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Individualisierung und Technisierung Warum der in der pädagogischen Theorietradition herausgestellte Bezug auf menschliche Individuen auch für eine evolutionstheoretisch reflektierte Pädagogik unverzichtbar ist Klaus Gilgenmann Menschliche Individualität erscheint als ein Höchstwert der modernen Gesellschaft und die moderne Pädagogik als ihr Prophet. Ist es dann nicht trivial zu behaupten, dass Individualität eine unabdingbare Voraussetzung für pädagogisches Handeln – also auch für eine evolutionäre Pädagogik – darstellt? Zu dieser Frage möchte ich vier Thesen mit den dazugehörigen Erläuterungen vortragen: 1. Der Bezug auf Individuen ist nicht trivial, weil es in den modernen Sozialwissenschaften eine lange Tradition des methodologischen Anti– Individualismus gibt, gegen den der pädagogische Bezug auf Individuen zu verteidigen ist. 2. Das Individuum ist keine Erfindung der modernen Gesellschaft, sondern der biologischen Evolution. Die in der kulturellen Evolution des Menschen zu beobachtende Freisetzung von natürlichen Umweltzwängen setzt eine Tendenz der natürlichen Evolution fort und bleibt auch noch in den Formen des modernen Individualismus an ihre Voraussetzungen gebunden. 3. Prozesse der Technisierung und Individualisierung stehen in einem sich wechselseitig voraussetzenden Steigerungsverhältnis. Das Ausmaß der Individualisierung ist durch die Ausdehnung und Binnendifferenzierung menschlicher Sozialsysteme mit technischen Mitteln zu erklären. 4. Individualisierung ist das zentrale Bezugsproblem der modernen Pädagogik. Sie hat es dabei nicht nur mit dem natürlichen Widerstand der Individuen gegen die Anforderungen der Gesellschaft, sondern auch mit dem Umstand zu tun, dass sie selbst nur als Teil der Varianz erzeugenden Prozesse der Technisierung zur Wirkung kommen kann. 1. Soziologischer Anti–Individualismus Der Hinweis, dass Individualität in der modernen Gesellschaft hoch geschätzt wird, erscheint trivial. Daher muss ich zunächst erklären, warum es nicht trivial ist, darauf hinzuweisen, dass der Bezug auf menschliche Individualität auch eine Voraussetzung für eine wissenschaftlich angeleitete Pädagogik darstellt. Zunächst ist zu unterscheiden zwischen den in der Gesellschaft generell bevorzugten Werten und den Werten der Wissenschaft. Was im Zeitgeist der Moderne als selbstverständlich gilt, muss keineswegs einer


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wissenschaftlichen Beobachtung standhalten. Bei genauerer Beobachtung fällt auf, dass es innerhalb der Moderne stets auch anti–individualistische Strömungen verschiedenster (politischer, literarischer etc.) Art gegeben hat. Im Folgenden möchte ich nur auf Formen des Anti–Individualismus eingehen, die in der Wissenschaft verankert sind und methodologisch begründet werden. Sowohl in den Biowissenschaften wie in den Geistes– und Sozialwissenschaften konkurrieren Ansätze, die den Bezug auf Individuen für die Erklärung komplexer Phänomene methodologisch ablehnen, mit solchen, die ihn für unabdingbar halten. Innerhalb der Sozialwissenschaften ist es besonders die Soziologie, die gegen den modernen Zeitgeist am Primat kollektiver Ordnungsvorstellungen festhält. Zur historischen Ausgangskonstellation der Soziologie gehörte die Sorge, dass der Zusammenhalt der Gesellschaft durch den modernen Individualismus bedroht würde. In der funktionalistischen Theorietradition von Durkheim (mit seinen ethnologischen Quellen) über Parsons (mit seinem Primat der Werte–Integration) bis zu Luhmann (mit seiner Konsequenz des Ausschlusses der Individuen) wird daraus ein methodologisches Primat der Top– Down–Erklärung sozialer Phänomene abgeleitet. Demgegenüber hat die pädagogische Theorietradition starke Argumente für eine individualistische Orientierung aus der Ideengeschichte der Aufklärung bezogen. Der Mensch soll heraustreten aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, den Fesseln tradierter Herrschafts– und Gemeinschaftsformen. Die Pädagogik kann als Entwicklungshelfer einer aufgeklärten Gesellschaft nur dienen, wenn die menschlichen Individuen selbst über das Potential verfügen, ihre Umwelt zu gestalten. Die zentrale Entdeckung und Legitimationsgrundlage aller pädagogischen Maßnahmen war die ontogenetische Entwicklung menschlicher Individuen. 1 Seit langem gibt es in der pädagogischen Theorietradition aber auch gegenläufige Tendenzen. Ich nenne nur drei Beispiele, die in den Erziehungswissenschaften stark rezipiert wurden: 1. Bernfelds „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ (1928) 2. Bourdieu/Passerons „Illusion der Chancengleichheit“ (1971) und 3. Luhmann/Schorrs „Reflexionsprobleme im Erziehungssystem“ (1979). Diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sie auf überindividuelle Strukturen verweisen, die den Erwartungen der Pädagogik entgegenstehen.2 Der skizzierte Anti–Individualismus ist kein Spezifikum der Soziologie, sondern er ist eingebettet in ältere Traditionen der abendländischen Wissen-

1 Zum individualistischen Bildungsdiskurs der Moderne s. u.a. Koselleck 2006. 2 Diesen Beispielen ist aber auch gemeinsam, dass sie die Dynamik kulturellen Wandels verfehlen, weil in den Erklärungsansätzen ein kausaler Faktor der Variation fehlt. Ich werde im Folgenden ausführen, dass dieser Faktor in Technisierungen der Kommunikation zu erkennen ist.


