheidun­ gen legt nicht fest, welche Nutzenerwartung - materielle Vorteile, soziale Aner­ kennung, Befriedigung aggressiver Motive o.a. - damit konkret verbunden ver­ bunden wird.29 Der Spielraum dafür ist sicher nicht beliebig sondern aufgrund der gattungsgeschichtlichen Primärausstattung menschlicher Organismen beschränkt. Er ist jedoch so groß, dass aus der Aussage, dass Menschen eigeninteressiert han­ deln, wenig abgeleitet werden kann im Hinblick auf das Zustandekommen be­ stimmter sozialer Strukturen. Es kann auch nicht behauptet werden, dass Men­ schen ein Interesse daran haben, in großen sozialen Einheiten zu leben. Allerdings lässt sich zeigen, dass Menschen (und auch Kollektive von Menschen) ein Interes­ se daran haben, die Reichweite ihrer eigenen Handlungen (räumlich und zeitlich) zu steigern. Dies ist immer dann der Fall, wenn sie in einer gegebenen Umwelt um knappe Ressourcen konkurrieren. Es gibt demnach ein durch Wettbewerbssi­ tuationen begründetes Interesse an Technik. Die Bildung großer sozialer Einheiten kann insoweit als unbeabsichtigter Nebeneffekt der Handlungsentscheidungen konkurrierender Individuen erklärt werden.30 Es kann bereits auf der Mikroebene beobachtet werden, wie auf der Grundlage individueller Interessenwahrnehmung eine räumliche und zeitliche Ausdehnung der Sozialität mit technischen Kommunikationsmitteln passiert. Technisierung 29 Ökonomische Wahlhandlungsmodelle suggerieren, dass eine relativ simple Bedürfnisstruktur zugrundeliegt, führen dies aber normalerweise nicht aus. Soziologische Ansätze (wie Coleman, Esser, Lindenberg) versuchen dies hilfsweise aufzubrechen, in dem sie alle möglichen ererbten und lebensgeschichtlich erworbenen Motive – als frames – in die Interessenstruktur einbauen. 30 Menschliche Interessen können die Dynamik, nicht jedoch die Richtung soziokultureller Ver­ änderungen erklären. Methodologisch individualistische Theorieansätze in den Sozialwissen­ schaften behaupten, sie stimmten mit der Darwinschen Evoliztionstheorie überein, wenn sie von einer „Grundregel der Selektion des Handelns“ sprechen und damit die evolutionäre Selek­ tivität in die Operationen lebender Individuen verlegen. Es würde jedoch weit besser zur Dar­ winschen Theorie passen, wenn die Operationen lebender Individuen als Mechanismen der Va­ riation (und eben nicht der Selektion) betrachtet würden (auf biologischer Ebene zB. das Balz­ verhalten des Pfaus als Mittel der genetischen Variation). Ich betrachte Interessen – im Fol­ genden dann insbesondere das Interesse von Menschen an der Steigerung der Reichweite ihrer Beiträge zur Kommunikation mit technischen Mitteln – im Blick auf die Evolution soziokultu­ reller Institutionen als kausale Ursachen (Antriebskräfte) von Prozessen der Variation und nicht der Selektion.


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bewirkt Variationen im Pool der hier vorausgesetzten Institutionen. In der Be­ schreibung dieser Wirkungen ist zu berücksichtigen, dass Technik als Variations­ mechanismus nicht nur zufällig wirkt (wie Mutationen im Genom) sondern immer auch schon „pfadabhängig“ (i.S. der Bevorzugung bereits institutionalisierter Pfa­ de der Technikentwicklung) ähnlich wie im Falle der genetischen Variation durch Sexualität.31 – Auch deshalb sind zweite Mechanismen der Variation (=Restabilisation) und der Selektion (=Replikation) erforderlich, die den Variati­ onsspielraum erweitern und das Risiko von Fehlanpassungen begrenzen. Die Auflösung natürlicher Beschränkungen der Sozialität durch technisch erwei­ terte Kommunikationsmittel verweist (im Kreislauf vor und zurück) auf erweiterte Mechanismen der Ordnungsbildung. Reichen die natürlichen räumlichen und zeit­ lichen Beschränkungen der Sozialität nicht mehr aus, um Ordnungsbildung zu gewährleisten, ist Hierarchisierung die erste Wahl. Die Mittel der wechselseitigen Kontrolle, die in kleinen Gemeinschaften spontan zur Verfügung stehen (zB. Klatsch) werden an einen gemeinsamen Agenten delegiert. Er wird mit einem Sanktionsmonopol ausgestattet, das soziale Ordnung unter den technisch erweiter­ ten Bedingungen wiederherstellt. Da die Sanktionsmechanismen, die unter diesen Bedingungen soziale Ordnung garantieren, sich weder als natürlich noch als durch Tradition „geheiligte“ Institutionen darstellen, ergibt sich für die gewählte Ord­ nung in entwickelteren Formen der Sozialität ein andauernder Legitimationsbe­ darf. Als ein „natürliches“ (nämlich kontrollkostensparendes) Mittel, um diesen Legi­ timationsbedarf gewählter Hierarchisierungen zu stillen, erscheint der Wettbewerb der Institutionen, die eine soziale Ordnung stützen. Dieser Wettbewerb wird zu­ gleich begrenzt und erweitert durch einen weiteren evolutionären Mechanismus: den der Differenzierung. Er wird begrenzt auf der Ebene institutioneller MetaOrientierungen. So wird z.B. sichergestellt, dass Instititutionen der Wirtschaft mit denen der Politik, Instititionen der Politik mit denen der Religion etc. nicht mehr im Wettbewerb stehen. Der Wettbewerb wird verlagert in die funktionsspezifi­ schen Teilsysteme. Auf diese Weise sorgt Differenzierung als ein zweiter Mecha­ nismus der Variation für erweiterte Spielräume der Selektion. Die Ausbreitungs­ tendenz der Institutionen wird damit restabilisiert.

