Kg 2011 claessensvortrag

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Klaus Gilgenmann

Soziologische Anthropologie und Darwinsche Evolutionstheorie Claessens‘ Beitrag zur Überwindung einer Denkblockade zwischen Geistes- und Naturwissenschaften Vortragsentwurf für die Tagung der DGS-Sektion Kultursoziologie „Dieter Claessens – Soziologie und evolutionäre Anthropologie“ vom 3. bis 5. Februar 2011 an der Technischen Universität Dresden

In diesem Vortrag versuche ich, bestimmte Teile des Werks von Dieter Claessens als Beitrag zur Überwindung einer Denkblockade zwischen den Kultur- und Sozialwissenschaften einerseits und der modernen Evolutionstheorie andererseits zu interpretieren. Da es nicht möglich ist, das entsprechende Theorieprogramm in einer halben Stunde angemessen vorzustellen, beschränke ich mich darauf, es anhand einiger weniger Punkte zu charakterisieren, die mir besonders wichtig vorkommen.

Das werde ich in drei Schritten tun: Zuerst erinnere ich an die ideengeschichtliche Motivlage, die Claessens bei seinem Programm einer Soziologischen Anthropologie bewegt hat. Dann umreiße ich drei Bausteine dieses Theorieprogramms und benenne dabei auch einige offengebliebene Fragen und Anschlußmöglichkeiten. Abschließend weise ich auf Phänomene hin, die Claessens so noch nicht sehen konnte, die aber im Anschluss an sein Theorieprogramm besser beschrieben werden können.

1. Zum Programm 1.1 Soziologische Theorie statt Kulturkritik 1.2 Biologische Theorie statt Biotechnologie

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2. Zu den Theoriebausteinen 2.1 Körperausschaltung 2.2 Gruppenbildung 2.3 Kindheit

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3. Zur Fortsetzung 3.1 Zurück zur Natur 3.2 Zivilisierung der Kultur

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Anhang Schematische Darstellungen Literaturhinweise Anmerkungen und Textauszüge

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1. Zum Programm1 Programm einer Theoriesynthese – Hindernisse der Theoriebildung in weltanschaulich-normativen Prämissen – Claessens Abgrenzung von Kulturpessimismus und Technikoptimismus. „Diese Arbeit geht ... von der Erkenntnis aus, daß Philosophische Anthropologie in Deutschland und Evolutionstheorie in der (angelsächsischen) Welt relativ unvermittelt nebeneinanderstehen. Dabei könnte die wie alle Naturwissenschaften wenig theoriefreundliche Evolutionstheorie bedenkenswerte Ergebnisse der Philosophischen Anthropologie übernehmen, die wiederum zu Unrecht evolutionstheoretisch bedeutsame Aussagen vernachlässigt.“ (IPG 195)

Hinter manchen Kontroversen über Methodenprobleme in den Sozialwissenschaften, die mit argumentativen Mitteln nicht zu beenden sind, stehen normative Motive. Um den Beitrag von Dieter Claessens zur Überwindung von Denkblockaden zwischen Natur- und Geisteswissenschaften herauszuarbeiten, ist deshalb auch die weltanschauliche Konfliktlage zu betrachten, in der sein Werk zustande gekommen ist. Auf der Seite der Kultur- und Geisteswissenschaften ist das die Verteidigung kultureller Errungenschaften gegen (vermeintlichen oder tatsächlichen) biologischen Reduktionismus. Hier gibt es politisch links und rechts gerichtete Versionen von Kulturkritik. Die rechte Version tritt auf als Verteidigung tradierter Institutionen gegen den biologisch angelegten Rückfall in Barbarei, die linke als Verteidigung kultureller Errungenschaften gegen biologische Legitimation tradierter Restriktionen. Die entsprechende Position auf der Seite der Naturwissenschaften besteht in einer heroisch-werturteilsfreien Einstellung gegenüber den Objekten der Kultur. Eine kämpferisch in die Sozialwissenschaften hineinwirkende Variante dieser Position besteht in der Reduktion des menschlichen Sozialverhaltens auf einen genetisch verankerten „Egoismus“ aller Lebewesen. Claessens selbst hat sich sowohl von defensiven wie auch von offensiven (auf technische Verfügbarkeit der Natur ausgelegten) Kulturkonzepten abgegrenzt und zu einem normativen Konzept auf soziologisch erweiterter Grundlage bekannt. 1.1 Soziologische Theorie statt Kulturkritik2 Abgrenzung von Kulturkritik – eine Vorwärtsverteidigung der Sonderstellungsthese der Philosophischen Anthropologie – nach rechts: Gehlens Mängelwesen gegen Permissivität der Moderne – nach links: herrschaftsfreie Kleingruppe gegen funktional differenzierte Gesellschaft „Diese Überlegungen gestatten nun eine ganz neue Sicht und eine neue Aufnahme eines überaus beliebten Theorems der Philosophischen Anthropologie, dort wo sie am eindrucksvollsten, publikumswirksamsten und unwiderlegsam erscheint. Es handelt sich um das Theorem von der »Gefährdetheit« des Menschen. Dieses Theorem - das für

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Kulturkritik überhaupt konstitutiv ist - spukt durch alle Arbeiten philosophisch-anthropologischer Art. Es muß gefragt werden, worauf es eigentlich basiert.“ (IPG 188)

Was die Philosophische Anthropologie von neodarwinistischen Kulturtheorien in erster Linie unterscheidet, ist die Herausstellung des Menschen als Sonderfall in der natürlichen Evolution. Evolutionstheoretisch wäre es trivial, von Sonderstellung in dem Sinne zu sprechen, wie dies für jede Art, sogar für jede Population in einer bestimmten Umwelt gilt. Nicht trivial ist es hingegen davon i.S. eines evolutionären Entwicklungspfades zu sprechen, an dessen vorläufig letzter, „höchster“ oder jedenfalls besonderer Stelle der Mensch steht. Die Frage, ob es sich bei den beim Menschen zu beobachtenden Merkmalen „nur“ um Steigerungsformen von Eigenschaften handelt, die auch bei anderen Lebewesen zu beobachten sind, oder ob es sich um emergente, in gewisser Hinsicht unvergleichbare Merkmale handelt, soll hier aber ein- oder ausgeklammert werden. Ich vermute, dass sie mit den Mitteln empirischer Untersuchung gar nicht zu entscheiden, sondern abhängig von theoretischen Prämissen der Beobachtung ist. In den folgenden Abschnitten wird entlang der von Claessens vorgegebenen Linie aber immer wieder die Frage aufkommen, welche Erkenntnisgewinne durch eine Synthese zu gewinnen wären.3 Hier interessiert zunächst die Frage, wodurch die Arbeit an einer solchen Theoriesynthese behindert wird, die über Schulen- und Methodenstreit hinweg auf weltanschauliche Hintergrundüberzeugungen verweist. Die seit mehr als hundert Jahren bestehende Abwehrfront der Geisteswissenschaften gegen „biologischen Reduktionismus“4 hatte in der Philosophischen Anthropologie eine prominente Legitimationsinstanz gefunden.5 Claessens hat daran gestört, dass deshalb das Theorem von der konstitutiven Offenheit des Menschen, das er selbst für zentral hielt, evolutionstheoretisch kaum anschlussfähig formuliert werden konnte.6 Es geht hier also zunächst um normative Konnotationen in der Beschreibung der Sonderstellung des Menschen in der natürlichen Evolution. Es kommt darauf an, ob die beobachtete Entwicklung der menschlichen Kultur als Gefahr oder als Chance beschrieben wird. Wer sie als Gefahr beschreibt, will bremsen, am Vergangenen festhalten und beschwört vielleicht gerade damit Gefahren herauf. Wer sie als Chance beschreibt, will die Entwicklung annehmen und aus der Beobachtung der gegenwärtigen Gesellschaft lernen. Claessens hatte sich für Letzteres entschieden und damit von wichtigen Vertretern der PhA - und wenn es so etwas gegeben hat: von ihrer Hauptlinie7 – zugunsten einer soziologischen d.h. hier vor allem auch empirisch erweiterten - Anthropologie distanziert.8 Claessens hat seine wissenschaftliche Position nicht nur gegenüber rechtem Kulturpessimismus sondern auch gegenüber einer linken Kulturkritik abgegrenzt, die


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seinerzeit an den Universitäten grassierte. Diese Abgrenzung tritt in seinen Schriften weniger deutlich hervor – sie war wohl auch theoretisch die geringere Herausforderung – ist aber gleichwohl wichtig, um die Ausgangslage für sein Theorieprogramm zu verstehen. In dieser Hinsicht hatte es Claessens vor allem mit zwei Komponenten links gerichteter Kritik zu tun: Zum einen mit einem Milieudeterminismus, dem jeder Verweis auf Naturkonstanten schon als Beweis für legitimationsideologische Absichten galt. Das war nichts Neues, die behavioristische Milieutheorie war ja im mainstream der Soziologie hinlänglich verankert und erschien hier nur kämpferisch zugespitzt.9 Zum anderen hatte er es mit einer neomarxistisch inspirierten Teleologie zu tun, die sich den revolutionären Sprung von einer verdorbenen in eine heile Welt erhoffte. Solche Erwartungen hielt Claessens für Zeichen mangelnder geistiger Reife, der er bei seinen Studenten mit theoretischer Strenge und pädagogischer Milde zu begegnen versuchte.10 Der Sache nach hat sich Claessens von linker Kulturkritik auch dadurch distanziert, dass er die „Kultur des Kapitalismus“ als eine Übergangsstruktur zu einer höheren Stufe der Zivilisation interpretierte.11 Gerade in jenen Wettbewerbsstrukturen, die in den Protestbewegungen seiner Zeit (und heute noch verstärkt) perhorresziert werden, hat Claessens ein tief in der kulturellen Evolution verankertes Moment des friedlichen Austauschs und damit ihrer Höherentwicklung ausgemacht.12 Die Ende der 60er Jahre aufkommenden neuen sozialen Bewegungen waren in dieser Hinsicht in einem Selbstwiderspruch befangen: Einerseits wurde in der HippieBewegung ein Hedonismus praktiziert, der in mancher Hinsicht vorwegnahm, was Claessens mit der Formel „Befreundung mit der Natur“ meinte. Andererseits war sie jedoch keineswegs dazu bereit, „zur Tür hinauszugehen“ (NN, 12) d.h. den Schutzraum der alten Kultur zu verlassen. Ihre Kapitalismuskritik lief daraufhinaus, die ideale Gesellschaft als globale Kommune (orientiert am familistischen Liebesideal und nicht an den Prinzipien des wechselseitigen Respekts in Freiheit und Gleichheit) zu konzipieren. Dieser Selbstwiderspruch hat sich dann (in unproduktiver Weise) aufgelöst mit der Transformation von Teilen der Bewegung in leninistische Kadergruppen und terroristische Kleingruppen (RAF).13 1.2 Biologische Theorie statt Biotechnologie14 Kontinuität oder Bruch zwischen Natur- und Kulturgeschichte – Widerstände gegen historisch-soziologische Reflexion im Neodarwinismus – Ablehnung der Gruppenselektionstheorie und Reduktion auf genetischen Individualismus – neue Anschlussmöglichkeiten in Soziobiologie und Evolutionärer Psychologie. „So erntete Naturwissenschaft einen ihrem Selbstwert-