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schaft. Darin erscheint die menschliche Vernunft nicht als ein mehr oder weniger gut beherrschtes Instrument menschlicher Individuen in der Entfaltung ihrer ökologischen Nische – sondern umgekehrt: der Mensch erscheint als das Vollzugsorgan der seine Kulturgeschichte durchwaltenden Vernunft antipodisch zu den Kräften der Naturgeschichte.3 Müssen wir also, wenn wir den Anspruch der Wissenschaft ernst nehmen, den Bezug auf menschliche Individuen aus wissenschaftlichen Erklärungsansätzen ausklammern (wie in der funktionalistischen Systemtheorie4) oder auf ein abstrakt–allgemeines Modell reduzieren (wie im methodologischen Individualismus5)? Ich möchte im Folgenden einige Gründe dafür anführen, warum der Pädagogik eine solche „Wende“ nicht zu empfehlen ist.6 3 Hans Blumenberg hat diese Tendenz so gekennzeichnet: „Die Idee der Wissenschaft enthält das eigentümliche Verschwinden des Menschen als Gestalt, als Individuum, als konkrete Figur aus der theoretischen Szene. Wo er sich an sein Selbstinteresse unter dem Schlagwort der Bildung klammert, hält ihm auch der Positivist und gerade dieser die kopernikanische Konsequenz seiner eigenen Unwichtigkeit vor Augen.“ (2006, 13) 4 In der Perspektive der Luhmannschen Systemtheorie erscheint das menschliche Individuum als ein Konstrukt sprachlicher Konventionen und analytisch als ein Konglomerat verschiedener Systeme. Eine solche Dekomposition ist jedoch unvereinbar mit der Darwinschen Evolutionstheorie. Diese setzt reale Operationen von Individuen und Populationen von Individuen in einer als kausal unabhängig verstandenen Umwelt voraus. Individuen könnnen nicht als Beobachtungskonstrukte sondern nur als selbständig operierende Einheiten zu Objekten der Umweltselektion werden. Luhmanns programmatische Formulierung „An die Stelle der Einheit dessen, was man vordem Individuum nannte, tritt die Differenz von Autopoiesis und Struktur“ (1989, S. 161) steht in der Durkheim-Spencerschen Theorietradition einer Entwicklungstheorie nach dem Muster der Ontogenese. Das zeigt auch die wiederkehrende Formel von der Vorangepasstheit sozialer Systeme: „...die Theorie autopoietischer Systeme erzwingt eine begriffliche Revision. Für sie ist Angepaßtsein Voraussetzung, nicht Resultat von Evolution; und Resultat dann allenfalls in dem Sinne, daß die Evolution ihr Material zerstört, wenn sie Angepaßtsein nicht länger garantieren kann.“ (1997a, S. 446). 5 Die Reduktion der Bedeutung menschlicher Individuen für die Analyse sozialer Phänomene findet nicht nur in der funktionalistischen Theorietradition der Sozialwissenschaften statt, sondern auch in jener, die sich ausdrücklich zu einem methodologischen Individualismus bekennt. In den Analysen vieler Rational–Choice–Theoretiker reduziert sich die menschliche Individualität auf ein allgemeines Handlungsmuster der Nutzenmaximierung. So macht gerade der methodologische Individualismus die Individuen zu (nomothetisch definierten) Maschinen, die einen Input aus genetischen, ontogenetischen und aktuellen Umwelterfahrungen in einen Output von Handlungen transformieren. Die soziologische Systemtheorie distanziert sich zwar von der Betrachtung menschlicher Individuen als „Trivialmaschinen“ (Luhmann im Anschluß an v. Förster) allerdings nur um den Preis, sie aus der Erklärung sozialer Prozesse ganz auszuschließen. So wird das Erbe der Jäger– und Sammlergesellschaften, das sich noch in den entwickeltsten Erscheinungsformen der modernen Gesellschaft wiederfindet, mitsamt seinen genetischen Trägern soziologisch für irrelevant erklärt. 6 Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Perspektive der Naturwissenschaften, die ihre Gegenstände ohne Rücksicht auf deren Selbstverständnis beschreiben können (und müssen, um nicht einer anthropozentrischen Sicht der Dinge zu erliegen) und der der Sozialwissenschaften, die die Sozialformen des Menschen zum Gegenstand ihrer Erklärungen machen – häufig allerdings ohne die darin liegende Beschränkung überhaupt für erwähnenswert zu halten. Gerade


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Norbert Elias hat zuerst darauf hingewiesen, dass vielen Sozialtheorien, die darauf verzichten, leibhaftige Individuen in ihre Erklärungsansätze einzubeziehen, implizit oder explizit ein organizistisches Modell der Gesellschaft zugrundeliegt (Elias 1987, Blute 1979). Aus dem Heroismus der metaphysischen Vernunft wird in der Durkheimschen Theorietradition der Soziologie ein Heroismus der Gesellschaft als Metaorganismus. Im Rahmen organizistischer Entwicklungsmodelle bedarf es nicht des Rekurses auf Individuen, um die kulturelle Evolution sozialer Formen zu erklären: Sie reifen und verfallen gewissermaßen von selber („autopoietisch“) aufgrund endogener Programme unter jeweils gegebenen Umweltbeschränkungen. Variation kann es da nur aufgrund von Umweltkatastrophen geben. Dieses Modell erscheint jedoch wenig geeignet, das Besondere der kulturellen Evolution, die kumulative Tradierung lebensgeschichtlich erworbenen Wissens, die darin angelegten Variationsspielräume und Restriktionen sowie ihr andauerndes Eingebettetsein in die Verläufe der Naturevolution angemessen zu erfassen. Viele soziologische Theorien halten es in Bezug auf die Frage der Entstehung sozialer bzw. kultureller Ordnung mit Münchhausen: Die Kultur hat sich irgendwie selbst aus dem Sumpf gezogen. Charakteristisch dafür ist das Theorem der doppelten Kontingenz (Luhmann 1984, S. 148ff). In evolutionstheoretischer Perspektive gibt es aber das mit diesem Theorem beschriebene Dilemma gar nicht. Hier muss ja immer gesehen werden, welche Voraussetzungen für die Entstehung kultureller Orientierungsmuster in der natürlichen Evolution gegeben sind: a. schon in den sozialen Ordnungsmustern aller Lebewesen und b. dann in den besonderen Ordnungsmustern unserer steinzeitlichen Vorfahren, deren genetisches Erbe bis heute Bedingung der Möglichkeit und Beschränkung unserer Kulturfähigkeit darstellt: aufrechter Gang und freie Hände, Gehirnwachstum und orale Tradierung, Gemeinschaftsbildung durch religiösen Ahnenkult etc. Hieran schliesst sich dann die Frage nach den evolutionären Vorteilen an, die mit Kultur verbunden sind: Verringerung des Selektionsdrucks der natürlichen Umwelt, Substitution durch kulturelle Selektion, Spezialisierung der innergesellschaftlichen Umwelt und Entspezialisierung des Organismus, Erhöhung des Anpassungspotentials für ganz verschiedene Umwelten, insbesondere also Vorteile bei Migration und Ausbreitung. Im Vergleich menschlicher und nichtmenschlicher Formen der Sozialität erscheint der Gebrauch symbolischer Ordnungsmuster häufig als primäres, der Gebrauch von Technik eher als sekundäres Unterscheidungsmerkmal. Beide Vorgänge sind in evolutionstheoretischer Perspektive jedoch als gleichursprüngliche Wirkungsmechanismen zu analysieren. Sowohl an Vorin den Biowissenschaften, die sich mit den Sozialformen aller Lebewesen befassen, sind gute Gründe für die Bedeutung der Individuen zu finden. (Vgl. Wieser 1998)