3. Ausdehnung als evolutionär riskante Strategie Lässt sich die globale Ausdehnung der Menschheit evolutionstheoretisch erklä­ ren? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Ausbreitung menschlicher Popu­ lationen und bestimmten kulturellen Formen? Das sind natürlich Fragen, die nicht nur den Rahmen dieses Vortrags sondern vielleicht auch den Rahmen wissen­ schaftlicher Beantwortungsmöglichkeiten sprengen. Dennoch möchte ich eine hypothetische Antwort riskieren, die im weiteren Gang der Diskussion noch spe­ zifiziert und wissenschaftlich bearbeitbar gemacht werden muss. Diese Antwort geht davon aus, dass die Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme einem ähnlichen Muster folgt, wie es in der Evolutionsbiologie für Populationen von Lebewesen in der Selbstausbreitungstendenz ihrer Gene behauptet worden 31 E.P.Fischer stellt in seiner popularisierenden Darstellung der Darwinschen Theorie das weibli­ che Wahlverhalten (im Rahmen sexueller Selektion) als Einfallstor für die soziokulturelle Son­ derevolution heraus, insbesondere hinsichtlich der Relevanz ästhetischer und fürsorglicher Krite­ rien bei der Entstehung des homo sapiens.


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ist.32 In einer funktionalistischen Analogie kann das Muster in einer Selbstausbrei­ tungstendenz der Institutionen gesehen werden, die sich der partikularen Interes­ sen menschlicher Akteure nur bedient. Die Ausdehnung der Kommunikation mit technischen Mitteln liesse sich so als Vehikel der kulturellen Ausbreitungstendenz und symbolischen Generalisierung ihrer Institutionen interpretieren.33 Wenn an dieser Überlegung etwas dran ist, dann beschreibt sie allerdings eine evolutionär riskante Strategie. Als primärer Mechanismus der Ausbreitung kann das Interesse konkurrierender Individuen (und Gruppen) an der technischen Steigerung der raum-zeitlichen Reichweite ihrer Kommunikation bezeichnet werden. Die Technisierung der Kommunikation stellt allerdings in evolutionstheoretischer Perspektive nur einen Mechanismus der Variation dar. Die Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme kann damit nur erklärt werden, wenn (und soweit) neue und technisch erweiterte Formen der Kommunikation selegiert und in die soziokulturelle Umwelt wieder eingebettet werden. Die Ausdehnung der menschlichen Sozialsystene stellt keine evolutionär stabile Strategie dar, weil die gattungsgeschichtlich verankerte Ausstattung der Men­ schen (die nur an das Leben in relativ kleinen sozialen Einheiten angepasst ist) dafür nicht ausreicht. Es soll daher im Folgenden skizziert werden, wie erweiterte Mechanismen der Selektion im Verlauf der soziokulturellen Evolution entstanden sein könnten, die diese Ausdehnung nicht nur ermöglichen sondern auch stabili­ sieren. In der Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme durch Technisierung und hierar­ chische Organisation ist ein grundlegender Konflikt angelegt. Je größer die sozia­ len Systeme werden, desto mehr wächst auch die Verschiedenheit der Umweltbe­ dingungen, an die das kommunikative Netzwerk angepasst sein muß. Daher ist in der Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme eine Tendenz zur Bevorzugung formaler und universell verwendbarer Institutionen angelegt, die jedoch mit der gattungsgeschichtlich ererbten Tendenz zur Bevorzugung partikularer Institutio­ nen kleiner sozialer Einheiten kollidiert. Die Tendenz zur Universalisierung kann sich (i.S. der o.a. Einschränkung) nur soweit evolutionär durchsetzen, wie eine Rückkoppelung an die (ererbten) Präfe­ renzen gelingt.34 Die Tendenz zur Bevorzugung universalistischer Institutionen dominiert gewissermaßen nur in der aufsteigenden Linie des Kreislaufmodells. Mit Bezug auf den gesamten Kreislauf der Instititutionen schließt das Modell die institutionelle Regeneration und Wiederverwendung partikularer Orientierungen auf der Mikroebene ein. 32 Die These von der Selbstausbreitungstendenz der Gene ist von Richard Dawkins (1982, The extended phenotype) vertreten worden und von anderen Vertretern der Soziobiologie (Wilson, Vogel) übernommen worden. Ich sehe hier ab von Einwänden E.Mayrs u.a. gegen Dawkins Bestimmung der Gene (auch) als Selektionseinheiten, die sich gegen zu weitreichende Folge­ rungen und die Vernachlässungung ökologischer Faktoren richten. 33 Als ältere Form dieser Ausbreitungstendenz, die sich in der modernen Gesellschaft v.a. der Medien der Massenkommunikation bedient, wären die Missionierungsformen der Weltreligio­ nen zu betrachten. 34 „Man kann überhaupt die Bildungen, die dem großen Kreise als solchem eigentümlich sind, zum wesentlichen Teil daraus erklären, daß er sich mit ihnen einen Ersatz für den personalen und unmttelbaren Zusammenhalt schafft, der kleinen Kreisen eigen ist. ... Zu diesem Zweck er­ wachsen Ämter und Vertreter, Gesetze und Symbole des Gruppenlebens, ...“ S.38f in: Georg Simmel, 1908, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (5.Aufl. 1968) Duncker & Humblot, Berlin


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Folie 4: Umbildung primordialer Mechanismen System Makro­ ebene Selek­ Bestrafung durch tion Agenten (Staat) Mikro­ ebene Handeln

Stabilisation Bestrafung durch Öf­ fentlichkeit (Skandal)

Umwelt

Verwandtschaftsaltruismus (Primärsozialisation) Reziprozität (Interessenkalkül) Variation

