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Klaus Gilgenmann (2004)

Die unwahrscheinliche Ausdehnung der menschlichen Gesellschaft Ein evolutionstheoretischer Ansatz zur Kritik des Luhmannschen Begriffs der Weltgesellschaft Dieser Beitrag bezieht sich kritisch auf den von Niklas Luhmann gemachten Vorschlag, die unter dem Titel Globalisierung beschriebenen Phänomene als Erscheinungsformen eines real existierenden Systems der Weltgesellschaft zu interpretieren. Es wird eingewandt, dass die Luhmannsche Systemtheorie die expandierte und differenzierte Einheit schon voraussetzt, deren Zustandekommen erklärt werden soll. Stattdessen wird ein evolutionstheoretischer Ansatz vorgeschlagen, der sich auf die Unterscheidung genotypischer und phänotypischer Einheiten der soziokulturellen Evolution und Mechanismen der Zufallsvariation und Um1 weltselektion stützt.

Gravierende Veränderungen in den Formen der menschlichen Sozialität sind in jüngerer Zeit vor allem unter dem Titel Globalisierung beschrieben worden. Diesen Beschreibungen wurde vorgehalten, dass sie historisch zu kurz greifen und in gesellschaftstheoretischer Hinsicht zu eng angelegt sind. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Prozessen der Globalisierung hat indessen historische Vorläufer und Varianten zutage gefördert (Berger/Huntington 2002; Lübbe 1996; Sloterdijk 1999; Stichweh 2000c) und die Frage nach der theoretischen Integration der konkurrierenden Beschreibungen aufgeworfen. Der folgende Beitrag bezieht sich kritisch auf den von Niklas Luhmann (1971, 1972, 1997) und Vertretern der Luhmannschen Systemtheorie gemachten Vorschlag, die globalen Veränderungen als Erscheinungsformen eines real existierenden Systems der Weltgesellschaft zu interpretieren. 2 Dagegen wird eingewandt, dass die Luhmannsche Gesellschaftstheorie die Einheit schon voraussetzt, deren Zustandekommen erklärt werden soll.3 Stattdessen wird ein evolutionstheoretischer Ansatz vorgeschlagen. Im ersten Abschnitt werden Unzulänglichkeiten des systemtheoretischen Integrationsangebots auf die Orga1

Der Beitrag ist für einen Sonderband der Zeitschrift für Soziologie über Begriff und Entwicklung der Weltgesellschaft verfasst von deren Herausgebern jedoch nicht angenommen worden. Zu den Gründen der Ablehnung s. Anhang 2 Die hier vorgetragenen Einwände gegen Luhmanns Konzept der Weltgesellschaft treffen nicht oder nur eingeschränkt zu für die Ausführungen von Stichweh (2000) und anderer Arbeiten des Instituts für Weltgesellschaft, die sich auf Luhmanns Konzept berufen. Bei Stichweh finden sich auch Ausführungen zur evolutionstheoretischen Methodologie, die jedoch mit der Theorie der Weltgesellschaft nur lose verknüpft sind (Stichweh 1999, 2000b). 3 In diesem Sinne schliesst der folgende Beitrag an die schon im Exposé der Tagung des Instituts für Weltgesellschaft der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld und der Zeitschrift für Soziologie vom 28. - 30.11. 2002 referierten Einwände gegen Einheitsbegriffe der Gesellschaft an: „Gerade da, wo weltweite Strukturbildung und Verflechtung empirisch wie theoretisch stark in den Vordergrund gerückt wird, vermeidet man vielfach die Inanspruchnahme des Gesellschaftsbegriffs dafür, und dies teils ganz explizit.―

nismus-Analogie zurückgeführt, die sich über Spencer, Durkheim und Parsons in der soziologischen Gesellschaftstheorie behauptet hat. Im 2. Abschnitt wird ein evolutionstheoretischer Erklärungsansatz skizziert, der sich auf die Unterscheidung genotypischer und phänotypischer Einheiten der soziokulturellen Evolution und Mechanismen der Zufallsvariation und Umweltselektion stützt. Im 3. Abschnitt wird die soziokulturelle Besonderheit an Formen der Tradierung festgemacht, die die Funktion der Replikation erfüllen. Im 4. Abschnitt wird die enorme Ausdehnung soziokultureller Populationen durch Technisierungen erklärt, die die Funktion der Variation erfüllen. Im 5. Abschnitt wird die Veränderung der ökologischen Nische soziokultureller Populationen durch Binnendifferenzierung und Wettbewerb beschrieben, die die Funktion der Selektion erfüllen. Im 6. Abschnitt werden Bedingungen der Integration der Gesellschaft in Prozessen der Identifikation und Institutionenbildung bezeichnet, die die Funktion der Restabilisation erfüllen. Im 7. Abschnitt folgen zusammenfassende Bemerkungen über den skizzierten evolutionstheoretischen Ansatz.

1. Der Organismus der Gesellschaft Eine der ältesten Metaphern, die zur Beschreibung der menschlichen Gesellschaft gebraucht wurden, ist die vom sozialen Organismus. In seiner Untersuchung dieser Metaphorik in der soziologischen Theorietradition hat Donald N. Levine ihren methodologischen Status wiefolgt charakterisiert: „It is literally correct to say that human individuals are animals and that human populations are animal populations. But it is metaphorical to say that human society is a biological organism.‖ (Levine 1995, 239)

Metaphern werden gebraucht, um mehr oder weniger unbekannte Phänomene in einen sprachlich vertrauten Zusammenhang zu stellen und dadurch verständlich zu machen. In den Naturwissenschaften ist der Gebrauch von Metaphern üblich als Vorstufe zu ihrer Beschreibung und Analyse mit wissenschaftlichen Fachbegriffen und –methoden. In den Sozialwissenschaften ist der Gebrauch von Metaphern nicht weniger üblich, aber methodologisch umstrittener, da es hier um Phänomene geht, die vertraut und unvertraut zugleich erscheinen und deren Analyse sich häufig einer experimentellen Überprüfung entzieht. Als ein solches Phänomen erscheint auch die menschliche Gesellschaft selbst, insbesondere wenn es darum geht, ihre Ausdehnung und Komplexität zu beschreiben.


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Die Organismus-Analogie wird heute von vielen Sozialwissenschaftlern als biologisierende Beschreibung sozialer Phänomene und Erbstück evolutionistischer Theorieansätze des 19. Jahrhunderts abgelehnt. Es wird jedoch zumeist übersehen, dass die OrganismusMetapher viel älter als die inkriminierten Theorieansätze ist und bereits zum Gedankengut der Antike gehört. (Ballauff u.a. 1984; 1330, 1336-39). Die explizite Distanzierung von der Organismus-Metapher bezieht sich meist auf eine spezifische Version ihrer Verwendung, nämlich Spencers soziologische Entwicklungstheorie, die durch einen noch ungebrochenen Fortschrittsoptimismus, politischen Liberalismus und methodologischen Individualismus bestimmt war. Diese Verwendung wurde allerdings bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts durch nachlassenden Fortschrittsoptimismus geschwächt und hat zu einem Auseinanderfallen ihrer rationalistischen und naturalististischen Konnotationen geführt (Ballauff u.a. 1984; 1342, Hejl 2000). Im 20. Jahrhundert ist die Verwendung der OrganismusAnalogie dann durch ihren politischen Gebrauch als rassistische Legitimationsideologie kompromittiert worden und als „Sozialdarwinismus― zu einer abwertenden Bezeichnung mutiert.4 Sie ist damit jedoch als latentes Muster sozialwissenschaftlicher Erklärungen nicht verschwunden. Sie taucht neuerdings sogar explizit und in gesteigerter Form in der Rede vom sozialen „Superorganismus― wieder auf.5 Nachwirkungen der Organismus-Analogie sind auch in dem systemtheoretischen Konzept der Weltgesellschaft zu erkennen, obwohl deren Vertreter diese Analogie nicht ausdrücklich herstellen, sich z.T. sogar explizit davon distanzieren. 6 Die Zurückweisung der Organismus-Metapher greift jedoch historisch meist zu kurz, weil sie sich auf die Übertragung des Organismus-Konzepts aus der Biologie fixiert7 und nicht sieht, dass die Anwendung der Organismus-Metapher auf menschliche Sozialität eine lange Tradition hat, die auf natürliche Prozesse gar nicht festgelegt ist. Der antike Gebrauch 4 Diese Begriffskonfusion hat Spencer zum ersten Darwinisten gemacht. Die Historiographie hat einen gewissen Einfluss Spencers auf Darwin offengelegt. Andererseits hat die neodarwinistische Theorietradition die Unvereinbarkeit der Spencerschen Entwicklungstheorie mit zentralen Prämissen der Darwinschen Evolutionstheorie herausgearbeitet. s. E. Mayr 1994. 5 In der Biologie wird die Bezeichnung „Superorganismus― zumeist nur auf die „eusozialen― Systeme der Insektenwelt angewandt und von den individualisierten Gemeinschaftsformen unterschieden, die bei den Primaten beobachtet werden (Wieser 1998, S. 461ff). Dennoch wird die Bezeichnung bis heute im Anschluss an Spencer (1897) auch zur Bezeichnung der menschlichen Sozialität verwendet (Stock/Campbell 1996; Richerson/Boyd 1998) 6 Das gilt auch für Niklas Luhmann in Bezug auf Selbstbeschreibungen der Gesellschaft (1997, 912-931) und im Zusammenhang mit der Anwendung des Organisationsbegriffs auf die Gesellschaft. 7 Es geht um das biologische Konzept der Entwicklung des Organismus, das Größenwachstum und Binnendifferenzierung einschließt, und so gut zu teleologischen Entwicklungskonzepten der menschlichen Gesellschaft passt. Die biologische Beschreibung der in den einzelnen Zellen vorprogrammierten Entwicklung zu speziellen Organen, der Verlust ihrer Polyvalenz und die dadurch für den lebenden Organismus erreichbare Anpassung und Erschließung ökologischer Nischen hat, insbesondere auch in der Übertragung auf Ameisen- oder Bienenpopulationen mit Spezialisierung ihrer Individuen für bestimmte Aufgaben, immer wieder als Folie für die Beschreibung eines sozialen „Superorganismus― gedient.

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der Metapher weist zunächst sogar einen ausdrücklichen Bezug zur Künstlichkeit und Machbarkeit des Sozialen auf i.S. des Werkzeugcharakters der Organe (Ballauff u.a., 1330). Es handelt sich also zunächst um einen Metapherntransfer aus dem sozialen Erfahrungsbereich in die Welt der Naturbeobachtung. Das unbekannte Innenleben des menschlichen Körpers wird nach dem Muster des Werkzeuggebrauchs im sozialen Alltag beschrieben. Ideengeschichtlich handelt es sich hier um das typische Hin- und Herwandern der Metaphern zwischen verschiedenen Erfahrungsbereichen, das sich bis in die Moderne als Metapherntransfer zwischen Bio- und Sozialwissenschaften (in beiden Richtungen) fortsetzt.

Ideengeschichtlich führt die Rezeption der antiken Auffassung vom Werkzeugcharakter des Organismus– einem Werkzeug, das beim Menschen überhaupt erst durch göttliche Beseelung zum Leben erweckt wird – im europäischen Mittelalter auf verschlungenen Pfaden zu einer Maschinentheorie des Lebens, die das naturwissenschaftliche Denken zu Beginn der Neuzeit bestimmt (a.a.O. 1330ff). Auch in den Sozialtheorien der frühen Moderne ist die werkzeughafte Auffassung der Organismus-Metapher, ihre Nähe zum Künstlichen, Maschinenhaften erhalten geblieben. Sie wird so zum Teil der Fortschrittskonnotation in den Theorien der europäischen Aufklärung und reproduziert sich trotz methodologischer und politischer Divergenzen in den entsprechenden Sozialtheorien bei Comte und Marx, Spencer und Durkheim. Mit der Krise des Fortschrittsglaubens im neunzehnten Jahrundert beginnt der Gebrauch der OrganismusAnalogie auseinanderzufallen in sozialtechnisch rationalistische und sozialkonservativ romantische Auslegungsvarianten. In beiden wird die Analogie vom Bezug auf die Gesellschaft als Ganze abgelöst. In der konservativen Variante wird die Assoziation der Natürlichkeit von der Gesellschaft insgesamt auf die Reproduktion traditioneller Gemeinschaftsformen verlagert. „Organische Solidarität― wird nicht mehr vom System gesellschaftlicher Arbeitsteilung insgesamt, sondern eher in der Interaktion unter Anwesenden, in der gewachsenen „Lebenswelt― und nicht im technisierten „System― erwartet. In der rationalistisch-affirmativen Variante wird die Assoziation der technischen Machbarkeit von der Gesellschaft insgesamt auf jene Einheiten verlagert, die heute gemeinhin - aber ohne die Assoziation von Natürlichkeit - als Organisationen bezeichnet werden, deren Ursprung in Formen der staatlichen Herrschaftsverwaltung und deren Verbreitung zu vielfältig verschiedenen Zwecken als typisches Merkmal der modernen Gesellschaft gesehen wird. Der explizite Gebrauch der Organismus-Metapher wird in den modernen Sozialwissenschaften allmählich verdrängt und ersetzt durch paradigmatisch konkurrierende Theorieansätze, in denen sich entweder eine rationalistisch-technische Auffassung – insbesondere in Vertragstheorien und im methodologischen Individualismus – oder eine naturalistischganzheitliche Auffassung – insbesondere in Systemtheorien


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und im methodologischen Funktionalismus – reproduziert. Die holistische Vorstellung steht auch hinter dem differenzierungstheoretischen Konzept der – tendenziell welteinheitlich konstituierten - Gesellschaftsgeschichte9. Mit der Systemtheorie taucht in der Mitte des 20. Jh. eine neue Terminologie auf, die noch einmal dieselbe Offenheit gegenüber Natur- und Werkzeugbezug aufweist, wie er die Organismus-Metapher ursprünglich auszeichnete. Sie wird als Sozialtheorie zunächst aus der kybernetischen Systemtheorie (also mit Werkzeugbezug) auf soziokulturelle Verhältnisse übertragen und erst später im Anschluss an die biologische Systemtheorie für 10 diese Zwecke reformuliert. Die Umweltoffenheit des Systemkonzepts wird in der Luhmannschen Theorie dann geschlossen, indem soziale Systeme wie lebende Organismen als autopoietisch bezeichnet und in dieser Hinsicht von Maschinen abgegrenzt werden. Die folgenreichste Theorieentscheidung Luhmanns (mit der er sich auch von Spencer, Durkheim und Parsons unterscheidet) besteht nun darin, diese als autopoietisch bezeichneten Systeme strikt von lebenden Organismen abzugrenzen und ihre Operationen auf einer anderen Realitätsebene anzusiedeln: „Geht man von ... einer am Systembegriff orientierten Gesellschaftstheorie aus, kann soziokulturelle Evolution nicht auf dem Kontinuum der organischen Evolution angesiedelt werden. ... Soziokulturelle Evolution ist Evolution eines ganz andersartigen Typs von System. Es geht nicht um eine Fortsetzung der Evolution des Lebens, es geht überhaupt nicht um ein lebendes System.― (Luhmann 1983, 198)

Damit ergeben sich gravierende Abweichungen von dem Theorieprogramm, das mit dem Namen Darwins verknüpft wird und als neodarwinistische Synthese bezeichnet wird (Mayr 1994). An vielen Stellen der Luhmannschen Theorie finden sich Formulierungen, mit denen er es ablehnt, Probleme der Umweltanpassung in die Beschreibung sozialer Systeme einzubeziehen. Die lapidare Begründung lautet, dass man mit der Existenz des Systems von seiner Angepasstheit ausgehen müsse. Sie macht deutlich, dass der Begriff des autopoietischen Systems selbst nach dem ontogenetischen Modell des Organismus konzipiert ist und nicht nach dem phylogenetischen Modell umweltabhängiger Populationen von Individuen mit zufallsvariablem Genpool. Die evolutionstheoretische Perspektive ist die eines Beobachters, der sich in objektiver Einstellung auf Veränderungen in der Welt bezieht. Der Luhmannsche Begriff der Weltgesellschaft als das System, das alle sozialen Sinnoperationen umfasst, trägt dagegen weitgehend phänomenologisch-subjektive Züge. Er

8 Auf den Gebrauch der Organismus-Analogie in der funktionalistischen Theorietradition und deren explizite Stoßrichtung gegen evolutionstheoretische Ansätze hat R.K. Merton bereits 1948 hingewiesen mit Bezug auf Radcliffe-Brown, Malinowski, Durkheim und Parsons (Merton 1995; 19,29,40) 9 Zur Kritik dieser Theorietradition s. Tenbruck (1989) s. auch seine Fussnote 18 zu Luhmanns Konzept der Weltgesellschaft. 10 Ähnlich wie der Organismus-Bezug bei Comte hat auch die Systembegrifflichkeit die wissenschaftspolitische Funktion der sozialwissenschaftlichen Terminologie einen naturwissenschaftlichen Anstrich zu geben, obwohl der metaphorische Gebrauch eher dagegen spricht.

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basiert auf der Beschränkung auf Sinnoperationen und deren kosmologischer Ausdehnung. Luhmanns primäres Argument für die Auffasssung der Gesellschaft als Weltgesellschaft ist deshalb nicht empirisch, sondern differenzierungstheoretisch angelegt: Von einer (und nur einer) Weltgesellschaft ist die Rede, weil sie als eine sinnkonstituierte (und in dieser Hinsicht umweltlose) Einheit aufgefasst wird, die als solche nur nach Innen differenziert ist. In Abgrenzung zu den materiellen, raum-zeitlichen Bezügen im Begriff der Globalisierung wird damit ein Konzept der symbolisch generalisierten Sozialität vorgestellt, das universell anwendbar ist.11 Von Luhmanns Konzept der Weltgesellschaft lässt sich ein ideengeschichtlicher Bogen bis zum antiken Ursprung der Organismus-Analogie zurückschlagen. Bereits in der Antike ist diese Analogie vom Werkzeuggebrauch über den menschlichen Körper auf die ganze Welt ausgedehnt worden. Platon beschreibt die Welt als immaterielles und umweltloses Hyperlebewesen. 12 Der kosmologische Gebrauch der Organismus-Analogie gelangt über Schelling in die Sozialtheorie von Spencer und von diesem über Durkheim, Parsons, Habermas und Luhmann in die Lehrbücher der soziologischen Differenzierungstheorie (Wagner 1999, 37-60). Bis heute wird die Analogie zwischen individuellem Organismus und entwickelter Sozialität allerdings auch in der umgekehrten Richtung angewandt, wenn nämlich der Organismus als soziale Ordnung der Zellen gedeutet wird (Sloterdijk 2004, 295ff; Zeleny 1999). Diese Umkehrung, die schon bei Spencer zu finden ist (1897; 462), steht im Gegensatz zum Gebrauch der Organismus-Analogie als einer selbstverständlich vorausgesetzten, unauflöslichen Meta-Einheit in der holistisch-differenzierungstheoretischen Tradition. Sie macht am biologischen Fall deutlich, dass es sich bei der gesuchten Einheit um eine stets gefährdete, evolutionär unwahrscheinliche Errungenschaft handelt, die in ihrem genetischen Potential der Zufallsvariation und in ihrem lebendigen Verhalten der Umweltselektion ausgesetzt ist. Der Gebrauch der Organismus-Analogie in diesem umgekehrten Sinne ist mit den Prä11 Vgl. Luhmann 1975, 64ff Die zur Spezifikation gegenwärtiger Verhältnisse hinzugefügte empirische Behauptung, wonach die kosmologische Idee sich infolge des Gebrauchs von technischen Kommunikationsmitteln in einen realen Weltzusammenhang verwandelt hat, ist mit der theoretischen Beschränkung auf sinnkonstituierte Ereignisse nur schwer vereinbar. Obwohl das Argument in das Theoriedesign nach der „autopoietischen Wende― nicht mehr passt, wird es in der Gesellschaftstheorie wiederholt (Luhmann 1997, 148). Auch Stichwehs Versuch, (2000c) die Vereinbarkeit phänomenologischer und struktureller Begriffe der Weltgesellschaft innerhalb der Luhmannschen Systemtheorie nachzuweisen, scheitert m.E. an der Immaterialität der Elementarereignisse im Luhmannschen Konzept. S. davon methodologisch abweichende Hinweise auf physische Voraussetzungen der Kommunikation, insbesondere der Zeitwahrnehmung (Stichweh 2000b). 12 Ein „zoon aidion on‖ (Timaios 37d) wie Sloterdijk notiert. „Platons übergroße Antwort auf die große Frage nach dem Grund des Zusammenseins von Menschen mit ihresgleichen und dem übrigen erreicht die Ebene letzter theokosmologischer Aussagen mit einem kühnen, gegen bürgerliche Bedenken rücksichtslosen Sprung. Seinen Thesen zufolge verkörpert das Weltganze ein vollendetes Kunstwerk - anderen Wendungen nach sogar einen real existierenden seligen Gott oder ein umweltloses und immerwährendes Hyper-Lebewesen, das seiner alleinbegreifenden Beschaffenheit entsprechend sämtliche Einzelwesen überholt, umfängt und integriert.― (Sloterdijk 2004)


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missen der Darwinschen Evolutionstheorie eher vereinbar als die holistisch-metaphysische Konzeption einer soziokulturellen Entwicklungslogik. Es handelt sich jedoch in beiden Fällen (solange die Organismus-Analogie im Zentrum steht) nicht schon um einen evolutionstheoretischen Ansatz. Marion Blutes Diagnose (1979), wonach es sich bei der Darwinschen Evolutionstheorie um einen Theorieansatz handelt, der trotz vieler Begriffsanleihen in den Sozialwissenschaften noch nicht wirklich ausprobiert worden ist, trifft zumindest für die Beschreibung globaler Veränderungen der menschlichen Sozialität noch immer zu. Das systemtheoretische Konzept der Weltgesellschaft ist mit den Prämissen der Darwinschen Evolutionstheorie nicht kompatibel, obwohl es sich in Bezug auf die historische Dimension ausdrücklich auf die Darwinsche Theorie beruft.13

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Wenn nicht zu bestreiten ist, dass auch menschliche Individuen Lebewesen sind, die in Populationen zusammenleben, warum wird dann die Veränderung menschlicher Sozialitäten nicht mit denselben theoretischen Mitteln untersucht, die auf Pflanzen- und Tiergemeinschaften angewandt werden? Von den vielen möglichen Antworten auf diese Frage sollen im Folgenden nur diejenigen genauer betrachtet werden, die sich auf Schwierigkeiten bei der Übertragung des Darwinschen Theorieansatzes auf die soziokulturellen Besonderheiten menschlicher Populationen beziehen. 14 Eine Theorie der soziokulturellen Evolution, die sich an dem Theorieprogramm orientiert, das von Darwin und den Neodarwinisten mit bezug auf biologische Phänomene entwickelt wurde, muss erstens phänotypische und genotypische Einheiten unterscheiden und einen Mechanismus der Vererbung (Replikation) angeben, der durch Beide hindurch wirkt. Sie muss zweitens Mechanismen der Variation und Selektion unterscheiden, die kausal unabhängig voneinander wirken und deren Zusammenwirken abweichende Formen erklärt. Die dem Konzept der Weltgesellschaft zugrunde liegende Systemtheorie hat aufgrund ihrer Prämissen (der Universalisierung des Systembegriffs und der Negation einer systemunabhängigen Umwelt) erhebliche Schwierigkeiten, evolutionäre Einheiten und Mechanismen in dieser Weise zu bezeichnen. Für einen Mechanismus der Replikation gibt es bei Luhmann keine Angaben, obwohl der Bezug auf das Autopoiesis-Konzept naheliegt. Da die autopoietische Reproduktion jedoch als Eigenschaft aller sozialen Systeme vorausgesetzt wird, lässt sie sich nicht als