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gängen der symbolischen Stabilisierung wie an Vorgängen der Technisierung ist die besondere Stellung der Individuen zu erkennen. 2. Soziale Differenzierung und Individualisierung Individualität ist keine Erfindung der modernen Gesellschaft, sondern eine Errungenschaft der biologischen Evolution. Auch die in der kulturellen Evolution des Menschen zu beobachtende Freisetzung von natürlichen Umweltzwängen ist bereits in der biologischen Evolution angelegt. Die in der modernen Gesellschaft zu beobachtende Freisetzung des Menschen auch von kulturellen Umweltzwängen hat zur Folge, dass seine natürlichen Anlagen wieder stärker zur Geltung kommen. Dieser Effekt ist in den modernen Sozialwisssenschaften zunächst eher als Bedrohung der Sozialität interpretiert worden. Erst in jüngerer Zeit wird demgegenüber auch die Auffassung vertreten, dass es sich bei dem modernen Individualismus um eine Stabilitätsbedingung der modernen Gesellschaft handeln könnte (zusammenfassend Schroer 2000). Im mainstream der soziologischen Theorietradition wird Individualität als Produkt der modernen Gesellschaft betrachtet. Das Phänomen wird zurückgeführt auf die funktional differenzierten Strukturen der Gesellschaft (Luhmann 1987). Diese Erklärung steht im Zusammenhang mit zwei weiteren Beobachtungen: erstens, dass ältere Formen der menschlichen Sozialität die für die Moderne charakteristischen Ausprägungen von Individualität nicht oder nur in deutlich geringerem Maße aufweisen, und zweitens, dass die kulturellen Formen des Verhaltens eine große Variationsbreite aufweisen. Aus der Formenvielfalt wird gefolgert, dass sich die menschliche Kultur weitgehend von den Zwängen der natürlichen Evolution abgelöst habe.7 Aus dem Überwiegen eher konformistischer Verhaltensmuster in älteren Kulturen wird gefolgert, dass es sich bei der Individualität um eine Entwicklung der modernen Gesellschaft handele.8 Diese Auffassung von Individualität steht im Konflikt mit der in der Darwinschen Evolutionstheorie vertretenen Auffassung von Individuen als den natürlichen Einheiten des Vollzugs evolutionärer Prozesse: einerseits als selbst7 Die in der Ethnologie beschriebene Vielfalt kultureller Institutionengebilde wird häufig als Beleg für die Freisetzung der menschlichen Kultur von den Zwängen der natürlichen Selektion genannt. Dabei wird der hohe Konformitätsdruck übersehen, der allen einfachen Gesellschaften gemeinsam ist. Die kulturelle Vielfalt muss evolutionstheoretisch aus der Vielfalt natürlicher Umweltbedingungen und der relativen Isolierung kultureller Populationen erklärt werden. Erst mit der Bildung (über)großer sozialer Einheiten und einer entsprechenden Ausdifferenzierung der kulturellen Binnenräume wird auch eine Gegentendenz erkennbar, die als Freisetzung von kulturellen – aber gerade nicht: von den natürlichen – Zwängen beschrieben werden kann. 8 Vgl. dagegen Claessens 1993, S.268f; Vowinckel 1995, S.216ff


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ständigen Träger vererbter und genetisch mutationsfähiger Merkmale und andererseits als Objekte der Umweltselektion.9 In dieser auf alle Lebewesen ausgedehnten Perspektive ist zunächst von Bedeutung, dass Individualität auch in der Biosphäre kein universelles Phänomen, sondern eine höchst folgenreiche evolutionäre Errungenschaft darstellt (Wieser 1998).10 Entgegen den heroischen Selbstbeschreibungen der abendländischen Denktradition gehen evolutionsbiologische Beschreibungen davon aus, dass der Mensch in der Kultur vom Selektionsdruck der natürlichen Umwelten keineswegs freigesetzt ist. Variationen der menschlichen Kultur können nur im Rahmen dessen stattfinden, was die natürliche Ausstattung des Menschen und seine Umwelt zulassen. Die selektiven Wirkungen der natürlichen Evolution finden in Zeiträumen statt, die sich unserer natürlichen Wahrnehmung entziehen. Der kulturelle Vorgang kann in evolutionstheoretischer Perspektive als Verdopppelung der Selektion im Binnenraum der menschlichen Populationen beschrieben werden. Dies wird besonders deutlich in dem gesteigerten Konformitätsdruck, dem jedes einzelne Individuum in den kulturellen Umwelten einfacher Stammesgesellschaften ausgesetzt ist. Da hier noch keine oder wenig Binnendifferenzierung der Gesellschaft beobachtbar ist, schlägt jede institutionelle Regelung, die dem Vorteil des Überlebens der Gemeinschaft dient, auch unmittelbar restriktiv auf das zulässige Verhaltensspektrum der Individuen durch. In biologischer Perspektive ist Differenzierung ein Effekt des Umstands, dass die an die jeweilige Umwelt besser angepassten Varianten von Organismen sich erfolgreicher fortpflanzen. Was in Bezug auf die kulturelle Evolution als soziale Differenzierung bezeichnet wird, stellt in gewisser Weise den umgekehrten Vorgang dar: Menschen schaffen sich – mit technischen Mitteln – eine ihren Bedürfnissen angepasste natürliche und soziale Umwelt. Sie vermindern in diesem Soziotop den direkten Selektionsdruck der natürlichen Umwelt und ersetzen ihn durch soziale Selektion. So tritt anstelle einer Spezialisierung der Individuen im Hinblick auf eine besondere Umwelt die Spezialisierung der sozialen Umwelt. 9 „Seit Darwin haben die meisten Forscher das Individuum als die eigentliche Münze der Selektion angesehen. Das Individuum wird ausgemerzt oder es überlebt. Es pflanzt sich fort oder auch nicht. Und es ist das Individuum als Ganzes. Jedes Ontogenese-Stadium ist für das Überleben eines Individuums von Wichtigkeit.“ (E. Mayr 1994, S. 206) 10 Die Frage, wieviel eigenständige Operationsfähigkeit den individuellen Organismen zuzuschreiben ist, ist auch in der biologischen Evolutionstheorie umstritten. Der Streit verläuft hier zwischen Theoretikern, die der genetischen Veranlagung die entscheidende Funktion zusprechen (Dawkins 1982, 1996 ) und Solchen, die der Verarbeitung von Umweltwahrnehmungen eine eigenständige Funktion zurechnen (E.Mayr 1961, 2003, Wieser 1998). In seiner Monographie über „Die Erfindung der Individualität“ stellt Wieser die eigenständige Bedeutung des phänotypischen Individuums als evolutionäre Errungenschaft der biologischen Evolution und Möglichkeitsbedingung der kulturellen Evolution des Menschen heraus.


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Wenn hier von Umwelt die Rede ist, dann sind damit nicht bloß kognitive Konstruktionen irgendwelcher Systeme, sondern kausal unabhängige Wirkungsfaktoren gemeint. Darin sind immer schon auch Faktoren eingeschlossen, die von den Lebewesen selbst aktiv verändert worden sind. Dass die eigene Gruppe zum Bestandteil der ökologischen Nische wird, ist keine Erfindung der Menschheit, sondern tief in der Evolution aller Lebewesen verankert. Jede Form von Sozialität, bereits eine Gruppe zusammenstehender Bäume, bildet eine Art Schutzraum, eine ökologische Nische, die von Umweltdruck entlastet und ansonsten unwahrscheinliche Entwicklungen ermöglicht (Claessens 1993). In der kulturellen Evolution des Menschen wird diese Entlastung dramatisch gesteigert, indem mit der Tradierung erfolgreicher lebensgeschichtlicher Erfahrungen eine kumulative Verstärkung der sozialen Schutzschicht gegen die Risiken der natürlichen Umwelt geschaffen wird. Die Sozialität bildet nicht mehr nur eine (passive) Schutzschicht zwischen Individuum und natürlicher Umwelt, sondern kann eigenständige Selektionswirkungen ausüben, die sich relativ weit von denen der natürlichen Umwelt entfernen. In der sozialwissenschaftlichen Theorietradition ist den kulturellen Selektionsmechanismen vor allem eine Stoßrichtung nach Innen – im Sinne der Lösung von Problemen sozialer Ordnung durch einen Gesellschaftsvertrag oder eine übergeordnete Macht – zugeschrieben worden. Angesichts des evolutionären Ausbreitungserfolgs der menschlichen Kultur ist es aber nicht unwichtig, daran zu erinnern, dass diese Entwicklung – von der Gesundheitsfürsorge bis zum Katastrophenschutz – auch eine Stoßrichtung gegen den Selektionsdruck der natürlichen Umwelt hat, also schon insofern an sie gekoppelt bleibt. Funktionale Differenzierung der Gesellschaft kann vor diesem Hintergrund als eine Form der Zurücknahme von Gruppenzwängen betrachtet werden, die durch Ebenendifferenzierung des Soziotops ermöglicht wird und eine Art Arbeitsteilung wiederherstellt, wie sie in den Jäger– und Sammlergemeinschaften existiert haben mag. In evolutionstheoretischer Perspektive handelt es sich um eine Transformation in organisierte Teilsysteme mit Werkzeugcharakter: Jedes System stellt gesondert einen speziellen Schutzraum gegenüber dem Selektionsdruck der natürlichen Umwelt dar, ein Werkzeug, das die spezielle Anpassung des lebendigen Organismus erspart. Sie legt ihm andererseits aber auch die Last der je individuellen Integration der Teilsystembezüge auf. In dieser Beschreibung liegt zugleich das zentrale Argument für die evolutionstheoretische Unverzichtbarkeit selbstständig operierender Individuen. Gäbe es die individuelle Selbststeuerung nicht, dann gäbe es auch keinen Grund zur Technisierung. Warum sollten Individuen, wenn sie bloß Vehikel