Makro­ ebene Repli­ kation Mikro­ ebene

Erleben

3.1 Die kulturelle Transformation primordialer Mechanismen Für einfache (primordiale) Formen der Sozialität lässt sich ein direkter Zusam­ menhang zwischen dem sozialen Netzwerk der Kommunikation und einem insti­ tutionellen Kern annehmen, der sich der Beobachtung innerhalb der Kommunika­ tion entzieht und als latente Voraussetzung ihres Gelingens fungiert. Für (tech­ nisch) erweiterte Sozialitäten bedarf es offensichtlich zusätzlicher (technisch­ intentional) organisierter Vorkehrungen, um das Gelingen der Kommunikation im erweiterten Netzwerk sicherzustellen. Diese Vorkehrungen – Konzentration der Sanktionsmittel, hierarchische Kontrolle etc. – müssen ihrerseits legitimiert wer­ den im Rekurs auf Institutionen, die sich auch hier der (direkten) Beobachtung innerhalb der Kommunikation entziehen. Im Folgenden (s. Folie 4) sollen einige Mechanismen sozialer Ordnungsbildung typisierend beschrieben werden, die bereits in einfachen Formen der menschli­ chen Sozialität anzutreffen sind, und die im Verlaufe der soziokulturellen Evolu­ tion zu Mitteln der kulturell erweiterten Gruppenselektion umgebildet worden sind.35 Verwandtschaftsaltruismus ist der einzige primordiale Mechanismus sozialer Ordnung, dem eine genetische Verankerung zugeschrieben wird. Eine kulturell erweiterte Form dieses Mechanismus ist die Übertragung des Status von Ver­ wandten auf Nichtverwandte durch Adoption.36 Inwieweit der Mechanismus der Verwandtschaftsselektion die ontogenetische Grundlage für alle kulturell erwei­ terte Formen der Gruppenselektion – i.S. eines prinzipiell erweiterbaren Identifi­ kationspotentials – bildet, ist umstritten.37 Es ist allerdings kaum zu bestreiten, dass dem Mechanismus der Verwandtschaftsselektion auch in seiner ursprüngli­ chen Form noch eine weichenstellende Funktion für soziokulturelle Tradierungs­ prozesse, nämlich in der Primärsozialisation der nachwachsenden Generation zu­

35 Ich knüpfe hiermit an die Ausführungen an, die ich in 1.2 im Anschluß an Richerson und Boyd gemacht habe. 36 Diese traditionell in Herrschaftshäusern geübte Praxis ist bekanntlich bis in die Moderne auch als eine Form der Loyalitätssicherung bei Wirtschaftsagenten verwendet worden. 37 S. die in 1.2 referierte Argumentation von Richerson und Boyd mit Bezug auf die Funktion der kulturell erweiterten Identifikation bei der Bildung großer sozialer Einheiten. Bezugspunkte sind Familie, Schule, Altersgruppe (street gang) Verein, Region („Heimat“), Nation („Vaterland“) Religionsgemeinschaft („Ursprung“) etc. Kritiker sehen in der alltagssprachlichen Verwendung von Identifikationsbegriffen nur Metaphorik.


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kommt.38 In den daran anschließenden Sozialisationsprozessen entscheidet sich, welche der symbolisch generalisierten Institutionen der Kultur im Wechsel der Generationen tradiert oder vergessen werden. 39 Die reziproken Interaktionen auf der Mikroebene bilden eine primäre Erfahrungs­ grundlage für erweiterte Formen der Kommunikation (jenseits der Verwandt­ schaftsgruppe). Wegen ihrer binären Verzweigungsstruktur - kooperieren / defek­ tieren - lassen sie sich gut in spieltheoretischen Modellen beschreiben.40 Für die Beschreibung dieser Formen ist es wichtig zu sehen, dass Reziprozität nicht mit Empathie, Solidarität oder anderen „altruistischen“ Orientierungen gleichzusetzen ist. Auch konflikthaltige Interaktion (wie Blutrache) folgt dem Reziprozitätsmu­ ster. Auf der Ebene reziproker Interaktionen kann gelernt werden, dass Rücksicht auf das Verhalten und Nachsicht mit Fehlern Anderer den eigenen Interessen dient. Andererseits sind Strategien der Reziprozität als Mittel der Ordnungsbil­ dung in ihrer Reichweite beschränkt auf kleine soziale Einheiten mit der Chance zu häufig wiederkehrender Interaktion derselben Personen.41 „Tit for Tat“ ist also keine erfolgversprechende Strategie für große soziale Systeme. Das Mittel der Wahl, das die Bildung größerer sozialer Einheiten ermöglicht, ist die Bestrafung abweichenden Verhaltens. Die primordiale Form dieses Mecha­ nismus (die nur wenig Ausdehnung ermöglicht) ist zunächst in den Formen der Bestrafung in reziproken Interaktionen der Gruppe selbst zu sehen. Die Bildung erweiterter Einheiten wird erst durch die (kostensparende) Delegation der Bestra­ fung an einen Agenten (Staat) möglich.42 Dass die Etablierung staatlicher Sankti­ onsregime historisch stets besonderer Anstrengungen zur Stabilisierung bedurfte, zeigt sich u.a. an den vielfältigen Formen staatlicher Prachtentfaltung, Imponier­ bauten etc. die aus heutiger Sicht als wenig effizient und kostensparend angesehen werden.43 In der modernen Gesellschaft werden andere Institutionengebilde vor­ ausgesetzt, um soziale Ordnung zu garantieren.44 38 Im Hinblick auf die naturale Eingebettetheit der soziokulturellen Evolution ist als Besonderheit der Primärsozialisation ihr „unfreiwilliger“ Charakter hervorzuheben. In der Perspektive des Nachwuchses gibt es hier noch keine „Wahlhandlungen“. 39 Erst jüngst haben die international vergleichenden Untersuchungen von Schulleistungen (PISA) erneut gezeigt, dass der Einfluss der familialen Primärsozialisation durch sekundäre Sozialisati­ onsinstanzen nicht ersetzt werden kann. 40 Es gibt natürlich keinen Nullpunkt der Evolution, an dem Individuen, die nicht mehr von ihren Genen gesteuert werden, nur durch ihre Interaktion zu sozialen Normen finden. Spieltheoreti­ sche Modelle der Normentstehung sind insofern nur unter bestimmten Voraussetzungen reali­ stisch, die sie nicht mitbeschreiben. Die Entstehung von sozialen Normen muss als sukzessive Verstärkung institutioneller Orientierungen unter Bedingungen beschrieben werden, in denen genetische Steuerung durchaus noch für sozialen Zusammenhalt wirkte. 41 S. Axelrod und Glance/Huberman 42 Für viele andere hier der Verweis auf Service: Ursprünge des Staates und der Zivilisation. Neu­ erdings H. Wimmer, 1996, Evolution der Politik. Von der Stammesgesellschaft zur modernen Demokratie, Wien. 43 Sie scheinen deshalb mit einer evolutionstheoretisch-selektionistischen Erklärung zu kollidie­ ren. So z.B. die Arg. bei Hallpike mit bezug auf magische Praktiken in Stammesgesellschaften und Prachtentfaltung in traditionellen Hochkulturen. 44 Das staatliche Gewaltmonopol ist als notwendige Voraussetzung der soziokulturellen Evolution i.S. institutioneller Lösungen von Kooperationsproblemen auch für den Fall anzusehen, dass sei­ ne Ausübung sich an den partikularen Interessen bestimmter Agenten orientiert. Die pazifizie­ rende Wirkung des Gewaltmonopols bzw. jeder Sanktionsmacht im Zusammenspiel opportuni­ stisch betrugsbereiter Akteure ist nicht an universalistische Prinzipien gebunden. Allerdings ist in evolutionstheoretischer Perspektive feszuhalten, dass dies keine zureichende Bedingung von Institutionenbildung ist. Die Idee, dass überlegene Sanktionsmacht ausreichen würde, um eine evolutionär stabile Strategie durchzusetzen, ist eine Allmachtphantasie, die durch den Gang der