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gefühl entsprechenden Applaus, der etwas meinte, was sie selbst theoretisch noch gar nicht konzipiert hatte: die Be15 reitschaft, sich prinzipiell zu sich selbst zu distanzieren.“ (NN 72)

Im Unterschied zu den Hauptvertretern der PhA hat Claessens weniger den großen Bruch als vielmehr die vielen Kontinuitäten zwischen Natur- und Kulturgeschichte des Menschen herausgestellt. Insofern hätten seine soziologischen Skizzen auch wegweisend für Theorien der soziokulturellen Evolution sein können. Dass sie in der neueren Literatur dazu kaum zur Kenntnis genommen worden sind, mag daran liegen, dass dieses Theoriesegment heute fast ausschließlich angelsächsisch besetzt ist und in der deutschen Soziologie weitgehend ignoriert wird.16 Es liegt aber auch an dem Umstand17, dass in der biologischen Theorietradition mit dem Neodarwinismus eine (komplementäre) Abwehrfront gegen soziologisches Denken aufgebaut wurde (die es zu Zeiten Darwins und Spencers so noch nicht gab): Zugleich mit der Synthese zwischen der Darwinschen Selektionstheorie und der Mendelschen Vererbungslehre und verstärkt durch die Entdeckungen der Molekulargenetik wurden erweiterte Formen von Gruppenselektion, wie sie Darwin noch für möglich hielt, aus dem neodarwinistischen Kanon ausgeschlossen.18 Aufgrund der methodologischen Präferenz für einen genetisch determinierten Individualismus19 hatten die von Claessens herausgestellten Arbeiten aus der biologischen Theorietradition20, die eine Brücke zwischen Natur- und Kulturwissenschaften bilden sollten, kaum mehr eine Chance, von Naturwissenschaftlern ernstgenommen zu werden. Die Abwehr der Naturwissenschaften gegen historischsoziologische Reflexion hat Claessens selbst auf ihre Position in der kulturellen Evolution zurückgeführt. Nach seiner Auffassung ist die moderne Wissenschaft aus Distanzierungswellen entstanden, die von der Entstehung der Sprache als symbolischem Werkzeug über Begriffsbildungen zur Ausdifferenzierung von drei Arten der Wissenschaft geführt haben. Den durchschlagenden Erfolg der Naturwissenschaften in der Moderne hat er fern von kulturpessimistischer Krisenrethorik21 bewundert, aber auch ihre mangelnde Distanz zur materiellen Umsetzung der Begriffe in Technik kritisiert.22 Dieser Mangel an Reflexivität wird besonders deutlich in der Auffassung von menschlichen Individuen als „Vehikel“ ihrer „egoistischen“ Gene (Dawkins 1996). In IPG hatte Claessens die These von der Gefährdetheit des Menschen noch „Bindeglied“ zwischen Philosophischer Anthropologie und Evolutionstheorie hervorgehoben und sie zugleich wegen ihrer kulturkritischen Aspiration als irreführend kritisiert.23 Mit Evolutionstheorie war hier primär die evolutionäre Verhaltenslehre von Konrad Lorenz gemeint.24 Diese Richtung hatte in der Soziobiologie von E.O.Wilson eine programmatische Fortsetzung gefunden, die für Claessens interes-


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sante Anschlußmöglichkeiten bot.25 Das Wilsonsche Programm einer neuen (Kultur- und Sozialwissenschaften einbeziehenden) Theoriesynthese stieß jedoch aus Gründen der political correctness zunächst auf heftige Ablehnung. Demgegenüber konnte der molekulargenetische Selektionismus für sich reklamieren, dass er für rassistische Legitimationsideologie unbrauchbar sei. Claessens hat nicht mehr erlebt, wie sich diese Fronten allmählich wieder auflösten.26 Vieles von dem, was er in IPG postulierte, ist in der Evolutionären Psychologie als „missing link“ zwischen Biologie und Kulturwissenschaften bezeichnet und entfaltet worden. Claessens ging es bei der „Wiederentdeckung des Instinktprinzips“27 nicht nur um den Hinweis auf eine Vielzahl von Instinkten (also Mehrfachdeterminierung statt Gehlenscher Instinktreduktion) sondern auch um eine biologische Fundierung der Offenheitsthese, die nicht mehr vorrangig auf die Abgrenzung des Menschen von allen anderen Lebewesen zielt, sondern ihr Fundament in der Abhängigkeit aller Lebewesen vom Austausch mit ihrer Umwelt hat. So wie er im „Instinkt-Prinzip“ den „kommunikativen“ Rückmeldeeffekt betont, wird auch in der Evolutionären Psychologie stets die enge Koppelung zwischen Anlage und Umwelt herausgestellt. Dies geht in den programmatischen Ausführungen von Tooby und Cosmides allerdings mit einer heftigen Polemik gegen die im „standard social sciences model“ bevorzugten Plastizitätsannahmen einher.28 Jedoch handelt es sich auch hier schon um die Wiederaufbereitung vergangener Schlachtordnungen. Neuere Entwicklungen in der Evolutionsbiologie – insbesondere in der Epigenetik29 und in der computergestützten Gehirnforschung30 - sind darüber hinweggegangen und kommen mit ihren Erkenntnissen den Annahmen der PhA über die konstitutive Offenheit des Menschen wieder näher.

2. Zu den Theoriebausteinen31 Drei Theoriebausteine (und ein eingeschlossener Vierter) – Ausgangstexte, Rezeption und Anschlussmöglichkeiten - ihre Interpretation zur Soziologisierung der Philosophischen Anthropologie - ihre Interpretation als Mechanismen der soziokulturellen Evolution

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steine – Körperausschaltung, Gruppenbildung, lange Kindheit – sollen der Vermittlung zwischen natur- und kulturwissenschaftlichen Theorien über die conditio humana dienen. Ein viertes Vermittlungsglied – nämlich die menschliche Sexualität – ist in den Ausführungen zu Insulation und Neotenie enthalten, von Claessens jedoch – obwohl das Thema bei ihm breiten Raum einnimmt - nicht gesondert als Baustein in seinem Programm ausgewiesen. In dieser Hinsicht wird auf neuere Arbeiten verwiesen.32 In der Darstellung der Theoriebausteine ist zwischen den Ausgangstexten ihrer Interpretation durch Claessens und einer möglichen Reinterpretation vor dem Hintergrund neuerer Literatur zu unterscheiden. Claessens hat die Theoreme von Alsberg und Miller (und in gewissem Umfang auch Portmann33) ausdrücklich als – mit dem Grundkonzept der PhA kompatible - Mittel zur Überwindung einer bei Gehlen verbliebenen Kluft zwischen naturalistischem Anspruch und theoretischer Verarbeitung eingeführt.34 Es ging ihm darum, die kulturpessimistischen Konnotationen in Gehlens Mängelwesen- und Entlastungstheorem zurückzuweisen. Dabei hat Claessens allerdings großzügig über teleologische Denkmuster in diesen Arbeiten hinweggesehen.35 So beruht Alsbergs Kritik am „Zufallsprinzip“36 auf einem Mißverständnis des Darwinschen Konzepts von Evolution, in dem kausale Notwendigkeiten und irreversible Entwicklungen ja keineswegs bestritten werden. Als zufällig im Sinne der Darwinschen Theorie ist nur das kausal voneinander unabhängige Zusammentreffen verschiedenartiger Ereignisketten anzusehen, die als evolutionäre Mechanismen unterschieden und bezeichnet werden. Im Folgenden versuche ich auch anzudeuten, inwiefern die von Claessens herausgestellten Theoriebausteine nicht nur missing links zwischen natürlicher und kultureller Evolution darstellen, sondern darüberhinaus auch den theoretischen Ansatz für die Beschreibung von evolutionären Mechanismen liefern, die unter den Bedingungen der menschlichen Kultur weiterwirken.37 2.1 Körperausschaltung38

„Noch im Aufbau von Bausteinen, die die alte Natur nicht selbst produzierte und produziert, tut sie es doch in zweierlei Weise: auch diese Bausteine überschreiten nicht die Möglichkeiten der alten Natur; und ihr Hersteller ist der Mensch, das Produkt der alten Natur.“ (NN 90) Dieses sich Ineinanderschieben von Konkretem, sinnlich Erfahrbarem und von Abstraktem, das heißt der in allem waltenden Prinzipien, das Praktizieren von Theorie, beginnt bereits beim nächtlichen Liegen oder anderen einfachen Tätigkeiten. (KA 122)

Im folgenden Abschnitt stelle ich – in der hier gebotenen Kürze – drei naturalistische Theoriebausteine vor, die in Claessens Theorieprogramm an prominenter Stelle (v.a. in IPG und KA) verwendet werden. Diese Bau-

Körperausschaltung – der Techniktheorie-Baustein – Anpassung der Werkzeuge statt Anpassung der Organe – Sprache als Werkzeug der Kultur – im Alsberg-Theorem unterbelichtete Aspekte – Technik als Variationsmechanismus. Das Entwicklungsprinzip des Tiers ist das Prinzip der "Körperanpassung"; das Entwicklungsprinzip des Menschen ist das der "Körperausschaltung mittels künstlicher Werkzeuge". (Alsberg, Schluss 6.Kap.)