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ihrer ererbten Programme wären, nach Mitteln suchen, um sich gegen den Selektionsdruck der Umwelt zu wehren? 3. Technisierung und Individualisierung Technisierung wird – ähnlich wie Individualisierung – primär als charakteristisches Phänomen der modernen Gesellschaft betrachtet. Auch hier muss die Betrachtung evolutionstheoretisch erweitert und Technik als ein wesentliches Moment der menschlichen Sozialität überhaupt betrachtet werden (Popitz 1995). Die Bezeichnung von Technisierung als Moment der kulturellen Evolution muss allerdings geschützt werden vor dem Missverständnis durch eine teleologische Deutung. Eine solche Deutung wird u.a. dadurch nahegelegt, dass technische Innovationen in der Moderne häufig in Metaphern dargestellt werden, die der Semantik religiöser Erlösungsvorstellungen entnommen sind. Vertreter der neodarwinistischen Theorie haben sich bemüht, die evolutionstheoretische Begrifflichkeit von dem Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts abzulösen, und gezeigt, dass mit der Darwinschen Theorie keinerlei Fortschrittsvorstellung verbunden ist. Dies gilt nun auch für ihre Anwendung auf kulturelle Phänomene. Die im Folgenden verwendete Kennzeichnung von Technisierung als Variationsmechanismus soll zum Ausdruck bringen, dass diese Tendenz sich trotz ihrer intentionalen Auslösepunkte und ihrer evolutionären Pfadabhängigkeit als folgenblind erweist im Hinblick auf ihre Umweltbedingungen, also die kulturellen und natürlichen Ordnungen, auf die sie einwirkt. 11 Die Bezeichnung von Technisierung als Variationsmechanismus der kulturellen Evolution muss aber auch geschützt werden vor dem Missverständnis, dass es sich hierbei um einen vom Handeln und Erleben menschlicher Individuen abgelösten Automatismus, ein sich selbst („autopoietisch“) fortzeugendes Merkmal kultureller Sozialsysteme handele. In evolutionstheoretischer Perspektive ist zu erkennen, dass Prozesse der Technisierung evolutionär ermöglicht und begrenzt werden durch Prozesse der Tradierung, die einen unabdingbaren Bezug auf das kognitive Potential menschlicher Individuen aufweisen. Das Moment der kulturellen Evolution, das ihr enormes Tempo und ihren Ausbreitungserfolg erklären kann, ist die Entkoppelung der tradierbaren Erfahrungen von der Bedingung eigenen Erlebens. Der Punkt, an dem die kulturelle Sonderevolution des Menschen abzweigt, besteht demnach in dem 11 Der zielgerichtete Charakter technischen Handelns ist der Grund, warum manche Vertreter der neodarwinistischen Theorie ihre Anwendbarkeit auf kulturelle Phänomene bestreiten. Vgl. Gould 1998. Im Blick auf den hier skizzierten Variationsmechanismus ist festzuhalten, dass Technikentwicklung zwar nicht ungerichtet (wie genetische Mutationen) aber eben doch blind im Hinblick auf die selektionsrelevanten Umwelten erfolgt.


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Potential zum sozialen Lernen mittels fremder, durch Kommunikation erlangter, sprachlich–symbolisch repräsentierter Erfahrungen. Für die Nutzung dieses Potentials ist der Gebrauch technisch erweiterter Kommunikationsmittel als selbstverstärkender Mechanismus der kulturellen Evolution zu betrachten. Technisierung der Kommunikation setzt an der Mitteilungskomponente der Kommunikation, dem Zeichengebrauch an. Nur dadurch, dass Erleben auch mitgeteilt wird, können geteilte Erwartungen entstehen, und nur dadurch, dass Mitteilungshandlungen technisierbar sind, entstehen kulturell erweiterte Möglichkeiten der Institutionenbildung. Voraussetzung für alle Formen der Technisierung in der kulturellen Evolution ist die institutionelle Verselbständigung von Handlungs– und Erlebenskonstellationen der Kommunikation. Durch die Umwandlung latenter Handlungsvoraussetzungen der menschlichen Kommunikation in Formen der sozialen Organisation und vergegenständlicht in Maschinen wird die räumliche Ausdehnung menschlicher Populationen und die Verdichtung ihrer kommunikativen Netze möglich. Durch die Umwandlung latenter Erlebensvoraussetzungen der menschlichen Kommunikation in Medien der Identifikation werden Voraussetzungen für die Restabilisierung größerer und interaktiv verdichteter sozialer Einheiten ermöglicht. Phänomene der Technik erscheinen in der Moderne vor allem als verselbständigte Anwendungsprodukte von Wissenschaft. Dies erschwert das Verständnis ihrer Funktion in der kulturellen Evolution. Ein besseres Verständnis wird allerdings nicht schon dadurch erreicht, dass umgekehrt das technische Handeln der Natur des Menschen (homo faber) zugerechnet wird. Zum Verständnis von Prozessen der Technisierung soll hier an Hans Blumenbergs historisch–phänomenologische Analysen (1963, 2006) angeschlossen werden. Blumenberg greift zunächst die Technikkritik Husserls auf, der in seiner Krisendiagnose bezüglich der Wissenschaftsentwicklung eine scharfe Unterscheidung zwischen der theoretischen Einstellung und technischen Anwendungen macht. Die theoretische Einstellung, die die abendländische Wissenschaft ermöglichte, ist das Vernunftprinzip, mit dem alle Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt in Frage gestellt werden. Die weitgehende Konzentration der Wissenschaften auf die Entwicklung nützlicher, alltagsdienlicher Techniken erscheint ihm als Verfallsform dieses Vernunftprinzips, gegen das die phänomenologische Analyse angehen soll. Es handelt sich aus Husserls Sicht um einen Rückfall in das lebensweltliche Reich der nichthinterfragten Selbstverständlichkeiten, weil in der technischen Verwendung die theoretische Einstellung nicht mehr lebendig ist, die sie ermöglichte.12

12 Blumenberg bezieht sich mit dieser Kritik v.a. auf Husserls Spätwerk „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“.