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Komplementär zum Mechanismus der kulturell erweiterten Gruppenselektion soll im Folgenden Differenzierung als ein evolutionärer Mechanismus beschrieben werden, der die Ausdehnung soziokultureller Systeme unterstützt, in dem er deren Instititutionengebilde zugleich variiert und stabilisiert.45 Dies schließt auch eine in der Ausdehnung sozialer Systeme angelegte Tendenz zur Universalisierung ihrer Institutionen ein. Das technisch vermittelte Größenwachstum soziokultureller Einheiten hat unmittelbar zur Folge, dass deren Institutionen sich unter erweiter­ ten Umweltbedingungen bewähren, sich also von konkreten (substantiellen) Um­ weltbezügen weitgehend ablösen und symbolisch generalisieren müssen. Mechanismen der Differenzierung sind tendenziell universalistisch,46 Mechanis­ men der kulturell erweiterten Gruppenidentifikation hingegen prinzipiell partiku­ laristisch.47 Hier zeigt sich ein Konflikt, der im Folgenden näher zu beschreiben ist.

soziokulturellen Evolution widerlegt wird. Zureichende Bedingungen für eine ESS sind nur dann gegeben, wenn auch die machtunterlegenen Akteuere auf die Dauer von den machtgeschützten Institutionen profitieren. Diese Voraussetzung kann unter den Bedingungen sehr großer, tenden­ ziell globaler, sozialer Einheiten nur durch universalistische Institutionen erreicht werden. 45 Der Bedarf für einen zweiten Mechanismus der Variation (und entsprechend dann auch einen zweiten Mechanismus der Selektion) ist bereits in 2.2 auf die Intentionalisierung und Pfadab­ hängigkeit zurückgeführt worden, die in Vorgängen der Technisierung als primärem Variati­ onsmechanismus der soziokulturellen Evolution zum Tragen kommt. 46 Darwin hat diese universalistische Tendenz noch als relativ konfliktfrei beschrieben. Vielleicht zum Ausgleich für die Zumutung ihrer animalischen Abstammung hat er der Menschheit eine unbegrenzte Ausdehnbarkeit ihrer „moralischen Gefühle“ zugeschrieben. Hervorzuheben ist, dass Darwin als Medien ihrer Ausdehnung bereits vorsieht, dass sie „in der öffentlichen Mei­ nung verkörpert“ und „durch Erziehung verbreitet“ werden. As man advances in civilisation, and small tribes are united into larger communities, the simplest reason would tell each individual that he ought to extend his social instincts and sympathies to all the members of the same nation, though personally unknown to him. This point being once reached, there is only an artificial barrier to prevent his sympathies extending to the men of all nations and races. If, indeed, such men are separated from him by great differences in appearance or habits, ex­ perience unfortunately shews us how long it is, before we look at them as our fellow-creatures. Sympathy beyond the confines of man, that is, humanity to the lower animals, seems to be one of the latest moral acquisitions. It is apparently unfelt by savages, except towards their pets. How little the old Romans knew of it is shewn by their abhorrent gladiatorial exhibitions. The very idea of humanity, as far as I could observe, was new to most of the Gauchos of the Pampas. This virtue, one of the noblest with which man is endowed, seems to arise incidentally from our sympathies be­ coming more tender and more widely diffused, until they are extended to all sentient beings. As soon as this virtue is honoured and practised by some few men, it spreads through instruction and example to the young, and eventually becomes incorporated in public opinion. Charles Darwin (1871) The Descent of Man Chapter 4 - Comparison of the Mental Powers of Man and the Lower Animals I Continued)

47 Die anschaulichsten Beispiele für den fundamentalen Partikularismus soziokultureller Institu­ tionen sind wahrscheinlich in der Vielfalt der menschlichen Sprache(n) zu finden. Ob in der Sprache überhaupt universelle Strukturen ausgebildet sind, ist in den einschlägigen Disziplinen hingegen immer noch umstritten. - Die Suche nach einer in der neuronalen Ausstattung des Menschen verankerten Universalgrammatik der Sprache (Chomsky) stützt sich auf das Argu­ ment, dass anders das Tempo der Tradierung sprachlicher Kompetenzen (das Erlernen der native speach) nicht zu erklären wäre. In evolutionstheoretischer Hinsicht wäre aber zu fragen, woher der Selektionsdruck gekommen sein soll, der zur genetischen Verankerung universell verwend­ barer Strukturen der Sprache geführt haben könnte.