Mechanismus spezifizieren. Die Möglichkeit, einen genotypischen Kern kommunikativer Netzwerke von ihrer phänotypischen Gestalt zu unterscheiden, ist mit der Totalisierung der Systembegrifflichkeit verschwunden. Für einen Mechanismus der Variation gibt es bei Luhmann ausführliche Angaben, die allerdings mit Bezug auf Eigentümlichkeiten der menschlichen Sprache nur unzulänglich das Ausmaß berücksichtigen, in dem die Evolution von Menschengesellschaften durch intentionale Prozesse gesteuert wird, mittels Technik immer größere soziale Einheiten bildet und ihre ökologische Nische auf Kosten anderer Lebewesen ausdehnt. Phänomene der Globalisierung sind damit nicht erklärbar. Auch für einen Mechanismus der Selektion gibt es bei Luhmann ausführliche Angaben, die jedoch dadurch in ihrer Anschlußfähigkeit (nicht nur gegenüber biologischen, sondern auch gegenüber ökonomischen Evolutionstheorien) gemindert werden, dass eine von den systemeigenen Operationen unabhängige Umwelt, durch die die Fitness der evoluierenden Einheiten bestimmt würde, bestritten wird. Damit wird es unmöglich, die soziokulturelle Evolution des Menschen als eingebettet in die Evolution des Lebens zu verstehen. Deshalb reduziert sich die Anwendung der Darwinschen Terminologie auf eine Analogiekonstruktion. Im Folgenden werden Vorschläge zur Unterscheidung phänotypischer und genotypischer Einheiten und kausal unabhängig voneinander wirkender Mechanismen der soziokulturelle Evolution gemacht, um die Schwierigkeiten bei der Übertragung des Darwinschen Theorieansatzes auf soziokulturelle Verhältnisse zu überwinden und Makrophänomene der menschlichen Sozialität im Rahmen eines evolutionstheoretischen Ansatzes zu interpretieren. Diese Vorschläge werden als Theorieprogramm zunächst schematisch umrissen und in den folgenden Abschnitten (in der hier gebotenen Kürze) ausgeführt. In der Anwendung evolutionstheoretischer Begriffe auf soziokulturelle Verhältnisse ist zunächst zu beachten, dass die evolutionsbiologisch grundlegende Unterscheidung zwischen operativ geschlossenen genotypischen Einheiten und umweltoffen operierenden phänotypischen Einheiten nicht direkt übersetzbar ist in die Unterscheidung zwischen einer Mikro- und einer Makroebene der menschlichen Sozialität.15 Die in den Sozialwissenschaften verbreitete Mikro-MakroUnterscheidung bezieht sich - auf beiden Ebenen - auf

13 Obwohl Luhmann Marion Blutes Kritik in FN 23 des Evolutionskapitels

15 Die biologischen Molekulareinheiten sind keine operativ offenen Einhei-

(1997, 425) zustimmend zitiert, muss in Frage gestellt werden, ob er sie ernst genommen hat. 14 Natürlich sind hier so viele Antworten möglich, wie es Traditionen der theoretischen Reflexion über menschliche Sozialformen gibt. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, dass es auch unter Evolutionsbiologen keinen Konsens darüber gibt, ob die Übertragung der Darwinschen Prämissen auf soziokulturelle Verhältnisse möglich ist. Vgl. nur Gould 1998 (der von Luhmann zustimmend zitiert wird) vs. Dawkins 1982.

ten der Mikroebene in der Art, wie mikrotheoretisch ansetzende Handlungstheorien Individuen beschreiben, sondern Resultate von Selektionsprozessen, die sich auf der phänotypischen Ebene vollziehen. Allerdings gibt es auch in der Evolutionsbiologie die vom mainstream abweichende Position, worin die Gene als operative Einheiten betrachtet werden, die das phänotypische Verhalten der Individuen steuern. Sie werden daher auch als die eigentlichen Objekte der Selektion betrachtet. S. E. Mayr 1997 im Gegensatz zu Dawkins 1982, 1996.

2. Ein evolutionstheoretischer Ansatz


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phänotypische Einheiten (die je nach methodologischen Prämissen als explanans oder explanandum dienen). Die evolutionstheoretische Unterscheidung basaler und operativer Einheiten ist jedoch im Ansatz durchaus offen, also mit weiteren Ebenenunterscheidungen auf der phänotypischen Ebene vereinbar. Die Wirkung der Selektion kann sich auch auf Gruppen von Individuen und auf ganze Populationen beziehen. 16 Dies wird wichtig, wenn es darum geht, sehr große soziokulturelle Systeme zu erklären.

che Individuen und mittels Kommunikation erweiterte Einheiten bezeichnet, die der (inneren und äußeren) Umweltselektion ausgesetzt sind. Als genotypische Einheiten werden dagegen Institutionen bezeichnet, die als latente Voraussetzungen der Kommunikation repliziert und variiert werden. 18 Institutionen sind innerhalb der Kommunikation geteilte, also erwartbare (symbolisch generalisierte) Erwartungen.19 Sie werden hier als basale Einheiten betrachtet, die in ähnlicher Weise informationell geschlossen gegen Umwelteindrücke sind wie die Gene der Organismen. Soziobiologische Soziokulturelle Kausale Das Problem der Übertragung der evolutionsbiologiEinheiten Einheiten Einheiten Einwirkungen schen Unterscheidung auf soziokulturelle Verhältnisse Gesellschaften, des Menschen ist also nicht im Fehlen von InterdepenEmergente Populationen, Gesellschaftssysteme denzunterbrechungen zu sehen, sondern eher darin, dass Einheiten Arten (Makroebene) Selektion, sich diese nicht in gleicher Weise als EbenenunterMenschliche IndiviOperative Individuelle Restabilisation scheidungen abbilden lassen wie in der Biologie. Ausduen Einheiten Organismen gehend von der in den Sozialwissenschaften eingeführ(Mikroebene) ten Unterscheidung zwischen einer Mikro- und einer Gene, Institutionen, Basale Replikation, Makroebene sozialer Phänomene wären phänotypische Genkomplexe Institutionenkomplexe Einheiten Variation (Genpool) (Institutionenpool) und genotypische Einheiten auf beiden Ebenen zu berücksichtigen.20 Aus diesem Grunde wird im Folgenden Für die Evolutionstheorie ist auch die kausale Unab- mit einer Kombination der beiden Unterscheidungen in hängigkeit in der Wirkungsweise der Mechanismen der einer Vierfelder-Tafel gearbeitet, die es erlaubt, UnterVariation und Selektion von grundlegender Bedeutung. brechungen auch in der horizontalen Dimension abzuIn der Evolutionsbiologie erscheint diese Unterschei- bilden. dung leichter vollziehbar als in der Soziologie, da die Wirkungsmechanismen auf verschiedene Einheiten – Systeme Umwelten Gene und Organismen – bezogen werden, die sich in ihrer Operationsweise strikt unterscheiden. In der Bio- MakroPhänotyp II Phänotyp III logie ist die Annahme heute unumstritten, dass die Ge- ebene Organisationen Gesellschaften ne der Organismen informationell geschlossene Einhei(Staaten, Kirchen, Firmen, (Populationen mit InstitituSchulen etc.) tionenpool) ten in dem Sinne darstellen, dass lebensgeschichtliche Erfahrungen der Organismen darin nicht eingehen und Phänotyp I Genotyp weitergegeben werden können. Daher werden Verände(Sozialisierte) Individuen (Tradierte) Institutionen Mikrorungen von Populationen lebender Organismen durch ebene Umweltselektion auf der Grundlage zufälliger Variation Handeln Erleben erklärt. Mechanismen der Selektion wirken auf die Einheit des Organismus, Mechanismen der Variation auf die Einheit des Genoms. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass mit Bezug auf 18 Die Unterscheidung genotypischer und phänotypischer Einheiten, die in der neodarwinistischen Evolutionstheorie betont wird, wird in vielen Thedie soziokulturellen Phänomene bei Menschen eine orien der soziokulturellen Evolution wie auch bei Luhmann vernachläsebenso klare Abgrenzung der Einheiten, auf die evolusigt. In anderen Ansätzen wird die Schwierigkeit betont, eine basale operativ geschlossene Replikationseinheit zu identifizieren, ausdrücklich als tionäre Mechanismen einwirken, getroffen werden Hindernis für die Anwendung von Evolutionstheorie auf die soziokulturel17 kann. Als phänotypische Einheiten werden menschlile Verhältnisse von Menschen. S. die Hinweise bei Stichweh (1999; 9) auf 16 Auch diese Ansicht ist innerhalb der Evolutionsbiologie nicht unumstritten s. zustimmend E. Mayr 1997, im Gegensatz zu Gould 1998. Es ist hier zu unterscheiden zwischen der prinzipiellen Erweiterbarkeit des evolutionstheoretischen Ansatzes auf höheraggregierte Objekte der Selektion und ihrer Anwendung auf den Gegenstandsbereich der Biologie. Weitgehende Übereinstimmung besteht, dass Phänomene der Gruppenselektion im Bereich der Biologie nur unter sehr voraussetzungsreichen Bedingungen vorkommen. Wieser (1998; 459, 501ff ) hält die Annahme jedoch auch im Bezug auf biologische Systeme für unverzichtbar. 17 Dies wird sowohl aus der Perspektive der biologischen Evolutionstheorie bezweifelt – so Gould (1998) mit Bezug auf die Intentionalität menschlichen Handelns, Technik etc. – wie auch aus soziologischer Perspektive. Daher Luhmanns Vorschlag für die eher analytische Unterscheidung zwischen Kommunikationen, Strukturen und Systemen (1997, 454).

konkurrierende Lösungsversuche für Probleme bei der Identifikation eines funktionalen Äquivalents für die genetische Replikation. 19 Zur Verdeutlichung des sozialen Charakters spricht Luhmann von „Erwartungserwartungen―, vermeidet aber den Institutionenbegriff. Er unterscheidet in seinem evolutionstheoretischen Ansatz nicht zwischen phänotypischen und genotypischen Einheiten, weil in seinem Theorieansatz alle Formen der Kommunikation bereits die operative Geschlossenheit aufweisen, die hier nur für die genäquivalenten Institutionen behauptet wird. 20 Im Vergleich mit evolutionstheoretischen Ansätzen in der Ökonomie, der Psychologie und in Teilen der Soziobiologie besteht der spezifisch soziologische Ansatz hier darin, die individualistischen Unterstellungen aufzulösen, die sich mit der vielzitierten Metapher vom „egoistischen Gen― (Dawkins 1996) verbinden. Gene sind weder egoistisch noch altruistisch, sondern per se transindividuelle (wenn man so will: kollektive) Einheiten. Die Operationsweise der Gene ähnelt insofern weitaus mehr der von Institutionen als der von Individuen.


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Die horizontale Gliederung des Schemas folgt der Unterscheidung von Selbst- und Fremdbezügen der Kommunikation, die sich auf der Mikroebene in der Unterscheidung von Handlungs- und Erlebenskomponenten, auf der Makroebene in der Unterscheidung von System und Umweltbezügen niederschlägt. Der mikrotheoretische Ansatz mit der Unterscheidung von Handeln und Erleben lehnt sich in gewissem Umfang an die Unterscheidung von Komponenten der Kommunikation in Luhmanns Theorie sozialer Systeme an. Sie weicht jedoch dann mit Bezug auf den hybriden Charakter kommunikativer Phänomene (als Kombination symbolischer materieller Operationen) davon ab. Luhmann grenzt seinen Begriff der Kommunikation als Elementareinheit sozialer Systeme von handlungstheoretischen Ansätzen ab durch die Fokussierung auf symbolisch generalisierte Verstehensleistungen. Die Einheit der Kommunikation wird deshalb rekursiv durch die dritte Komponente vollzogen, die Operation des Verstehens als Unterscheidung von Mitteilung und Information.

Alter

Mitteilung

Information

Ego

Anschlusshandeln

Verstehen

Handeln

Erleben

Anschlussoperationen sind in Luhmanns Definition ausgeklammert, obwohl der Vollzug von Verstehensoperationen jenseits des individuellen Bewußtseins nur in Anschlusshandlungen (oder ihrem Ausbleiben) sichtbar wird und die Fokussierung sozialwissenschaftlicher Beobachtung auf Mitteilungshandlungen von daher nicht überraschen kann. Luhmann räumt ein, dass sich die Reduktion auf Handlung evolutionär bewährt hat, insistiert aber darauf, dass die sozialwissenschaftliche Beobachtung dies nicht unreflektiert nachvollziehen müsse, und regt an, die Kulturrelativität des Handlungsmodells zu überprüfen (Luhmann 1984, 233). Die Frage, inwiefern die Präferenz für handlungstheoretische Auffassungen ein kulturrelatives Phänomen ist, soll hier offengelassen werden. Bedenkt man, dass die Erlebenskomponenten der Kommunikation sich der direkten Beobachtung (am Anderen) weitgehend entziehen, dann liegt es nahe, eine universelle Präferenz zu vermuten. Zumindest für die okzidentale Tradition (des instrumentell-rationalistischen Aktivismus) muss man annehmen, dass eine allgemeine Umstellung der Beobachtungsperspektiven von Handeln auf Erleben überhaupt erst denkbar geworden ist vor dem Hintergrund technisch erweiterter Kommunikationsmittel – insbesondere in den Medien der modernen Massenkommunikation. Hier sind es zwar immer noch Handlungen (von Organisationen), die das mediale Substrat samt Informationen bereitstellen, jedoch wird in dieser Konstellation die Selektionsmacht des Publikums erkennbar. Der eigenständige (von individuellem Bewußtsein unabhängige) Charakter der kommunikativen Operation des Verstehens, den Luhmann so stark herausstellt, erklärt sich aus der asymmetrischen Form des Publikumsverhaltens.

Die Anordnung phänotypischer und genotypischer Einheiten und der evolutionären Mechanismen im folgenden Schema soll einen zirkulär-rekursiven Verlauf dar-

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stellen. Im Hinblick auf Besonderheiten der soziokulturellen Evolution werden die Mechanismen der Variation und Selektion zweifach eingesetzt (aufsteigend als primäre Variation und Umweltselektion, absteigend als sekundäre, restabilisierende Selektion und als primordiale, replikative Variation) und in ihren kausalen Wirkungen auf die jeweiligen Einheiten bezogen. Das emergente Phänomen der globalen Ausdehnung soziokultureller Populationen soll also durch die rekursive Verknüpfung21 evolutionärer Mechanismen in einem kreisförmigen Verlaufsschema erklärt werden, das sich spiralförmig erweitert.

Systeme

Selektion 

Umwelten

Makroebene

Organisationen (Phänotypik II)

3. Wettbewerb Makrofundierung (Ausdehnung und Binnendifferenzierung)

Gesellschaften (Phänotypik III)

Makroebene

 Variation

2. Technisierung upward causation disembedding

Soziokulturelle Evolution (Modell der spiralförmigen Ausdehnung)

4. Identifikation downward causation reembedding

Restabilisation 

Mikroebene

Individuen (Phänotypik I)

1. Tradierung Mikrofundierung take-off

Institutionen (Genotypik)

Mikroebene

Handeln

 Replikation

Erleben

Die replikative Tradierung fungiert in diesem Schema als Mikrofundierung der soziokulturellen Evolution – komplementär zur Makrofundierung der soziokulturellen Evolution in wettbewerbsgesteuerten Prozessen der Ausdehnung und Binnendifferenzierung der innergesellschaftlichen Umwelt. Die variationserzeugende Technisierung in spezifischen Ego-Alter-Konstellationen des Handelns fungiert in aufsteigender Linie als Entknüpfung der Makroebene – komplementär zur restabilisierenden Identifikation in spezifischen Ego-Alter-Konstellationen des Erlebens als rückwirkende Verknüpfung der Makroebene mit der Mikroebene in absteigender Linie.

Die anhaltende Faszination der Organismus-Analogie in den Sozialwissenschaften kann wohl auch darauf zurückgeführt werden, dass die im Vergleich mit anderen Lebewesen beispiellose Expansion und Vielfalt menschlicher Sozialformen eher einen metaphorischen Bezug auf biologische Vorbilder als eine direkte Übertragung der für Tier- und Pflanzensozialitäten entwickelten Theorie nahelegt. Dennoch soll im Folgenden gezeigt werden, dass die globale Ausbreitung von Makrophänomen der menschlichen Sozialität mit evolutionstheoretischen Mitteln erklärt werden kann. Die Expansion und Vielfalt der Formen menschlicher Sozialität muss nicht als Bruch mit den Kräften verstanden werden, die die genetisch-organische Evolution der Lebewesen bestimmen, sondern kann - unter Bezug auf die besonderen kognitiven und technischen Mittel, die 21 Diese Anordnung ist nicht als zeitliche Abfolge, sondern als rekursive Verknüpfung zu verstehen. Alle Mechanismen fungieren gleichzeitig, sie „warten― nicht auf bestimmte Ereignisse, greifen jedoch rekursiv auf gegebene Ereignisse zurück.


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die organische Ausstattung des Menschen ermöglicht haben - als deren kulturelle Erweiterung beschrieben werden. Die erste und wichtigste Abweichung gegenüber dem biologischen Ausgangsmodell, die als Besonderheit der soziokulturellen Evolution näher zu beschreiben ist, bezieht sich auf den evolutionären Mechanismus der Replikation und die Bezeichnung der Einheiten, auf die er wirkt. Tradierung wird als basaler Replikationsmechanismus bezeichnet, der in rekursiver Verknüpfung mit den Mechanismen der Variation und Selektion die Veränderung des Institutionenpools soziokultureller Populationen ermöglicht und beschränkt.

3. Tradition und Individualität Die Besonderheit der soziokulturellen Verhältnisse von Menschen wird gewöhnlich in ihrer Fähigkeit zur Weitergabe lebensgeschichtlich erworbener Eigenschaften (Wissen und Fertigkeiten) von Generation zu Generation gesehen:22 „Durch die Fähigkeit, Symbole (Sprache) zu erfinden und zu gebrauchen, gewinnt der Mensch die Möglichkeit, Wissen zu sammeln und weiterzugeben. Daraus erwächst ihm ein Mittel der innerartlichen Informationsübertragung, das in Konkurrenz zum biologisch-genetischen Transfer tritt und die kulturelle Evolution einleitet. Kulturelle Neuerungen werden durch Lernen erworben und durch Belehrung und Tradition vermittelt. Sie können nicht nur an die Nachkommenschaft, sondern an „jedermann" weitergegeben werden. Der Austausch dieser erworbenen Information erfolgt deshalb wesentlich schneller und effektiver.― (Vollmer 1998 S. 85)

Wenn diese Beschreibung richtig ist, dann ist es für eine neodarwinistische Theorie der soziokulturellen Evolution von ausschlaggebender Bedeutung, die Einheiten genauer zu bestimmen, die die soziokulturelle Vererbung von Eigenschaften ermöglichen. Es muss sich um Einheiten handeln, in denen die soziokulturelle Offenheit für die Verarbeitung von Umwelterfahrungen mit der operativen Geschlossenheit der genotypischen Einheiten der organischen Evolution funktional kombinierbar ist. Es sind diese kulturspezifischen Objekte der Replikation, für die hier die theorietraditionelle Bezeichnung der Institution reserviert worden ist (Durkheim 1961, 100). Institutionen sind in der reflexiven Form ihres Erscheinens auf der Makroebene nicht informationell geschlossen gegenüber Umwelterfahrungen. Sie weisen jedoch in ihrer primären Form als symbolisch generalisierte Erwartungsstrukturen auf der Mikroebene eine funktional äquivalente operative Geschlossenheit gegenüber intentionalen Einwirkungen auf wie ihre genetischen Äquivalente in der organischen 22 Diese Besonderheit wird von Evolutionsbiologen in Anspielung auf die hinsichtlich der Weitergabe lebensgeschichtlich erworbener Eigenschaften in der organischen Evolution widerlegte Aufassung Lamarcks auch als „Lamarckismus― der soziokulturellen Evolution bezeichnet. s. auch den Begriff der tradigenetischen Evolution bei Vogel 2000b.

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Evolution. Die Bedingungen der Möglichkeit und der Veränderung dieser evolutionären Errungenschaften sind Gegenstand der Ausführungen in den folgenden Abschnitten. 23 In der Beschreibung des Mechanismus der Vererbung ist demnach die Einheit der natürlichen und kulturellen Evolution und die spezifische Differenz ihrer Mechanismen und operativen Einheiten zu entfalten: Das gemeinsame – und ihre Einheit verbürgende – Moment besteht in dem spezifischen Charakter der Replikationsfunktion: der Weitergabe der Molekulareinheiten von Generation zu Generation, die den Engpass der Geburt und Erziehung neuer Individuen passieren muss. 24 Der Unterschied, insbesondere im Tempo evolutionärer Veränderungen, ergibt sich aus der Verschiedenheit der Eigenschaften von Genen und Institutionen, die im Folgenden zu entfalten ist. Trotz aller Unterschiede bleibt die andauernde Abhängigkeit der kulturellen Evolution von natürlichen Gegebenheiten erhalten. Sie kommt – wie in diesem Abschnitt auszuführen - in der Replikationsfunktion in besonderer Weise zum Ausdruck. Vor diesem Hintergrund lassen sich die kulturellen Errungenschaften der menschlichen Sozialität als Mittel zur Erreichung der „Ziele― der genetisch-organischen Evolution – der Selbstausbreitung von Populationen unter Umweltbeschränkungen – interpretieren. Diese Eingebettetheit ist als Grund dafür anzusehen, dass die in der Evolutionsbiologie entwickelten Erkenntnisinstrumente sich in plausibler Weise auch auf Phänomene der soziokulturellen Entwicklung des Menschen anwenden lassen. 25 Die in der biologischen Evolutionstheorie verwendete Unterscheidung von genetischen Einheiten, lebenden Organismen und Populationen ist uneingeschränkt auch in der Beschreibung soziokultureller Evolution anwendbar. Die (rekursive) Verknüpfung zwischen den transindividuellen Einheiten auf der Mikroebene (hier Institutionen) und den transindividuellen Einheiten auf der Makroebene (hier große Sozialsysteme, Gesellschaften) wird zugleich hergestellt und im Sinne einer Kausalkette durchbrochen durch die Existenz lebender menschlicher Individuen, die in ihrem Handeln und Erleben an beiden Ebenen partizipieren. Deshalb grenzen die vorliegenden Ausführungen sich ab von Ansätzen, in denen die Makrophänomene der menschlichen Sozialität als den menschlichen Individuen äußerliche Formen sich selbst steuernder Systeme oder als syste23 Dass diese Ausführungen insgesamt nur eine vorläufige Skizze des evolutionstheoretischen Ansatzes darstellen können, braucht wohl nicht betont zu werden. 24 Zur Beschreibung der Engpassfunktion von Individuen s. Wieser 1998 und einschränkend im Hinblick auf genetische Vorsteuerung Dawkins 1996, S.408-416 . 25 Das hier skizzierte Modell folgt in dieser Hinsicht der evolutionären Erkenntnistheorie von G. Vollmer, wonach „die biologische Evolution nicht dort endet, wo eine kulturelle Evolution einsetzt. Bei der Evolution des Menschen wirken vielmehr biologische und kulturelle Faktoren zusammen.“. Vollmer 1989 S. 85. Zur Anwendung evolutionstheoretischer Methodologie in den Sozialwissenschaften s. auch Kappelhoff 2003.