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Nach Blumenberg ist aber Husserls Technikkritik in kulturkritischer Absicht überzogen und verwickelt sich in Widersprüche. Eine historische Analyse würde zeigen, dass die von Husserl hervorgehobene theoretische Einstellung des menschlichen Bewußtseins sich selbst der Freisetzung von Alltagszwängen verdankt, die durch technische Errungenschaften erst ermöglicht werden. Mit diesem Einwand ist allerdings das Problem nicht bestritten, auf das Husserl aufmerksam macht: dass in den Anwendungen von Technik der Geist, der sie ermöglichte, nicht weitergegeben wird. Im weiteren Gang seiner phänomenologischen Analysen sucht Blumenberg nach einer Beschreibung, die für eine historisch–genetische Rekonstruktion von Technisierungsprozessen geeigneter erscheint als die Husserls. Er findet sie in einer anthropologischen Beschreibung der Ausgangskonstellation für die Entstehung der menschlichen Reflexionsfähigkeit, die er in Zusammenhang mit der Sichtbarkeit und der Sichterweiterung bringt, die mit dem aufrechten Gang und dem Heraustreten des Frühmenschen aus dem geschützten Waldbiotop in die ungeschützte Sphäre der Steppe verbunden ist. Die daraus resultierende Unsicherheit ist gebunden an Beschränkungen des menschlichen Gesichtssinns (der Feind, der von hinten kommt, ist nicht zu sehen) und primär bezogen auf Feinde innerhalb der eigenen Population, also Konkurrenten innerhalb der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft (Blumenberg 2006, 139f). Der springende Punkt liegt hier in der Rekonstruktion eines natürlichen Ausgangspunkts für die Unterbrechung der natürlichen (lebensweltlichen) Einheit von Handlungs– und Erlebenskomponenten der Kommunikation. Die Unsicherheit, die aus der Wahrnehmung der eigenen Sichtbarkeit für Feinde rührt, führt zu einem Innehalten, einem primordialen Aufschub von Handlungsvollzügen zugunsten der Steigerung von Beobachtungsleistungen. Diese Leistung ist an die Wahrnehmung der eigenen Sichtbarkeit, also an Selbstwahrnehmung gebunden. Blumenberg interpretiert dies als anthropologische Ausgangslage der menschlichen Reflexion. Diese Konstruktion kann als Modell für die Untersuchung von Technisierungsprozessen verwendet werden. Das Innehalten als Reaktion auf unsichtbare Feinde ist Ausgangspunkt für die Entstehung jener theoretischen Einstellung, der die Welt als kontingent erscheint (Blumenberg 2006, 371–77). Die Kontingenzwahrnehmung ist nach Blumenberg zugleich die Voraussetzung für technische Eingriffe in die Welt. Der Mensch verharrt nicht im phänomenologisch idealisierten Status des Beobachters. Sobald die Unterbrechung der primordialen Einheit von Handlungs– und Erlebenskomponenten der Kommunikation erst einmal als eine Option menschlichen Verhaltens in der Welt ist, kann sie auch anders verwendet werden: nicht nur zur Steigerung von Beobachtungsleistungen (durch freiwilligen Verzicht auf Hand-


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lungsvollzug), sondern im Sinne einer vorgeschalteten Leistung auch umgekehrt zur Steigerung von Handlungsleistungen durch freiwilligen Reflexionsverzicht. Mit der Erfindung der Schrift und anderer Formen des kulturellen Gedächtnisses findet eine zunehmende Differenzierung zwischen den Räumen der Interaktion unter Anwesenden und dem gesamten – für das Überleben der Population entscheidenden – Netzwerk der Kommunikation statt. Zwischen die Ebene der Interaktion unter Anwesenden und die Ebene der latenzgestützten Erwartungsstrukturen der Gesellschaft insgesamt schiebt sich eine Ebene der (mediengestützten) Organisationen. In traditionellen Hochkulturen ist es die staatliche Herrschaftsorganisation mitsamt den daran hängenden Formen der Stratifikation, die den Konformitätszwang der Kultur übernimmt und dafür das Netz der Kommunikation insgesamt entlastet. In der Moderne differenziert sich die Ebene der Organisationen funktional aus: Der konformitätssichernde Zwang der Organisationen wirkt nicht nur in der staatlichen Herrschaftsverwaltung, sondern in allen Lebensbereichen. Die damit verbundene Entlastung des kommunikativen Netzes wirkt sich insbesondere auf der Ebene der Interaktion unter Anwesenden als Freisetzung von institutionellen Bindungen, als normative Deregulierung und Individualisierung aus. Dort, wo sich die Freisetzung von kulturellen Konformitätszwängen am deutlichsten zeigt, nämlich auf der Ebene der individuellen Interaktion unter Anwesenden, zeigt sich zugleich, dass die Freisetzung von kulturellen Zwängen mit der Freisetzung jener natürlichen Dispositionen einhergeht, die aus dem genetischen Erbe menschlicher Populationen stammen (Cosmides/Tooby 1992). Der Preis für diese Entfaltung von Freiheiten auf der Mikroebene ist der gesteigerte Druck, dem sich die Individuen in den funktional differenzierten und durch Wettbewerbsregeln zivilisierten Formen der Konkurrenz auf der Mesoebene ausgesetzt sehen. Damit einher geht eine Tendenz der Institutionen zu immer komplexeren, hierarchisch strukturierten Gebilden (historisch in Form der Hochreligionen) auf der Makroebene. Diese Tendenz kann als Reflex auf die Ausdehnung und Verdichtung der Interaktionsnetze auf der Mikro– und Mesoebene, also gesteigerter Anforderungen an soziale Ordnung verstanden werden. Da es sich bei den Formen der Umweltselektion auf der Mesoebene der Gesellschaft um intentional beeinflussbare Errungenschaften der kulturellen Evolution handelt, die sich weit von den Bedingungen der natürlichen Selektion entfernen können, bedarf es innerhalb der kulturellen Evolution noch eines zweiten – restabilisierenden – Selektionsmechanismus. Auf dessen Eigenschaften ist im Folgenden auch deshalb genauer einzugehen, weil er in vielen Beiträgen zur Theorie der soziokulturellen Evolution von dem grundlegenden Mechanismus der Tradierung nicht angemessen unterschieden wird.