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Folie 5: Partikularismus und Universalismus Systeme Makro­ ebene

Populationen

� Selektion

Universalisierung durch erweiterte Umweltbedingungen

Mikro­ ebene

Restabilisation (Variation II) � Universalismus durch Differenzie­ rung

Umwelten

Institutionen

Makro-ebene

Replikation Partikularismus durch ontogenetische (Selektion II) Beschränkungen �

Organisationen

Partikularismus durch situative Handlungskontexte

Interessen

Handeln

� Variation

Erleben

Mikro­ ebene

3.2 Identifikation und Differenzierung Der Binnendifferenzierung großer Sozialsysteme sind in der sozialwissenschaftli­ chen Theorietradition sowohl stabilisierende wie riskante Wirkungen zugeschrie­ ben worden. Insbesondere für die Formen sozialer Differenzierung in der moder­ nen Gesellschaft ist zunächst deren Selbstgefährdungspotential betont worden. Insofern stellt der Vorschlag Luhmanns, Differenzierung als Restabilisationsme­ chanismus der soziokulturellen Evolution aufzufassen, eine theorigeschichtliche Weichenstellung dar. Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, etwas genauer zu umreißen, wie dieser evolutionäre Mechanismus funktioniert. Der Focus liegt dabei auf Wirkun­ gen in der modernen Gesellschaft, also auf der Stabilisierung tendenziell universa­ listischer Institutionengebilde. Die Frage, wie Differenzierung in älteren histori­ schen Formationen der menschlichen Sozialität – also mit Bezug auf segmentäre, stratifikatorische u.a. Formen – funktionierte und dabei als Mechanismus selbst historisch evoluierte, lasse ich beiseite. Es geht zunächst darum, funktionale Differenzierung nicht nur als Resultat - als Vielfalt der Kommunikation auf der Mikroebene und als komplexe Struktur auf der Makroebene - sondern den Vorgang selbst als evolutionären Mechanismus zu beschreiben.48 Wie ist es überhaupt möglich, dass aus ontogenetisch und situativ beschränkten Wahrnehmungen symbolisch generalisierte Orientierungen erwach­ sen? Technisierung der Kommunikation und staatliche Organisation bieten dafür notwendige, aber keine zureichenden Erklärungen. Sie können das Größenwach­ stum menschlicher Sozialsysteme – und damit auch die Präferenz für universali­ stische Institutionengebilde – erklären, nicht jedoch deren Stabilisierung. Mechanismen der kulturell erweiterten Gruppenidentifikation schließen an den genetisch verankerten Mechanismus der Verwandtschaftsselektion an. Die Aus­ dehnung ihres Wirkungsgrades wird über organisatorische Maßnahmen - wie In­ 48 In der Luhmanschen Evolutionstheorie wird Restabilisierung als Einpassung der vorangegan­ genen Selektionen in schon vorhandene Strukturen aufgefasst. Differenzierung kann so aber nicht als ein evolutionärer Mechanismus verstanden werden, sondern als immer schon vorausge­ setztes Resultat.


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klusion und Exklusion auf organisatorischer Ebene, Strafen, Schutz- und Teilha­ berechte etc. - abgestützt. Ihre Wirkung auf die Institutionengebilde der Popula­ tionen bleibt jedoch in irreduzibler Weise an partikulare Strukturen, insbesondere die Abgrenzung von anderen sozialen Einheiten in ihrer Umwelt gebunden. 49 Die kulturell erweiterten Mechanismen der Gruppenidentifikation können schei­ tern an dem Größenwachstum der Einheiten, auf die sie sich beziehen. Dies kann als Überdehnung beschrieben werden. Probleme der Anomie50 treten auf, wenn in einer Population (einem Staatsvolk oder einer anders konstituierten sozialen Gruppierung) keine zureichende Identifikation mit dem System (dem Staat oder einer anderen Einrichtung als Inhaber des Gewaltmonopols) gegeben ist.51 Mechanismen sozialer Differenzierung haben anscheinend das Potential, Konflik­ te zwischen dem kulturellen Identifikationspotential und seinen erweiterten Ob­ jektbezügen aufzulösen. Die restabilisierende Funktion von Mechanismen der Binnendifferenzierung beruht zunächst darauf, kleinere, raum-zeitlich beschränk­ te Objektbezüge in größeren Einheiten. Dies läßt sich so für segmentär und strati­ fikatorisch differenzierte Gesellschaften beschreiben. Es lässt sich jedoch nicht (oder nur eingeschränkt) für die Strukturen der modernen Gesellschaft behaupten. Hier besteht ein Konflikt zwischen den Mechanismen der kulturell erweiterten Gruppenidentifikation und den institutionellen Strukturen, der durch Differenzie­ rung nicht gelöst sondern eher perpetuiert wird. Wenn man davon ausgeht, dass auch für die Institutionalisierung großer sozialer Einheiten im Prinzip nur der Mechanismus der kulturell erweiterten Gruppense­ lektion zur Verfügung steht, dann erscheint funktionale Differenzierung damit als inkompatibel. Gruppenidentifikation erzeugt personale Bindungen um den Preis der Ausgrenzung von sozial Andersartigen (Angehörigen anderer sozialen Einhei­ ten). Funktionale Differenzierung erzeugt kulturelle Homogenitäten um den Preis der Externalisierung von sachlich Andersartigem (Themen, die zu anderen Arten der Kommunikation gehören). In beiden Vorgängen wird Einheit durch Differenz erzeugt, aber auf eine prinzipiell inkompatible Weise. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, wie Vorgänge der Identifikation und Dif­ ferenzierung kompatibel werden können in den Medien und Formen moderner Öffentlichkeit.52 Folie 6: Öffentlichkeit als Medium des Wettbewerbs Systeme