Die althergebrachte Vermutung, dass hinter den Zufallskonstellationen der natürlichen Evolution ein mächtiger Konstrukteur oder zumindest ein allgemeines Entwicklungsgesetz stecken muss, beruht auf der sys-


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tematischen Unterschätzung des Umstands, dass Mutationen nur überleben können, wenn die Umweltbedingungen es zulassen. Die ökologische Nische wird für jede neue Art enger d.h. im Hinblick auf die organischen Eigenschaften anspruchsvoller als für die Ursprungspopulation, mit der sie um dieselben Ressourcen konkurriert. Das allein erzwingt schon eine irreversible Entwicklung zu komplexerer Organisation. Im Fall des Menschen haben wir es mit der paradox anmutenden Konstellation zu tun, dass die ökologische Nische zugleich enger und weiter erscheint als die aller anderen Arten. Diese Paradoxie ist es, die Alsberg mit seinem Körperausschaltungstheorem aufzulösen versucht. Der Kern des Theorems besteht darin, dass im Prozess der Menschheitsentwicklung die selektive Adaptation bestimmter körperlicher Merkmale ersetzt wurde durch die aktive Anpassung der Werkzeuge. Dieser in der natürlichen Evolution einmalige Vorgang ist nur möglich auf der Grundlage einer bereits hochentwickelten körperlichen Organisation. Zwar sind alle natürlichen Organismen in gewissem Umfang zu einer aktiven Anpassung an ihre Umweltbedingungen fähig. Aber nur wenige sind (wie zB. der Biber) in der Lage, ihre eigene Umwelt so umzugestalten, dass sie sich aktive Anpassung ersparen. Und nur der Mensch (bzw. einer seiner Vorfahren im Prozess der Hominisation) ist in die Lage gekommen, das Prinzip der Anpassung dahingehend zu modifizieren, dass es ihm auch möglich wird, sich der passiven Anpassung der körperlichen Organisation zu entziehen. Nach Alsberg ist die relativ geringe organische Spezialisierung des Menschen nicht Ursache sondern Folge der Umstellung von körperlicher Anpassung auf Anpassung seiner Werkzeuge.39 Für Claessens war das Körperausschaltungstheorem von Alsberg aus mehren Gründen der erste (meist auch erstgenannte) Baustein in seinem Theorieprogramm. Zum einen lag Alsbergs Theorem mit der scharfen Unterscheidung zwischen den Entwicklungsprinzipien „des Tieres“ und „des Menschen“ (s. Eingangszitat) voll auf der Linie der PhA40 und bot zugleich wichtige Argumente gegen die Gehlensche Mängelwesenthese. Ein Lebewesen, das intelligent genug ist, seine Umweltbedingungen soweit zu verändern, dass es sich damit dem Druck zu organischer Spezialisierung entziehen kann, kann nicht als mangelhaft bezeichnet werden. Zum anderen enthielt das Alsberg-Theorem mit dem Bezug auf Sprache als in besonderer Weise Distanz schaffendem Werkzeug des Menschen eine Komponente, die zur Ausarbeitung einer naturalistischen Theorie der kulturellen Evolution dienen konnte.41 Mit dem Bezug auf Sprache kommt ein zweiter Replikationsmechanismus in den Blick - die „lamarckistische“ Weitergabe erworbener Eigenschaften von Generation zu Generation - mit der sich der evolutionäre Vorteil der Kultur erklären lässt. Das von Alsberg herausgestellte Prinzip der organischen Nichtanpassung erscheint damit nicht als ein Ausklinken des Menschen aus der natürli-

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chen Evolution, sondern im Dienst einer beschleunigten Anpassungsfähigkeit mit den symbolisch-technischen Werkzeugen der Kultur. In seiner Rezeption hat Claessens die pathetischheroischen Züge in Alsbergs Argumentation mindestens an zwei Stellen eingeschränkt. Er hat auf die grundlegende Ambivalenz des Werkzeuggebrauchs in menschlichen Sozialsystemen hingewiesen, die darin zu erkennen ist, dass jedes Werkzeug, jede Technologie zur Waffe werden kann und meistens auch wird.42 Dass sich in der Wirksamkeit von Waffen gegen andere Lebewesen und andere Menschen in sozial folgenreicher Weise das Körperausschaltungsprinzip umkehrt, ist von Alsberg anscheinend nie reflektiert worden. Eine zweite, noch gravierendere (wenn auch nicht explizit auf das Alsberg-Theorem bezogene) Korrektur ist darin zu erkennen, dass Claessens in seiner programmatischen Schrift „Nova Natura“ (statt des von Alsberg postulierten Prinzips der „Körperbefreiung“) gerade die Reflexion fortbestehender körperlicher Abhängigkeiten zum zivilisatorischen Prinzip erhebt. Was von dem Alsbergschen Theorem – nach Abzug aller teleologischen Überhöhung – bleibt, ist die Einsicht in einen Mechanismus der Variation, der in der kulturellen Evolution bis heute zur Wirkung kommt. Dass es sich bei dem für die Menschheitsentwicklung typischen Gebrauch von symbolisch-technischen Werkzeugen um einen Mechanismus der Variation handeln könnte, mag für den an der natürlichen Evolution der Organismen geschulten Blick zunächst befremdlich erscheinen,43 weil mit dem Begriff der Technik die Vorstellung von intentionalem Handeln eng verbunden ist. In evolutionstheoretischer Perspektive zählt jedoch nicht die Absicht, sondern die Wirkung. Und in dieser Hinsicht tritt für jeden Sozialwissenschaftler, der sich mit den unbeabsichtigten Effekten technisch intendierter Handlungen beschäftigt, die Zufallskomponente hervor. Sie wird besonders deutlich in den Folgeproblemen, die aus der enormen Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme in ihrer ökologischen Nische resultieren.44 Alsberg hat die in seinem Theorem beschriebene und in der kulturellen Evolution befestigte Entwicklungstendenz gewissermaßen zu Ende gedacht, indem er prophezeite: „daß der Mensch in absehbarer Zeit die ganze Erde in seinen Pflanzengarten, in seine Haustierzucht, in seine chemisch-physikalische Werkstatt verwandelt haben wird.“45 Er war nicht der erste und ist wahrscheinlich nicht der letzte Prophet technischer Errungenschaften, dem unbeabsichtigte Folgen entgangen sind. 2.2 Gruppenbildung46 Insulation gegen selektive Repression - der Gruppenselektionstheorie-Baustein – Komplementarität der Theoreme von Miller und Alsberg (und die Vernachlässigung der Sexualität bei letzterem) –


kg: Vortragsentwurf für Dresdener Tagung über Dieter Claessens 3.-5. Febr. 2011 die Wiederentdeckung der sexuellen Selektion und die (immer noch umstrittene) Wiederentdeckung von Gruppenselektion in der neueren Evolutionstheorie – die (teleologische) Vernachlässigung der Konfliktdynamik in Millers Gruppenevolutionstheorie – die Tendenz zur Ausdehnung der Gruppe und das (in der Soziologie vernachlässigte) Größenproblem menschlicher Sozialsysteme. We are shown that the progress to man, far from being one that left individuals more uniformly adapted to their habitats, was one that kept individuals more diversified, but that steadily withdrew the living group from all environmental pressures; and to follow this progress, the later course of which is sufficiently indicated by the progressively more evolved animal groups, is to understand why the continual selection of what was better associated eventually transmuted what had been an animal species into the human population, no longer a species but a society, that was expanded into a wholly new realm of mankind, something that is not to be contained within any classification of species. But this is to learn much concerning the groupprocesses which give to man his distinctive character and remain to shape human history; and our social sciences can now be properly grounded upon biological fact. (Miller 1964, 14)

Im Theorieprogramm von Claessens stellt die Gruppenevolutionstheorie von Hugh Miller als InsulationsTheorem eine wichtige Ergänzung zu dem Körperausschaltungs-Theorem von Alsberg dar. In Letzterem bleibt ja die Frage offen, welche Umweltbedingungen (beim „Urmenschen“) die Umstellung von organischer auf technische Anpassung ermöglicht und begünstigt haben. Hier kommt das Insulationstheorem zum Zuge. Es besagt, dass jede Art von Gruppenbildung für die Individuen als Schutzschirm gegenüber dem Selektionsdruck der äußeren Umwelt fungiert. Es handelt sich also um ein Prinzip, das tief in der Naturgeschichte verankert und keineswegs nur beim Menschen oder seinen unmittelbaren Vorfahren zu beobachten ist. Zu seiner Veranschaulichung wählt Claessens sogar ein Bild aus der Pflanzenwelt.47 In der Wahl dieses Bildes steckt allerdings eine erhebliche Verkürzung des Millerschen Ansatzes einer Theorie der Gruppenevolution. Die von Claessens bevorzugte Formel „Insulation gegen selektive Pression“ lässt nicht mehr viel von der Radikalität erkennen,48 mit der sich Miller von der zu seiner Zeit erstarrten Mehrheitsposition des Darwinismus – der einseitigen Orientierung am Prinzip des Überlebens der Bestangepassten – absetzt.49 Miller beschreibt eben nicht nur einen sozialen Schutzschirm, der (ähnlich wie Alsbergs Werkzeuge) den organischen Anpassungsdruck verringert, sondern damit zugleich einen zweiten Selektionsmechanismus, der im Inneren der Sozialsysteme Entwicklungen ermöglicht, aus denen sich wesentliche Errungenschaften der kulturellen Evolution erklären lassen. Er nimmt Darwins These von der sexuellen Selektion wieder auf, die in der nachdarwinschen Schulenbildung fast völlig verdrängt worden war, heute aber wieder als Teil des Mainstreams in der Evolutionsbiologie und der Evolutionären Psychologie akzeptiert