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Die spezifische Ordnungsleistung einer Entwicklung, in der Individualität zu einem institutionellen Höchstwert geworden ist, wird keineswegs angemessen erhellt, wenn Beobachter der modernen Gesellschaft feststellen, dass das Individuum in ihr vergöttert werde. Diese Beobachtung kann schon deshalb nicht überraschen, weil ältere Formen der Restabilisierung sozialer Ordnung stets mit religiösen Praktiken verknüpft waren.13 In evolutionärer Perspektive muss aber gesehen werden, dass es sich hier um eine höchst unwahrscheinliche und risikoreiche Entwicklung handelt. 4. Individualisierung als Problem der Pädagogik Obwohl die Geschichte der Pädagogik in Lehrbüchern häufig bis in die Antike zurückverfolgt wird,14 kann von einer wissenschaftlichen Pädagogik erst in der modernen Gesellschaft die Rede sein. Sie wird erst in einer Gesellschaftsformation benötigt, in der die Individuen nicht nur von natürlichen, sondern in gesteigertem Maße auch von kulturellen Prädispositionen freigesetzt sind und deshalb weder natürlich noch kulturell verankerte Mechanismen ausreichen, um soziale Ordnung zu gewährleisten. Der in der soziokulturelle Evolution beobachtbare Mechanismus der „Vererbung“ lebensgeschichtlich erworbener und institutionell geteilter Erfahrungen wird selbst zum Gegenstand bewusster, technischer Rückwirkung.15 Die Pädagogik muss sich zugleich als Technik verstehen und mit den unbeabsichtigten Folgen ihrer Eingriffe zurechtkommen. Zu dem eigentümlichen Charakter der Rückwirkung auf intergenerative Tradierungsprozesse mit den Mitteln der modernen Pädagogik gehört der Rekurs auf kognitive Entwicklungsprozesse der Individuen, von denen man annimmt, dass sie an organische Reifungsprozesse gekoppelt, also genetisch verankert sind und darin das Erbe von Umweltselektionen aus der Steinzeit tragen. In grob vereinfachender Weise könnte man also sagen: das Problem 13 Schon der von Richerson und Boyd (1998) als kulturell erweiterbar reklamierte Mechanismus der Identifikation mit der Stammesgruppe muss als religiöser Kult verstanden werden. In diesem Sinne hatte Durkheim die Gesellschaft selbst als transzendentale Einheit verstanden, hatte Soziologie anstelle der Theologie und Pädagogik anstelle religiöser Moralerziehung empfohlen. 14 S. nur Marrou et al. 1957 15 Mit dem Hinweis auf die Vererbung erworbener Eigenschaften in der kulturellen Evolution (ihrer Tradigenese, vgl. Vogel 2000) soll hier nicht die irreführende These vertreten werden, für die kulturelle Evolution sei die Transformationstheorie Lamarcks anders als in der Sphäre der Biologie mit der Darwinschen Selektionstheorie zu vereinbaren. Auch hier gilt, dass für das Zustandekommen oder Verschwinden bestimmter Phänomene nicht die an ihrer Variation beteiligten Faktoren (Prozesse der Technisierung) entscheidend sind, sondern Faktoren der Umweltselektion. Allerdings ist es gerade in pädagogischer Hinsicht folgenreich, dass zu den Umweltfaktoren der kulturellen Evolution die menschlichen Individuen selbst mit ihrer organisch-kognitiven Ausstattung gehören.


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der Pädagogik bestehe darin, die Kluft zwischen dem angeborenen Verhaltenspotential von Steinzeitmenschen und den Verhaltensanforderungen der modernen Gesellschaft zu schließen.16 Und in noch gröberer Vereinfachung könnte man sagen, man müsse dafür nur auf die außerordentliche Flexibilität des Steinzeitgehirns und auf gewisse psychologische Kenntnisse über seine Reifungsprozesse setzen. Dies reicht jedoch nicht aus, um die Problemlage zu beschreiben, auf die die Pädagogik in der modernen Gesellschaft zu reagieren hat. In vielen Beiträgen zur Theorie der soziokulturellen Evolution wird kein Unterschied gemacht zwischen Formen der Transmission kultureller Ordnungsvorstellungen, die in allen Formen der Kommunikation mittransportiert werden, und jenen besonderen Formen der Transmission, die im Wechsel der Generationen auf menschliche Individuen unter den Bedingungen ihrer ontogenetischen Entwicklung einwirken. In evolutionstheoretischer Perspektive erscheint es jedoch zweckmäßig, nur in Letzteren den Mechanismus der Tradierung zu sehen. Zur Begründung möchte ich zunächst die Bedeutung von Mechanismen der Identifikation für Prozesse der Individualisierung herausstellen, bevor ich den Mechanismus der Tradierung unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft genauer betrachte. Die Unterscheidung dieser beiden Mechanismen ist eine theoretische Voraussetzung, um die Probleme zu beschreiben, mit denen es die moderne Pädagogik zu tun hat. Die eigentümliche Doppelstellung menschlicher Individuen zwischen natürlicher und kultureller Evolution erscheint am auffälligsten in der Divergenz zwischen den grundlegenden Prozessen der Tradierung und denen der Technisierung. Der Mensch erscheint hier einerseits als treibender Motor der kulturellen Variation durch intentionale Operationen (Beobachtungen, Entscheidungen, Handlungsverknüpfungen etc.) und andererseits als individueller Engpass, als Bremsfaktor der kulturellen Beschleunigung durch kognitive Beschränkungen bei der Weitergabe kultureller Wissensbestände.17 Zwischen diesen beiden Polen lassen sich zumindest zwei weitere kausal unabhängige Wirkungsmechanismen der kulturellen Evolution unterscheiden. Das ist zum einen der Selektionsmechanismus der innergesellschaftlichen,

16 Zu dem kognitiven Problem der Pädagogik s. Claessens 1993. Das Abstrakte steht für die Überforderung der kognitiven Potenzen menschlichen Individuen – den Engpass, der die Gesellschaft an ihre natürlichen Voraussetzungen rückbindet. 17 In vielen Formen des kulturellen Mechanismus der Tradierung erscheinen primordiale Prozesse der Variation und Selektion noch untrennbar verknüpft. Insofern bestätigen sie Dawkins Auffassung von den Individuen als mehr oder weniger blinden Vollzugsorganen vorselegierter Prozesse (1982). Allerdings lässt sich die kulturelle Evolution sowenig wie die natürliche nur aus einem einzigen Mechanismus erklären.