Restabilisation (Variation II) �

Umwelten

49 Dass sich genetisch verankerte Programme in der soziokulturellen Evolution reproduzieren und mit symbolisch generalisierten Formen in hochriskanter Weise verbinden können, lässt sich viel­ leicht am Beispiel der katholischen Kirche demonstrieren: Eine Funktionselite, die sich selbst aus technisch-organisatorischen Gründen von der Fortpflanzung dispensiert, setzt die Fortpflan­ zungsverpflichtung der Gläubigen als Vehikel der Ausbreitung ihrer Institutionen ein und stei­ gert damit Übervölkerungstendenzen in der Weltgesellschaft. 50 s. Durkheims Formel 51 Beispiele sind Vielvölkerstaaten, Einwanderungsländer. Auf ein Überdehnungsrisiko verweisen zB. die Beiträge der Historiker Wehler und Winkler, die vor einem Beitritt der Türkei zur EU warnen. Hier ist offensichtlich die Frage, ob das Identifikationspotential eher in der Tradition der europäischen Aufklärung oder des Christentums gesehen wird. 52 Wenn auf ältere Formen der Differenzierung Bezug genommen wird, müssten funktionale Äquivalente in Vorläuferformen der Öffentlichkeit – insbesondere in den Formen der Religions­ ausübung gesucht werden.


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Makroebene

Populationen

� Selektion

Öffentlichkeit als Medium des Wettbewerbs

Mikroebene

Organisationen Handeln

Öffentlichkeit als Medi­ um des Institutionen­ wettbewerbs

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Institutionen

Makroebene

Tradierung (primäre Identifikation)

Replikation (Selektion II) �

Technisierung (Interaktions­ unterbrechung)

Interessen

Mikroebene

� Variation

Erleben

Je mehr sich die Makroebene der menschlichen Kommunikation gegenüber einer Mikroebene des kommunikativen Handelns und Erlebens Einzelner verselbstän­ digt, desto komplexer werden die Institutionengebilde, die das Funktionieren des Netzwerks der Kommunikation sichern. Die Wirkung von Institutionen auf der Mikroebene lässt sich auch beschreiben als implizites Wissen, das in Handlungen zum Tragen kommt, den Handelnden selbst aber normalerweise reflexiv nicht verfügbar ist. Dieser Latenzschutz der Institutionen wird jedoch auf der Makro­ ebene aufgebrochen: das implizite Wissen wird reflektiert, in öffentlicher Diskus­ sion expliziert, und dabei verfestigt oder aufgelöst. Die Akteure erproben neue Institutionengebilde, um sich in einer kulturell erweiterten gesellschaftlichen Umwelt zurechtzufinden. Es erscheint als typisches Merkmal der modernen Gesellschaft, dass der Latenz­ schutz ihrer Instititutionengebilde sich in den Formen der öffentlichen Kommuni­ kation lockert. Institutionen werden beobachtet und damit der Selektion in einem Wettbewerb (zweiter Ordnung) ausgesetzt. Dieser Wettbewerb der Institutionen wird nun seinerseits begrenzt durch den Mechanismus der funktionalen Differen­ zierung. Funktionale Differenzierung erscheint als eine neue Form des Latenz­ schutzes, die sicherstellt, dass z.B. Instititutionen der Wirtschaft mit denen der Politik, Instititionen der Politik mit denen der Religion etc. nicht mehr konkurrie­ ren sondern eine funktionale Autonomie erlangen. Wie ist dies möglich geworden und was folgt daraus? Wettbewerb ist ein Mechanismus der Selektion, der in hohem Maße legitimati­ onsbedürftig ist. Er findet daher bereits unter der Voraussetzung von Öffentlich­ keit statt. Das primäre Mittel der Legitimation von Wettbewerb bildet die Identifi­ kation mit der jeweiligen sozialen Einheit selbst (ihrer „gerechten“ Ordnung o.ä.). Wenn die Konkurrenz individueller und kollektiver Akteure um knappe Ressour­ cen durch staatliche Regulierung in (die pazifizierten) Formen des Wettbewerbs gebannt wird, dann handelt es sich um Eingriffe, deren Legitimität in den jeweili­ gen Populationen durch institutionelle Vorkehrungen legitimiert wird, die sich auf die Definition der jeweils im Wettbewerb erbrachten Leistungen beziehen. Diese Definitionen verwenden einen generalisierenden Bezug auf Leistungen, deren letztlich immer partikulare Substanz durch ihre Verrechtlichung als eine neue Form des Latenzschutzes verborgen bleibt. Die Legitimationswirkung beruht im­ mer noch auf der unterstellten Substanz. Legitimation wird jedoch praktisch durch Verfahren ersetzt,53 partikulare werden durch universelle Institutionen ersetzt. Diese Subsitution der institutionellen Orientierungen erfolgt in einem Institutio­ 53 S. Luhmanns vielzitierte Formulierung von der Legitimation durch Verfahren.