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misch aggregierte Nebeneffekte primär eigennütziger Bestrebungen der Individuen interpretiert werden. In der Luhmannschen Systemtheorie wird menschlichen Individuen nicht der Status operativer Einheiten eingeräumt.26 Dies ist im Wesentlichen eine Folge der Theorieentscheidung, alle sozialen Phänomene operativ geschlossenen Systemen und letztlich einem binnendifferenzierten Supersystem einzuordnen.27 Zur Begründung dafür, dass Individuen systemtheoretisch keine Einheiten seien, wird darauf verwiesen, dass verschiedene Teilsysteme beim Menschen (Bewusstseinssystem, neurovegetatives System, Immunsystem u.a.) unabhängig voneinander operieren. Dieser Einwand kann jedoch evolutionstheoretisch nicht überzeugen, da diese Systeme für ihre Operationen auf die Einheit des lebendigen Organismus angewiesen sind. Der Bezug auf lebende Individuen ist auch für eine Theorie der soziokulturellen Evolution unverzichtbar. So wenig sich in der Evolution des Lebens der Genpool von Populationen ohne individuelle Organismen verändern kann, so wenig kann sich in der soziokulturellen Evolution der Institutionenpool sozialer Systeme verändern ohne das Handeln und Erleben menschlicher Individuen. Der evolutionstheoretische Ansatz ist insofern mikrotheretisch fundiert, als alles, was sich soziokulturell ereignet, von lebenden Individuen vollzogen wird. Sie sind im doppelten Sinne Agenten der evolutionären Veränderungen: sie handeln und erleben im Bezug auf ihre Umweltbedingungen. Ihre Agenteneigenschaft impliziert aber nicht, dass sie evolutionäre Veränderungen in Wahlhandlungen bewußt (intentional) vollziehen. 28 Menschliche Individuen stellen den Prozessen der soziokulturellen Evolution dynamische Ressourcen in zweifacher Weise zur Verfügung. Sie stellen durch ihre Handlungen das Potential, das destabilisierende Variationen im Institutionenpool auslöst, und sie stellen durch ihr gedächtnisgestütztes Erleben zugleich das Potential, das restabilisierende Variationen im Institutionenpool ermöglicht. Die andere Seite, ohne die keine evolutionstheoretische Erklärung auskommt, besteht in dem Selektionsdruck,

26 In der Bezeichnung von Kommunikation als Elementareinheit sind phänotypische und genotypische Merkmale so zusammengezogen, dass deren Unterscheidung für eine evolutionstheoretische Betrachtung nicht mehr zur Verfügung steht. 27 In evolutionstheoretischer Perspektive liegt der Konstruktionsfehler m.E. in der Übergeneralisierung des Autopoiesis-Konzepts. Die Biologen Maturana und Varela haben dieses Konzept bekanntlich auf lebende Organismen beschränkt und z.B. schon für Teilsysteme, etwa das Nervensystem, diese Bezeichnung abgelehnt. 28 Auch wenn der hier skizzierte evolutionstheoretische Ansatz mikrotheoretisch ansetzt, ist er doch nicht vereinbar mit der mikrotheoretischen Figur der intentionalen Handlungsselektion, wie er in Rational-ChoiceTheorien verwendet wird. Die Vorstellung einer nutzenmaximierenden Wahlhandlung – insbesondere dann der diesbezügliche Einsatz von Technik - muss evolutionstheoretisch eher dem Bereich der Variation zugerechnet werden, während Wirkungen, die evolutionstheoretisch als Selektion verstanden werden, für intentionales Handeln (direkt) nicht erreichbar sind. Das gilt nicht nur für die natürliche Umwelt, sondern auch für ihre soziokulturellen Substitutionsformen.

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den die Umwelt selbst auslöst. Auch wenn als Besonderheit der soziokulturellen Evolution hervorzuheben ist, dass diese Restriktionen als Ergebnis vergangener Selektionen erlebt und (in symbolisch generalisierten Formen) verarbeitet und tradiert werden können, bleibt doch als unüberschreitbare Grenze, dass die jeweils aktuellen Umweltrestriktionen für vorausschauende, gezielte Handlungen nicht verfügbar sind. Sie werden nur post festum zum Gegenstand der Kommunikation. Die in der Kommunikation generalisierten und tradierten Umwelterfahrungen werden zu einer zweiten soziokulturellen Umwelt, für die jedoch aus der Perspektive der einzelnen lebenden Individuen in ähnlicher Weise wie für die natürliche Umwelt gilt: ihre Selektivität ist für das individuelle Handeln nicht erreichbar. Die für sozialwissenschaftliche Zwecke notwendige theoretische Vereinfachung besteht in der Abstraktion von der konkreten Vielfalt lebender Individuen. Sie kann methodologisch damit gerechtfertigt werden, dass die Individuen von ihren organisch-biologischen Voraussetzungen her in gewissem Umfang unter gleichen Voraussetzungen handeln und erleben und insofern nur ihre Umweltbedingungen für die sozialwissenschaftliche Erklärung von Belang sind.29 Diese sind evolutionstheoretisch als geteilte Umweltbedingungen einer soziokulturellen Population zu beschreiben. Für die methodologische Abstraktion von der empirischen Vielfalt lebendiger Individuen eignet sich die Unterscheidung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation.30 Der Rekurs auf Handeln und Erleben i.S. des Selbst- und Fremdbezugs der Operationen lebender Individuen kann als ein nomothetischer Kern sozialwissenschaftlicher Erklärungen im Rahmen einer Theorie der soziokulturellen Evolution verwendet werden. Menschliches Handeln und Erleben kann zunächst als eine prototypische Einheit betrachtet und zurückgeführt werden auf die in der Individuation lebender Organismen ontologisch verankerte Differenz zwischen angeborenen (und größtenteils von einer Population geteilten) Verhaltens-Schemata und den in der Umwelt des Organismus ausgelösten Reizen der Wahrnehmung. Sobald Reiz und Reaktion nicht mehr so eng zusammenpassen wie Schloss und Schlüssel – und das ist offenkundig schon bei vielen Tierarten der Fall, die über ein entwickeltes neurovegetatives System verfügen 29 In diesem Sinne abstrahiert alle Sozialwissenschaft von konkreten Individuen. Diese Abstraktion wird jedoch falsch, wenn sie eine Art Selbstbewegung des Gesellschaftssystems (seiner Medien, Codes u.a. Einrichtungen) suggeriert, in der Individuen nur noch als externe Adressen vorkommen. In der Luhmannschen Theorie kehrt sich die methodologische Rechtfertigung um: die Zurechnung auf Individuen erscheint als Vereinfachung, die für praktische Zwecke der Kommunikation benötigt wird, die Abstraktion von Individuen und Zurechnung auf Systeme hingegen als eine Komplikation, die theoretisch benötigt wird, um der wirklichen Komplexität soziokultureller Systeme gerecht zu werden. 30 Diese Unterscheidung wurde im 2. Abschnitt bereits erwähnt bei der Erläuterung der horizontalen Dimension des evolutionstheoretischen Schemas, das der Gliederung der Argumentation insgesamt zugrunde liegt.


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– lassen sich Handlungs- und Erlebenskomponenten in den Verhaltensschemata unterscheiden. Der springende Punkt am sozialwissenschaftlichen Rekurs auf EgoAlter-Konstellationen des Handelns und Erlebens besteht nun darin, dass es sich nicht um ein feststehendes Verhaltensmuster, sondern immer schon um eine variable – für soziokulturelle Tradierungsprozesse offene Größe handelt. Der Variationsspielraum dafür erscheint bei Menschen zunächst bestimmt durch ihr besonderes Potential, mit symbolischen Mitteln zu kommunizieren.31 Dieser Spielraum wird ontogenetisch ausgefüllt durch die je individuell variierende Entfaltung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation (Internalisierung und Sozialisation). Es ist evolutionstheoretisch folgenreich zu sehen, dass alle historisch-empirischen Erklärungen es mit der Variation der Grenze zwischen Handeln und Erleben zu tun haben. Einerseits findet Variation der kommunikativen Strukturen durch Steigerung der technischen Reichweite des Handelns – der Verlängerung der Handlungsketten – im Bereich der Organisation und des Wettbewerbs statt. Andererseits findet Variation durch Steigerung der technischen Reichweite des Erlebens – der Erweiterung der Kommunikationsmittel – im Bereich der mediengestützten Öffentlichkeiten statt. Die Verschiebung der Grenze zwischen Handeln und Erleben ist kein Nullsummenspiel (nach dem Muster: mehr selbstbestimmtes Handeln = weniger fremdbestimmtes Erleben), sondern ein Steigerungszusammenhang in beiden Richtungen. Es handelt sich um institutionell verselbständigte Formen der Kommunikation auf der Makroebene – System- und Umweltbezüge - die durch asymmetrische Verknüpfungen von Handlungs- und Erlebenskomponenten ermöglicht werden. Diese Verknüpfungen sind auch Voraussetzungen der Ausdehnungstendenz soziokultureller Populationen. Der Umstand, dass Menschen nicht nur in höherem Maße als andere Lebewesen dazu fähig sind, aus Umwelterfahrungen zu lernen, sondern auch die Ergebnisse ihrer Lernprozesse an nachwachsende Generationen weiter zu geben und auf diese Weise in geteilten Wissensvorräten zu kumulieren, wird als das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der soziokulturellen Evolution angesehen. Es wird gewöhnlich als Argument für die Entkoppelung der soziokulturellen Phänomene von den Bedingungen der organischen Evolution angeführt. Eine solche Interpretation verkennt jedoch, dass derselbe Umstand 31 Eine primordiale Variation ist bereits in der geschlechtsspezifischen Differenzierung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation zu sehen. Ergebnisse der Molekularbiologie legen es nahe zu vermuten, dass der instrumentelle Aktivismus ein genetisches Erbe der Menschheit ist, das durch entsprechende Testosteron-Schübe im Durchschnitt stärker bei männlichen Individuen ausgeprägt ist, und dass die Fähigkeit, sich mit symbolisch-sprachlichen Mitteln verständlich zu machen und erlebend auf die Perspektive Anderer einzustellen, ein genetisches Erbe der Menschheit ist, das durch entsprechende Östrogen-Gaben stärker bei weiblichen Individuen der Gattung Mensch ausgeprägt ist.

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auch die andauernde Abhängigkeit der soziokulturellen Evolution von den Bedingungen der organischen Evolution markiert. Denn gerade in den Prozessen der intergenerativen Tradierung ist ein Filter eingebaut, in dem organische und genetische Beschränkungen des ontogenetischen Lernpotentials wirksam werden. So haben nicht alle Bestandteile des symbolisch generalisierten Wissensvorrats soziokultureller Populationen die gleiche Chance in individuellen Sozialisationsprozessen tradiert zu werden. Die ontogenetisch verankerte Lernkapazität ist beschränkt. Dies gilt besonders hinsichtlich der Aneignung universalistischer Orientierungen, die für das Größenwachstum soziokultureller Einheiten benötigt werden. In evolutionstheoretischer Perspektive ist Tradition nicht als gegebener Wissensvorrat, sondern vor allem als Vorgang der Überlieferung zu betrachten. In der Form der intergenerativen Tradierung liegt – wegen der naturalen Beschränkungen in der ontogenetischen Aneigung der Institutionen – ein Test der kulturell erweiterten Gruppenselektion auf ihre Rückkoppelbarkeit an einfachere und primordiale Verhaltensmuster der soziokulturellen Evolution vor.32 Der Mechanismus der intergenerativen Tradierung muss insofern als primordial bezeichnet werden, als Variations- und Selektionseffekte im selben kausalen Zusammenhang zu beobachten, also noch nicht als gesondert operierende Mechanismen ausdifferenziert sind, wie die soziokulturell entfalteten Mechanismen der Variation, Selektion und Restabilisation. Diese Wirkungsweise zeigt sich auf der Mikroebene der Kommunikation im Bezug auf die kognitivemotionalen Ressourcen der individuellen Teilnehmer. Die dominante Wirkung ist selektiv i.S. der kopiergetreuen Weitergabe institutionellen Wissens von Generation zu Generation. Jedoch passieren hier – ähnlich den Mutationen im genetischen Code individueller Organismen – Kopierfehler, Variationen, die durch abweichende Sozialisationsprozesse in der Form der Teilhabe am kommunikativen Netzwerk der Populationen ausgelöst werden. Der Vorgang der Tradierung wirkt als Selektions- und Variationsmechanismus im Medium der kognitiven Strukturen der individuellen Teilnehmer. Die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis der Kommunikationsteilnehmer - einschließlich des Gebrauchs, den sie von technisch externalisierten Gedächtnisspeichern machen – bilden knappe Ressurcen, die zu Umweltbeschränkungen der Kommunikation werden. Replikation vollzieht sich als Reproduktion vorausgesetzter Institutionen in jeder Teilnahme von Menschen an Kommunikation – sowohl in ihrer Nahwelt wie in ihrer Fernwelt. Sie vollzieht

32 Ich komme auf diese einschränkende Wirkung im letzten Abschnitt der vor allem in dieser Hinsicht - zirkulär angelegten Darstellung evolutionärer Mechanismen zurück.


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sich im Wettbewerb der Akteure auf der Mikroebene und auch in den medialen Formen der Öffentlichkeit. Unter dem Gesichtspunkt ihrer Konkurrenz mit den interaktionsgestützten Medien der Pädagogik werden insbesondere letztere in der modernen Gesellschaft eher mißtrauisch beobachtet. Die operative Geschlossenheit von Institutionen als Verknüpfungen der Kommunikation wird durch die primordiale Variation in Prozessen der Sozialisation nicht berührt. Diese Variation erfolgt ja nicht aufgrund intentionaler Prozesse infolge lebensgeschichtlich erworbenener Erfahrungen, sondern auch in dieser Hinsicht „blind―. Aber auch die Intentionaliserung von Bildungsprozessen durch pädagogische Organisation hat den Zufallscharakter der Sozialisationseffekte und den Spielraum für Abweichungen bekanntlich nur gesteigert. Auch hier entscheidet die Umwelt, ob die mutierten Institutionen passen. Die Variationseffekte, die in diesem Zusammenhang zu beobachten sind, können analog zum Modell der genetischen Evolution als Mutationen von Institutionengebilden bezeichnet werden, die als Folge des natürlichen Widerstands der menschlichen Natur gegen ihre Sozialisation durch intergenerative Tradierung passieren. Während eine solche Auffassung für die natürliche Evolution zweifellos zutrifft – Gen-Mutation als entscheidende Quelle und das phänotypische Verhalten nur als sekundäre Form der Variation – muss dieser Effekt innerhalb der soziokulturellen Evolution jedoch als primordial bezeichnet werden. Er wird erweitert durch organisierte Formen der Nachwuchssozialisation. Hier sind also Rückwirkungen der Technisierung auf den basalen Replikationsmechanismus zu beobachten. Dass das menschliche Leben zu kurz ist, um alles zu lesen, was man wissen müsste, ist eine Klage, die mit der Verbreitung des Buchdrucks aufgekommen und seitdem nicht mehr verstummt ist. Sie kennzeichnet die soziokulturelle Seite des evolutionären Engpasses, um den es hier geht. So ist die enorme Bedeutung des Buchdrucks für die Umstellung des evolutionären Mechanismus der Tradierung auf schulische Organisation in der Ablösung der hierarchischen Tradition - der Auslegung der normativ relevanten Orientierungen durch kirchlich organisierte Priesterschaft - durch selbstgesteuertes Lesen zu sehen. Der Mechanismus der Replikation durch intergenerative Tradierung ist historisch schon vielfach rekursiv verknüpft mit anderen Mechanismen der soziokulturellen Evolution, insbesondere dem Mechanismus der Variation qua Technisierung. Durch technisch erweiterte Speicherkapazitäten ist ein neuer Typ von Replikator-Molekülen entstanden, durch den die enorme Beschleunigung der soziokulturellen Evolution erklärt werden kann.

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4. Technik und Organisation In einer Gesellschaftstheorie, deren Elementareinheit ausschließlich aus symbolischen Ressourcen besteht, gibt es keine Möglichkeit, gesellschaftliche Probleme auf quantitative Bestimmungen wie Größenveränderungen zurückzuführen. Gesellschaft ist in dieser Sichtweise immer schon die größtmögliche Einheit. Da auch die kleinste soziale Einheit die für sie erreichbaren Adressen der Kommunikation im Sinnhorizont ihrer Wahrnehmung mit sich herumträgt, ist Gesellschaft in diesem phänomenologischen Sinne immer schon Weltgesellschaft. In seinem ersten diesbezüglichen Aufsatz begründet Luhmann die Idee der Weltgesellschaft im Rekurs auf die abendländische Subjektphilosophie als eine Projektion des subjektiven Bewußtseins, das durch reale Verflechtungserfahrungen zur irreversiblen Erkenntnis eines faktisch vereinheitlichten Weltzusammenhangs gebracht wird: „Im Unterschied zu allen älteren Gesellschaften konstituiert die Weltgesellschaft nicht nur eine projektive (eigene Systembedürfnisse widerspiegelnde), sondern eine reale Einheit des Welthorizontes für alle. Oder auch umgekehrt: die Weltgesellschaft ist dadurch entstanden, daß die Welt durch die Prämissen weltweiten Verkehrs vereinheitlicht worden ist.― (Luhmann 1975, 55) Es bleibt jedoch unklar, wie diese reale Verflechtungserfahrung zur konstitutiven Bedingung einer sozialen Einheit werden kann, in der nur soziale Sinnkonstruktionen vorkommen, physische Gegebenheiten wie Transportwege und Kabelverbindungen also nicht vorkommen. Luhmanns primäres Argument für die Verwendung des Begriffs der Weltgesellschaft ist daher auch nicht historisch-empirisch, sondern funktionalistisch und differenzierungstheoretisch angelegt. Die Erweiterung des Begriffs der Gesellschaft zur Weltgesellschaft entfaltet eine logische Implikation des auf Sinnoperationen beschränkten Gesellschaftskonzepts. Eine Einheit, die alle sinnhaft vollziehbaren Operationen umfasst, kann keine sinnhaften Operationen jenseits ihrer Grenzen vollziehen. Sie kann sich deshalb operativ nur nach Innen ausdehnen: durch Ausdifferenzierung innerer Umwelten. Der empirische Gehalt der Luhmannschen Theorie der Weltgesellschaft verdankt sich einem Kunstgriff, in dem die evolutionären Veränderungen, die die globale Einheit der Gesellschaft empirisch möglich machen, historisch als gegeben vorausgesetzt werden. 33 Der Kunstgriff besteht darin, zunächst die Vorgeschichte der Weltgesellschaft in eine Vielzahl überschneidungsfrei koexistierender (ihrem Sinnhorizont nach ebenso 33 Hierauf trifft zu, was Tenbruck generell gegenüber der differenzierungstheoretischen Tradition der Gesellschaftstheorie behauptet, daß nämlich das Konzept „sich seinen Grundgedanken einer ‚gesellschaftlichen Entwicklung’, auf den hin ja schon die Strukturbegriffe angelegt sind, logisch erschleicht. Denn eine solche Entwicklung ist über die Zeit hinweg als eigene Evolution einer Gesellschaft gar nicht möglich und hat so auch nirgends stattgefunden." (Tenbruck 1989)


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geschlossener) Weltgesellschaften zu zerlegen und dann den Wechsel von der Vielzahl in die Einzahl in einen einzigen technisch vermittelten Akt (der Selbstkonstitution der Moderne) zu verlegen: „die Vollentdeckung des Erdballs als einer abgeschlossenen Sphäre sinnhafter Kommunikation―. (Luhmann 1997, 148) Als entscheidende Differenz zwischen tradierten kosmologischen Konzepten und dem der modernen Weltgesellschaft erscheint die Erweiterung und Verdichtung ihrer kommunikativen Netze. Die Außengrenze der Gesellschaft fällt mit den Grenzen der Kommunikation zusammen. In der Umwelt der modernen Gesellschaft sind keine konkurrierende Gesellschaften mehr zu entdecken. (Sie sind schon entdeckt und kolonisiert.) Was zuvor als fiktiv geschlossener Horizont der Weltgesellschaft mangels zureichender Kommunikationsmittel erscheint, erscheint nun als reale Geschlossenheit und konkurrenzlose Einheit durch entsprechende technische Kommunikationsmittel. 34 „Es bleibt deshalb keine andere Wahl,― sagt Luhmann, „als von der Vollrealisation einer Weltgesellschaft auszugehen.― Luhmann 1997, 809) Die globale Ausdehnung wird vorausgesetzt, ohne einen evolutionären Mechanismus zu bezeichnen, der die Ausdehnung soziokultureller Populationen in ihrer ökologischen Nische erklären könnte. Die Beschreibung der Dynamik soziokultureller Evolution (in soziotechnischen Netzwerken) ist mit der theoretischen Konstruktion eines immateriell-umweltlosen Hyperlebewesens nicht vereinbar. Um die Verflechtung und globale Ausdehnung menschlicher Sozialität mit technischen Mitteln angemessen beschreiben zu können, ist zunächst zu klären, welche Stellung Technik in einem evolutionstheoretischen Ansatz haben könnte. Hier hat man es zunächst mit dem Problem zu tun, dass Vertreter der biologischen Evolutionstheorie deren Anwendung auf soziokulturelle Verhältnisse häufig gerade unter Bezug auf Technik ablehnen. Mit der Technik sei ein teleologisches Moment in die Geschichte der Menschheit eingetreten, das mit der Darwinschen Theorie (der Selektion zufällig auftretender Variationen) nicht zu vereinbaren ist (Gould, 266282). Dieser Einwand entspricht der gängigen Auffassung von Technik als Mittel und vergegenständlichte Form menschlicher Rationalität. Es widerspricht dieser Aufassung, wenn hier vorgeschlagen wird, in Prozessen der Technisierung den (zentralen) Variationsmechanismus der soziokulturellen Evolution zu sehen.