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ist.50 Sobald sexuelle Fortpflanzung im Spiel ist, macht es evolutionstheoretisch keinen Sinn mehr, dem Überlebenskampf, also der äußeren Umweltselektion eine übergeordnete Bedeutung zuzuschreiben. Die genetischen Eigenschaften von Individuen, die im Überlebenskampf bestehen, aber nicht zur Fortpflanzung kommen, bleiben evolutionär folgenlos. Dasselbe gilt natürlich auch für Individuen, die im Überlebenskampf unterliegen, bevor sie zur Fortpflanzung kommen. Beide Mechanismen der Selektion existieren nebeneinander und schränken sich wechselseitig ein. Im Hinblick auf ihre konkrete Wirkungsweise (als proximate Faktoren51) in menschlichen Gruppen und ihren erweiterten Sozialsystemen macht es jedoch durchaus Sinn, zwischen den beiden Mechanismen der Selektion zu unterscheiden. Sobald Gruppenbildung vollzogen ist, verlagert sich ein erheblicher Teil der Umweltselektion auf die Gruppenebene. Dies kommt nicht nur darin zum Ausdruck, dass die Gruppe als Ganze sich von Naturabhängigkeiten distanziert, sondern vor allem auch darin, dass Konkurrenzkonflikte sich von der Ebene der Individuen auf die Ebene von Gruppen verlagern, die um dieselben Umweltressourcen kämpfen.52 Auf der anderen Seite entsteht damit im Inneren der Gruppen und Sozialsysteme ein Raum für kulturell regulierte Formen der Konfliktaustragung, die sich an das Grundmuster der sexuellen Selektion – nämlich die weibliche Wahl – anschließen. Das Muster besteht in dem Wettbewerb um die Gunst des Sexualpartners unter Verzicht auf dessen gewaltsame Aneignung – also unter Respektierung seiner Entscheidungsfreiheit und Gleichberechtigung. An vielen Stellen seines Werks (insbes. in KA) kommt Claessens auf die natürliche Abhängigkeit von Körpermerkmalen zu sprechen, die mit der menschlichen Sexualität zu tun haben.53 Deshalb ist es einigermaßen unwahrscheinlich, dass er nicht bemerkt haben könnte, dass Millers Gruppenevolutionstheorem nicht nur eine Ergänzung zu Alsbergs Werkzeugtheorem darstellt, sondern mit dem Bezug auf Sexualität auch eine zentrale Blindstelle im Alsbergschen „Menschheitsprinzip“ aufdeckt.54 Die sexuelle Dimorphie kommt bei Alsberg noch nicht einmal als eine bemerkenswerte Ausnahme vom Körperausschlußprinzip vor.55 Dass Claessens Millers Gruppenevolutionstheorie nicht an erster Stelle seiner naturalistischen Theoriebausteine eingeführt hat, sondern betont, dass Alsbergs und Millers Theoreme sich ergänzen, ist wohl in erster Linie mit seiner Ausrichtung auf die Diskussion innerhalb der PhA zu erklären.56 Es könnte aber auch an dem penetranten Fortschrittsoptimismus liegen, der Millers Theorem durchzieht. Mit dem Millerschen Ansatz allein können von Claessen beachtete Probleme nicht angemessen beschrieben wirden, die aus der inhärenten Dynamik menschlicher Sozialsysteme zur Ausdehnung


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entspringen.57 In dieser Hinsicht bietet die Verbindung mit dem Alsbergschen Technik-Baustein zusätzliche Erklärungsmöglichkeiten. Was im Begriff der Insulation nur nach Ein- und Abgrenzung klingt, wird doch laufend dynamisiert durch die mit technischen Mitteln bewerkstelligte Tendenz zur Ausdehnung.58 Hierin liegt eine Konfliktdynamik, auf die im Folgenden noch einzugehen sein wird. Doch zunächst muss ich noch den dritten naturalistischen Baustein in Claessens Theorieprogramm umreissen. 2.3 Kindheit59 Die lange Kindheit – der Ontogenese-Theoriebaustein – Einwände gegen Gehlens Interpretation der Neotenie-Phänomene im Rekurs auf Portmann – Einwände gegen die aus dem Neotenie-Theorem abgeleiteten Flexibilitätsannahmen in der Evolutionären Psychologie – Claessens Interpretation des Portmannschen Theorems vom „intrauterinen Frühjahr“ im Rahmen der Gruppenevolutionstheorie – Offenheit und Geschlossenheit der Primärsozialisation als Moment der Spezifikation des kulturellen Replikationsmechanismus. Die lange Kindheit erscheint uns nicht bloß als somatische Grundsituation, sondern in Zuordnung zur weltoffenen Existenzweise des Menschen. Diese Langsamkeit ist nicht die Folge einer Störung im Gefüge des als Norm gedachten tierischen Entwicklungsganges, nicht eine Störung, die unser psychisches Verhalten aus einer natürlichen Harmonie herausführte, nein, diese Langsamkeit ist in der Anlage unserer Ontogenese ebenso gegeben, als Faktor zur Verwirklichung der Endgestalt, wie irgendwelche andere Faktoren unseres Werdeganges. (Portmann 1969, 126)

Im Unterschied zu den beiden erstgenannten Theoremen geht es bei dem dritten Baustein nicht um ein Theorem, das erst von Claessens entdeckt (bzw. anhand einer unbeachtet gebliebenen Publikation wiederentdeckt) worden ist. Vielmehr handelt es sich hier um Eines, das von Gehlen (1972)60 und in anderer Fassung von Portmann (1944)61 bereits in die PhA eingeführt worden ist und das auch weit über diese Denkrichtung hinaus in der Evolutionsbiologie und Entwicklungspsychologie Verbreitung gefunden hat.62 Es bezieht sich auf Phänomene verzögerter organischer Entwicklung im Vergleich bestimmter Lebewesen und im Falle des Menschen auf die auffällige Unfertigkeit seiner organischen Entwicklung bei der Geburt und die anhaltende Fixierung von Merkmalen der kindlichen und jugendlichen Entwicklung im gesamten Lebensprozess. Diese Phänomene sind in Portmanns Interpretation als „physiologische Frühgeburt“ in Verbindung mit einer „extrauterinen Frühzeit“ beim Menschen zu einer naturalistischen Fundierung der erkenntnisleitenden Annahmen der PhA von der „Weltoffenheit“ (Scheler) und „exzentrischen Positionalität“ (Plessner) des Menschen gemacht und in dieser Form auch von Claessens aufgenommen worden.63 Theoretische Reflexionen über die außergewöhnlich lange Kindheit beim Menschen sind nun allerdings

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gerade wegen der Flexibilitätsannahmen, die damit verbunden werden, in der Evolutionsbiologie umstritten und (in der Fassung als Neotenie-Theorem) von seiten der Evolutionären Psychologie dem (wegen seiner unhaltbaren Plastizitätsannahmen) inkriminierten „standard social sciences model“ zugerechnet worden.64 G.Miller, dem in der neueren Forschungsdiskussion wesentliche Verdienste bei der Wiederentdeckung der Darwinschen Theorie der sexuellen Selektion zukommen, hat deshalb vorgeschlagen, die Phänomene der Neotenie nicht länger als Ursachen der Menscheitsentwicklung sondern als Folgeerscheinungen sexueller Selektion zu betrachten.65 Diese Umkehrung der Kausalannahmen ist nun allerdings auch schon in den von Claessens herangezogenen Arbeiten von Alsberg und H. Miller zu finden. Sie hat Konsequenzen, die auch zentrale Annahmen der PhA bezüglich der Ausnahmestellung des Menschen in der natürlichen Evolution betreffen. Diese Konsequenzen waren für Claessens anscheinend noch nicht erkennbar, als er sich in seinen „Studien zur zweiten, sozio-kulturellen Geburt des Menschen“ zum ersten Mal auf das Portmannsche Theorem vom »extrauterinen Frühjahr« stützte. In „Familie und Wertsystem“ (1962, 19672) dominieren noch die im mainstream der Soziologie bevorzugten Flexibilitätsannahmen, die auch in dem vorangestellten Zitat „man is not born social, he is made social ...“ (Don Martindale) plakativ zum Ausdruck kommen. Bei Claessens ist damit nicht die Null-Hypothese vom Menschen als unbeschriebenem Blatt verbunden.66 Mit seinem Schlüsselbegriff der Soziabilisierung geht er aber noch davon aus, dass spezifisch soziale Anlagen in der Ontogenese nicht gegeben sind. Diese Argumentation ändert sich erst in IPG und KA, wo er unter Bezug auf die Arbeiten von Alsberg und Miller sich von der kulturkritischen Deutung der Neotenie-Phänomene durch Gehlen und Lorenz absetzt. Neotonie wird nun nicht mehr (als Ausgangsbedingung der Menschheitsentwicklung) vorausgesetzt, sondern als Ergebnis phylogenetischer Prozesse der Körperausschaltung und Insulation erklärt. Wenn es sich aber bei den Neoteniephänomenen i.S. der Insulationsthese Millers67 selbst schon um selektive Adaptationen handelt, gibt es keinen Grund mehr, sie als allgemeine Weltoffenheit i.S. einer Ausnahmestellung des Menschen in der natürlichen Welt zu interpretieren. Es gibt vielmehr gute Gründe für die Annahme spezifischer Offenheit für soziale Wahrnehmungen – also besonderer Potentiale, die in den Prozessen der Hominisation und in den Sozialsystemen der Steinzeit als selektive Adaptationen evoluierten. Dazu gehören dann nicht nur Gemeinschaftspraktiken wie Tanz, Musik und sprachliche Kommunikation, sondern auch Praktiken zur Entdeckung und Bestrafung von Betrügern, Trittbrettfahrern und anderen Sozialschädlingen. Neotenie wäre dann ein genetisch verankerter Effekt sexuell basierter Gruppenevolution68 und die Ausdeh-