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nenwettbewerb, der in den Medien und Formen moderner Öffentlichkeit stattfin­ det. Das formale, nur auf Konsistenzanforderungen gebaute Recht ersetzt ältere lokal gebundene Rechtstraditionen. Bezogen auf den Staat als Inhaber des Gewaltmo­ nopols tritt anstelle theokratischer Legitimation die Population selbst als Quelle kollektiv bindender Entscheidungen.54 Andererseits werden viele Entscheidungen – einschließlich der Entscheidung über die politische Herrschaft selbst – dem Wettbewerb in funktionsspezifisch ausdifferenzierten Teilöffentlichkeiten über­ lassen. Symbolisch generalisierte Medien wie Geld, Macht, Wahrheit etc.55 entfal­ ten ihre Steuerungswirkung für die moderne Gesellschaft in Märkten der Wirt­ schaft, Politik, Wissenschaft etc. durch spezifische Formen der Publikumsbeteili­ gung, die ohne die technischen Mittel der Massenkommunikation nicht möglich wären. Die Dezentrierung staatlicher Regulierungsmacht in funktionsspezifische Formen des Wettbewerbs kann sich institutionell nur stabilisieren unter der Vorausset­ zung, dass jenseits der staatlichen Sanktionsregime sich neue Formen der Sank­ tionierung herausgebildet haben. Diese Formen zeigen sich insbesondere in den Formen der öffentlichen Billigung und Mißbilligung.56 Der Kontrollkosten spa­ rende Effekt von Öffentlichkeit lässt sich auch darauf zurückführen, dass diese Form der Sanktionierung an die primordialen Formen der Bestrafung abweichen­ den Verhaltens in kleinen Einheiten wiederanknüpft. Die moderne Form der Öf­ fentlichkeit bezieht ihre legitimierende Kraft allerdings nicht aus reziproken Inter­ aktionen (i.S. basaler Wechselseitigkeit57) sondern aus Identifikationen (i.S. basa­ ler Einseitigkeit). Öffentlichkeit ist selbst eine moderne Form der kulturell erwei­ terten Gruppenselektion. Der institutionenbildende Effekt von Öffentlichkeiten beruht auf einer in hohem Maße asymmetrischen Konstellation der Kommunikation zwischen Sendern und Empfängern.58 Die Behandlung von Themen ist dabei selbst als ein Wettbewerb (zweiter Ordnung) veranstaltet, in dem das Publikum (bei sehr geringer Investiti­ on auf seiten der anonymisierten Einzelnen) entscheidet, welche Beiträge ange­ nommen oder abgelehnt werden. Mit der Annahme und Ablehnung von Themen ergibt sich wie von selbst der Gebrauch der damit transportierten (kognitiven und normativen) Unterscheidungen, die sich zu Institutionen der soziokulturellen Umwelt verfestigen. In den Medien und Formen moderner Öffentlichkeit hat sich ein Typ von Beob­ achtungen (zweiter Ordnung) herausgebildet und zu Institutionen verdichtet, der sich deutlich unterscheidet von älteren Strukturen der Kommunikation auf der Makroebene und der in erheblichem Maße auch die Formen der Kommunikation auf der Mikroebene verändert. Die Veränderung besteht in dem gesteigerten An­ teil symbolisch generalisierter, funktionsspezifischer Unterscheidungen mit Bezug auf die innergesellschaftliche Umwelt. Die kulturellen Institutionengebilde lösen 54 Theokratische Legitimationsmuster sind leichter zu vereinbaren mit den unbeabsichtigten Nebenfolgen politischer Entscheidungen. 55 Vgl. die Medientheorien von Parsons und Luhmann, die jedoch weitgehend ohne Bezug auf die Funktion der Öffentlichkeit und die Medien der Massenkommunikation formuliert wurde. 56 Das primordiale Muster der wechselseitigen Sanktionierung in Interaktionskontexten kehrt unter den Bedingungen der mediengestützten Massenkommunikation als asymmetrisches Sank­ tionsregime wieder. 57 Wie in der Öffentlichkeitstheorie von Habermas behauptet. 58 Sie ist gerade wegen dieser Asymmetrie auch kompatibel mit der Annahme eigennütziger Handlungsentscheidungen der Rezipienten.


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sich in einem historisch nie zuvor gekanntem Maße von der raum-zeitlichen Situ­ iertheit der Populationen, von ihren natürlichen Umweltbeschränkungen ab: sie werden dadurch dekontextualisiert, symbolisch generalisiert und sachlich respezi­ fiziert. Das Risiko dieser Sonderentwicklung der soziokulturellen Evolution wird abge­ mildert durch den Fortbestand älterer (segmentärer und stratifikatorischer) For­ men der Umweltdifferenzierung im Institutionenpool der Populationen und im kommunikativen Netzwerk der Gesellschaft. Das Risiko wird auch reduziert durch eine besondere Art von Kompatibilitätstest, dem die auf der Makroebene emergierenden Institutionengebilde laufend unterzo­ gen werden, auf den ich im letzten Abschnitt eingehen möchte. Dieser Test findet in den Medien und Formen ihrer intergenerativen Tradierung statt.

3.3 Tradierung als Kompatibilitätstest Die Beobachtungen zweiter Ordnung, die auf der Makroebene stattfinden und sich durch öffentlichem Gebrauch zu Institutionen verdichten, gewinnen die dafür er­ forderliche Selbstverständlichkeit erst durch ihre (Wieder-) Einbettung in Struktu­ ren des Alltagshandelns und -wissens. Im Sinne einer Mikrofundierung des evolu­ tionstheoretischen Kreislaufmodells muss betont werden, dass die symbolisch generalisierten Konstruktionen der Makroebene abhängig bleiben von ihrem Ge­ brauch in Alltagsstrukturen der Kommunikation auf der Mikroebene.59 In beson­ derer Weise ist der evolutionäre Mechanismus der Tradierung zuständig für die Transmission von Strukturen der Makro- auf die Mikroebene. Der Mechanismus der Tradierung hat eine Doppelfunktion:60 Er übernimmt die Funktion der Replikation des Genpools und hat zugleich die Funktion eines zwei­ ten Mechanismus der Selektion in der soziokulturellen Evolution. In evolutions­ theoretischer Perspektive ist Tradition nicht als gegebener Wissensvorrat sondern als Vorgang der Überlieferung zu betrachten. Hier steht also nicht der Inhalt, das Was des kulturellen Gedächtnisses sondern das Wie seiner Überlieferung im Vor­ dergrund. In der intergenerativen Form der Tradierung liegt – wegen der naturalen Beschränkungen in der ontogenetischen Aneigung der Institutionen – ein Test der kulturell erweiterten Gruppenselektion auf ihre Rückkoppelbarkeit an einfachere und primordiale Mechanismen der Selektion. Der Umstand, dass Menschen nicht nur in höherem Maße als andere Lebewesen dazu fähig sind, aus Umwelterfahrungen zu lernen sondern auch die Ergebnisse ihrer Lernprozesse an nachwachsende Generationen weiter zu geben, wird als ein Unterscheidungsmerkmal der soziokulturellen Evolution angesehen. Es soll die Entkoppelung der soziokulturellen Phänomene von den Bedingungen der organi­ schen Evolution anzeigen. Eine solche Interpretation verkennt jedoch, dass der­ selbe Umstand auch die andauernde Abhängigkeit der soziokulturellen Evolution von den Bedingungen der organischen Evolution markiert. Denn gerade in den Prozessen der intergenerativen Tradierung ist ein Filter eingebaut, in dem organi­ sche und genetische Beschränkungen des ontogenetischen Lernpotentials wirksam werden. So haben nicht alle Erweiterungen des Institutionenpools der Populatio­ 59 Dies erklärt zB., warum Außenminister trotz aller technisch erweiterten Kommunikations- und Administrationsmittel viel reisen und sich (vor laufenden Kameras) die Hände schütteln. 60 Wie schon der Mechanismus der Differenzierung (Restabilisation und zweite Variation) im hier skizzierten Kreislaufmodell.