34 Die Behauptung einer strengen Zäsur zwischen moderner Weltgesellschaft und vormodernen Weltgesellschaften im Sinne einer unverbundenen Pluralität wirft methodologische Fragen auf. Wie ist der Schwellenwert zu bestimmen, ab dem von kommunikativer Erreichbarkeit und nicht mehr von kulturell isolierten Populationen gesprochen werden kann? Firsching weist darauf hin, dass sich Luhmanns systemtheoretische Prämisse, wonach es keine Kommunikation außerhalb der Grenzen der Gesellschaft geben kann, für ältere Sozialformen nicht durchhalten lässt.(Firsching 1998).

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Nur auf den ersten Blick erscheint es paradox, dass gerade jene Tätigkeit, die als kulturell höchster Ausdruck planvollen Handelns gilt, als Zufallsgenerator wirken könnte. Die rationalistische Auffassung von Technik ist in den Sozialwissenschaften schon vielfältig - und unabhängig von evolutionstheoretischen Konzepten - eingeschränkt und relativiert worden. Technik ist als grundlegend fehleranfällig und Organisationen sind als Mülleimer bezeichnet worden. In evolutionstheoretischer Perspektive geht es aber nicht darum, technischorganisatorischen Leistungen ihre Rationalität zu bestreiten, sondern zu zeigen, dass technische Leistungen, die auf der Mikroebene der Kommunikation rational erscheinen, auf der Makroebene unvorhersehbare Turbulenzen auslösen können. Als „blind― ist die soziokulturelle Technikentfaltung nur in einer Hinsicht anzusehen, nämlich der Voraussicht auf veränderte Umweltbedingungen. Da diese Veränderungen aber innerhalb der ökologischen Nische soziokultureller Populationen nicht nur laufend vorkommen, sondern durch Technik selbst erzeugt werden, hat diese stets unbeabsichtigte Nebenfolgen und Rückwirkungen auf den Institutionenpool der Population. Die Geschichte der Technikentwicklung kann in diesem Sinne als Illustration blinder Variationseffekte gelesen werden. 35 Die Beschreibung von Technik als Variationsmechanismus der soziokulturellen Evolution setzt voraus, dass zwischen einer Mikro- und einer Makroebene des menschlichen Handelns und Erlebens unterschieden werden kann. Es sind Interdependenzunterbrechungen nicht nur zwischen Mikro- und Makrophänomenen, sondern auch zwischen Handlungs- und Erlebensbezügen der Kommunikation - auf beiden Ebenen zu berücksichtigen, aus denen sich die Kontingenzspielräume ergeben. Andererseits sind Einschränkungen der Spielräume (Pfadabhängigkeiten) zu berücksichtigen, die sich aus der rekursiven Verknüpfung der evolutionären Mechanismen ergeben.36 Hier ist es von grundlegender Bedeutung, dass das Netzwerk der menschlichen Kommunikation nicht nur aus Sinnverknüpfungen besteht37, sondern als hybrid38 i.S. der Kombination symbolischer und materieller Komponenten gesehen wird. 35 „Es mag überraschen, daß in die Kategorie der Erfindungen, deren Zweck am Anfang keineswegs feststand, die meisten großen technischen Errungenschaften fallen, vom Flugzeug und Automobil über den Verbrennungsmotor und die elektrische Glühbirne bis hin zum Grammophon und Transistor.― schreibt Diamond (1999, 291f ). Ein hervorragendes Beispiel ist auch die überlieferte Absicht des Erfinders des Buchdrucks, eine „gottwohlgefälligere― Form der Bibel zu ermöglichen (Giesecke 1991). Die Blindheit der Technik-Entwicklung zeigt auch die vielzitierte Aussage des IBM-Chefs, wonach niemand ein Interesse an Computern im Wohnzimmer haben könne. 36 S. die schematische Darstellung im 2. Abschnitt 37 Im Sinne seiner Immaterialitätskonstruktion der Gesellschaft ist der Variationsmechanismus der soziokulturellen Evolution bei Luhmann auf die Ja-Nein-Variation sprachlicher Kommunikation beschränkt. 38 Die Vorstellung von der Gesellschaft als einem hybriden soziotechnischen System findet sich auch bei Autoren, die ansonsten die OrganismusAnalogie vertreten wie Stock/Campbell 1996. Hybridität wird dabei allerdings schon in der Verbindung von Menschen und technischen Installationen gesehen.


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Rationalisierung der Kommunikation durch Technik lässt sich als eine asymmetrische Form der Verknüpfung von Handlungs- und Erlebenskomponenten beschreiben. Es handelt sich um eine Form der Verknüpfung von Handlungskomponenten, die Kosten der Kommunikation (hier insbesondere bezüglich der Abstimmung von Erlebensanteilen) erspart durch Vorentscheidungen, die in technischen Geräten oder Verfahren vergegenständlicht sind. Auf den ersten Blick ist die Ersparnis von Kommunikationskosten durch Technik nicht zu unterscheiden von der Ersparnis von Kommunikationskosten durch Institutionen. 39 Beide Formen der asymmetrischen Verknüpfung von Handlungs- und Erlebenskomponenten fallen auf der Mikroebene der Kommunikation in komplementärer Weise an. Ihre Unterschiede werden nur ersichtlich, wenn die Form ihrer Entstehung bzw. Erzeugung betrachtet wird: Technisierung erscheint dann als selbsterzeugte Ersparnis von Kommunikationskosten, Institutionalisierung hingegen als fremderzeugte Ersparnis von Kommunikationskosten. In beiden Fällen wirkt ein Mechanismus der Komplexitätsreduktion. Die Kostenersparnis tritt nur ein, wenn die Form als Vereinfachung innerhalb der Kommunikation auch funktioniert. Wenn eine Störung im Ablauf auftritt – wenn die Technik Fehler produziert, wenn die Autorität der Institution zweifelhaft erscheint – dann wird deutlich, dass die Komplexitätsreduktion aus ganz verschiedenen Quellen stammt. Im Falle der Technisierung werden Kommunikationskosten eingespart durch Vorentscheidung über Handlungskomponenten. Die Kontrolle der Handlungsentscheidung wird auf Maschinen oder Organisationen übertragen. Im Falle der Institutionen werden Kommunikationskosten eingespart durch Vorentscheidung über Erlebenskomponenten. Die Kontrolle der Handlungsmotivation wird auf Personen oder Organisationen übertragen. Auf den gesamten Kreislauf evolutionärer Mechanismen bezogen erweist sich die grundlegende Asymmetrie von Technisierungen und Institutionalisierungen der Kommunikation in der operativen Offenheit von technischen Errungenschaften (einschließlich der Organisation) für menschliche Handlungseingriffe einerseits und der operativen Geschlossenheit von Institutionen gegenüber direkten Handlungseingriffen andererseits.40 Die Auffassung, dass technische Innovationen gravierende Folgen für die institutionellen Strukturen der Gesellschaft haben können, ist in der soziologischen

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Theorietradition schon dadurch zum Ausdruck gekommen, dass verschiedene Formen der menschlichen Gesellschaft anhand der in ihnen verwendeten Kommunikationstechniken unterschieden wurden.41 Allerdings folgt die in der differenzierungstheoretischen Tradition vertretene Einteilung von Stammesgesellschaften, traditionell hochkulturellen und modernen Gesellschaften eher einer organischen Entwicklungslogik als einem evolutionstheoretischen Ansatz. Der Gebrauch technisch erweiterter Kommunikationstechniken wird nicht als Auslöser institutioneller Variationen betrachtet, die in je verschiedenen Umwelten der Selektion ausgesetzt sind, sondern als Komplexitätssteigerung der sozialen Einheit, die durch Binnendifferenzierung verarbeitet wird. So ergibt sich eine unilineare Abfolge von Gesellschaftsformen mit gesteigerter Binnenkomplexität, ohne dass Fragen ihrer Konkurrenz, der Ausdehnung der einen auf Kosten der anderen etc. überhaupt in den Blick kämen. Eine solche auf die Innenseite gesellschaftlicher Entwicklung beschränkte Perspektive lässt sich rechtfertigen, wenn man die Betrachtung von Technik auf den Gebrauch technisch erweiterter Kommunikationsmittel beschränkt. Hier ist es ja tatsächlich primär die „Organisation― der Gesellschaft, die durch den Gebrauch technisch erweiterter Kommunikationsmittel – die Steigerung der Reichweite der Kommunikation in räumlicher und zeitlicher Hinsicht – Gewinne verzeichnen kann. So werden die Anfänge staatlicher Organisation in Mesopotamien auf die Erfindung schriftlicher Aufzeichnungsverfahren zurückgeführt (Damerow u.a.1988, Luhmann 1997, 261). Tatsächlich muss jedoch der Bezug auf technisch erweiterte Kommunikationsmittel auch den Gebrauch von Verkehrsmitteln – also den physischen Verkehr von Gütern und Personen – und die technischen Eingriffe in die natürliche Umwelt einschließen, damit das Ausmaß der Wirkungen als Variationsmechanismus der soziokulturelle Evolution angemessen beschrieben werden kann.42 In Konkurrenz zu der hobbesianischen Erklärung des Zustandekommens sozialer Ordnung (die in der staats, rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Traditionen bevorzugt wird) ist in der differenzierungstheoretischen Theorietradition der Soziologie immer wieder darauf verwiesen worden, dass das Zusammenleben von Menschen in institutionell geordneten Verhältnissen nicht erst mit der Entstehung staatlicher Organisation - also mit einer technisch-intentionalen Konstruktion - beginnt. Daher der immer wiederkehrende Rekurs der Soziologie auf die sozialen Ordnungsmuster von

39 Tatsächlich sind Techniken und Institutionen deshalb in anthropologischen Ansätzen häufig als funktional äquivalent behandelt worden.

40 Die Auffassung von Institutionen als operativ geschlossenen Einheiten verlangt, dass diese – i.S. der älteren sozialwissenschaftlichen Theorietradition und im Gegensatz zu dem heute üblichen Gebrauch in den Wirtschafts- und Politikwissenschaften – strikt unterschieden werden von Organisationen u.a. Formen des intentionalen Handelns. Die Frage, wie eine solche operative Geschlossenheit der Institutionen unbeschadet ihrer Variation innerhalb der soziokulturellen Evolution möglich ist, ist Gegenstand der folgenden Abschnitte.

41 Diese Epocheneinteilung wird auch von Luhmann aufgenommen – wegen der Beschränkung auf Sinnevolution allerdings ohne Bezug auf Technik als evolutionären Mechanismus. 42 Erst mit der Verwendung von kabel- und funkgestützten Medien im 20. Jh. konnte die (von der technischen Infrastruktur abgelöste) Idee der räumlichen Unbeschränktheit der Kommunikation aufkommen (Lübbe 1996).


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Stammesgesellschaften. Bei der theoretischen Rekonstruktion elementarer Ordnungsmuster, die sich auch in den komplexeren Gesellschaften reproduzieren und ihnen Halt geben, musste allerdings die Frage wiederkehren, warum es staatlich organisierte Gesellschaften (und nicht nur global verbreitete Stammesgesellschaften) gibt. Die theorietraditionelle Antwort auf diese Frage ist Größenwachstum. Es ist allerdings nicht das natürliche Größenwachstum der Bevölkerung, sondern das mit technischen Mitteln verstärkte Wachstum, das den Bedarf für staatliche Organisation entstehen lässt.43 Die Ausdehnung soziokultureller Populationen mit technischen Mitteln vergrößert ihre ökologische Nische und führt dazu, dass die tradierten institutionellen Ordnungsangebote nicht mehr passen. Staatsbildung liesse sich so erklären als Reaktion auf die Bildung größerer sozialer Einheiten, für die es noch keine passenden institutionellen Ordnungen gibt. Staatliche Ordnungsmacht ist jedoch nicht nur ein Ersatz für tradierte institutionelle Ordnung in „large scale societies― (Parsons 1964). Der Staat, der das Größenwachstum soziokultureller Populationen vorantreibt, ist selbst eine aus Organisationen hierarchisch zusammengesetzte Organisation. Weil er ein technisch operierender Akteur ist, kann er keine stabile Lösung für die kommunikationstechnisch vergrößerten sozialen Einheiten bieten. Diese kann erst im Anschluss an die Selektion passender Institutionengebilde gefunden werden. Einerseits kann also gesagt werden, dass der Gebrauch technisch erweiterter Kommunikationsmittel ein Mittel der Organisation soziokultureller Einheiten darstellt und dass dieses Mittel in der Form der staatlichen Herrschaftsverwaltung der Steigerung staatlicher Organisationsmacht dient. Andererseits ist festzuhalten, dass der Bezug auf Kommunikationsmittel im engeren Sinne (der Sprache und des Symbolgebrauchs) nicht ausreicht, um die Entstehung und Entwicklung staatlich organisierter Gesellschaften zu beschreiben. Wenn man die Form der Staatlichkeit als eine Art technisch verdichteter Kommunikation beschreibt, bedarf es des materialen Bezugs auf das Gewaltmonopol (einschließlich Rechtsund Strafhoheit), stehendes Heer, Steuerhoheit etc. um die Wirksamkeit und die territoriale Beschränktheit staatlicher Organisation zu erklären. Es ist die auf den Gebrauch dieser Mittel gestützte überlegene staatliche Organisationsmacht, die soziokulturelle Expansion ermöglicht. Auch die Prozesse der Ausdehnung, die von Europa ausgehend zur „Vollentdeckung des Erdballs als einer abgeschlossenen Sphäre sinnhafter Kommunikation― (Luhmann 1997, 148) geführt haben, wurden ja nicht in erster Linie mit den Mitteln der Sprache und Schrift (der Bibel in der Hand des Missionars), sondern mit militärischer Technik abgewickelt. Hinsichtlich des Gebrauchs der technischen Mittel müs43 Dazu, mit besonderer Betonung des Startpunkts in der sogenannten neolithischen Revolution, Popitz 1995.

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sen drei Funktionen unterschieden werden, nämlich 1. Kommunikationstechnik im engeren Sinne, die die staatliche Organision im Inneren ermöglichte, 2. Verkehrstechnik, die friedliche Ausdehnung ermöglichte, und 3. Waffentechnik, die militärische Ausdehnung ermöglichte. Bezogen auf bestimmte Techniken erscheint die Grenze jedoch fließend: Die Verkehrsmittel (Pferde, Schiffe, Flugzeuge) waren immer zugleich Mittel der militärischen Dominanz. Die Geschichte der Telegraphie und des Internet zeigt noch einmal, dass dies auch für die Mittel der Kommunikation im engeren Sinne gilt. Alle diese Mittel sind im Hinblick auf die Evolution soziokultureller Institutionen dem Variationsmechanismus zuzurechnen. Die Selektion und Stabilisierung soziokultureller Institutionen kann damit nicht erklärt werden. Die globale Netzverdichtung macht die soziokulturelle Population weder unabhängig von Umweltveränderungen noch von Zufallsvariationen ihres Institutionenpools. Das Argument der Vernetzung reicht vielleicht aus, um von der Menschheit als einer einzigen (nur noch nach innen differenzierten) Superpopulation mit veränderten Umweltbedingungen zu sprechen. Es reicht jedoch – aus Gründen, die im Folgenden erläutert werden - nicht aus, um von einer funktional differenzierten Weltgesellschaft zu sprechen.

5. Wettbewerb und Differenzierung Der Hinweis auf Umweltselektion gehört zu den großen Kränkungen, die die Darwinsche Theorie in der Ideengeschichte ausgelöst hat. Auch dies könnte ein Grund für die anhaltende Anziehungskraft der OrganismusAnalogie in den Sozialwissenschaften sein. Die meisten Einwände gegen die Anwendung von Evolutionstheorie auf die soziokulturellen Verhältnisse des Menschen beziehen sich auf die Beschreibung der Mechanismen für die evolutionäre Funktion der Selektion. 44 Soweit es sich um wissenschaftliche Einwände handelt, haben sie vor allem mit dem Problem der Unterscheidung zwischen natürlicher und kultureller Umwelt zu tun. Evolutionstheoretisch genügt es nicht zu behaupten, dass kulturelle Selektion etwas ganz Anderes sei, das sich von natürlicher Selektion durch seine Wertmaßstäbe unterscheidet. Das Problem liegt darin, in der Beschreibung der Selektionsmechanismen nicht nur den Unterschied zwischen natürlicher und kultureller Umwelt, sondern auch ihre Einheit zu berücksichtigen, also den Umstand, dass die soziokulturelle Evolution sich in den Formen ihres Prozessierens nur soweit verselbständigen kann, wie es die Ressourcen der natürlichen Um-

44 Die meisten dieser Einwände sind allerdings nicht wissenschaftlich, sondern politisch begründet. Sie beziehen sich auf den legitimationsideologischen Mißbrauch der Darwinschen Theorie für eine vermeintlich auf biologische Erkenntnisse gestützte Politik. Zur Widerlegung dieser Annahmen in der Evolutionsbiologie selbst s. Cavalli-Sforza 1999


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welt erlauben. 45 Organisation und Wettbewerb im Inneren soziokultureller Einheiten sind in evolutionstheoretischer Perpektive als komplementäre Formen der Internalisierung von Umweltselektion zu betrachten. Die innere Umwelt 46 soziokultureller Populationen stellt allerdings nicht nur eine symbolische Verdoppelung ihrer äußeren Umwelt dar. Ihre interne Selektivität ist nicht nur eine Form der Adaption an äußere Bedingungen, sondern auch ein Instrument, das in die natürliche Umwelt eingreift, die ökologische Nische menschlicher Populationen erweitert und verändert. Da Umwelt in der Luhmannschen Gesellschaftstheorie nur als systemrelative Beobachterkonstruktion eingeführt wird, kann es für grundlegende Veränderungen keine externen Auslöse-Ereignisse geben, sondern immer nur selbsterzeugte Komplexitätsverarbeitungsprobleme. Legt man hingegen das Darwinsche Konzept Umweltselektion zugrunde, dann wird es denkbar, dass Veränderungen der natürlichen Umwelt – einschließlich solcher, die durch technische Errungenschaften der soziokulturellen Evolution selbst hergestellt wurden – die soziokulturelle Evolution vorantreiben. Als eine solche Veränderung ist im vorigen Abschnitt die raumzeitliche Ausdehnung der ökologischen Nische durch technisch-organisatorische Mittel betrachtet worden. Die ausgedehnte Umwelt wird ihrerseits zu einer Variable, die selektiv auf den Institutionenpool der soziokulturellen Populationen zurückwirkt. Technische Innovationen können die natürlichen und kulturellen Umweltbedingungen in einer Weise verändern, die für Erstnutzer Konkurrenzvorteile bietet. 47 Von diesem Umstand geht eine Rückwirkung der Umweltselektion auf den Variationsmechanismus der soziokulturellen Evolution i.S. der Bevorzugung von Innovationsbereitschaft und (in der Moderne dann organisierter) Förderung technischer Innovationen aus und damit zur Ausdehnung der Gesellschaft als soziotechnisches System. Diese Rückwirkung setzt allerdings schon voraus, dass die Konkurrenz der Akteure innerhalb der Gesellschaft als geregelter Wettbewerb ausgetragen wird. Wettbewerb ist – im Unterschied zu den primordialen Formen der Konkurrenz der Lebewesen in ihrer ökologischen Nische - ein Mechanismus der Selektion, der nach kulturellen Maßstäben funktioniert, die im Institutionenpool der jeweiligen Population ver45 Bei der Bestimmung des Spielraums der soziokulturellen Evolution handelt es sich bekanntlich um ein umstrittenes Forschungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Für die hier verfolgten Zwecke kommt es aber nicht darauf an, über enge oder weite Annahmen der biologischen Bedingungen zu entscheiden, sondern dem Gesichtspunkt Rechnung zu tragen, dass es auch für die soziokulturellen Verhältnisse beim Menschen – weder auf der Ebene der Populationen noch auf der Ebene der Individuen - einen Nullpunkt der Evolution geben kann. 46 Ich nehme hier die bei Parsons und Luhmann verwendete Formel von der „inneren Umwelt― der Systeme auf, ohne die Luhmannsche Prämisse der beobachterabhängigen Konstitution zu übernehmen. 47 Bis heute handelt es sich bei Innovationen im Bereich der technischen Kommunikationsmittel um Angebote, die konkurrierende Organisationen nicht ablehnen können. Das fällt besonders dann auf, wenn die übliche Vorsicht der Kosten-Nutzen-Erwägung dabei mißachtet wird.

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ankert und durch staatliche Organisationsmacht abgesichert sein müssen. Veränderungen der Größenverhältnisse von Gesellschaften werden in der Luhmannschen Theorie nicht auf Mechanismen der Variation und Selektion, sondern auf Makrostrukturen gesellschaftlicher Differenzierung zurückgeführt. Deren Veränderung wird nicht evolutionstheoretisch, sondern entwicklungslogisch begründet (Kuchler 1993). Annahmen über quantitative Veränderungen48 werden nur erwähnt, um auf die „dahinterstehende― Voraussetzung struktureller Differenzierungen zu verweisen: „Eine weitere Annahme, für die wir empirische Evidenz in Anspruch nehmen, lautet, daß im Laufe der Evolution die auf dem Erdball zu findende Biomasse und ebenso, seitdem es Sprache gibt, die Menge der kommunikativen Ereignisse zugenommen hat. Dies ist zunächst eine rein quantitative und insofern leicht verifizierbare Feststellung. Will man den Befund erklären, führt das zu der Annahme, daß Mengensteigerungen dieser Art nur durch Differenzierungen möglich sind. ... Hinter der Annahme eines quantitativen Wachstums steht also die Voraussetzung struktureller Differenzierungen nichtbeliebiger Art.― ( Luhmann 1997, S. 416)

Damit schließt Luhmann einerseits an evolutionstheoretische Bezüge der älteren Differenzierungstheorie an, zugleich aber die in dieser Theorietradition enthaltenen Bezüge auf Mechanismen der Umweltselektion aus seiner Betrachtung aus.49 Da er die Gesellschaft als ein immaterielles Wesen auffasst, genügt ihm zur Erklärung ihrer globalen Ausdehnung der Bezug auf ein loses Netzwerk der Kommunikation, das auch ohne das Hobbes’sche Werkzeug staatlicher Organisation, die Monopolisierung der Gewaltmittel etc. funktioniert. Für die Analyse gegenwärtiger Strukturen setzt Luhmann nicht nur die Einheit der Weltgesellschaft historisch schon voraus, sondern empfiehlt zugleich als methodologisches Postulat, von der „Vollrealisierung funktionaler Differenzierung― auszugehen, um dann reale Ungleichheiten als graduelle Abweichungen von diesem Idealtyp zu bestimmen (Luhmann 1979, 163). Der integrative Gehalt dieses globalen Zusammenhangs wird von ihm ausdrücklich als relativ schwach bezeichnet im Vergleich zu den Annahmen über staatliche Regulierungsmacht und gemeinsame Wertbindungen in konkurrierenden Gesellschaftsbegriffen, die sich auf den modernen Nationalstaat stützen. Diese Abschwächung der Integrationsannahmen wird als empirischer Vorteil seiner Begriffskonstruktion gegenüber anderen theoretischen Konzeptionen zur Beschreibung von Globalisierungsprozessen behauptet. In der Luhmannschen Disposition wird noch einmal deutlich, dass der Begriff der Globalisierung nicht erst im Zusammenhang mit der Entstehung neuer Kommu48 Mit der Vernachlässigung quantitativer Bestimmungen entfernt sich Luhmann auch von der älteren differenzierungstheoretischen Tradition.