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nung der Nachwuchspflege beim Menschen nicht nur eine praktische Konsequenz der natürlichen Unfertigkeit des Kindes, sondern darüberhinaus eine kulturelle Reproduktion des auf der Makroebene phylogenetisch ausgedehnten Schutzraums auf der Mikroebene für ontogenetische Entwicklung.69 In dieser evolutionären Perspektive wird erkennbar, dass der soziale Schutzraum, der die Phänomene der langen Kindheit beim Menschen kulturell umschließt, eine Doppelfunktion hat: Er dient keineswegs nur der konstitutionellen Offenheit des Menschen und damit der Beschleunigung der kulturellen Evolution, sondern auch dem Schutz vor allzu großer Beschleunigung und der Überforderung der in der natürlichen Evolution entwickelten Dispositionen zur aktiven Anpassung an ihre soziale Umwelt.70 Der Mensch ist demnach ontogenetisch als ein Hybridwesen zu betrachten, dessen organische Ausstattung nicht nur die Schnittstellen für die kulturell beschleunigte Sonderevolution beinhaltet, sondern auch natürliche Widerstandsmomente gegen die allzu rasche Ausdehnung seiner kulturellen Sphäre auf Kosten der organischen Entwicklung. Infolgedessen muss die Menschheit aufwändige Lernprozesse organisieren, um die Individuen in jeder Generation aufs Neue an die selbstgeschaffenen Umstände ihrer Sozialsysteme anzupassen.71 Es handelt sich um einen Aufwand, der in kulturellen Sozialsystemen nur um den Preis katastrophaler Zivilisationsbrüche vernachlässigt werden kann.72 Vor dem hier skizzierten Hintergrund wird nun auch erkennbar, dass in der Beschreibung der kindlichen Sozialisation ein in Theorien der soziokulturellen Evolution bisher unzureichend genutztes Potential zur Bestimmung der elementaren Einheiten steckt, die diese Sonderform der Evolution ermöglichen.73 In einer Theorie der kulturellen Evolution, die nach Kriterien der Darwinschen Theorie anschlußfähig bleiben soll,74 kann es nicht ausreichen, den Replikationsmechanismus auf Alles zu beziehen, was sich mit den Mitteln symbolisch generalisierter Kommunikation formulieren und (in natürlichen und technisch erweiterten Medien) abspeichern lässt. Zur Spezifikation der in dieser Hinsicht relevanten Einheiten – und damit der Wirkungsweise des Replikationsmechanismus – ist der natürliche Filter hinzuzunehmen, der sich in Prozessen der primären Sozialisation zeigt. Es geht dabei um jenen Teil menschlicher Lernprozesse, der aus Gründen der organischen Entwicklung noch ohne reflexive Distanzierungsmittel auskommt – und deshalb einerseits in informationeller Hinsicht als besonders offen, andererseits aber in operativer Hinsicht als besonders geschlossen betrachtet werden kann.

3. Zur Fortsetzung75 Theoretische Verknüpfung der Bausteine mit Mechanismen der kulturellen Evolution – der Bruch mit der „alten Kultur“ und die

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Entdeckung einer „neuen Natur“ in Claessens Theorieprogramm – zur Weiterentwicklung des Claessenschen Theorieprogramms im Hinblick auf fortgeschrittene Probleme der Moderne. Sicher ist »Kultur« die Wiege — nämlich der Schonfrist gewährende Raum des Menschen. Aber es gilt zu fragen, ob sie nicht jenes Fenster war, durch das dem Kind — nämlich dem früheren Menschen — die feindliche Welt vertraut werden konnte und mußte. Und ob jetzt nicht zur Tür hinausgegangen werden muß. (Nova Natura 12)

Als Ergebnis des kurzen Rückblicks auf die drei Bausteine in Claessens Theorieprogramm ist festzuhalten, dass damit nicht nur Verbindungsstücke zwischen natürlicher und kultureller Evolution markiert werden, sondern auch Faktoren, die andauernd in der kulturellen Evolution zur Wirkung kommen: Mit dem Körperausschlussprinzip kann in den Formen der Technisierung der Variationsmechanismus, mit dem Insulationsprinzip kann in den (zweifachen) Formen der internen und externen Konkurrenz der Selektionsmechanismus und mit dem Theorem des extrauterinen Schutzraums in den Formen der intergenerativen Tradierung der Replikationsmechanismus der kulturellen Evolution gekennzeichnet werden. In Claessens Theorieprogramm ist der Rekurs auf die Naturgeschichte der Menschheit ein Mittel zur Diagnose von Problemen der gegenwärtigen Gesellschaft.76 Es geht darum zu erklären, warum die riskante Sonderentwicklung der kulturellen Evolution in der Moderne zu einem doppelten Bruch geführt hat (und welche Mittel die Gesellschaft hat, um ihn zu heilen): zum Bruch mit der „alten Natur“, den Orientierungen aus dem natürlichen Erbe der Steinzeitgesellschaften, der sich noch laufend vertieft und in jeder Generation aufs Neue kulturell verarbeitet werden muss; und zum Bruch mit der „alten Kultur“, die soziale Sicherheiten, aber auch gewaltige Konfliktpotentiale enthält, die in den global ausgedehnten Sozialsystemen der Moderne so nicht mehr fortgesetzt werden können. Zu den von Claessens vorrangig beobachteten Phänomenen gehört die Freisetzung natürlicher Dispositionen von ihrer strikten Regulierung in einfachen und traditionellen Gesellschaften und die Wiederkehr von Konkurrenz und entsprechenden Konflikten in verschiedenen Formen und auf verschiedenen Ebenen der modernen Gesellschaft. Das sind Phänomene, die in anderen Zeitdiagnosen zum Auslöser für ein Unbehagen werden, das sich nach der vermeintlichen Sicherheit tradierter Formen der Sozialität zurücksehnt und in der Freisetzung der Individuen vor allem Gefahren sieht. Gegen diese moderne Form eines kulturalistischen Fundamentalismus richtet sich Claessens mit seinen Ausführungen unter der programmatischen Formel von der neuen Natürlichkeit (Nova Natura) und mit seinen Überlegungen zur Verbindung zwischen unseren natürlichen Nahweltorientierungen und den Abstraktionsanforderungen unserer erweiterten Sozialsysteme.


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Beides - die Bedeutung des enormen Größenwachstums menschlicher Sozialsysteme77 wie auch die andauernde Abhängigkeit der menschlichen Sozialität von ihren natürlichen Bedingungen - sind auch in der neueren Soziologie (zumindest in der deutschen78) bis heute weitgehend ausgeblendete Themen.79 3.1 Zurück zur Natur80 Rückkehr zur Natur als Reflexionsprogramm – die Ebenendifferenzierung der modernen Gesellschaft als Bedingung der Freisetzung von Gruppenzwängen – Parallelen zwischen ontogenetischen und phylogenetischen Bedingungen der Freisetzung natürlicher Bedürfnisse und Fähigkeiten – soziologische Reflexion der Kultur als Mittel zu ihrer Zivilisierung. »Neue Natur« heißt es, nicht »Nova Cultura«: weil der Mensch es sich jetzt leisten kann, sich als »Naturwesen« zu akzeptieren. Er weiß, daß alle lebenden Wesen phylogenetisch so alt sind wie er selbst, er so alt wie sie. Er weiß, daß er den alten, schützenden Stolz fallen lassen kann, daß »Natur« ihn »hat« — weil er sie hat. (Nova Natura 95f )

Die Ausführungen von Claessens in „Nova Natura“81 sind nicht als romantische Überhöhung „unberührter“ Natur oder als Bekenntnisse zum einfachen Leben zu verstehen. Es geht ihm vielmehr darum, sein Theorieprogramm (und die Philosophische Anthropologie durch Soziologisierung) vom Ballast einer Kulturkritik zu befreien, die die Entwicklungen der Moderne als Gefahr für tradierte kulturelle Errungenschaften (Institutionen, die den Menschen vor sich selbst schützen) darstellt. Die moderne Gesellschaft enthält nicht nur Gefahren sondern auch die Chance, dass der Mensch natürliche Einstellungen und Bedürfnisse, die in der tradierten Kultur unterdrückt werden mussten, in zivilisierter Form wieder entfalten kann. Es gibt kein Zurück zur Natur im Sinnes eines Vermeidens der Kulturzwänge, aber es gibt die Möglichkeit des reflexiven Einholens von Naturabhängigkeiten, das Spielräume für die Freisetzung natürlicher Anlagen innerhalb der Kultur eröffnet. In den auf die Moderne bezogenen Formen der Kulturkritik wird nicht nur der evolutionäre Zusammenhang zwischen natürlicher und kultureller Evolution geleugnet, sondern vor allem auch das Ausmaß an Zwängen, das in der menschlichen Kultur als Ausläufer und Fortsetzung der Naturgeschichte der Menschheit zu erkennen ist.82 Der Verzicht auf Reflexion des naturalen Erbes in der Kultur erscheint als gravierendes Hindernis zur Zivilisierung der menschlichen Kultur83 gegenüber ihren dunklen Antriebskräften. Diese Zielvorstellung fasst Claessens in der Metapher vom Erwachsenwerden der Menschheit.84 In ontogenetischer Perspektive geht es darum, die frühen Prägungen im kulturellen Schonraum der Kindheit reflexiv zu verarbeiten. Eine ähnliche Aufgabe stellt sich heute in phylogenetischer Per-