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nen die gleiche Chance in individuellen Sozialisationsprozessen tradiert zu wer­ den. Die ontogenetisch verankerte Lernkapazität ist beschränkt – insbesondere hinsichtlich der Aneignung universalistischer Orientierungen, die für das Grö­ ßenwachstum sozialer Einheiten so sehr benötigt werden. Die in der sozialisationstheoretischen Literatur beschriebenen Formen der sponta­ nen Entwicklung institutioneller Orientierungen – die Mechanismen der Perspek­ tivenübernahme und der Entwicklung des moralischen Urteils etc.61 – sind typisch gebunden an Formen der Interaktion in sehr kleinen sozialen Einheiten – also ge­ rade nicht kompatibel mit den evoluierten Strukturen großer sozialer Systeme. Deshalb sind entsprechende Stufen- und Phasentheorien unplausibel, soweit sie – über die Effekte der Sozialisation qua Sprache und sprachlich transportierten Be­ deutungen und Bewertungen hinaus – einen koevolutionären Entwicklungsprozess kognitiver Strukturen von der frühen Kindheit bis in das hohe Erwachsenenalter beschreiben wollen.62 In den pädagogischen Einrichtungen, die im Verlauf der soziokulturellen Evoluti­ on für die Zwecke der intergenerativen Tradierung ausdifferenziert worden sind, ist als selbstverständliche Auffassung verankert, dass es darum gehe, die individu­ ellen Fähigkeiten und Kenntnisse von Menschen auf den jeweiligen Stand der Kultur bringen (und sich dafür schulisch organisierten Tests unterziehen). In evo­ lutionstheoretischer Perspektive muss derselbe Vorgang jedoch umgekehrt aufge­ fasst werden: als Test auf Kompatibilität der soziokulturellen Evolution (ein­ schließlich ihrer Effekte auf die natürlichen Umweltbedingungen) mit der natürli­ chen Ausstattung des Menschen (als Teil der Evolution des Lebens). Die generalisierten Institutionen der Gesellschaft werden also im Prozess der in­ tergenerativen Tradierung einem Rezeptionstest unterzogen, in dem diejenigen Teile des Institutionenpools, die sich nicht mit dem ontogenetisch verankerten Potential kognitiver Entwicklung – also mit Mechanismen der Mikroebene ein­ schließlich primordialer Selektion wie Verwandtschaftsaltruismus, Reziprozität und Bestrafung - vereinbaren lassen, wieder vergessen werden. Vielleicht ist dies ein Umstand, der die Risiken der soziokulturellen Sonderevolution etwas redu­ ziert. Zukunftserwartungen in einem erwünschten Sinne lassen sich aus evoluti­ onstheoretischen Überlegungen jedoch nicht ableiten.

61 G.H.Mead, Piaget u.a. 62 Erikson, Kohlberg, Habermas


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Folie 7: Evolutionstheoretisches Modell der Ausdehnung soziokultureller Sy­ steme Systeme

Restabilisation (Variation II) �

Umwelten

Makroebene

Populationen

Verlagerung hierar­ chischer Regulie­ rungsmacht in funk­ tionsspezifisch aus­ differenzierte For­ men des Wettbe­ werbs.

Institutionen

� Selektion

Verwendung kultu­ rell erweiterter Me­ chanismen der Gruppenidentifikati­ on, insbes. in den modernen Formen der Öffentlichkeit.

Mikroebene

Makroebene

Intergenerative Tra­ Replikation dierung der im pu­ (Selektion blikumsbezogenen II) Wettbewerb akkredi­ � tierten Institutionen

Organisationen

Steigerung der raum-zeitlichen Reichweite der Kommunikation durch Technisierung und hierarchische Organisation

Interessen

Handeln

� Variation

Erleben

Mikroebene

Ich komme zum Schluss und fasse zusammen. Die Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme folgt einer evolutionären Strategie, die durch die rekursive Ver­ knüpfung von vier kausal unabhängigen Mechanismen ermöglicht und begrenzt wird, die auf den Institutionenpool der Gesellschaft zurückwirken: 1. Variation: Die Steigerung der raum-zeitlichen Reichweite der Kommunikation durch Technisierung und hierarchische Organisation. 2. Selektion: Die Verwendung kulturell erweiterter Mechanismen der Gruppen­ identifikation, insbesondere in den modernen Formen der Öffentlichkeit. 3. Restabilisation (und erneute Variation): Die Verlagerung hierarchischer Regu­ lierungsmacht in funktionsspezifisch ausdifferenzierte Formen des Wettbe­ werbs. 4. Replikation (und erneute Selektion): Die intergenerative Tradierung der im pu­ blikumsbezogenen Wettbewerb akkreditierten Institutionen.


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