49 Vgl zusammenfassend den Artikel über Konkurrenz von Rammstedt 1976.


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nikationstechniken und der Ausdehnung ökonomischer Märkte in den 80er Jahren aufgekommen, sondern zuerst unter dem Aspekt der Weiterentwicklung des internationalen Rechts und im Rekurs auf ältere Ideen des „Weltstaats― formuliert worden ist (Kimminich 1974). Luhmanns Formulierungen des Konzepts der Weltgesellschaft richten sich daher zunächst gegen die Integrationsannahmen staatszentrierter Globalisierungstheorien (Luhmann 1971, 57) Die am Modell des modernen Nationalstaats orientierten Annahmen über gesellschaftliche Integration (Gewaltmonopol, Recht, Demokratie) werden ersetzt durch die Annahme funktionaler Differenzierung der Weltgesellschaft. Die Definition der operativen Funktionen wird dabei so stark herabgesetzt, dass von welteinheitlicher Geltung funktionaler Differenzierung auch dort gesprochen werden kann, wo die organisatorisch-technischen Voraussetzungen für ihre Durchsetzung weitgehend fehlen und eher entgegengesetzte Prinzipien organisatorisch implementiert sind (z.B. christliche Schulen, islamische Rechtsprechung, Clanherrschaft etc.). In empirischer Hinsicht wird die Annahme der weltweiten Geltung des Primats funktionaler Differenzierung negativ begründet durch den Hinweis auf die Inkongruenz der Grenzen verschiedener Funktionssysteme – also z.B. die Abweichung der Reichweite des Wissenschaftssystems oder des Systems der Massenmedien von dem System der Politik mit seinen nationalstaatlich segmentierten Einheiten.50 Die abweichende Reichweite politischer und wirtschaftlicher Akteure ist Gegenstand vieler konkurrierender Theorien der Globalisierung. 51 Die Annahme der abweichenden Reichweite funktionsspezifisch codierter kommunikativer Operationen im globalen Kontext reicht jedoch nicht aus, um die Behauptung der globalen Durchsetzung des Primats funktionaler Differenzierung abzustützen. In empirischer Hinsicht müsste das Prozessieren entsprechender Kommunikation auf der Ebene organisationsgestützter Programme geprüft werden. Auch wenn diese Programme je nach lokalen Bedingungen austauschbar erscheinen, müssen sie doch geeignet sein, die kommunikativen Anschlüsse an die funktionssystemischen Codes zu spezifizieren und auf diese Weise laufend die Grenzen zwischen verschiedenen Funktionsbereichen aufrechtzuerhalten. Das Prinzip funktionaler Differenzierung ist aber offenkundig dort nicht wirksam (ob noch nicht oder nicht mehr, sei hier dahingestellt), wo diese Grenzen kollabieren: wenn z.B. das Recht an religiöse Tradition gebunden, die Presse dem politischen

50 Luhmann behauptet sogar: „Für die moderne Gesellschaft ist ein solches Divergieren der Grenzinteressen ihrer Teilsysteme das Normale; es ist, mit anderen Worten, reiner Zufall, wenn Teilsysteme gleiche Außengrenzen der Gesellschaft postulieren.― 1972, 334f. 51 Hier wird von Vertretern der Luhmannschen Theorie vor allem auf die Weltsystemtheorie von Wallerstein Bezug genommen, die von der historischen Divergenz von Wirtschaft und Politik ausgeht.

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Machterhalt unterworfen, das individuelle Leben nicht rechtswirksam geschützt wird, etc.52 Das Prinzip funktionaler Differenzierung zehrt von technisch-organisatorischen Voraussetzungen, die es nicht selbst geschaffen hat. Die organisationsgestützten Programme, die die funktionssystemischen Codes operativ umsetzen, können nicht ohne Deckung durch nationale oder internationale Regulierungsmacht umgesetzt werden. Die Behauptung der welteinheitlichen Geltung des Primats funktionaler Differenzierung läuft leer, solange nur auf Geltungsansprüche verwiesen wird. Funktionale Differenzierung im weltgesellschaftlichglobalen Ausmaß muss als eine Annahme betrachtet werden, die nicht weniger, sondern mehr historische Voraussetzungen umfasst, als die Integrationsannahmen staatszentrierter Gesellschaftsbegriffe, die sie ersetzen soll. Je weiter der historische Horizont der Beschreibung von Globalisierungsprozessen rückblickend gespannt wird und je größer die Vielfalt der dabei zu beobachtenden Varianten erscheint, desto deutlicher wird auch, dass es hierbei nicht um Prozesse der Binnendifferenzierung ursprünglich homogener Einheiten, sondern umgekehrt um den Zusammenschluss und die Verflechtung vormals räumlich getrennt existierender und institutionell heterogener soziokultureller Einheiten geht. 53 Die Tendenz zur Ausdehnung erscheint als Moment des Konkurrenzkampfs dieser Einheiten in ihrer mit technischen Mitteln erweiterten ökologischen Nische. Differenzierung ist vor diesem Hintergrund nicht als Vorausset-

52 Zum Beleg für die globale Ausdehnung von Funktionssystemen wird auf Akteure der Wirtschaft, der Religion, der Bildung, des Sports, u.a. verwiesen, die nationalstaatliche Grenzen überschreiten. In den meisten Fällen lässt sich zeigen, dass diese Aktionen ohne organisatorische Deckung durch dahinterstehende Nationalstaaten – man sehe nur die Probleme der Verfolgung von Dopingvergehen im Sport - gar nicht zustande kämen. Wo dies nicht der Fall ist, wie etwa bei global operierenden Wirtschaftsunternehmen oder missionierenden Kirchen kann man sehen, dass die wirtschaftlichen oder kirchlichen Akteure sich jenseits ihrer Ursprungsländer staatsähnliche Funktionen verschaffen, also zugleich als politische Akteure konkurrieren. Hier ist das Prinzip funktionaler Differenzierung noch gar nicht wirksam. Wo diese Konkurrenz hingegen in geregelten Bahnen, also als friedlicher Wettbewerb verläuft, setzt dies die Wirkung internationalen Rechts, also zumindest Protostrukturen eines globalen politischen Regimes voraus. 53 Hierzu wäre evtl. Tenbruck zu zitieren (s. aber schon in Tyrells Einleitung) : "So groß das Interesse an der neuzeitlichen europäischen Expansion ist, wodurch die Staaten und Völker der Erde in einen globalen Zusammenhang gesetzt wurden, so wenig wird dabei bedacht, daß dieser Vorgang selbst nur das letzte Glied einer Kette raumgreifender Vorgänge sein konnte, durch die aus anfänglichen kleinen Horden immer größere Gebilde wurden. Die Frage, wie und warum es zu dieser Kette von zwischengesellschaftlichen Entwicklungen gekommen ist, wird noch nirgends systematisch, jedenfalls nicht soziologisch gestellt. Selbst Niklas Luhmann, der die heutige Gesellschaft ausdrücklich als Weltgesellschaft begreift, begnügt sich mit dieser Feststellung, für deren Erklärung er nur generell auf die Komplexitätsreduktion und Differenzierungsleistung des sozialen Systems verweisen kann. In seiner ‚Weltgesellschaft’ sind die vielen ‚Gesellschaftsgeschichten’ zum globalen Systemvorgang geworden und bekräftigen noch einmal das Konzept der ‚Gesellschaftsgeschichte’, nach dem schon die einzelnen Gesellschaften behandelt wurden." (Tenbruck 1989, FN 18)


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zung, sondern als eine Folge der Ausdehnung soziokultureller Populationen zu interpretieren.54 Im Sinne kritischer Distanzgewinne gegenüber der aktuellen Globalisierungsdiskussion ist darauf hingewiesen worden, dass die Erstbesiedlung aller Kontinente der Erde durch die Gattung homo sapiens schon vor zehn- bis dreißigtausend Jahren stattgefunden hat.55 Diese Beobachtung ist allerdings nicht geeignet, die Auffassung von der menschlichen Gesellschaft als einem global exisierenden Superorganismus (der keine gleichartigen Einheiten außerhalb seiner selbst und insofern nur Binnendifferenzierung kennt) zu stützen. In evolutionstheoretischer Hinsicht ist zu unterscheiden zwischen der Ausbreitung von Arten mit vielen lokal isolierten Populationen und der Bildung einer einzigen zusammenhängenden Population mit einer translokal erweiterten Umwelt. Für letzteres wird etwas benötigt, über das anscheinend nur die Spezies Mensch (und nicht z.B. die ähnlich global verbreitete Spezies der Ameisen56) verfügt: nämlich einen durch Tradierung erweiterbaren, symbolisch und technisch erweiterten Horizont ihrer Kommunikation. Die tatsächliche Ausweitung dieses Horizonts in vielen historisch zufälligen Prozessen ist Gegenstand einer Theorie der soziokulturellen Evolution. Sie muss sich zunächst auf die in der Paläoanthropologie gesammelten Hinweise auf die Existenz vieler isolierter, kleinräumig an lokale Umweltbedingungen angepasster Populationen konkurrierender Individuen in der Geschichte der Ausbreitung des homo sapiens stützen. Im Rekurs auf die Entstehung hochkultureller Gesellschaften durch Stratifikation und staatliche Organisation erscheint Differenzierung historisch primär als eine Form der Beschränkung des Wettbewerbs im Inneren soziokultureller Einheiten. Dies gilt auch noch für funktionale Differenzierung im Inneren moderner Gesellschaften, mit dem Unterschied, dass sich hier der Wechsel von einer primär an Personengruppen orientierten zu einer primär an institutionellen Funktionen orientierten Differenzierung vollzieht. Primär heißt in diesem Zusammenhang, dass die Ungleichheit von Personengruppen in dieser neuen Form sozialer Ungleichheit nicht verschwindet, sondern gerade aufgrund der mangelnden Übereinstimmung besonders auffällig wird. Der Bezug auf institutionelle Funktionen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Wettbewerb der Akteure begrenzt wird auf der Ebene funktionsspezifischer Meta-Orientierungen. Der mit der Moderne aufbrechende Kampf der konkurrierenden Institutionengebilde wird durch funktionale Differenzierung in gewissem Umfang pazifiziert. So wird sichergestellt, dass 54 Zur Interpretation territorialer und funktionaler Differenzierungsformen als Folge und gewissermaßen letztes Stadium des Wettbewerbs s. Hannan und Freeman 1995 (im Anschluss an A.H. Hawley, 1950, Human Ecology. A Theory of Community Structure). 55 Die Angaben der Paläontologen schwanken in dieser Hinsicht. CavalliSforza geht davon aus, dass der Mensch bereits vor 60-70.000 Jahren die technischen Fähigkeiten erreicht hat, um sich über die ganze Oberfläche des Globus auszubreiten, und die institutionellen Kapazitäten, um sich an sehr unterschiedliche Umgebungen anzupassen. (1999, 106). 56 Das sprichwörtlich gewordene Vorbild für soziale Superorganismen ist ja der sogenannte Ameisenstaat.

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Akteure der Wirtschaft mit denen der Politik, Akteure der Politik mit denen der Religion, der Bildung etc. nicht mehr konkurrieren. Der umwälzende Effekt dieser Änderung der Differenzierungsform, die folgenreichere Innovation, liegt aber nicht in der Konkurrenz.Beschränkung, sondern gerade darin, dass in einem historisch zuvor ungekanntem Maße Wettbewerb im Inneren der Gesellschaft zugelassen wird. In dieser funktionsspezifischen Freisetzung von Wettbewerb liegt das besondere Variationspotential, das die Dynamik der modernen Gesellschaft ausmacht, und das insbesondere auch ihre Tendenz zur Ausdehnung und Binnendifferenzierung erklären kann.

Der Bezug auf Mechanismen der Umweltselektion ist konstitutiv für die Beschreibung phänotypischer Einheiten der soziokulturellen Evolution im doppelten Sinne: Die menschlichen Individuen selbst beziehen die Ressourcen zu ihrem Überleben aus ihrer Umwelt und konkurrieren insofern gegeneinander innerhalb derselben ökologischen Nische – dies ist der Ansatzpunkt für Phänomene der Individualselektion. Zugleich definiert diese gegebene Umwelt aber auch die Bedingungen, die für eine arbeitsteilig-kooperative Lösung kollektiver Überlebensprobleme zur Verfügung stehen – also die Ansatzpunkte für soziokulturell erweiterte Phänomene der Gruppen- bzw. Institutionen-Selektion (Institutionenwettbewerb). Vorhochkulturell wird diese Abgrenzung hauptsächlich durch natürliche Umweltbedingungen i.S. von Insulierung geleistet. Auch in traditionellhochkulturellen Gesellschaften wirken räumlichgeographische Beschränkungen in diesem Sinne noch beschränkend, aber hier werden die natürlichen Beschränkungen zum ersten Mal symbolisch überschrieben, gewissermaßen institutionell zweitcodiert und dadurch zugleich befestigt und überschreitbar. Daher kann schon für diese Gesellschaften nicht mehr von kommunikativer Unerreichbarkeit in einem materiellen Sinne gesprochen werden. In der Moderne wird der Schwellenwert kommunikativer Unerreichbarkeit mehrfach herabgesetzt durch Buchdruck und Massenmedien. Die gegenwärtig beobachtbare Auflösung von nationalstaatlichen Grenzen der Organisation von Gesellschaften wird auf eine erneute Herabsetzung dieser Schwellen durch neue Medien zurückgeführt. In der soziokulturellen wie in der natürlichen Evolution kommen kooperative und kompetitive Strategien gleichzeitig vor. Es gibt keinen natürlichen Primat von Wettbewerb vor Organisation oder umgekehrt. Innerhalb von artgleichen Populationen hängt das Überwiegen kooperativer oder kompetitiver Strategien von den jeweiligen Umweltbedingungen ab (Wieser 1998, 427ff). Allerdings sind lebende Organismen und kulturelle Organisationen, deren Angepasstheit ihrer Existenz in gewissem Umfang vorausgesetzt ist57, durch das Überwiegen kooperativer Strategien im Inneren gekennzeichnet. Soziokulturelle Evolution kann aus bio57 Auf dieser Voraussetzung – die aber zeitlich immer nur beschränkte Geltung beanspruchen kann - basiert die Ausklammerung natürlicher Umweltselektion in der Luhmannschen Evolutionstheorie.


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logischer Perspektive als ein Extremfall von Gruppenselektion betrachtet werden.58 Insofern kommt Strategien der Sicherstellung von Kooperation für die Beschreibung soziokultureller Einheiten ein Primat zu. Wettbewerb ist insofern ein Phänomen, das von soziokulturell organisierten Einheiten für ihren Binnenraum zugelassen, also zugleich ermöglicht und institutionell beschränkt wird. Dieses Phänomen ist strikt zu unterscheiden von dem ungeregelten Konkurrenzkampf, der in der Evolutionsbiologie beschrieben wird und eine natürliche Bedingung der soziokulturellen Evolution bildet. 59 Strategien des Wettbewerbs und der Koooperation verhalten sich komplementär zueinander. In evolutionstheoretischer Perspektive ist davon auszugehen, dass sich auf der Ebene von Populationen niemals die eine Strategie vollständig auf Kosten der anderen durchsetzen kann. Auch dort, wo Formen der Konkurrenz in einem soziokulturellen Organismus eingehegt (staatlich reguliert und befriedet) sind, bleibt ja die Abhängigkeit des Reproduktionsprozesses von natürlichen Umweltressourcen erhalten. Deshalb müssen bei steigender Nachfrage oder sinkender Verfügbarkeit der Ressourcen die Mechanismen natürlicher Umweltselektion auf die innergesellschaftlichen Verhältnisse durchschlagen. Wie sehr auch immer die soziokulturell evoluierten Einheiten sich im Inneren durch Organisation von der natürlichen Umwelt unterscheiden: ihre jeweils größte soziale Einheit – auch eine global zur „Weltgesellschaft― ausgedehnte Population – bleibt dem Druck der natürlichen Umweltselektion ausgesetzt. Aus dieser Rückwirkung natürlicher auf soziokulturelle Umweltbedingungen folgt nicht zwangsläufig ein Kampf aller gegen alle, sondern zunächst die Suche nach Institutionengebilden, die zu den veränderten Umweltbedingungen passen. Je größer die Vielfalt konkurrierender Akteure mit einer gemeinsamen Umwelt, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine passende Lösung im Institutionenpool gefunden werden kann. Wenn jedoch im Institutionenwettbewerb keine Lösung für die Reorganisation der Gesellschaft gefunden wird, droht stets der Rückfall in archaische Formen des Konkurrenzkampfs unter Gruppen und Individuen einer Population. Es gibt keinen Wettbewerb ohne Organisation i.S. eines staatlich pazifizierten Raums. Hinter dem staatlich regulierten Wettbewerb steht die Konkurrenz der staatlichen Regulatoren – und zwar nicht nur im Sinne eines friedlichen Wettbewerbs der Institutionengebilde, die ja eine globale Regulierung schon voraussetzt, sondern auch in dem Sinne des ungeregelten gewaltsamen Kampfes um die entsprechenden Ressourcen in der ökologischen Nische auf dem Planeten.

58 Die Frage, ob und inwieweit die natürliche Selektion auch bei phänotypisch höher aggregierten Einheiten als den individuellen Organismen ansetzen kann, ist innerhalb der Evolutionsbiologie umstritten. Der ökologisch orientierte mainstream der Neodarwinisten bejaht dies unter bestimmten Voraussetzungen (Mayr 1997). 59 In dieser Weise hat bereits Max Weber unterschieden und sich von biologisch-deterministischen Ansichten distanziert, natürliche Umweltselektion aber nicht prinzipiell in Frage gesetllt. Weber 1972, 20.

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6. Identifikation und Integration In der evolutionstheoretischen Erklärung der globalen Ausdehnung menschlicher Sozialität muss unterschieden werden zwischen primordialen und kulturspezifischen Mechanismen der Variation und Selektion. Der Bedarf für einen zweiten kulturspezifischen Mechanismus der Selektion mit restabilisierender Funkton wird hier aus der Verdoppelung der Umweltselektion und der zunehmenden Divergenz zwischen Mikro- und Makrophänomenen der menschlichen Kommunikation abgeleitet. Jede im Wettbewerb der Institutionen neu getroffene Selektion muss mit dem in der Kommunikation schon verwendeten Institutionenvorrat abgestimmt werden. Diese Abstimmung erfolgt durch einen Mechanismus der identifikatorischen Verknüpfung der emergenten Formen der Makroebene mit gattungsgeschichtlich ererbten Formen der Mikroebene, in dem zugleich die andauernde Abhängigkeit der soziokulturellen Evolution von Bedingungen der natürlichen Selektion zum Tragen kommt. Organisation und Wettbewerb im Inneren soziokultureller Einheiten sind als internalisierte Formen der Umweltselektion betrachtet worden, die nicht nur als Formen der Anpassung an Umweltbedingungen funktionieren, sondern zugleich als Instrumente zu deren Veränderung. Diese Veränderung wirkt destabilisierend auf den gegebenen Institutionenvorrat der soziokulturellen Einheiten zurück. Mechanismen der Restabilisierung sind funktional auf die interne Verdoppelung der Umweltselektion zurückzuführen, in kausaler Hinsicht jedoch strikt von Mechanismen der Selektion zu unterscheiden. Demgegenüber hat Luhmann funktionale Differenzierung nicht nur als Strukturmerkmal der modernen Gesellschaft, sondern in evolutionstheoretischer Hinsicht zugleich als ihren Restabilisierungsmechanismus bezeichnet (1979, 485ff). Seine Ausgangsthese, die reale Konstitution der Weltgesellschaft sei „die Konsequenz des gesellschaftlichen Differenzierungsprinzips — genauer gesagt: die Konsequenz der erfolgreichen Stabilisierung dieses Differenzierungsprinzips― (1972, 335), verweist allerdings eher auf die anhaltende Instabilität, die mit der Ausbreitung dieses Prinzips verbunden ist.60 Die Verknüpfung des Prinzips funktionaler Differenzierung mit der evolutionären Funktion der Restabilisierung muss nicht nur aus empirischen Gründen, sondern auch aus methodologischen Gründen zurückgewiesen werden: wegen mangelnder kausaler Unabhängigkeit in der Beschreibung des Mechanismus. Die Binnendifferenzierung soziokultureller Populationen kann als institutionelle Orientierung verstanden werden, mit der der Konkurrenzdruck im Inneren reguliert wird. Derartige Regulierungen können selbst zum Faktor der Ausdeh60 Luhmanns Diagnose von 1972, derzufolge „faktisch ... mit peridodischen und regionalen Ausnahmen, der universelle Weltfriede hergestellt― sei, würde heute wohl kaum wiederholt werden (1972, 333f).


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nung soziokultureller Populationen und gerade deshalb nicht zugleich zum Faktor der Restabilisierung werden. Mit der Annahme restabilisierender Wirkungen der kulturellen Formen gesellschaftlicher Differenzierung würde schon vorausgesetzt, was in evolutionstheoretischer Perspektive erst zu erklären wäre: wie es überhaupt möglich ist, dass im Institutionenvorrat soziokultureller Populationen die Mittel vorhanden sind – oder sich in passender Form neu bilden – um die kulturell erweiterten Formen der Sozialität zu stabilisieren. Innergesellschaftlicher Wettbewerb stellt immer nur einen vorläufigen Bewährungstest für die in einer soziokulturellen Einheit gefundenen institutionellen Lösungen dar. In diesem Sinne konkurrieren phänotypische Einheiten auf mehreren Ebenen – auf der untersten Ebene als (immer schon kulturell sozialisierte) Individuen, auf der obersten Ebene als große, nationale oder transnationale Einheiten. Für jede dieser Einheiten sind andere Umwelten selektionsrelevant. Das Funktionieren institutionell regulierten Wettbewerbs als Mechanismus der innergesellschaftlichen Selektion kann die Wirkung äußerer Umweltselektion nur insoweit ersetzen, wie auch genügend natürliche Ressourcen zur Reproduktion der soziokulturellen Population verfügbar sind. Anderenfalls lassen sich die institutionellen Ergebnisse der innergesellschaftlichen Selektion nicht stabilisieren – sie werden aufgrund des äußeren Umweltdrucks wieder kassiert.