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durch kulturelle Institutionen geregelten Konkurrenz18 und zum anderen der Mechanismus der Identifikation mit der jeweiligen kulturellen Ordnung, der als ein zweiter, restabilisierender Selektionsmechanismus innerhalb der kulturellen Evolution erscheint.19 Prozesse der Identifikation mit Elementen der jeweiligen kulturellen Ordnung sind in der soziologischen Theorietradition seit jeher (auch ohne Verwendung eines evolutionstheoretischen Konzepts) als Beitrag zur Stabilisierung sozialer Systeme angesehen worden. Durkheim hat elementare Formen dieses Mechanismus in den religiösen Praktiken von Jäger– und Sammlergemeinschaften gesucht. Richerson und Boyd haben darauf hingewiesen, dass in den ethnolingualen Formen der Identifikation von Stammesgesellschaften ein evolutionärer Mechanismus gesehen werden kann, der die Ablösung von primordialen Verwandtschaftsbindungen auf sozial erweiterte Einheiten (mit Abgrenzung gegenüber Fremden) durch kulturelle Übertragung ermöglichte und in dieser Weise bis heute nachwirkt (Richerson/Boyd 1998). Um zu erklären, wie es möglich war, den Mechanismus der Identifikation mit der je eigenen Stammesgemeinschaft zur Identifikation mit der sozialen Ordnung weitaus komplexerer Sozialformen zu erweitern, sind die Prozesse der Technisierung nachzuvollziehen, die die enorme Größenausdehnung menschlicher Sozialformen ermöglicht haben.20 Technik ist ein Produkt der theoretischen Einstellung, dessen praktische Vorteile gerade damit verbunden sind, dass ihre Verwendung von dieser Einstel18 Bei dem im 3. Abschnitt bereits erwähnten Konkurrenzmechanismus handelt es sich um ein in der Soziologie unterbelichtetes, in der ökonomischen Theorietradition aber ausführlich behandeltes Thema. Dazu gehört auch der Umstand, dass die den innergesellschaftlichen Wettbewerb regelnden Institutionen ihrerseits heute verstärkt dem Wettbewerb ausgesetzt sind. 19 Auf einen Mechanismus der Stabilisierung durch Identifikation habe ich bereits im 2. Abschnitt hingewiesen. Die Auffassung, dass es für die soziokulturelle Evolution eines besonderen Mechanismus der Restabilisierung bedarf, ist auch bei Luhmann zu finden (1997, S. 485ff). Allerdings hat Luhmann diesen Mechanismus aufgrund seiner systemtheoretischen Prämissen ohne Bezug auf Operationen menschlicher Individuen mit Prozessen innergesellschaftlicher Differenzierung verbunden. 20 Der Hinweis auf kulturelle Erweiterbarkeit des Identifikationsmechanismus muss mit der Einschränkung versehen werden, dass er ja keineswegs mit derselben Sicherheit funktioniert, wie seine primordialen Vorläufer in einfachen Sozialitäten. Dies ist auch ein zentraler Einwand gegen Auffassungen, die in der Entwicklung der menschlichen Kultur „nur“ ein Instrument der genetischen Anlagen sehen. Dagegen sprechen die vielfältigen Indizien, dass die kulturelle Entwicklung an einer gerade für eine evolutionäre Pädagogik zentralen Stelle mit ihren evolutionären Voraussetzungen in Konflikt gerät: der zureichenden Motivation für ein Zusammenleben in den durch Technisierung ausgedehnten Sozialitäten. Claessens (1993, S. 17) hat die Indizien so zusammengefasst: „Unfähigkeit des Menschen, über das ihm evolutionär mitgegebene Verhältnis zu Gruppengrößen á la Horde hinaus ein Verhältnis zu größeren Zahlen, Massen und Massenereignissen direkt zu haben, d.h. sich zu der von ihm selbst produzierten Indirektheit und Abstraktheit direkt verhalten zu können, dieser Abstraktheit gegenüber direkt motiviert zu sein.“


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lung unabhängig ist, also auch im reflexionslosen Vollzug funktioniert. Der von Blumenberg aufgedeckte Kern von Technisierungsprozessen ist der freiwillige (nicht wie bei Husserl21 unterstellt: erzwungene) Reflexionsverzicht. Dieser wird nicht als Kulturverfall, sondern als ein Bestandteil der kulturellen Evolution interpretiert und zwar im Sinne einer Steigerung ihrer internen Variationsspielräume durch Spezialisierung. Durch Technisierung werden nicht nur die Verknüpfungen menschlichen Handelns, sondern auch die des menschlichen Erlebens einseitig steigerbar. Die Transformation von primordialem, implizit–selbstverständlichem (instutionellem) Wissen durch theoretische Explikation und methodische Reduktion in technisch verselbständigtes Wissen ist auch keine Einbahnstrasse, sondern ein laufender Prozess, der von gegenläufigen Prozessen der Regeneration des kulturell verselbständigten Wissens im Institutionenpool der Gesellschaft begleitet wird. Und in diesem Punkt kommt die Aufgabe der Pädagogik innerhalb der kulturellen Evolution in den Blick. Mit den Technisierungen im Netzwerk der Kommunikation wird die primordiale Unterbrechung der Einheit von Handeln und Erleben als Option menschlichen Verhaltens nicht nur steigerbar durch Verzicht auf Reflexion in der Verknüpfung von Handlungen, sondern auch durch Verzicht auf Reflexion in der Verknüpfung von Erlebensformen. Komplementär zu den verselbständigten Formen des Handelns (Organisationen, Maschinen) können sich auf diese Weise verselbständigte Formen des Erlebens (schriftlich verfasste Erwartungsstrukturen, soziale Normen und Institutionen) auf einer Metaebene der Kommunikation entwickeln. Die Unterbrechung des unmittelbaren Handlungsvollzugs in der Kommunikation ist zwar eine Voraussetzung von Reflexion, führt jedoch keineswegs zwingend zu einer theoretischen Einstellung (i.S. Husserls). Die Komplementärform zur Technisierung des Handelns ist eine Technisierung des Erlebens i. S. einer distanzlosen Hingabe an das im jeweiligen Medium aufscheinende Ereignis. Auch dies ist in evolutionärer Perspektive so wenig zu verachten wie der routinemäßige Gebrauch von Technik. Ihr Vorzug liegt in einem gewissermaßen virtuellen Wiedereintauchen in den lebensweltlichen Strom der Kommunikation – ohne das Risiko, selbst handeln zu müssen. Der emotionale Erlebnisgewinn, der durch das technische Arrangement (in Theater, Roman, Film etc.) ermöglicht wird, kann als Grundlage der kulturel-

21 Husserl beschreibt nur die eine Seite, das strikte Zurücktreten vom lebensweltlichen Kommunikationsstrom zugunsten der distanziert erlebenden Beschreibung – und nicht die andere Seite: das Zurücktreten des Erlebens in der technisierten Form des Handelns – und schon gar nicht den verborgenen Zusammenhang dieser beiden asymmetrisch verselbstständigten Formen der Kommunikation: die verselbstständigte Beobachtung als Voraussetzung der Technisierung und die durch Technisierung ermöglichte Freisetzung des Beobachtens.


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len Erweiterung des Mechanismus der Identifikation beschrieben werden. Er bildet auch die Grundlage für eine Weiterentwicklung des Mechanismus, in der nicht mehr nur bestimmte Elemente sozialer Ordnung, sondern das menschliche Individuum selbst zum Gegenstand der Identifikation wird. Diese Entwicklung vollzieht sich sowohl in trivialen Formen der Identifikation mit in Medien prominenten Personen wie auch in komplexen Formen der Selbstreflexion. Individualisierung kann in diesem Sinne als eine Spätform des evolutionären Mechanismus zur Restabilisierung kultureller Institutionengebilde gedeutet werden, in denen Individuen sich nicht mehr mit irgendeiner Herkunftsgruppe sondern mit sich selbst als Manager konkurrierender Gruppen– und Weltbezüge identifizieren.22 Die evolutionäre Riskiertheit einer Entwicklung, die den Mechanismus der Restabilisierung sozialer Ordnung in das reflexive Selbstmanagement der Individuen verlegt, wird erkennbar, wenn man sie als Ausgangslage für Tradierungsprozesse im Generationswechsel betrachtet. Ein erheblicher Teil der Probleme, auf die die moderne Pädagogik mit ihren Mitteln reagiert, ist dem Umstand geschuldet, dass die älteren Mechanismen sozialer Ordnungsbildung nicht verschwinden, sondern in der modernen Gesellschaft fortbestehen, sie sowohl stützen, aber auch in Konflikt mit ihr treten können. Daher wird eine Pädagogik benötigt, die in der Lage ist, naturalistische, kulturalistische und rationalistische Antworten auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung in einem evolutionstheoretischen Rahmen zu reflektieren und in situationsangemessener Form zu verknüpfen. Das Problem der modernen Pädagogik besteht also nicht einfach darin, die Kluft zwischen Steinzeitmensch und moderner Gesellschaft zu überbrücken, sondern auch die evolutionären Prozesse – insbesondere der Technisierung und Individualisierung – verstehend nachzuvollziehen, die diese Kluft ermöglicht haben und laufend reproduzieren. Das ist auch deshalb nötig, weil die Pädagogik selbst ein Teil dieser Prozesse ist. In den Reflexionstheorien der Pädagogik ist die intentionale Rückwirkung auf Prozesse der intergenerativen Tradierung immer schon als Problem betrachtet worden, das unbeabsichtigte Nebeneffekte auslöst und deshalb besonders sensible oder kunstvol-