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spektive für die ganze Menschheit. Beide Aufgabenstellungen sind für Claessens auch praktisch miteinander verbunden – allerdings nicht i.S. analog determinierter Entwicklungsstufen, sondern allein i.S. der Freiheitsgewinne, die durch Distanzierung und Reflexion zu erzielen sind.85 Was in den von Umweltdruck entlasteten Binnenräumen menschlicher Sozialsysteme an gerichteter Komplexitätssteigerung zu beobachten ist, entsteht durch Pfadabhängigkeit der einmal evoluierten Strukturen bzw. Praktiken, kann aber zu einer evolutionär stabilen Strategie nur in dem Maße werden, wie es mit den natürlichen Voraussetzungen verträglich bleibt. Hier hat die Kultur im Mechanismus der intergenerativen Tradierung einen natürlichen Bremsmechanismus eingebaut, der die soziokulturelle Evolution vor der Weitergabe allzu komplexer Informationen schützt.86 Die primäre Sozialisation hat beim Menschen im Wortsinn religiösen Charakter. Was hier sozial gelernt wird, hinterläßt lebenslang bindende Wirkungen, gerade weil reflexive Distanzierung in den primordialen Lernprozessen noch nicht zur Verfügung steht. Die konservative Form der Stabilisierung menschlicher Orientierungen im kulturellen Replikationsmechanismus wird allerdings zum Problem angesichts des beschleunigten Wandels kultureller Sozialsysteme im Zuge ihrer enormen Ausdehnung und kommunikativen Verdichtung. Deshalb wird in der Moderne ein gewaltiger Aufwand getrieben, um die Anpassung menschlicher Orientierungen an die veränderten Binnenstrukturen ihrer Sozialsysteme zu bewerkstelligen. Diese Anpassung funktioniert jedoch nur dann, wenn sie nicht bloß als flüchtiges Resultat schulischen Selektionsdrucks zustande kommt.87 Sie kann zur Stabilisierung der modernen Gesellschaft beitragen, wenn sie sich nicht nur in den Reflexionsformen der Individuen auf der Mikroebene88, sondern auch in den Organisationsformen der Gesellschaft auf der Makroebene niederschlägt.89 Was in ontogenetischer Perspektive durch die schulische Organisation sekundärer Sozialisationsprozesse – auf Wissenschaft gegründete Bildung – bewirkt werden soll, wäre in phylogenetischer Perspektive die Aufgabe einer evolutionstheoretisch reflektierten Sozialwissenschaft. Die Anwendung der modernen Evolutionstheorie auf die menschliche Kultur kann also im Sinne Claessens als ein wissenschaftliches Begleitprogramm der Rückkehr des Menschen zur Natur verstanden werden – einerseits theoretische Reflexion seines Werdegangs und andererseits auch praktische Hilfe zur Abkehr von der religiös-elitären Überhöhung der alten Kultur und von der religiös-angstbesetzten Abgrenzung gegenüber den natürlichen Ursprüngen. 3.2 Zivilisierung der Kultur90 Ambivalenzen der Kultur als Preis des sozialen Schutzschirms – Externalisierung von Konkurrenzkonflikten und „Heiligung der


kg: Vortragsentwurf für Dresdener Tagung über Dieter Claessens 3.-5. Febr. 2011 Gruppe“ – Binnendifferenzierung und soziale Schichtung, funktionale Differenzierung und neue Ebenendifferenzierung – zunehmende Dysfunktionalität tradierter Konfliktverarbeitungsmechanismen in der Moderne und die Wiedereinführung von Konkurrenz in der zivilisierten Form von Wettbewerb. Die Fähigkeit zur Organisation großer und größter Gesellschaften wird dem Menschen als Folge der Symbolisierungsfähigkeit seines Neocortex zugeschrieben. Kann sich der Mensch niemals aus seiner WirbeltierfamilienGeschichte herauslösen, dann muß geklärt werden, wie er sich mit einem Abstraktum (und das ist alles, was sich oberhalb von Familien- und kleinen Verwandtschaftssystemen erhebt) emotional identifizieren kann, wie er dazu motiviert sein kann. Umgekehrt: Kann er sich in sehr abstrakten Verhältnissen - sie regulierend - motiviert verhalten, dann muß erklärt werden, wie er das aus seiner Wirbeltierfamilien-Geschichte heraus kann. ... Summa summarum bleiben also mehr als zwei Millionen Jahre des Menschen im Gruppenleben, über die bisher zu wenig nachgedacht worden ist. Dabei kann die kleine Gruppe durchaus als »kleiner Leviathan« bezeichnet werden. ... (KA, 87)

In seiner Interpretation des Insulationstheorems hat Claessens herausgestellt, dass die Schutzfunktion der Gruppe vor äußerem Selektionsdruck nur um den Preis zu haben ist, dass im Inneren der Gruppe (wie auch jedes größeren Sozialsystems) ein sekundärer Selektionsdruck aufgebaut wird – durch internen Wettbewerb oder Hierarchie bzw. eine Kombination von Beidem. Der nach innen verlagerte Druck ist als Ursache dafür anzusehen, dass sekundäre Formen der Spezialisierung - also statt einer Spezialisierung der Organe eine Spezialisierung der Organisation des Sozialsystems - als evolutionäre Anpassungsleistungen entstehen. Mit seiner Formulierung vom „kleinen Leviathan“ macht Claessens (entgegen der vorherrschenden Meinung in Ethnologie und Soziologie91) deutlich, dass der soziale Druck bereits in den einfachen Stammesgesellschaften – also in der längsten Phase der Menschheitsentwicklung – sehr hoch war. Für Claessens ist eine grundlegende Ambivalenz der Kultur dadurch gegeben, dass die Abhängigkeit der Individuen von der sozialen Gruppe sich (mit der Distanzierung vom Selelektionsdruck der natürlichen Umwelt) enorm erhöht. Er spricht deshalb auch – allerdings weniger emphatisch als Durkheim92 und weniger dramatisch als Freud93 – von einer „Heiligung der Gruppe“.94 Der kleine Leviathan hat es prinzipiell schon mit denselben Ordnungsproblemen (nämlich internen und externen Konkurrenzkonflikten) zu tun, die Hobbes zu seiner Formel vom Leviathan Staat bewegten. Der große Leviathan hat allerdings Probleme zu lösen, die der Kleine aufgrund der enormen Ausdehnung der Sozialsysteme – in Folge der Evolution des Werkzeuggebrauchs etwa durch Ackerbau und Viehzucht – nicht mehr verarbeiten konnte. Jede Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme mit technischen Mitteln hat eine Gefährdung (Variation) ihrer internen Ordnung zur

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Folge.95 Konkurrenzkonflikte im Inneren werden teils durch Externalisierung96 teils durch Binnendifferenzierung aufgefangen. Unter dem Schutzschirm der Gruppe entstehen stratifikatorische Differenzierungsformen. Nach Claessens handelt es sich hier ursprünglich um die Differenzierung zwischen einer Oberschicht von Individuen, die aktiv an der Schaffung und Sicherung des Schutzschirms beteiligt sind und einer Unterschicht, die die diesen Schutz eher passiv genießt.97 Mit dieser Ebenendifferenzierung erschließen sich gruppenspezifische Lebensformen, in denen das Genießen und die entsprechende kulturelle Verfeinerung zunächst nur der Oberschicht zufällt.98 Erst im Übergang zur Moderne mildert sich der kulturelle Anpassungsdruck zur arbeitsteiligen Spezialisierung von Menschengruppen in der Gesellschaft. Ihre Binnendifferenzierung ändert sich dahingehend, dass nicht mehr die gesamte Person einer speziellen Funktion sich anpassen muss, sondern jede Person zugleich vielen Funktionen. Funktionale Differenzierung geht einher mit gesteigerter Divergenz der Ebenen sozialen Handelns und Erlebens: Erhöhte Disziplinierung der Individuen auf der Makroebene der Organisationen und Freisetzung der Individuen von Gruppenzwängen auf der Mikroebene.99 In diesem Spannungsfeld sind die Phänomene angesiedelt, auf die die neuere Kulturkritik mit der Formel vom „Unbehagen an der Moderne“,100 Claessens hingegen mit der Formel von der „neuen Natürlichkeit“ reagiert. Der tief in den Mechanismen der Gruppenselektion verankerte Doppelcharakter der menschlichen Kultur zwischen Freisetzung und Repression wird aus moderner Sicht häufig zur einen oder anderen Seite hin aufgelöst. So liegt es nahe, die Konstruktion des äußeren Feindes als Mechanismus der Stabilisierung zu deuten, der von Herrschaftseliten zum eigenen Vorteil eingesetzt wird. In evolutionärer Perspektive sind jedoch Konkurrenzkonflikte zwischen Gruppen als Primärphänomene zu betrachten und der Druck zur Durchsetzung sozialverträglicher Verhaltensmuster im Inneren der Gruppen als Mittel im Überlebenskampf.101 Der Doppelcharakter der menschlichen Kultur reproduziert sich gerade auch in ihrem Werkzeuggebrauch: Was intern als Mittel des kooperativen Ausbaus der soziokulturellen Nische gebraucht wird, ist im Außenverhältnis ein Mittel der gewaltsamen Auseinandersetzung, Waffe in der Konkurrenz mit anderen Sozialsystemen.102 Dass dieser Doppelcharakter der menschlichen Kultur in der Moderne als ambivalent empfunden wird, hängt mit Problemen zusammen, die Claessens unter dem Aspekt der Größenausdehnung der menschlichen Gesellschaft thematisiert und (in KA) vorrangig unter dem Aspekt kognitiver und emotionaler Anpassung interpretiert hat.103 Was er dabei noch nicht gesehen hat, sind die neuen, religiös aufgeladenen Konfliktkonstellationen, die mit der globalen Ausdehnung der menschlichen Gesellschaft entstehen.104 Die in Jahrtausenden kulturel-


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ler Entwicklung bewährten Formen der menschlichen Doppelmoral – friedlich nach Innen, kriegerisch nach Außen – werden zusehends dysfunktional unter den Bedingungen einer global ausgedehnten Gesellschaft, für die es keine externen Konkurrenten mehr gibt.105 Alle Kriege werden zu Weltbürgerkriegen, die tradierten Formen der Konfliktexternalisierung scheitern und kehren (in den antagonistischen Formen fundamentalistischer Bewegungen) als virulente Bedrohung der inneren Ordnung der modernen Gesellschaft zurück. Obwohl Claessens diese Konfliktkonstellation in den heute sichtbaren Formen noch nicht vor Augen hatte, hat er sie doch in seiner Beschreibung des doppelten Bruchs (mit Natur und Kultur in ihren überlieferten Formen) antezipiert und auf zeitgemäßere Möglichkeiten der Konfliktverarbeitung hingewiesen. Die Möglichkeit zur Zivilisierung der Kultur beruht auf der Ersetzung tradierter Formen der Konfliktexternalisierung (Exklusion, Krieg und transzendente Legitimation) durch intern geregelte Austragungsformen von Konkurrenzkonflikten (auf verschiedenen Ebenen der Sozialität).106

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Anhang Schematische Darstellungen Die in den beiden Schemata unterstellten Argumentationsketten sind in dem Vortragstext und den Anmerkungen nur punktuell angedeutet. Ihre Ausführung ist einer umfangreicheren Darstellung vorbehalten.