Die funktionale Ordnung moderner Gesellschaften kann als ein Ergebnis von Umweltselektion verstanden werden, das ein höheres Anpassungspotential gegenüber Veränderungen der Umwelt aufweist als stratifikatorische Ordnungen, weil es mehr Wettbewerb im Inneren zulässt. In diesem variationsermöglichenden Sinne kann funktionale Differenzierung als Beitrag zur Erhöhung der Stabilität großer soziokultureller Einheiten interpretiert werden. In evolutionstheoretischer Perspektive kann dies jedoch nicht als zureichende Bedingung der Stabilisierung soziokultureller Einheiten verstanden werden. Zur Beschreibung des Mechanismus der Restabilisierung gehört die Wiedereinbettung makrostruktureller Veränderungen in die Lebenswelt der Individuen auf der Mikroebene, also auch der Bezug auf Individuen als phänotypische Träger institutioneller Merkmale. Durch funktionale Differenzierung wird der Wettbewerb der Institutionen auf der Makroebene begrenzt und auf der Mikroebene erweitert. Der Bedarf zur Wiedereinbettung der institutionellen Veränderungen in natürliche Lebenskreisläufe kommt daher vor allem auf der Mikroebene auf. Mit der Emergenz großer soziokultureller Einheiten auf der Makroebene wächst auch das Problem der kulturellen und kognitiven Verarbeitung der Ebenendifferenz durch die Akteure auf der Mikroebene. Der kulturelle Aspekt des Problems verweist auf Mechanismen der kollektiven Identifikation, die im Folgenden betrachtet werden.61 61 Der kognitive Aspekt des Verarbeitungsproblems verweist dabei zurück auf Mechanismen der intergenerativen Tradierung s. Abschnitt 3 und noch einmal in Abschnitt 7.

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Die besondere Bedeutung der Beschreibung von Mechanismen der kollektiven Identifikation im Hinblick auf die restabilisierende Funktion der Integration großer soziokultureller Einheiten ergibt sich in evolutionstheoretischer Perspektive daraus, dass die soziokulturelle Einheit einschließlich ihrer Umweltangepasstheit nicht (wie in der Organismus-Analogie) schon vorausgesetzt werden kann. Die institutionelle Stabilisierung so großer soziokultureller Einheiten, wie sie in der menschlichen Sozialgeschichte zustandegekommen sind, muss zunächst in einem elementaren und empirisch gehaltvollen Sinne als evolutionär unwahrscheinlich betrachtet werden. In welchen Formen der Kommunikation kann sich die Identifikation mit so großen sozialen Einheiten vollziehen? Um den Restabilisationsmechanismus der soziokulturellen Evolution in diesem Sinne zu beschreiben, kann zunächst auf kultur- und paläoanthropologische Untersuchungen zurückgegriffen werden. Die Kulturanthropologen Richerson und Boyd haben die für die soziokulturelle Evolution des Menschen typische Sozialform als „Ultrasozialität― bezeichnet und damit die Frage nach den Stabilitätsbedingungen großer Sozialsysteme neu aufgeworfen. 62 Im Fokus ihrer Überlegungen steht die Suche nach Mechanismen, die die Stabilisierung von Menschengesellschaften jenseits der genetisch verankerten Mechanismen der Verwandtschaftsselektion und interaktiven Reziprozität ermöglichen. Sie sehen einen solchen Mechanismus angelegt in der idiosynkratischen Gruppenidentifikation vorhochkultureller Stammesgesellschaften und folgern, dass alle weiteren Größen- und Komplexitätssteigerungen menschlicher Sozialität auf kulturellen Weiterentwicklungen dieses Identifikationsmechanismus beruhen müssen. Richerson und Boyd gehen davon aus, dass die phylogenetisch ererbten Mechanismen der sozialen Selektion, die die Bildung kleiner sozialer Einheiten abstützen, nicht geeignet sind, um die Stabilität so großer sozialer Einheiten zu erklären, wie sie in der soziokulturelle Evolution des Menschen anzutreffen sind. Die Mechanismen der Verwandtschaftsselektion, der Reziprozitätsorientierung und der (spontanen) Sanktionierung von Abweichungen, die z.T. schon in Tiergesellschaften zu finden sind, seien zweifellos auch im menschlichen Sozialleben wirksam, reichten nicht aus, um deren „Ultrasozialität― zu erklären. 63 Die Sozialformen der menschlichen Gattung müssten durch einen kulturell erweiterten Mechanismus der Vererbung erklärt wer62 Richerson und Boyd beziehen sich damit zunächst nur auf die – im Vergleich mit anderen lebenden Populationen, einschließlich menschlicher Populationen bis zum Neolithikum – auffälligen Größenunterschiede. Ihre Fragestellung ist aber die nach der Stabilität – Luhmann spricht sogar von „Ultrastabilität― – so großer Sozialsysteme. S. dazu auch Kappelhoff 2004. 63 Auf die von Richerson und Boyd (1998) herausgestellten evolutionären Formen kinship, reciprocity and punishment beziehen sich auch Ansätze des methodologischen Individualismus zur Erklärung menschlicher Sozialität.


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den, der geeignet ist, die primordialen Mechanismen zu ersetzen oder zu überformen. Nach Auffassung von Richerson und Boyd wird die Bildung großer sozialer Einheiten v.a. ermöglicht durch symbolische Grenzziehungen. Die symbolischen Markierungen, mit denen Ingroups von Outgroups unterschieden werden, sind demnach die entscheidenden Wirkungsfaktoren für eine kulturell erweiterte Gruppenselektion, die Empathie und Altruismus weit über die Grenzen der Verwandtschaft und der Interaktion unter Anwesenden hinaus reguliert. Richerson und Boyd sehen den Ursprung dieses Mechanismus in den ethnolingualen Institutionen von Stammesgesellschaften des Pleistozäns, mit denen die Grenzen von Jäger- und Sammler-Gesellschaften gesprengt wurden. Wenn einmal die durch Verwandtschaft und Reziprozität auferlegten Beschränkungen durch kulturelle Gruppenselektion aufgelöst sind, gebe es keine natürlichen Grenzen mehr für die Evolution der menschlichen Kooperation. Große hierarchisch organisierte Einheiten erwuchsen in den letzten 10.000 Jahren zunächst in Agrarregionen und zwar, ohne dass bisher Anzeichen für die Erreichung eines abschließenden Gleichgewichtszustandes zu erkennen wären.64 Richerson und Boyd verbinden ihre Hypothese über den Ursprung soziokultureller Evolution in den stammesgesellschaftlichen Identitätszuschreibungen des Pleistozäns mit der Erwartung, dass zu den bekannten Konflikten zwischen dem genetisch verankerten Kleingruppenaltruismus und dem ethnolingual verankerten Großgruppenaltruismus neue Konflikte mit Verhaltenserwartungen treten, die aus der Ausdehnung sozialer Einheiten in der Moderne erwachsen und weder zu den angeborenen noch zu den kulturell erworbenen sozialen Verhaltensmustern passen. Der evolutionstheoretisch entscheidende Punkt in der Beschreibung des Mechanismus der ethnolingualen Gruppenselektion muss darin gesehen werden, dass dieser Mechanismus zur Ablösung von den genetisch verankerten Bindungsmechanismen beiträgt und als solcher für kommunikative Überformungen offen ist. Die folgenden Ausführungen sollen in groben Umrissen zeigen, in welcher Richtung die Suche nach kulturell erweiterten Mechanismen der Gruppenidentifikation gehen könnte, die die Funktion der Restabilisation innerhalb der soziokulturellen Evolution erfüllen. Für einfache (primordiale) Formen der Sozialität lässt sich ein direkter Zusammenhang zwischen dem sozialen Netzwerk der Kommunikation und einem institutionellen Kern annehmen, der sich der Beobachtung innerhalb der Kommunikation entzieht und als latente Voraussetzung ihres Gelingens fungiert. Für (technisch) erweiter64

Im Hinblick auf Formen der segmentären Differenzierung ist auf die in der Menschheitsgeschichte lange dauernde Parallelentwicklung von genetischer und sprachlicher Differenzierung bei den menschlichen Populationen zu verweisen (Cavalli-Sforza 1999). Nicht nur die Abstammungs-, sondern auch die Sprachgemeinschaft ist ein grundlegendes Identifikations- und Abgrenzungsmittel, das auch in der modernen Gesellschaft noch heftig nachwirkt.

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te Sozialitäten bedarf es offensichtlich zusätzlicher (technisch-intentional) organisierter Vorkehrungen, um das Gelingen der Kommunikation im erweiterten Netzwerk sicherzustellen. Diese Vorkehrungen – Konzentration der Sanktionsmittel, hierarchische Kontrolle etc. – müssen ihrerseits legitimiert werden im Rekurs auf Institutionen, die sich auch hier der (direkten) Beobachtung innerhalb der Kommunikation entziehen. Verwandtschaftsaltruismus ist der einzige primordiale Mechanismus sozialer Ordnung, dem eine genetische Verankerung zugeschrieben wird. Eine kulturell erweiterte Form dieses Mechanismus ist die Übertragung des Status von Verwandten auf Nichtverwandte durch Adoption. 65 Inwieweit der Mechanismus der Verwandtschaftsselektion die ontogenetische Grundlage für alle kulturell erweiterte Formen der Gruppenselektion – i.S. eines prinzipiell erweiterbaren Identifikationspotentials – bildet, ist umstritten. 66 Es ist allerdings kaum zu bestreiten, dass dem Mechanismus der Verwandtschaftsselektion auch in seiner ursprünglichen Form noch eine weichenstellende Funktion für soziokulturelle Tradierungsprozesse, nämlich in der Primärsozialisation der nachwachsenden Generation zukommt.67 In den daran anschließenden Sozialisationsprozessen entscheidet sich, welche der symbolisch generalisierten Institutionen der Kultur im Wechsel der Generationen tradiert oder vergessen werden. 68 Die reziproken Interaktionen auf der Mikroebene bilden eine primäre Erfahrungsgrundlage für erweiterte Formen der Kommunikation jenseits der Verwandtschaftsgruppe im Sinne von „Wahlverwandtschaften―. Wegen ihrer binären Verzweigungsstruktur - kooperieren/defektieren - lassen sie sich gut in spieltheoretischen Modellen beschreiben.69 Für die Beschreibung dieser Formen ist es wichtig zu sehen, dass Reziprozität nicht mit Empathie, Solidarität oder anderen „altruistischen― Orientierungen gleichzusetzen ist. Auch konflikthaltige Interaktion (wie Blutrache) folgt dem Reziprozitätsmuster. Auf der Ebene reziproker Interaktionen 65 Diese traditionell in Herrschaftshäusern geübte Praxis ist bekanntlich bis in die Moderne auch als eine Form der Loyalitätssicherung bei Wirtschaftsagenten verwendet worden. 66 Bezugspunkte sind Familie, Schule, Altersgruppe (street gang) Verein, Region („Heimat―), Nation („Vaterland―) Religionsgemeinschaft („Ursprung―) etc. Kritiker sehen in der alltagssprachlichen Verwendung von Identifikationsbegriffen nur Metaphorik. 67 Im Hinblick auf die naturale Eingebettetheit der soziokulturellen Evolution ist als Besonderheit der Primärsozialisation ihr „unfreiwilliger― Charakter hervorzuheben. In dieser Perspektive gibt es keine „Wahlhandlungen―. 68 Erst jüngst haben international vergleichende Untersuchungen von Schulleistungen (PISA) erneut gezeigt, dass der Einfluss der familialen Primärsozialisation durch sekundäre Sozialisationsinstanzen nicht ersetzt werden kann. 69 Es gibt natürlich keinen Nullpunkt der Evolution, an dem die von genetisch verankerten Impulsen freigesetzten Individuen nur durch Interaktion zu sozialen Normen finden. Spieltheoretische Modelle der Normentstehung sind insofern nur unter Voraussetzungen realistisch, die sie nicht mitbeschreiben. Die Entstehung von sozialen Normen muss als sukzessive Verstärkung institutioneller Orientierungen unter Bedingungen beschrieben werden, in denen genetische Steuerung durchaus noch für sozialen Zusammenhalt wirkte.


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kann gelernt werden, dass Rücksicht auf das Verhalten und Nachsicht gegenüber Fehlern anderer den eigenen Interessen dienen. Andererseits sind Strategien der Reziprozität als Mittel der Ordnungsbildung in ihrer Reichweite beschränkt auf kleine soziale Einheiten mit der Chance zu häufig wiederkehrender Interaktion derselben Personen. 70 Das primäre Mittel der soziokulturellen Evolution, das die Bildung größerer sozialer Einheiten ermöglicht, ist die Bestrafung abweichenden Verhaltens. Die primordiale Form dieses Mechanismus ist in den reziproken Sanktionsformen der interagierenden Gruppe selbst zu sehen. Die Bildung erweiterter Einheiten wird erst durch die (kostensparende) Delegation der Bestrafung an einen staatsförmigen Agenten möglich (Service 1977). Dass die Etablierung staatlicher Sanktionsregime historisch stets besonderer Anstrengungen zur Stabilisierung bedurfte, zeigt sich u.a. an den vielfältigen Formen staatlicher Prachtentfaltung, Imponierbauten etc. die aus heutiger Sicht als kostspielig und wenig effizient angesehen werden. In der modernen Gesellschaft werden offensichtlich andere Mechanismen benötigt und vorausgesetzt, um soziale Ordnung zu garantieren. Das staatliche Gewaltmonopol bleibt auch hier eine notwendige Voraussetzung für die institutionelle Lösung von Kooperationsproblemen. Die pazifizierende Wirkung der Sanktionsmacht im Zusammenspiel opportunistisch betrugsbereiter Akteure ist nicht an Prinzipien der Legitimität gebunden. Allerdings ist überlegene Sanktionsmacht keine zureichende Bedingung für Stabilität. Diese ist dauerhaft nur gegeben, wenn auch die machtunterlegenen Akteure Angebote finden, um sich mit der institutionellen Ordnung zu identifizieren. Die einfachen Stammesgesellschaften unterscheiden sich von den frühen Hochkulturen vor allem in dem Maß an Ungleichheit, das letztere im Binnenraum der Gesellschaft zulassen. So erklärt sich, dass in der schriftlichen Überlieferung der Menschheit die Anfänge soziokultureller Evolution im Neolithikum als Sündenfall, als Vertreibung aus dem Paradies beschrieben werden. Neben der Sicherung des staatlichen Gewaltmonopols nach Innen und Außen – als Spezialaufgabe einer Militärkaste – muss deshalb ein erheblicher Teil der kulturellen Anstrengungen auf die Legitimation sozialer Ungleichheiten – als Spezialaufgabe einer Priesterklasse - im Inneren der Gesellschaft gerichtet werden. Diese Ungleichheit einschließlich der Versorgung dieser Sondergruppen wird möglich auf der technischorganisatorischen Grundlage von Überschussproduktion. Die Auflösung natürlicher Beschränkungen der Sozialität durch technisch erweiterte Mittel verweist - in der rekursiven Verknüpfung evolutionärer Mechanismen zugleich vor und zurück - auf kulturell erweiterte Mechanismen der Ordnungsbildung. Reichen die natür70 „Tit for Tat― ist also keine erfolgversprechende Strategie für große soziale Systeme (Axelrod 2000, Glance/Huberman, 1994 )

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lichen räumlichen und zeitlichen Beschränkungen der Sozialität nicht mehr aus, um sie zu gewährleisten, erscheint hierarchisch-stratifikatorische Differenzierung als erste Wahl. Die Mittel der wechselseitigen Kontrolle, die in kleinen Gemeinschaften spontan zur Verfügung stehen - z.B. Klatsch - werden an einen gemeinsamen Agenten delegiert, der mit einem Sanktionsmonopol ausgestattet soziale Ordnung unter den erweiterten Bedingungen wiederherstellt. Da die Sanktionsmechanismen, die unter diesen Bedingungen soziale Ordnung garantieren, sich weder durch situative Interessenübereinstimmung plausibilisieren noch schon als „natürliche― – d.h. durch intergenerative Tradierung prästabilisierte - Institutionen darstellen, ergibt sich für die gewählte Ordnung in erweiterten Formen der Sozialität ein andauernder Legitimationsbedarf, der zunächst durch die Priesterklasse befriedigt wird, die bestimmte Institutionenkomplexe zu Heilsgütern erklärt. Religion als symbolischer Rekurs auf einen geteilten, über jeden Zweifel erhabenen Ursprung, erscheint als natürliche Erweiterung der abstammungsorientierten Gruppenidentifikation in Stammesgesellschaften. Die religiöse Orientierung bildet das primäre Muster der kulturell erweiterten Gruppenidentifikation. Dieses Muster ist prinzipiell partikularistisch, da es die Abgrenzung von anderen immer schon voraussetzt. Die Abgrenzung von denen, die den eigenen Ursprungsglauben nicht teilen, wird als affektive Absicherung des Glaubens nach demselben Muster eingesetzt, nach dem die genetisch verankerte Abgrenzung von denen funktioniert, die die eigene Abstammung nicht teilen. Diese Innen-Außen-Unterscheidung wird jedoch im Kontext erweiterter Sozialitäten zunehmend problematisch. Der Partikularismus religiöser Identifikationsangebote steht deshalb in einem prinzipiellen Spannungsverhältnis zu dem durch die globale Ausdehnung der Gesellschaft ausgelösten Bedarf an universalistischen Orientierungen, 71 der heute in der Diskussion über Menschenrechte zum Ausdruck kommt.72 In diesem Zusammenhang taucht die Frage auf, ob Mechanismen der kulturell erweiterten Gruppenidentifikation prinzipiell an eine dominierende Innen-Außen-Unterscheidung gebunden sind oder ob sie davon ablösbar sind im Sinne einer Pluralisierung der diesbezüglich relevanten Unterscheidungen.73 Die Restabilisierung sozialer Ordnung durch Bildung einer latenzgeschützten Zone von nichthinterfragbaren

71 Dies gilt trotz ihrer kulturell erhöhten Toleranz auch für die sogenannten Weltreligionen. Ihre vielfältig formulierten Friedensbotschaften sind noch stets mit der Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterlegt. 72 S. nur den gegenwärtig in Europa ausgetragenen Streit über die Frage, ob es bei dem symbolischen Tragen von Kopftüchern um ein schützenswertes Individualrecht auf Religionsausübung oder um ein gegen die Menschenrechte verstoßendes öffentliches Bekenntnis zur Ungleichbehandlung der Geschlechter handelt. 73 Diese in den Sozialwissenschaften umstrittene Frage wird im letzten Abschnitt noch einmal aufgenommen.


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Strukturen vollzieht sich in Formen der Kommunikation, die eine prinzipiell asymmetrische Struktur in der Kombination von Handlungs- und Erlebenskomponenten aufweisen. Die Mitteilung nimmt traditionell die außeralltägliche Form einer Offenbarung an, die keine Antwort erwartet. Die Empfänger der Botschaft sind nur in der Position des Erlebens und zwar normalerweise eines kollektiv geteilten Erlebens. Die Unmöglichkeit der Nachfrage verfestigt die mitgeteilte Information und erleichtert ihre Verbreitung.74 Diese Form der Kommunikation, die schon in oral kommunizierenden Gesellschaften durch dafür besonders ausgezeichnete Personen (Medizinmänner, Orakel auslegende Priester etc.) wahrgenommen wird, wird in traditionellen Hochkulturen verfestigt durch Überlieferung auf der Grundlage von Schrift. Alle Hochreligionen sind Schriftreligionen. Die Monopolisierung der schriftlichen Überlieferung (und die damit verbundene Legitimation sozialer Ordnung) wird aufgelöst durch Buchdruck und Alphabetisierung der Massen. Im Übergang zu modernen Gesellschaft scheint es zunächst so, als ob noch einmal die Legitimationsfunktion zum Monopol einer besonderen Klasse würde: der Klasse der wissenschaftlichen Aufklärer. Jedoch wird die Aura der Wissenschaft als einer besonderen Legitimationsinstanz durch die funktionale Differenzierung der Gesellschaft selbst auf- und abgelöst durch Formen medialer Öffentlichkeit, die sich Monopolisierungsstrategien weitgehend entziehen. 75 Im Kontext des Institutionenwandels, der als typisch für den Übergang zu funktional differenzierten Gesellschaften beschrieben worden ist, stellt die Substitution religiöser durch öffentliche Formen der Legitimation nur einen spezifischen Teilaspekt dar. Daneben ist vor allem auf positives – also ohne religiöses Fundament auskommendes - Recht und repräsentative – also Hierarchie nicht „von oben―, sondern sich selbst legitimierende - Demokratie und viele andere Parallelelentwicklungen hinzuweisen. Dennoch kommt der Form der modernen Öffentlichkeit eine besondere, und in dieser Besonderheit übergreifende Bedeutung zu. Jeder in funktionaler Hinsicht ausdifferenzierte Bereich der Gesellschaft weist seinen eigenen Publikumsbezug auf. Diese Teilöffentlichkeiten bilden jedoch nicht nur konstitutive Bedingungen für den funktionsspezifischen Wettbewerb. Ihre besondere legitimatorische Funktion erwächst daraus, dass sie sich wechselseitig durchdringen können. Diese übergreifende Bedeutung der Medien und Formen der Öffentlichkeit ist von Jürgen Habermas herausgestellt worden:

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„Kommunikationstechnologien, wie zunächst Buchdruck und Presse, dann Radio und Television, machen Äußerungen für beinahe beliebige Kontexte verfügbar und ermögIichen ein hochdifferenziertes Netz von lokalen und überregionalen, von literarischen. wissenschaftlichen und politischen, von innerparteilichen und verbandsspezifischen, von medienabhängigen oder subkulturellen Öffentlichkeiten. In Öffentlichkeiten werden Prozesse der Meinungs- und Willensbildung institutionalisiert. die, so so spezialisiert sie sein mögen, auf Diffusion und wechselseitige Durchdringung angelegt sind. Die Grenzen sind durchlässig; jede Öffentlichkeit ist zu anderen Öffentlichkeiten hin auch geöffnet. Ihren diskursiven Strukturen verdanken sie eine kaum verhohlene universalistische Tendenz. Alle Teilöffentlichkeiten verweisen auf eine umfassende Öffentlichkeit, in der die Gesellschaft im ganzen ein Wissen von sich ausbildet." (Habermas 1996, 417)

Die restabilisierende Wirkung moderner Öffentlichkeit beruht u.a. darauf, dass sie die in den innergesellschaftlichen Selektionsprozessen entstandenen Unterscheidungen zugleich fortlaufend thematisiert und transzendiert. Die Formen öffentlicher Kommunikation weisen dabei die gleiche asymmetrische Struktur auf wie die traditionalen Formen religiöser Offenbarungskommunikation.76 Die Asymmetrisierung der Kommunikation in modernen Massenmedien ist keineswegs Ausdruck ihres Verfalls – der Abweichung vom Ideal der Reziprozität in der Diskussion unter Anwesenden77 –, sondern Bedingung ihrer Wirksamkeit als moderne Form der kulturell erweiterten Gruppenidentifikation. Die Lockerung des Latenzschutzes ihrer Instititutionengebilde in den Formen der öffentlichen Kommunikation einerseits und die dadurch erreichte Steigerung ihrer Flexibilität andererseits erscheinen als typische Merkmale der modernen Gesellschaft. Institutionen werden laufend beobachtet, beschrieben und damit der Selektion in einem Wettbewerb zweiter Ordnung ausgesetzt. Dieser Wettbewerb der Institutionen wird auf der Makroebene begrenzt und auf der Mikroebene erweitert durch funktionale Differenzierung. Diese erscheint auf der Makroebene als eine intentionalisierte Form des Latenzschutzes, indem sie sicherstellt, dass z.B. Organisationen der Wirtschaft mit denen der Politik, Instititionen der Politik mit denen der Religion etc. nicht mehr konkurrieren, sondern eine funktionale Autonomie erlangen. Der auf der Mikroebene freigesetzte Wettbewerb ist – wegen seiner Ungleichheit fördernden Wirkungen – in hohem Maße legitimationsbedürftig. Diese Legitimation erfolgt in der modernen Gesellschaft selbst unter Berufung auf das Prinzip funktionaler Dif76 Habermas verkennt dies, wenn er ihre legitimatorische Funktion in

74 Auf die asymmetrische Ego-Alter-Konstellation werterationalisierender Kommunikation habe ich in idealtypischer Gegenüberstellung mit zweckrationalen Formen der Organisation im 2. Abschnitt schon hingewiesen. 75 Die Beispiele staatlich monopolisierter oder zensierten Medienöffentlichkeiten zeigen, dass sie auf diese Weise auch ihre restabilisierende Funktion einbüßen.

normativer Absicht an Strukturen der Kommunikation nach dem Muster der Interaktion unter Anwesenden bindet. 77 Dass interaktive Reziprozität die Orientierungsfunktion der Öffentlichkeitsmedien eher gefährdet, wird heute vielfältig beobachtet, seit in den neuen digitalen Medien auch Interaktivität mit technischen Mitteln herstellbar ist.


