Kg 2010 niketta festschrift

Page 1

Die Erforschung kleiner Unterschiede – im Kontext großer sozialer Probleme S. 35-37 in: Was kann denn der Mittelwert dafür, dass er so attraktiv ist? Kleine Festschrift zur Emeritierung von Prof. Dr. Reiner Niketta, hrsg. von Bastian Mönkediek, Osnabrück 2010: Verlag Dirk Koentopp

Reiner Nikettas wissenschaftliche Arbeiten gruppieren sich, wenn ich es recht sehe, um vier Themen: Erstens reine Methodenfragen, zweitens Methoden und Ergebnisse der Lehr-Evaluation, drittens Untersuchungen zur Popular-Musik1 und viertens Untersuchungen zur At2 traktivität von menschlichen Gesichtern. In den folgenden Bemerkungen möchte ich nur auf die zuletzt genannte Gruppe von Arbeiten Bezug nehmen. Dies nicht nur, weil ich von Evaluationen die Nase voll habe und von Musik und Methoden nicht genug verstehe, um einen fachmännischen Kommentar abzugeben – denn auch für die Attraktivitätsthematik bin ich ja kein Experte – sondern vor allem, weil es überraschen mag, solche Themen überhaupt in der Publikationsliste eines Professors der Sozialwissenschaften zu finden. Nun könnte man es sich leicht machen und darauf verweisen, dass Reiner Niketta aus der Psychologie kommt.3 Dass er eine Professur in der Soziologie bekommen hat, hat eben auch mit dem notorischen Defizit vieler soziologischer Einrichtungen zu tun, den erforderlichen Nachwuchs für quantitative Methoden aus den eigenen Reihen zu rekrutieren. Damit wäre dann auch das Auftauchen dieser randständigen Themen in Nikettas Publikationsliste erklärt. So leicht möchte ich es mir aber hier nicht machen und stattdessen kurz umreissen, warum ich meine, dass es sich hierbei durchaus um Fragestellungen handelt, die fundamentale Probleme der Sozialwissenschaften betreffen.4 Die fachkonstitutive Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung wird im mainstream der Soziologie unter Bezug auf generalisierte Sinnstrukturen beantwortet und physische Bedingungen werden dabei normalerweise ausgeklammert. Schon die Frage, ob sozialer Zusammenhalt sich auch auf Phänomene physischer Attraktivität stützen kann, wird von manchen SoziologInnen als Tabubruch verstanden.

Anders als in der Soziologie5 sind neue Entwicklungen in der biologischen Evolutionstheorie in der Psychologie stark rezipiert worden. Diese Entwicklungen, die die im Neodarwinismus lange Zeit dominierende molekulargenetische Perspektive modifizieren, betreffen vor allem drei Bereiche: 1. die Wiederentdeckung der eigenständigen Bedeutung sexueller Selektion (G.Miller, 2000) 2. die Rehabilitation von Theorien der sozialen Gruppenevolution (Sober/Wilson 1999, Richerson/Boyd 2005) und 3. die Wiederentdeckung von Umwelteinflüssen in der Ontogenese (Carroll, 2008). Die Zusammenführung dieser drei Entwicklungen in der Evolutionsbiologie gibt Anlass zu der Erwartung, dass die Verselbständigung der Kultur- und Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften6 in ihrer bisherigen (seit Dilthey kanonisierten) Form nicht mehr weiterzuführen ist. In dieser Perspektive ist die Frage nach der physischen Attraktivität von Gesichtern als ein Baustein in der großen Synthese natur- und kulturwissenschaftlicher Erklärungsansätze einzuordnen. Die in den Sozialsystemen natürlicher Populationen beobachtbaren Mechanismen sexueller Selektion können als natürliche Grundlage gewaltfreier Verhaltensmuster betrachtet werden, die neben einer Reihe anderer evolutionärer Errungenschaften - die kulturelle Sonderentwicklung des Menschen ermöglicht haben und von andauernder Bedeutung für ihren Bestand sind. Das zivilisatorische Potential der weiblichen Wahl im Inneren menschlicher Sozialsysteme war freilich in dem bisherigen Zeitraum der kulturellen Evolution stets begleitet von der männlichen (gewalttätigen) Wahl in den Außenbeziehungen – als kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Sozialsystemen. Diese negative Komplementarität ist eigentlich erst in der modernen Gesellschaft – in Folge ihrer globalen Ausdehnung und internen Verdichtung – problematisch und damit zum Thema der Sozialwissenschaften geworden. So lässt sich in evolutionstheoretischer Perspektive – mit etwas Mut zur Ermittlung der hier ausgelassenen Zwischenschritte! – ein Zusammenhang erkennen zwischen den von Reiner Niketta untersuchten Problemen geschlechtsspezifischer Attraktion auf der Mikroebene menschlichen Verhaltens und den Distraktionskräften konkurrierender Sozialsysteme auf der Makroebene der modernen Gesellschaft.

1 Auch hier mit Querverbindungen zu Methodenfragen wie zB. in dem musikpädagogischen Beitrag mit dem schönen Untertitel: „Was kann denn der Mittelwert dafür, daß er so praktisch ist?“ 2 Auf Nikettas Homepage werden zwölf Titel mit dieser Thematik aufgelistet. So zuletzt eine Untersuchung mit dem Titel „Ambiguität der Geschlechtszugehörigkeit von Gesichtern: Was geschieht mit dem geschlechtsrollenstereotypen Urteil?“ (2000). 3 Weshalb der größere Teil dieser Arbeiten im Kontext der Bielefelder Sozialpsychologie entstanden ist. 4 Selbstverständlich handelt es sich bei dem hier angedeuteten Kontext der Attraktionsforschung um eine Interpretation des Verfassers, der weder Reiner Niketta noch ein Leser seiner Arbeiten folgen muss.

5 Besonders der deutschen Soziologie – in der Angelsächsischen gibt es ja eine ungebrochene Tradition evolutionstheoretischer Orientierungen.

6 Insbesondere in ihren historisch verfahrenden Disziplinen wie Evolutionsbiologie und Paläontologie.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.