22 Luhmann hat diese Entwicklung des Individualitätsverständnisses als Korrelat funktionaler Differenzierung beschrieben (Luhmann 1989 S.215, 236ff) und auf Konsequenzen im Bereich ihrer Organisationen verwiesen (S. 253f). Wenn ich diesbezüglich von einem Restabilisierungsmechanismus spreche, dann ist einschränkend anzumerken, dass die Last der Stabilisierung sozialer Ordnung in der modernen Gesellschaft von einer nie zuvor gekannten Vielzahl intentional gesetzter, mit organisatorischen Sanktionsmitteln geschützter Normen abgestützt wird. Im Hinblick auf den Institutionenpool der Gesellschaft handelt es sich dabei jedoch um Beiträge zur Variation, wie auch an ihrem raschen Wandel abzulesen ist.


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le Handhabung verlangt. Die Frage ist nur, wie solche Sensibilität auch organisiert werden kann.23 Zu den unbeabsichtigten Folgen pädagogischer Eingriffe gehört die Erfahrung natürlicher und erlernter Widerstände menschlicher Individuen gegen ihre „Verbesserung“. In evolutionstheoretischer Perspektive handelt es sich eben auch bei der pädagogischen Technik nur um einen Beitrag zur Variation, der sich in der kulturellen und natürlichen Umwelt als passend oder unpassend erweisen kann. Die Selektion wird hier stets und ausschließlich in ontogenetischen Entwicklungsprozessen lebendiger Individuen vollzogen. Kein pädagogischer Code und keine Simulation in theoretisch verselbständigten Diskursen pädagogischer Kommunikationsgemeinschaften kann diesen Test umgehen oder ersetzen. Unter diesen Voraussetzungen wird aber auch erkennbar, dass es kein Zurück zu einfachen Lösungen – zum Verzicht auf pädagogische Technisierung – gibt. Die in der technisierten Lebenswelt des Alltags spontan erlernbaren Fähigkeiten bilden keine zureichenden Voraussetzungen für die verschiedenen Arten des kognitiven Managements, die in der modernen Gesellschaft benötigt werden. Insofern kann in der Husserlschen Technikkritik eine pädagogische Wahrheit entdeckt werden: Die bloße Verbreitung von Techniken in der Lebenswelt ist keine zureichende Voraussetzung für ihre intergenerative Reproduktion. So wäre die kritische Funktion funktionsspezifischer Öffentlichkeiten im Wettbewerb organisierter Akteure nicht aufrechtzuerhalten, wenn sich das Publikum auf eine reflexionslose Haltung des Erlebens beschränkte. Zur Regeneration des theoretisch–reflexiven Verhaltensmusters, das benötigt wird, um sich in einer hochtechnisierten Welt nicht nur zurecht zu finden, sondern auch ihre Errungenschaften zu reproduzieren und weiterzuentwickeln, bedarf es spezifischer Formen der Bildungsorganisation, in denen die theoretische Einstellung selbst als tradierungswürdige Institution gepflegt wird. Ohne sie käme der Variationsmechanismus der soziokulturellen Evolution selbst zum Erliegen. Zu den Mitteln, die der Pädagogik für ihre Zwecke zur Verfügung stehen, gehört auch die Einsicht in die Grenzen der Technisierbarkeit von Prozessen der Tradierung im Generationswechsel. Andererseits gilt auch für die päd23 Dass die unbeabsichtigten Nebeneffekte durch das räumliche und zeitliche Ausmaß an schulischer Organisation enorm gesteigert werden, ist ein gängiges Thema der Bildungssoziologie (Dreeeben, 1979; Meyer-Ramirez, 2005). Mit der Ausdehnung schulischer Organisation einher geht der Bruch, den die moderne Auffassung gegenüber traditionellen Hochkulturen vollzieht, indem sie die Trennlinie zwischen Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen zugunsten tendenziell lebenslangen Lernens auflöst. Besonders bemerkenswert ist die Vorverlegung organisierter Bildungsprozesse in ein immer früheres Lebensalter. Hier greift der moderne Staat in Prozesse der Enkulturation ein, von denen die soziale Ordnung lebt, die er jedoch selbst (intentional) nicht herstellen kann.


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agogische Technik, was Blumenberg schon gegen Husserls Technikkritik eingewandt hat: dass die unerwünschten Effekte der Technisierung innerhalb der kulturellen Evolution nur durch bessere Techniken kompensiert werden können. Diese Verbesserung setzt Kenntnisse über die ontogenetischen Entwicklungsprozesse menschlicher Individuen und die Steigerungsformen ihrer Individualität in Folge der Technisierung und Differenzierung ihrer sozialen Netzwerke voraus. In dieser Hinsicht können gerade die natürlichen Widerstände der Individuen gegen die kognitive Übernahme technisierter und damit reflexionsfrei und anschauungslos gewordener Wissensbestände zum Ansatzpunkt für die Regeneration der theoretischen Einstellung werden, die zur Fortsetzung der kulturellen Evolution im Rahmen komplexer Sozialitäten benötigt wird. Literaturhinweise Bernfeld, S., (1928, 1973): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Blumenberg, H., (2006): Beschreibung des Menschen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Blumenberg; H. (1963): Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie S. 7–54 in: Hans Blumenberg, 1981, Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Philipp Reclam jun. Blute, M., (1979): Sociocultural Evolutionism: An Untried Theory. Behavioral Science 24: 46–59. Bourdieu, P. / Passeron, J.C. (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, Stuttgart: Klett Claessens, Dieter, (1993): Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankf. M.: Suhrkamp Cosmides, L. / Tooby, J., (1992): The Psychological Foundations of Culture. S. 19–136 in: Barkow, J. / Cosmides, L. / Tooby, J. (Hrsg.), The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Generation of Culture. Oxford: Oxford Univ. Press. Dawkins, R., (1982): The Extended Phenotype: The Gene as the Unit of Selection, San Francisco: Freeman. Dawkins, R., (1996): Das egoistische Gen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Dreeben, R., (1979): Was wir in der Schule lernen. Frankf. a. M.: Suhrkamp Durkheim, E., (1984): Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne, 1902/1903. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Elias, N., (1987): Die Gesellschaft der Individuen, Frankf. M.: Suhrkamp Gould, S.J., (1998): Illusion Fortschritt. Die vielfältigen Wege der Evolution. Frankf.M.: : S.Fischer.


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Klaus Gilgenmann / Fb Sozialwissenschaften / Universität Osnabrück / klaus.gilgenmann@uni–osnabrueck.de


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