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ferenzierung und innerhalb funktionsspezifischer Teilöffentlichkeiten. Die Dezentrierung staatlicher Regulierungsmacht in funktionsspezifische Formen des Wettbewerbs kann sich institutionell nur stabilisieren unter der Voraussetzung, dass jenseits der staatlichen Sanktionsregime neue Formen der Sanktionierung gefunden werden. Diese zeigen sich insbesondere in den Formen der öffentlichen Billigung und Missbilligung. Der Kontrollkosten sparende Effekt von Öffentlichkeit lässt sich auch darauf zurückführen, dass diese Form der Sanktionierung an primordiale Formen der Bestrafung abweichenden Verhaltens in kleinen Einheiten wiederanknüpft.78 Auch die moderne Form der Öffentlichkeit bezieht ihre legitimierende Kraft nicht aus reziproken Interaktionen i.S. basaler Wechselseitigkeit, sondern aus Identifikationen i.S. basaler Einseitigkeit. In diesem Sinne ist Öffentlichkeit die moderne – und tendenziell global verfügbare (Stichweh 2002) - Form der kulturell erweiterten Gruppenidentifikation. Die durch Massenmedien gestützte Form der anonymen Abstimmung für funktionsspezifische Leistungen muss als die wichtigste Form der Überschreitung der Grenzen angesehen werden, die für die Lösung von Ordnungsproblemen in (wie lose auch immer geknüpften) sozialen Netzwerken gegeben sind. 79 Der institutionenbildende Effekt von Öffentlichkeiten beruht auf einer in hohem Maße asymmetrischen Konstellation der Kommunikation zwischen Sendern und Empfängern. 80 Die Behandlung von Themen ist dabei selbst als ein Wettbewerb (zweiter Ordnung) veranstaltet, in dem das Publikum (bei sehr geringer Investition auf seiten der anonymisierten Einzelnen) entscheidet, welche Beiträge angenommen oder abgelehnt werden. Mit der Annahme und Ablehnung von Themen ergibt sich wie von selbst der Gebrauch der damit transportierten (kognitiven und normativen) Unterscheidungen, die sich zu Institutionen der soziokulturellen Umwelt verfestigen. Der in Medien und Formen der Öffentlichkeit ausgetragene Wettbewerb der Institutionen erscheint als ein quasinatürliches, nämlich Kontrollkosten sparendes Mittel, um den Legitimationsbedarf zu stillen, der durch den Wettbewerb der Akteure auf der Mikroebene ausgelöst wird. Die Formen des Wettbewerbs (erster und zweiter Ordnung) sind auf diese Weise rekursiv miteinander verknüpft.

78 Das primordiale Muster der wechselseitigen Sanktionierung in Interaktionskontexten kehrt unter den Bedingungen der mediengestützten Massenkommunikation – etwa in den Formen der Skandalisierung – als asymmetrisches Sanktionsregime wieder (Imhoff 2002) 79 Vgl. die in Wahlhandlungstheorien beschriebene Lösung von Kooperationsproblemen im „iterierten Gefangenendilemma― durch Bildung von „Netzwerken―, die die Wahrscheinlichkeit wiederkehrender Begegnungen und damit Sanktionierung von Verstößen auf relativ kostensparende Weise sicherstellen. 80 Sie ist gerade wegen dieser Asymmetrie auch kompatibel mit der Annahme eigennütziger und opportunistischer Handlungsentscheidungen der Rezipienten.

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Die Gemeinsamkeit des Identifikationsmechanismus von Stammesgesellschaft über traditionelle bis zur modernen Gesellschaft ist in der konstitutiven Asymmetrie der Ego-Alter-Konstellation und dem Latenzschutz für institutionelle Erwartungen zu erkennen. Die Differenz zwischen traditionellen und modernen Formen der kulturell erweiterten Gruppenidentifikation ist in der technisch erweiterten Basis der Massenmedien und in der reflexiven Durchdringung der Traditionsbestände zu sehen. Der wichtigste Schritt auf diesem Weg zur modernen Gesellschaft ist die Ablösung des Institutionenpools der Population von transzendenter religiöser Fundierung zugunsten der Selbstverehrung der Gesellschaft in der Form der Nation (des nationalen Staatsvolks). Ist dieser Schritt ins Diesseits einmal vollzogen, kann sich kein Institutionengebilde mehr dem „Säurebad― der Öffentlichkeit entziehen. Der Latenzschutz für bestimmte kollektiv institutionalisierte Erwartungen gilt nur noch unter dem Vorbehalt, dass der Traditionsbestand nicht ins Visier der öffentlichen Überprüfung gerät. Dies kann jedoch nicht für den Institutionenpool soziokultureller Populationen insgesamt geschehen. Dafür ist er zu groß und vielgestaltig geworden. Diese Komplexität wird zu einer sekundären Form des institutionellen Latenzschutzes.81 Zusammenfassend kann die in der modernen Gesellschaft erreichte Form der Institutionenbildung als eine selbsttragende Konstruktion i.S. innerweltlicher Legitimation beschrieben werden. Die Regeneration ihres Institutionenpools erfolgt in diesem Sinne „autopoietisch―.82 Die kulturelle Funktion der Religion wird dabei nicht ersetzt durch Wissenschaft – wie es die Semantik der Aufklärung noch suggeriert – auch nicht durch eine Kombination aus Wissenschaft und Pädagogik (Werte-Sozialisation) – wie es die Soziologie in der Durkheim-Tradition noch nahelegt, sondern durch Öffentlichkeit i.S. funktionssystemisch ausdifferenzierter Akteur-PublikumsBeziehungen, die sich in den Medien moderner Massenkommunikation zu einer polykontexturellen und operativ geschlossenen, für Handlungsintervention direkt nicht erreichbaren, gleichwohl nicht transzendental, sondern diesseitig (zirkulär) konstituierten Grundlage der Institutionenbildung verdichten. Zu dieser „autopoietischen― Grundlage des Institutionenpools der Gesellschaft gehört die Legitimation der wirtschaftlichen Ungleichheit durch Märkte, die Legitimation politischer Herrschaft durch Wahlen, die Legitimation der Rechtsprechung durch Verfahren, die Legitimation von Bildungskarrieren durch Leistung etc. in jeweils funktionsspezifischen Teilöffentlichkeiten. Die funktionale Äquivalenz von Religion und Öffentlichkeit kann zum einen formal an der gleichartigen Asymmetrie der Handlungs- und Erlebens-Komponenten gezeigt werden und sie kann empirisch getestet werden in der Beobachtung der Zuoder Abnahme des Bedarfs für religiöse Gesamtdeutungen in direkter Proportion zum Grad der Ausdifferenzierung funktionsspezifischer Teilöffentlichkeiten.

Je mehr sich eine Makroebene der menschlichen Kommunikation mit sehr großen sozialen Einheiten gegenüber einer 81 Der Institutionenpool der Gesellschaft umfasst alles, was als selbstverständlich erwartet wird – und damit auch viele Zufallsergebnisse, die nicht notwendig sind, um die Einheit der Gesellschaft zu gewährleisten. Als Teile des Institutionenpools sind die Institutionengebilde, mit deren Hilfe moderne Gesellschaften ihre Einheit herstellen, in ähnlicher Weise unsichtbar und unzugänglich wie die transzendentalen Subjekte traditioneller Religionen. 82 In diesem historisch eingeschränkten Sinne wäre hier die Luhmannsche Bezeichnung für ein operativ geschlossenes System anwendbar.


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Mikroebene des Handelns und Erlebens verselbständigt, desto abstrakter und komplexer werden die Institutionengebilde, die das Funktionieren des Netzwerks der Kommunikation insgesamt sichern. Um die Wirkung der Medien und Formen der Öffentlichkeit als Restabilisationsmechanismus zu beschreiben, ist noch auf eine avancierte Form einzugehen, die zur Wiedereinbettung der Institutionengebilde in den geteilten Sinnvorrat beiträgt, den Individuen als Teilnehmer am kommunikativen Netzwerk der Gesellschaft als selbstverständlich voraussetzen und in ihren kommunikativen Operationen auf der Mikroebene verwenden.

Wie in der bisherigen Beschreibung der rekursiven Verknüpfung evolutionärer Mechanismen gilt auch für den hier skizzierten Mechanismus der Restabilisation (dessen Bezeichnung schon auf Rekursivität verweist) dass durch seine Wirkungen auch die Bedingungen für die anderen Mechanismen sich nachhaltig verändern. Eine wichtige Wirkung der Medien und Formen der Öffentlichkeit in der modernen Gesellschaft ist in der rückwirkenden Veränderung des Selektionsmechanismus durch den Mechanismus der Restabilisierung zu sehen. Öffentlichkeit wird zu einer konstitutiven Voraussetzung des Wettbewerbs innerhalb soziokultureller Umwelten. Die durch Öffentlichkeit erweiterten Formen der Identifikation ermöglichen eine bisher ungekannte Entschränkung von Wettbewerb auf der Mikroebene der Kommunikation. Menschliche Individuen sind in der modernen Gesellschaft einem doppelten Druck ausgesetzt: Auf der Mikroebene werden sie unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung einem zunehmenden Wettbewerbsdruck ausgesetzt und damit als Personen vereinzelt. Auf der Makroebene werden ihnen zugleich die traditionellen Mittel der Gruppenidentifikation entzogen. Funktionale Differenzierung wirkt hier als Entzug der traditionell durch die Bildung kleinerer sozialer Einheiten innnerhalb der Population gebotenen Identifikationsmöglichkeiten. Die individuellen Teilnehmer am kommunikativen Netzwerk der Gesellschaft müssen sich in funktionsspezifisch ausdifferenzierten Teilnehmerrollen an verschiedenen Teilsystemen zugleich orientieren. 83 Sie werden auf diese Weise gezwungen, sich selbst als Einheit zu verstehen, die diese verschiedenen Funktionen integrieren kann. 84 Wie ist es aber möglich, sich selbst als Einheit zu verstehen, wenn die Gesellschaft, in der man agiert und die soziokulturelle Umwelt, an der man sich orientiert, in verschiedenartige Teile zerfällt? Die Antwort auf diese Frage liegt in der Präsenta-

83 Zu Überlebensvorteilen durch „Hybridität― s. Carvalli-Sforza 1999, 62. Unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung sind es aber nicht die Populationen, sondern die Individuen, die hinschtlich ihrer institutionellen Merkmalsausprägungen hybridisiert werden. Das verweist darauf, dass Individualität in der soziokulturellen Evolution selbst zur Institution geworden ist. 84 Dieses Phänomen ist in der Luhmannschen Differenzierungstheorie als Individualisierung durch Exklusion bezeichnet worden. Es fehlt allerdings eine Beschreibung des damit verbundenen Identifikationsmechanismus.

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tion von Personen als Objekten der Identifikation in den modernen Massenmedien. 85 Wenn Individuen, die in evolutionstheoretischer Perspektive als kleinste phänotypische Einheiten zu betrachten sind, hier zugleich als Objekte der kulturell erweiterten Gruppenidentifikation erscheinen, dann handelt es sich zunächst um eine Paradoxie, 86 die unter Bezug auf die spezifische historische Form des Restabilisationsmechanismus moderner Gesellschaften aufzulösen ist. An die Stelle der Gruppe als phänotypischer Träger von Merkmalen des Institutionenpools tritt in den Medien und Formen moderner Öffentlichkeitskommunikation zunehmend das einzelne Individuum. Die restabilisierende Identifikation erfolgt über - gewissermaßen medial vergrößerte - Personen. Es handelt sich hier um eine Entwicklung, die häufig als ambivalent beschrieben wird, da sich in der identifikatorischen Verknüpfung von allgemeinen Orientierungen mit besonderen Personen (als Idolen) progressive und regressive Tendenzen vermischen und verselbständigen können. 87 Der Mechanismus der Tradierung setzt mit der Restabilisation institutioneller Differenzierungen (der Makroebene) das koevolutionäre Individualisierungspotential bereits voraus, das sich aus der Teilnahme von Individuen an den hochvariablen Prozessen der Kommunikation auf der Mikroebene und aus der Exklusion von Individualität in der Teilnahme an den hochselektiven Prozessen der Kommunikation auf der Makroebene ergibt. Tradierung kann den Wechsel von der Makrozur Mikroebene nur dadurch vollziehen, dass Institutionen in vielfältig verschiedenen Formen der Kommunikation auf der Mikroebene aus der individuellen Teilnehmerperspektive 88 reaktualisiert werden. Das Erleben der Kommunikation wird selektiv gefiltert durch vergangenes Erleben und durch die Handlungskontexte, in die die Individuen gleichzeitig involviert sind. Deshalb wird schon in der massenmedialen Organisation von Öffentlichkeit die lokale Handlungsrelevanz von Nachrichten berücksichtigt, und deshalb wird in der pädagogischen Organisation von Bildungsprozessen empfoh85 Diese Entwicklung lässt sich von den modernen Massenmedien zu den Medien des Buchdrucks, in den Formen des modernen Romans etc. zurückverfolgen. 86 Eine Paradoxie, auf die bereits Simmel verwiesen hat: „Die numerisch einfachsten Gestaltungen, die überhaupt noch als soziale Wechselwirkungen bezeichnet werden können, scheinen sich zwischen je zwei Elementen zu ergeben. Dennoch gibt es ein äußerlich angesehen noch einfacheres Gebilde, das unter soziologische Kategorien gehört; nämlich – so paradox und eigentlich widerspruchsvolll es scheint – den isolierten Einzelmenschen.― (Simmel 1968, 55) Diese historische Dimension der Individualität gilt – bei allen Unterschieden im Zeithorizont – auch schon für die Betrachtung von Individuen als organische Einheiten - vgl. in evolutionsbiologischer Perspektive Wieser, 1998. 87 Die zunehmende Personalisierung wird in den Medienwissenschaften z.B. in Bezug auf Vertrauensbildung durch „anchormen― - beobachtet und in kulturkritischer Absicht häufig als sachlich unangemessen als „Starkult― und Verfall der Öffentlichkeit bewertet. 88 Die Replikation von Institutionen setzt eine Reaktualisierung der institutionell verselbständigten Formen des kollektiven Erlebens in (primordialen) Formen der Kommunikation voraus, die ihre Handlungs- und Erlebenskomponenten noch in unmittelbarer Verknüpfung aufweisen. Es sind keine Formen der menschlichen Individuation und Sozialisation vorstellbar, in denen als „generalized other― – i.S. von G.H. Meads Formel für symbolisch generalisierte Formen der Interaktion - die „Weltgesellschaft― erscheint.


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len, am raum-zeitlich beschränkten Handeln der Individuen anzusetzen.

Die moderne Gesellschaft stellt ihre eigene Einheit in einer von raum-zeitlichen Beschränkungen losgelösten Form dar, indem sie den Wert des einzelnen Individuums, also der kleinsten operativen Einheit der soziokulturellen Population über alle Gruppenwerte (die Werte von konkurrierenden Gemeinschaften innerhalb der Populationen) stellt. Wenn es eine innere Logik gibt, die die funktionale Differenzierung (i.S. einer an territoriale Beschränkungen nicht mehr gebundenen Form der Binnendifferenzierung) mit der Idee der Weltgesellschaft als globaler Einheit verbindet, dann liegt sie wohl darin, das Objekt der soziokulturellen Identifikation nicht mehr in irgendeinem begrenzten Teil dieser Welt (sei es ein politisches System oder eine Nation), sondern in der (universalistischen) Idee des Individuums (als Menschheit) zu sehen und diese Idee in den symbolischen, rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen u.a. Bedingungen der Entfaltung menschlicher Individuen zu spezifizieren. In dieser historischen Form tritt die Selbstbezüglichkeit der Institutionenbildungsprozesse der Moderne besonders deutlich hervor.

7. Ausdehnung und Beschränkung Wie ist es möglich, dass etwas evolutionär so Unwahrscheinliches, das von allen in der Naturgeschichte bekannten Formen abweicht, wie die Bildung einer globalen soziokulturellen Population – in diesem eingeschränkten Sinne also eine Weltgesellschaft - zu einer wirklichen Form des menschlichen Soziallebens werden konnte? Für eine evolutionstheoretische Erklärung kultureller Phänomene gibt es zunächst zwei transzendentale (nämlich nicht kulturell, sondern natürlich begründete) Voraussetzungen, von denen sie nicht absehen kann: das sind zum einen Populationen und zum anderen Individuen. Ein evolutionstheoretisches Modell der soziokulturellen Evolution muss beide Voraussetzungen einbeziehen, ohne die eine auf Kosten der anderen aufzulösen. Der einseitige Bezug auf Populationen wäre blind für Probleme eines totalitären Universalismus, der einseitige Bezug auf Individuen entsprechend blind für Probleme eines libertären Partikularismus. Völker und Individuen haben in der Perspektive symbolisch sinnhaft gesteuerter Sozialitäten insofern transzendente Qualität als sie sinnexterne Ressourcen darstellen, ohne die die soziokulturelle Einheit sich nicht reproduzieren kann. Diese Ressourcen sind keineswegs unzerstörbar, jedoch für gezielte Steuerung nicht erreichbar. Man sieht das beim Volk besonders deutlich im demographischen Verhalten, in gewissem Umfang aber bei jeder Publikumsentscheidung. Demokratie basiert auf dem kollektiven Volksentscheid, und ihre höchste zivilisatorische Errungenschaft besteht in dem Schutz des Individuums vor willkürlichen Zugriffen der mit Kollektiv-

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macht ausgestatteten Organisationen. Beim einzelnen Individuum sieht man die Unerreichbarkeit für gezielte Steuerung besonders deutlich in den mutativen Sozialisationsprozessen der intergenerativen Tradierung. Die unwahrscheinliche Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme muss in evolutionstheoretischer Perspektive aus ihrer Funktion für den Reproduktionserfolg der Population erklärt werden. In einer funktionalistischen Analogie zur biologischen These von der Selbstausbreitungstendenz der Gene (Dawkins 1996a) könnte auch von einer Selbstausbreitungstendenz der Institutionen gesprochen werden, die sich der Technik und Organisation zu ihrer eigenen Ausbreitung bedient. In dieser Perspektive kann dann erklärt werden, wie es zu der auffälligen Tendenz zur Bevorzugung abstraktuniverseller Institutionengebilde im Gefolge der Ausdehnung soziokultureller Systeme kommt. Eine zureichende Erklärung kann allerdings nicht in der Eigendynamik der Instititutionen, sondern muss in den Formen der Umweltselektion gesucht werden. Sie verweist auf Selbstverstärkungsprozesse der soziokulturellen Evolution, die zur selektiven Bevorzugung allgemeiner und dekontextualisierter Institutionen (i.S. funktionaler Differenzierung) geführt haben, die unter den Bedingungen der Ausdehnung soziokultureller Einheiten zu sehr verschiedenen Umweltbedingungen passen. Dies ist jedoch nur die eine Tendenz, die durch die Ausdehnung der Populationen ausgelöst wird. Die Andere muss in der regressiven Wiederkehr partikularistischer Orientierungen im Institutionenpool kulturell erweiterter sozialer Systeme gesehen werden. Zur Beschreibung der evolutionären Mechanismen, die die unwahrscheinliche Ausdehnung der menschlichen Gesellschaft ermöglicht haben, gehören auch Mechanismen der Abgrenzung von Andersartigen, der Differenzierung von Innenwelt und Außenwelt. Auch sie gehören zum „Kulturerbe― der Menschheit im Sinne kosmologischer Ordnungsvorstellungen, die in jeder menschlichen Gesellschaft schon anzutreffen sind. 89 Mechanismen der Abgrenzung bilden die andere Seite des gattungsgeschichtlich ererbten Mechanismus der Restabilisierung. Identifikation und Abgrenzung sind gleichermaßen Formen des Wiedereintritts der Unterscheidung von Handeln und Erleben auf der Seite des kollektiven Erlebens. In beiden Formen wird unter Umweltbedingungen erlebt, im einen Fall jedoch der eigenen (inneren) Umwelt zugerechnet und im anderen Fall der fremden Umwelt. Bei der Unterscheidung universalistischer und partikularistischer Orientierungen im Institutionenvorrat soziokultureller Populationen 89 Dazu Stichweh treffend: „In nahezu allen Gesellschaften, über deren Selbstbeschreibungen wir etwas wissen, gibt es eine Semantik für Fremde und Barbaren, die diejenigen einzuordnen erlaubt, die nicht Mitglieder der betreffenden Gesellschaft sind. Gesellschaften beschreiben auf diese Weise zugleich die sozialen Grenzen ihrer Integrationsfähigkeit; sie spezifizieren die Hinsichten, in denen sie strukturell gesehen nicht als Weltgesellschaften verstanden werden können.― (2004, 1) Solche Beschreibungen sind dann paradoxer Weise auch Teil der modernen Weltgesellschaft.


kg (2004): Die unwahrscheinliche Ausdehnung der menschlichen Gesellschaft. Ein evolutionstheoretischer Ansatz zur Kritik ...