1. Zur Platzierung von Claessens Theoriebausteinen im rekursiven Zusammenwirken evolutionärer Mechanismen

Selektion ← Wettbewerb Gruppenbildung – Konkurrenz Binnendifferenzierung

Umwelten Metaebene

Gesellschaften emergente kulturelle Metaeinheiten

Restabilisation ↓

Ebenendifferenzierung Sexualität Austausch downward causation reembedding

Mikroebene

Situationen natürlich und kulturell vorgeprägte Mikrokonstellationen Erleben

Institutionen (latente, operativ geschlossene, replikationsfähige Elementareinheiten) Tradierung Kindheit – Sozialisation Take-off → Replikation

Systeme Organisationen operativ offene Kollektiveinheiten

Makroebene

Technisierung Körperausschaltung upward causation disembedding

↑ Variation

Individuen intentionale Träger kultureller Prozesse

Mikroebene

Handeln

2. Zur Gegenüberstellung der kulturellen Verarbeitungsmuster von Umweltselektion und sexueller Selektion

Natürliche Formen der Selektion

UmweltSelektion

Sexuelle Selektion

Konkurrenz um Überlebenschancen

Konkurrenz um Fortpflanzungschancen

Verwandtschaft

Reziprozität

Kulturelle Formen der Selektion

Interne Unterdrückung und Externalisierung

Transformation in geregelten Wettbewerb

Kulturelle Bindungsund Konfliktmuster

Opfer-Praktiken: Inklusion und Exklusion

Tausch-Praktiken: Freiheit und Gleichheit

Natürliche Konfliktmuster Natürliche Kooperationsmuster


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Anmerkungen und Textauszüge 1 2 3

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Zu 1. Programm Zu 1.1 Soziologische Theorie statt Kulturkritik In dieser Hinsicht hat sich Claessens gegen saubere Theorieabgrenzungen ausgesprochen und dabei weder den Vorwurf des Eklektizismus noch den des Reduktionismus gescheut: „Wir sind seit langem souverän genug, um uns über willkürlich gezogene Theoriegrenzen oder voneinander abgesetzte »Ansätze« hinwegsetzen zu können. M. E. muß man heute seine theoretischen Auffassungen aus den brauchbaren Teilen interessanter Theorien zusammensetzen. Man muß heute eklektisch arbeiten. Wenn das nicht geschieht, so hat das mit Sicherheit seine Gründe im akademischen Milieu und seinen Aufstiegs- und Geltungsbedingungen (siehe dazu Ludwik Fleck!). Theorieabgrenzungen mögen auch heute noch akademischer Profilierung dienen, sie sind in der Regel veraltet. Insofern kann nur grob mißbräuchliche Verwendung z. B. biologischer Daten den Vorwurf eines »Biologismus« rechtfertigen, und umgekehrt ist eine Soziologie ohne Blick auf evolutionäre Grundlagen menschlicher Gesellschaften und menschlichen Handelns, d. h. ohne in diesem Sinne zu verstehenden »Reduktionismus« nicht mehr up to date!“ Claessens 1989, 309 Die bis heute unveränderte Lage auf seiten der Kultur- und Sozialwissenschaften hat der Altertumswissenschaftler Burkert wiefolgt charakterisiert: „Die Auseinandersetzung läuft seit mehr als hundert Jahren. Philosophen, Historiker und Soziologen haben angesichts des Triumphes der Naturwissenschaften ihre Verteidigungslinien aufgebaut; ein Schlagwort der Abwehr ist der Vorwurf des ,Biologismus', des ,biologischen Reduktionismus', sobald geistigkulturelle Phänomene mit Biologie in Zusammenhang gebracht werden, als sollte Geistiges simplifizierend auf Materielles zurückgeführt werden. Dabei ist moderne Biologie nicht einfacher, sondern eher weit komplexer als irgend eine Geisteswissenschaft.“ (Burkert 1998, 21) Speziell in der deutschen Theorietradition ist die Abwehrfront noch verstärkt worden in Folge des legitimationsideologischen Mißbrauchs von Versatzstücken der Darwinschen Theorie in der Politik. In dieser Hinsicht wären hier noch Hinweise auf die hohe Akzeptanz des Gehlenschen Mängelwesen-Theorems in der Soziologie – auch bei Vertretern, die ansonsten keine konservative Position vertreten wie zB in der Wissenssoziologie von Berger/Luckmann und in diversen Sozialisationstheorien – aufzunehmen. „Der Vorwurf metaphysischer Konstruktionen kann den Denkern der Philosophischen Anthropologie nicht erspart werden; er ist in den bisherigen Darstellungen auch oft genug implizite und expressis verbis gemacht worden. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit der These von der Gebrochenheit des Menschen und der daraus resultierenden Gefährdetheit ein - biblischer, nun säkularisierter - Topos wiederaufgenommen wurde, der einfach deshalb nicht zu übergehen ist, weil er feststellbar, »verifizierbar« ist: Der Mensch ist störbarer als das Tier. Das ist allerdings ein Faktum, zu dessen Feststellung keine Metaphysik herangezogen werden muß. Nur stellt sich die Frage, ob es so

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behandelt werden muß wie in der Philosophischen Anthropologie und ob es da überhaupt konsequent behandelt wurde. Zum Beispiel wird dort nicht gefragt, was der derzeitige Zustand des Menschen im Sinne eines Neo-Evolutionismus bedeuten könnte.“ (IPG, 45) „...in letzter Zeit wenden sich bekannte Autoren, wie Bernhard Rensch oder Theodosius Dobzhansky - ähnlich Konrad Lorenz den kulturbesorgten Standpunkt einnehmend der Gefährdungsthese zu; dies wohl aber mehr aus der Tendenz zu neuem Kulturpessimismus, für den die direkt oder indirekt militanten Entwicklungen der Technik Pate gestanden haben dürften, als aus theoretischer Einsicht. Man muß immer wieder darauf hinweisen, daß zwei Gefährdungsaspekte durcheinanderzulaufen drohen: 1. Die anthropologische Gefährdetheit des Menschen qua Irritierbarkeit und 2. die Selbstgefährdetheit des modernen Menschen. Man könnte sogar meinen, daß dieser Kulturpessimismus oder daß diese Kultursorge (welche im übrigen berechtigt wäre, schlüge sie nur in politische Aktion um) eine gewisse Kompensationsfunktion mindestens dort hat, wo die »Instinktverunsicherung« aus dem Instinkt abgeleitet werden müßte. ... Zur Untersuchung des Wesens des Menschen ist auf diese Weise aber kein - oder kaum – theoretischer Boden zu gewinnen. Es ergibt sich dann der Weg, für den Menschen so - wie oben geschildert - fortzufahren, oder aber zu überlegen, welche Prinzipien eventuell noch wirksam gewesen sein mögen, damit der Mensch entstand.“ (IPG 74f) 7 Die von Claessens nicht mitvollzogene Tendenz der Klassiker der PhA zur scharfen Abgrenzung zwischen Mensch und Tier ist ein eher unreflektiert mitgeschlepptes Moment der religiösen Tradition (s. insbes. bei Scheler). Dass dieses Abgrenzungsbedürfnis gerade in den Hochreligionen so ausgeprägt ist, hat mit der tief in der kulturellen Evolution verankerten Abwehr gegen die „alte Natur“ zu tun. Es ist also gerade die Unsicherheit darüber, ob die kulturellen Errungenschaften sich im Umgang mit den natürlichen Antrieben als stark genug erweisen, die die Schärfe der Abgrenzung erklärt. Freud hätte hier wohl von der Wiederkehr des Verdrängten gesprochen. 8 Claessens hat in seinem Theorieansatz den im mainstream der Soziologie fast völlig ignorierten Umstand herausgestellt, dass Sozialität nicht nur bei Menschen vorkommt. (Seine Bezugsquellen dafür waren u.a. E.W. Count, Das Biogramm und Portmann, Das Tier als soziales Wesen.) Wer Claessens Theorieansatz umstandslos in eine Reihe mit den Hauptvertretern der PhA stellt (s. Fischer in seinem Vortrag auf der Dresdener Tagung) verkennt m.E., dass es sich dabei nicht nur um eine Pointe gegen die Naturvergessenheit der Soziologie, sondern auch um eine Pointe gegen die Sozialvergessenheit der PhA handelt. Die Bezeichnung seines Ansatzes als soziologische Anthropologie richtet sich explizit gegen die Unterbelichtung sozialer Faktoren in der Erklärung der evolutionären Sonderstellung des Menschen. (S. dazu die Ausf. in 2.2) 9 Der behavioristische Determinismus, der im Marxismus tradiert wurde, wurde dann noch einmal zugespitzt in den totalen Plastizitätsannahmen der damals neu aufkommenden feministischen Theorie. 10 „... Solche totalen Ansprüche verraten die noch mangelnde Einsicht, sind Zeichen von »Emanzipationsstreben«, Tendenz zum Losreißen von der Vergangenheit; verräterische