geht es um zwei Seiten einer prozessierenden Einheit, die aus Gründen ihrer Eingebettetheit in die natürlichen Lebenszusammenhänge nicht aufgelöst werden kann. 90 Die im Rekurs auf Technisierung, Organisation und Wettbewerb beschriebene Ausdehnungstendenz soziokultureller Einheiten wird im hier skizzierten Ansatz wieder eingeschränkt im Rekurs auf Prozesse der Identifikation und Tradierung. Die Engpassfunktion der Individuen im Prozess der intergenerativen Tradierung bindet den soziokulturellen Mechanismus der Replikation von Institutionengebilden zurück an die natürlich beschränkten kognitiven Potentiale lebender Individuen. Dieser Engpass ist es, der den Take-off der kulturellen Evolution i.S. der symbolischen Generalisierung ihrer Molekulareinheiten und der Bildung einer globalen soziokulturellen Population zugleich ermöglicht und beschränkt, indem er die Replikationsfunktion an das Vorhandensein naturalistisch-partikulärer Institutionen im Institutionenpool rückkoppelt. Dies ist der Punkt, an dem die Kräfte der Verselbständigung und Wiedereinbettung der soziokulturellen Evolution zusammenstoßen und weitere Drehungen der Ausdehnungsspirale ermöglichen oder verhindern. Mit der Beschreibung des Replikationsmechanismus kehrt die Darstellung des evolutionstheoretischen Ansatzes an ihren Ausgangspunkt zurück. Ausgangspunkt der evolutionstheoretischen Erklärung ist die Bezeichnung der spezifischen Replikationseinheiten: Institutionen als symbolisch generalisierte Erwartungsstrukturen, die intergenerativ (also nicht genetisch geschlossen, sondern unter Einschluss von Umwelterfahrung) tradiert werden können. Tradierung ist der basale Replikationsmechanismus der soziokulturellen Evolution, der in der rekursiven Verknüpfung mit den Mechanismen der Variation und Selektion die Veränderung und Erweiterung des Institutionenpools der kulturellen Populationen ermöglicht. Intergenerative Tradierung bildet nicht nur den Ansatzpunkt für kulturelle Erweiterung, sondern – wegen der unauflösbaren Abhängigkeit von der organischen Ausstattung menschlicher Individuen – auch einen spezifischen Engpass der soziokulturellen Evolution: Ansatzpunkt für primordiale Mechanismen der Variation i.S. abweichender Formen der Tradierung: Mutationen, Kopierfehler im Prozess der intergenerativen Weitergabe kultureller Errungenschaften, die zur Mikrodiversität im Instititutionenpool der Populationen beitragen. Hiervon zu unterscheiden sind sekundäre Mechanismen der Variation durch Technisierung und Organisation i.S. der asymmetrischen Verknüpfung von Handlungskomponenten (und Ausklammerung individueller bzw. stillschweigender Voraussetzung generalisierter Erlebenskomponenten) der menschlichen Kommunikation. Der Gebrauch von Technik im Selbst- und Umweltbezug soziokultureller Populationen kann auf eine latente Ausbreitungstendenz ihrer Institutionengebilde zurückgeführt werden. Der typische Effekt von Technisierung besteht in der Ausdehnung der soziokulturellen Populationen über die Grenzen natürlicher Gemeinschaften und der Verselbständigung einer institutionell geregelten Makrosphäre. Im

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Unterschied zu den primordialen Mechanismen der Variation greifen die sekundären Mechanismen der Variation in diese Makrosphäre in Formen der Differenzierung ein. Die Unterscheidung von primären und sekundären Mechanismen der Selektion innerhalb der soziokulturellen Evolution muss als Folge der Ausdehnung ihrer Populationen (bzw. der Ausdehnungstendenz ihrer Institutionengebilde) interpretiert werden. Der Takeoff der soziokulturellen Evolution ist schon verbunden mit der internen Verarbeitung von Umweltselektion durch Identifikation mit einer kosmologischen Ordnung. In den Frühformen menschlicher Gesellschaften dominieren Formen der Umweltselektion, die kulturell unter Bezug auf das Handeln von Naturmächten (konkurrierenden Göttern) verarbeitet werden. In den traditionell-hochkulturellen Gesellschaften dominieren Formen der Umweltselektion, die organisatorisch durch Zentralisierung und Stratifikation beschränkt und institutionell durch (monotheistische) Religionen legitimiert werden. Typisch für diese intern pazifizierte Form der Verarbeitung von Umweltselektion ist die Reproduktion ungeregelter, kriegerischer Konkurrenz der Populationen in den Außenbeziehungen. Erst in der modernen Gesellschaft führt die Unterscheidung zwischen Umweltselektion und kulturinterner Verarbeitung (i.S. der Identifikation mit der sozialen Ordnung) zur Ausdifferenzierung eines zweiten Mechanismus der Selektion i.S. der Institutionalisierung von Wettbewerb. Der Mechanismus der Selektion durch Wettbewerb muss jetzt vom Mechanismus der Identifikation unterschieden werden, der (obwohl historisch älter) die Funktion eines zweiten restabilisierenden Mechanismus innerhalb der soziokulturellen Evolution erhält. Die Anpassung dieses Mechanismus an die funktional ausdifferenzierten Formen des Wettbewerbs besteht in der Umstellung von außerweltlicher auf innerweltliche Legitimation der Ordnung durch Publikumsentscheidungen. Historisch ältere Mechanismen der Selektion verschwinden allerdings nicht, sondern koexistieren gewissermaßen als evolutionär bewährte Reserve-Muster mit den neueren Formen im Institutionenpool der Populationen. Der für soziokulturelle Evolution grundlegende Mechanismus der Replikation durch intergenerative Tradierung ist historisch schon vielfach rekursiv verknüpft mit dem Mechanismus der Variation qua Technisierung. Dadurch ist ein neuer Typ von Replikator-Molekülen – in externen Speichern verzeichnete Institutionengebilde – entstanden, durch den die enorme Beschleunigung der soziokulturellen Evolution erklärt werden kann. Ähnlich wie in der Evolution lebender Arten haben es die Replikator-Moleküle der soziokulturellen Evolution aber erneut mit einem spezifischen Engpass zu tun, der die Replikationsfunktion ie.S. konstituiert: So wie die Replikatormoleküle des Organismus durch den Engpass ihrer embryonalen Wiedergeburt müssen die Replikatormoleküle der menschlichen Kultur durch den Engpass der Erziehung und organisierten Ausbildung der nächsten Menschengeneration. Die generalisierten Institutionen der Gesellschaft werden auf diese Weise einer Art Dauertest unterzogen, in dem diejenigen Teile des Institutionenpools, die sich nicht mit dem ontogenetisch verankerten Potential kognitiver Entwicklung – also mit Mechanismen der Kommunikation auf der Mikroebene einschließlich primordialer Formen der Integration wie Verwandtschaftsaltruismus, Reziprozität und Sanktionierung - vereinbaren lassen, nicht übernommen bzw. wieder vergessen werden. Vielleicht ist dies ein Umstand, der die Risiken der soziokulturellen Sonderevolution reduziert. Zukunftserwartungen in einem irgendwie erwünschten Sinne lassen sich jedoch aus evolutionstheoretischen Überlegungen nicht ableiten.

- Literatur 90 Parsons hat in seiner strukturfunktionalistischen Theorie der modernen Gesellschaft für die Beschreibung der kulturellen Orientierungen ein Konsistenzpostulat aufgestellt, aus dem sich eine Tendenz zur Bevorzugung universalistischer Wertmuster in der Moderne ergibt (1967, 282-301). Es gibt bei Parsons keine evolutionstheoretische Erklärung dafür. Die Unterscheidung ist von ihm zunächst im Anschluss an Beobachtungen in Kleingruppen als analytische Unterscheidung eingeführt worden.

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Anhang: Warum die Publikation abgelehnt wurde Ich habe diesen Beitrag für einen von H. Tyrell geplanten Sonderband der Zeitschrift für Soziologie über Begriff und Entwicklung der Weltgesellschaft verfasst. Zu diesem Beitrag hat es zwei Fachgutachten gegeben (s.u.). Eines kommt zu einer positiven, das Andere zu einer negativen Publikationsempfehlung. Beide enthalten Kritikpunkte an meiner Argumentation, mit denen ich mich an anderer Stelle noch auseinandersetzen werde. Entscheidend für die Ablehnung meines Beitrags war, dass die Herausgeber der ZfS sich der Argumentation des negativen Gutachtens angeschlossen haben, dass mein Beitrag nicht ein Thema sondern Mehrere behandele, und dass ich mich für eines dieser Themen entscheiden müsse. Diese Argumentation scheint den Herausgebern eingeleuchtet zu haben, da mein Beitrag ohnehin schon eine Überlänge aufweist. Mit der Beschänkung auf Teile der evolutionstheoretischen Argumentation würde aber m.E. der kritischen Stosssrichtung gegen den Luhmannschen Begriff der Weltgesellschaft der Boden entzogen. Die Kritik am evolutionstheoretischen Fundament des Luhmannschen Konzepts kann ja nur entfaltet werden, wenn das rekursive Zusammenwirken aller evolutionären Mechanismen behandelt und gezeigt werden kann, dass alle vier Mechanismen bei Luhmann unzulänglich bestimmt sind. Der Negativgutachter empfiehlt auch ganz offen, die Kritik an Luhmann wegzulasssen. Über ihrem verständlichen Interesse an schlanken Beiträgen scheint den Herausgebern aber entgangen zu sein, dass sie sich mit ihrem Votum zugleich der Ansicht anschliessen, Kritik am Luhmannschen Begriff der Weltgesellschaft gehöre nicht in diesen Band.

1. ZfS-Gutachten Die Arbeit ist sehr ehrgeizig angelegt. Ausgehend von einer Darstellung der Unzulänglichkeiten der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie, insbesondere in Hinblick auf das Konzept der Weltgesellschaft bei Luhmann, wird ein eigenständiger evolutionstheoretischer Erklärungsansatz vorgestellt, der sowohl grundlegend sozialtheoretisch eine Theorie soziokultureller Evolution skizziert, als auch eine Theorie der gesellschaftlichen Ausdehnung im Sinne einer globalen soziokulturellen Population verspricht. Entscheidendes theoretisches Instrumentarium ist dabei die in der Abbildung auf S. 8 schematisch dargestellte rekursive Verknüpfung evolutionärer Mechanismen. Zunächst soll festgehalten werden, dass die Arbeit trotz der übersichtlichen und systematisch durchaus einleuchtenden Gliederung und der klar formulierten Argumentation aus meiner Sicht eine Vielzahl von begrifflichen Unscharfen und inhaltlich problematischen Aussagen enthält, die sich aber zumindest teilweise beinahe notwendig aus der in einem Zeitschriftenaufsatz einfach nicht zu bewältigenden Komplexität und Vielschichtigkeit der Thematik ergibt. Mit dieser Einschränkung ist der Gesamteindruck der Arbeit durchaus positiv. Es wird eine Vielfalt evolutionstheoretisch relevanter Literatur verarbeitet, ohne dass das Niveau der sozialtheoretischen Argumentation darunter leiden würde. Dabei werden auch einige Grundprämissen der Luhmannschen Systemtheorie zur Disposition gestellt - eine Konsequenz, die sich fast notwendig aus derBerücksichtigung eines naturalistisch-emergentistischen Denkansatzes ergibt. Allerdings geht der Autor in seiner Kritik meiner Meinung nach nicht weit genug und bleibt weiterhin der Methode von „Erklärungen" durch begriffliche Unterscheidungen verpflichtet, wie sie in der systemtheoretischenLiteratur traditionell gepflegt wird. Die empirische Analyse realer sozialer Prozesse kann daher auch von dieser evolutionstheoretisch aufgerüsteten Systemtheorie nur sehr indirekt profitieren. Dennoch dokumentiert die Arbeit eine bemerkenswerte Weiterentwicklung innerhalb des systemtheoretischen Paradigmas und ist daher aus meiner Sicht durchaus publikationswürdig. Dem Autor gelingt eine Öffnung für evolutionstheoretische Fragestellungen aus naturalistisch-emergentistischer Perspektive, die durchaus neue Einsichten bietet und für weitere kreative


kg (2004): Die unwahrscheinliche Ausdehnung der menschlichen Gesellschaft. Ein evolutionstheoretischer Ansatz zur Kritik ... Erweiterungen und damit verbundene Korrekturen des überkommenen systemtheoretischen Ansatzes offen ist. Dazu einige Anregungen: Ein grundlegender Kritikpunkt aus meiner Sicht betrifft die Unterscheidung von Genotyp und Phänotyp I, II und III (S. 7) und die daraus abgeleitete Typologie von Replikation, Variation, Selektion und Restabilisierung als evolutionäre Mechanismen (S. 8). Zunächst einmal scheint mir die Schematisierung durch die vielfältigen Unterscheidungen (Handeln und Erleben, Systeme und Umwelten, Mikroebene und Makroebene und, für das Argument besonders wichtig und zugleich besonders diskussionsbedürftig, von primordialen (primären) und kulturspezifischen (sekundären) Mechanismen von Variation und Selektion und von disembedding (upward causation als Technisierung/Organisation) und reembedding (downward causation als Identifikation/Institution)) überlastet. So ist z.B. zu fragen, inwieweit Tradierung (Replikation) als Verbindung von Erleben und Handeln soziologisch zwingend auf der Mikroebene anzusiedeln ist. Weiter ist zu fragen, welche (nicht aus der Vier-Felder-Logik entspringende) Gründe dafür sprechen, nicht mit Campbell einfach blinde Variation und selektive Retention zu unterscheiden (eine Entscheidung, die auch Luhmann übernimmt) und dann das zugehörige komplexe Mehrebenenmodell der Evolution (Campbell 1974) als Grundlage einer Theorie der Gen-KulturKoevolution zu machen. In diesem Zusammenhang läge es auch nahe, den Ansatz doppelter Vererbung von Boyd und Richerson (1985) aufzugreifen und auf dieser Grundlage nach den Spezifika der kulturellen Evolution zu fragen. Dabei wäre eine strikte (natürlich rein analytische) Unterscheidung von steuernder Information (symbolischer Raum) und sozialem Prozess (z.B. Giesen 1991, Burns und Dietz 19995) sinnvoll. Überhaupt fehlt eine Berücksichtigung des algorithmischen Verständnisses von Evolution, wie es von Dennett (1997) entwickelt wurde, und des allgemeinen Modells der Gruppenselektion z.B. in der Variante von Wilson und Sober (1994). In diesem Zusammenhang muss angemerkt werden, dass das zentrale Argument eines ethnolingual verankerten Großgruppenaltruismus in Kap. 6 auf schwachen Füssen steht und in dieser Form auch durch den Hinweis auf Richerson und Boyd (1998) kaum gestützt wird. Grundlegend wäre es zudem sozialtheoretisch fruchtbar, die Unterscheidung von Replikator und Interaktor von Hull (1980, 2001) zu berücksichtigen (noch besser: Replikandum und Interaktor parallel zu der Unterscheidung von symbolischem Code und sozialem Prozess (vgl. z.B. Ghiselin 1997)). Interaktoren können dann auf verschiedene Ebenen bezogen werden und auf die problematische Unterscheidung von Geno- und Phänotyp könnte ganz verzichtet werden. Gemäß dieser evolutionsphilosophisch fundierten Unterscheidung sind z.B Organisationen Interaktoren, Institutionen als eine Form symbolisch codierter Information aber Replikanda, die den evolutionären Prozess steuern. Alles dies ist lediglich als Hinweis für das weitere Nachdenken zu verstehen. Um es noch einmal zu wiederholen: Die Arbeit ist in der vorliegenden Form durchaus kreativ. Trotz der angedeuteten Schwächen bringt sie frischen Wind in die doch reichlich schematische und seltsam erstarrte Semantik der systemtheoretischen Argumentation Luhmannscher Provenienz. Die Arbeit ist also durchaus publikationswürdig. Inwieweit der Autor die eine oder andere Anregung aufgreift, möchte ich ihm überlassen. Auf jeden Fall sollten aber die Abbildungen auf den Seiten 6 bis 8 besser beschriftet werden. (Warum werden auf S. 8 die vier Mechanismen von 2 bis 5 durchnummeriert und nicht von l bis 4 oder in Hinblick auf die Gliederung nach Kapiteln von 3 bis 6? [dieser Fehler wurde in der vorliegenden Fassung korrigiert – kg]) Literatur: Boyd, Robert, und Peter J. Richerson, 1985: Culture and the Evolutionary Process. Chicago:University of Chicago Press. Bums, Tom R. und Thomas Dietz 1995: Kulturelle Evolution: Institutionen, Selektion und menschliches Handeln. S.291-339 in: Hans-Peter Müller und Michael Schmid (Hrsg.):Sozialer Wandel. Frankfurt: Suhrkamp.

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2. ZfS-Gutachten Dieser Text leidet meiner Meinung nach darunter, dass er thematisch völlig überlastet ist. Er enthält in sich viele Aufsätze und sollte sich dafür entscheiden, nur einen dieser Aufsätze für diesen Zweck vorzulegen. Zu diesen vielen Aufsätzen gehört u.a. eine Kritik an Luhmanns Weltgesellschaftstheorie; eine Kritik an Luhmanns Evolutionstheorie; die in Umrissen erfolgende Skizze eines eigenen Versuchs im Genre „Theorien soziokultureller Evolution" und einzelne Überlegungen zur evolutionären Erklärung der „unwahrscheinlichen Ausdehnung" menschlicher Gesellschaften. Letzteres ist ja eigentlich eine gute Frage und zumal eine Frage, zu der die Theorien soziokultureller Evolution bisher wenig zu sagen hatten. Also wäre für den Zweck des Sonderbandes der ZfS, um den es hier geht, eine Kreuzung zwischen den Nennungen 3 und 4 die beste Option. Es sollte eine schlüssige, aber bitte auch anschauliche Präsentation der eigenen theoretischen Vorschläge für die Theorie soziokultureller Evolution (die Luhmann einfach einmal aussen vor lassen sollte) im Hauptteil des Aufsatzes hingeführt werden auf den Versuch, mit den vorgeschlagenen Begriffsmitteln die Frage nach der „unwahrscheinlichen Ausdehnung" zu beantworten. Die Vielzahl der Themen im vorliegenden Ms. kann man in einem kurzen Gutachten nicht angemessen diskutieren. Ich will deshalb nur noch ganz wenige Bemerkungen zu einzelnen Punkten machen. Schon der erste Teil über den „Organismus der Gesellschaft" ist erneut ein eigenständiger Aufsatz, der meiner Überzeugung nach mit den anderen Themen wenig zu hat. Schliesslich haben gerade diejenigen Autoren, die soziokulturelle Evolution als Theorie getrieben haben, in der Organismus-Analogie wenig Inspiration gefunden, da diese Analogie der anderen sozialtheoretischen Tradition des Thebretisierens über sozialen Wandel zugehört, jener Tradition, die über Entwicklung und Differenzierung nachdenkt. Gerade für Luhmann spielt eine Analogie zum Organismus überhaupt keine Rolle. Dass der Autor dies nicht sieht, hat u.a. damit zu tun, dass er die Grundlegung der Luhmannschen Begriffe von Information und Kommunikation im kybernetischen Denken der vierziger und fünfziger Jahre nicht wahrnimmt. In dieser Tradition aber ist die Immaterialität der Elementarereignisse geradezu definierend und erklärt die Fähigkeit von Information, hochenenerge-tische Systeme zu steuern. Ich sage dies auch deshalb, weil der Begriff der Information vermutlich die Abstraktion bezeichnet, die am überzeugendsten den Unterschied von biologischer und soziokultureller Evolution übergreift. Ob es sich um Gene, um elementare Sinneinheite'ri oder um sich replizierende Traditionen handelt, in jedem Fall haben wir es mit Formen von Information zu tun, die sich als Information fortpflanzt. Der Autor beharrt im zweiten Abschnitt auf einer Unterscheidung von Genotyp und Phänotyp. Es ist sicher sinnvoll, immer wieder zu prüfen, ob diese biologische Leitunterscheidung eine Entsprechung in Sozialsystemen findet. Es leuchtet ein, dass die Institution ein denkbarer Kandidat für die sozialkulturelle Entsprechung zum Gen


kg (2004): Die unwahrscheinliche Ausdehnung der menschlichen Gesellschaft. Ein evolutionstheoretischer Ansatz zur Kritik ... ist. Routinen (Nelson/Winter), Erwartungen (Luhmann), Meme (Dawkins) und Regeln (Hodgson, Vanberg) sind andere in der Diskussion vorgeschlagene und vor allem der Sache nach verwandte Kandidaten. Es überzeugt dann aber überhaupt nicht, warum mehrere relativ beliebige kleine und grosse soziale Einheiten und zudem sehr verschiedenartige soziale Entitäten auf einmal als Kandidaten für den Status eines Phänotyps genannt werden (siehe Ms. S. 7). Warum sollte das so sein und welchen Erkenntniswert haben diese Zuordnungen? MUSS man nicht an viel mikrologischere Dinge denken, wenn man ernsthaft über Phänotypen reden wollte, z.B. an den Sprechakt, der eine Institution aufgreift und sie situativ umsetzt. Es fehlt im übrigen völlig die Frage, die unter diesen Prämissen vielleicht die interessanteste Frage ist und die die biologische Tradition bestimmt hat; Wie sichert man eine Stabilität des Genotyps angesichts der Vielfalt akzidentell vorkommender phänotypischer Variation? Ganz unklar bleibt, warum im nächsten Schritt auf einmal Individuen ins Spiel kommen sollen. Es ist doch gerade die Spezifität von Institutionen (Regeln, Routinen, Erwartungen), dass sie nicht davon abhängen, dass neue Individuen produziert werden, in denen die betreffende Institution erneut erwächst. Im Unterschied zum Autor müsste man betonen, dass gerade die Ablösung von der Generationenfolge, der beliebige horizontale und gegen die Generationsrichtung erfolgende Transfer kultureller Information das Spezifikum soziokultureller Evolution ist. Dawkins' Metapher vom selfish gene, das Individuen als Vehikel seiner Selbstfortpflanzung gewissermassen egoistisch missbraucht, passt auf die soziokulturelle Evolution und deren Nutzung ihrer aus Individuen bestehenden Infrastrukturen vermutlich viel besser als auf die biologische Evolution. Tradierung ist eben nicht mehr typischerweise intergenerativ, sondern geht in alle Richtungen und deshalb läuft soziokulturelle Evolution so schnell. Der folgende Abschnitt heisst „Technik und Organisation". Gleich am Anfang kann man gut beobachten, wie sehr die zugleich positive (fast alle Fragerichtungen, an die man anschliesst, sind bei Luhmann entlehnt) und negative (alles ist natürlich auch falsch) Fixierung auf Luhmann viele wissenschaftliche Autoren heute blockiert. Zunächst wird Luhmann zitiert „dass die Welt durch die Prämissen weltweiten Verkehrs vereinheitlicht worden ist." Genau zwei Zeilen weiter heisst der entscheidende Einwand des Autors gegen Luhmann „physische Gegebenheiten wie Transportwege und Kabelverbindungen also nicht vorkommen". Im weiteren Verlauf des Arguments soll dann Technik der Variationsmechanismus der soziokulturellen Evolution sein. Das ist eine These, für die man argumentieren könnte. Mein Einwand ist hier nur, dass im folgenden nicht deutlich wird, warum und mit welchen Folgen dieser Vorschlag gemacht wird. Ich will diese zwangsläufig selektive Diskussion an dieser Stelle beenden. Meine Absicht war, verständlich zu machen, dass dieser Text meines Erachtens zur Zeit noch kein publizierbarer Aufsatz ist und dass sein Interessenschwerpunkt eigentlich auch ausserhalb des Themenheftes liegt, um das es hier geht.

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