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Zeichen von Konzeptionslosigkeit, von mangelnder »Theorie«. »Losreißen« ist nicht die Haltung des Erwachsenen, er hat sich »hindurchzuarbeiten«, »working through« ist die neue realistische Kategorie. Leistung und Hemmnisse der alten Kultur sind durchzuarbeiten; Chancen und Gefahren des neuen Verhältnisses.“ (Nova Natura 93) 11 Die folgende Passage aus Nova Natura klingt zunächst wie ein Zugeständnis an den 68er Zeitgeist. Hier ist aber zu sehen, dass Claessens die Wettbewerbsordnung des modernen Kapitalismus als Übergangsstruktur zur Wiederfreisetzung der menschlichen Natur interpretiert: „Mit den Prozessen, die die Titel »Verweltlichung« (Säkularisierung), Revolution, Demokratisierung, Egalisierung bekommen haben, beginnt eine neue Phase der Distanzierung, eine Phase neuer Entfremdung und der Entstehung neuer Ängste. In ihr zu einer neuen Befreundungsleistung zu kommen, scheint unsere Aufgabe zu sein. Ihr widersetzen sich alle alten und auch die Übergangsstrukturen, die »Kapitalismus«, aber auch »bürokratischer Sozialismus« genannt werden. Der Weg jedoch scheint vorgezeichnet zu sein — auch wenn ihn keine jenseitige Macht garantiert. Unsere Entwicklung selbst fordert zur Fortsetzung der mit der »Aufklärung« naiv begonnenen Distanzierung von der alten Kultur auf zu einer neuen Distanzierungsleistung. Das ist der Weg zu kontrollierter Kultur, zu neuer Naturauffassung, zugleich: zu einer neuen Auffassung des Menschen von sich selbst.“ (NN, 5) „Nachdem mit der Installierung von Bürgertum, Kapitalismus, Expansion und Technik die Würde der alten Eliten endgültig weggearbeitet war (wie Alexander de Tocqueville und Marx zugleich eindringlich festgestellt haben), hat der im Phänomen »Industrialisierung« sich hochkämpfende und — in weitgehend unbewußten Prozessen — organisierende Kapitalismus bürgerlicher Prägung auf folgende Weise sich durchgesetzt: man hat in ihm erkannt, daß die Strebungen, die Motivationen aller Menschen zur Akkumulation von Gütern eingesetzt werden müssen, damit »Mehrwert« erhalten, gesteigert und abgeschöpft werden kann. Die reinste Form dieser Einsicht wurde in den USA entwickelt, ihre Konsequenzen wurden dort am frühesten gezogen: wird Würde im Kapitalismus prinzipiell käuflich, z. B. über den Prestige-Konsum, so kann reine Geldwirtschaft sich nur erhalten, wenn sie auch Würde allgemein macht. »Würde« muß daher für alle käuflich werden. Das dem Kapitalismus zugrunde liegende Prinzip des Vertrages auf einem »freien« Markt, das lange Zeit hindurch das Geschäft sichern und den Arbeiter betrügen konnte, muß endlich auch ihn erreichen: so kann nun auch ihm Würde käuflich, d. h. über den Kauf von Werten zugänglich gemacht werden. Es ist nicht von ungefähr, daß der Begriff »Wert« in der abendländischen Geschichte Geldwert und Moral in sich konkurrierend zugleich barg, daß er bedenkenlos für beides übernommen wurde und sich so gehalten hat. Das war ehrlich. Denn längst schon, seit Hunderten von Jahren, konkurriert das Geldmoment erfolgreich gegen Ethik und Moral. Der Kapitalismus ist unter dem Geldwert angetreten, und das ist seine Stärke gegen jede Ideologie. Insofern hat man bisher noch keine Bewegung gefunden, die so wenig der Ideologie verdächtigt werden konnte. ... Der Kapitalismus vermag freilich darauf hinzuweisen, daß die bei ihm kaufbare Würde doch auch anerkannt wird: der aufwendige Konsum verleihe in sicheren Mechanismen

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Anerkennung, »Ansehen«. Und was sei Würde anderes. Das gilt es aber immer wieder zu befragen, und das gerade wird neu bestritten, so wie es aus den geistigen Enklaven aristokratisch-konservativen Denkens immer bestritten worden ist, aus den sozialistischen Staaten bestritten wurde und wird, wenn auch mit schwächer werdender Stimme.“ (NN, 8) 12 S. die Passagen zu Frauentausch, Gabentausch, Geldwirtschaft als Grundlage für wechselseitigen Respekt in Gleichheit und Freiheit – u.a. in KA 262-287. S. auch die Passage zur zivilisatorischen Errungenschaft der Demokratie als „Suspendierung des blutigen Opfers“ (mit Verweis auf Popper – wobei noch zu prüfen, ob die Formulierung vom blutigen Opfer auch auf Girard-Lektüre zurücgeht): Das blutige Opfer kann vermieden werden, wenn für die Gestürzten Auffangpositionen bereitstehen, die ein Comeback nicht ausschließen. Ich habe mich mehrfach dazu geäußert, daß m. E. solche attraktiven Auffangpositionen in der Form von »Posten« oder Entfaltungsmöglichkeiten aller Art nur in einer Marktwirtschaft bereitstehen konnten und können, die noch nicht »voller Monopolkapitalismus« oder voll verstaatlicht ist. Hier kann ein Machtwechsel unblutig ablaufen, da eben solche Auffangpositionen nichtmonopolisierter Art vorhanden sind. Das ist m. E. die Bedingung für Demokratie als »Suspendierung des blutigen Opfers«. Claessens 1989, 316f. 13 Auch Jan Carl Raspe war im Jahr 1970 Diplomand von Claessens. 14 15

Zu 1.2 Biologische Theorie statt Biotechnologie

Man beachte die eigentümliche Formulierung von Claessens, „sich zu sich selbst zu distanzieren“! 16 Zur Rezeption von Theorien der soziokulturellen Evolution in der deutschen Soziologie s.Schmidt 1998, Stichweh 1998, 1999. 17 Ein Umstand der wg. der Ignoranz gegenüber biologischer Evolutiontheorie unter hiesigen Sozialwissenschaftlern kaum bemerkt wurde. 18 Dazu ideengeschichtlich zusammenfassend Sober/Wilson 1998, 99f - Hier oder später noch die Beschränkung auf kin selection und reciprocity bei Hamilton und Trivers anführen. 19 Die popularisierte Darstellung dieser Richtung bei Dawkins 1996 20 S. die unter 2. folgenden Ausf. zu Alsberg, Miller, Portmann – hinzuzufügen wäre noch die Wirbeltiersoziologie von Count. 21 S. Husserls berühmte Schrift über die Krisis der europäischen Wissenschaften (und Blumenbergs Kritik an der Husserlschen Technik-Kritik) 22 Claessens spricht (im Unterschied zu der vielzitierten Zweiteilung der Wissenschaftskulturen, die E. Snow beschrieben hat) von drei Kulturen: „die Materialisierung von »Ideen« (der Mütter der Begriffe) spaltet die betroffenen Kulturen in drei Lager, drei Kulturen; die eine, die naturwissenschaftliche, wird fortan der Materialisation der Begriffe trauen und im wahrsten Sinne des Wortes »darauf bauen«; die zweite, die »geisteswissenschaftliche«, wird diesen Mißbrauch der Kinder der »Ideen« im Grunde verachten, ihm ihr Unverständnis entgegenbringen. Hier wird das als Wissen sich deklarierende Gefühl der Bindung an


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Ideen und an deren Ursprung, Glauben, Mythologeme so stark bleiben, daß es noch in der Abwehr der modernsten Ausfaltungen von »Technik« sich bewähren wird. Die dritte wird die Welt nur noch als Markt von Angebot und Nachfrage sehen.“ (NN, 45) „Das Sich-Herausarbeiten des Begriffs zum »Novum Organon«, dem neuen Instrument, schlug einerseits um in die Materialisierung des Begriffes, den arbeitenden Begriff, die Maschine, neue Technik, Technologie, Industrialisierung. Andererseits weitete es sich zum Experiment, zur modellhaften Untersuchung der Wirkkräfte in der alten Natur aus, zum Einschleichen in ihre Regelhaftigkeit, zum Laboratorium: der Arbeitsstätte des suchenden Geistes — Symbol der einen Kultur »Naturwissenschaft«. (NN 70) 23 Fortsetzung des o.a. Zitats aus IPG 195: „Bindeglied beider Disziplinen ist die Auffassung von der »Gefährdetheit« des Menschen, die von der Philosophischen Anthropologie in die Evolutionstheorie übernommen wurde. Dabei widerspricht diese Charakteristik bereits der Tatsache unserer Existenz als Art - erweist sich auch bei gründlicher Analyse als simple Kulturkritik, die es zuläßt, die Vertreter beider Disziplinen unter eine Kategorie zu rubrizieren, ohne Einsicht zu vermitteln. Einen Zusammenhang beider Theorien sieht man aber sofort, wenn man der Auffassung von der Instinktverunsichertheit des Menschen, wie sie die Philosophische Anthropologie vertritt, die Position der Evolutionstheorie gegenüberstellt, die nicht genau anzugeben vermag, was »Instinkt« ist und dennoch auf der starken Instinktbeeinflußtheit des Menschen beharrt. Die Differenz der Aussagen über Instinkt, die im wesentlichen aus der »Eigensinnigkeit« der jeweiligen Theorie-Ansätze herrührt, läßt sich in einem analytisch weiterreichenden Unterschied »aufheben«, der die inhaltlichen Ziele des Instinkt(systems) von den mit ihnen realisierten formalen Prinzipien trennt.“ 24 Unklar ist, warum Claessens in IPG anstelle von Evolutionstheorie häufig die gewöhnlich eher zur Abgrenzung (von teleologischen Mißverständnissen oder von Evolutionstheorie überhaupt) verwendete Bezeichnung Evolutionismus braucht. 25 Als er IPG verfasste, konnte Claessens das Theorieprogramm der Soziobiologie (zuerst 1975) noch nicht kennen. In KA (S 10, 379) wird das Theorieprogramm von Wilson als interessantes Gegenstück zum Programm von K. Lorenz erwähnt. 26 Stattdessen sind wie gewöhnlich neue Fronten an deren Stelle getreten s. die u.a. Polemik gegen das social science standard model S. Barkow, Cosmides, Tooby 31ff - Zur Kritik der Plasizitätsannahmen zusammenfassend Pinker ... 27 „Am wichtigsten erweist sich aber die Wiederentdeckung des Instinktprinzips selbst, jener Art von Kommunikation, die in jeder Handlung und jedem Impuls als Feed-Back steckt: das Kommunikationsprinzip.“ 28 Diese Polemik ist natürlich auch nicht unwidersprochen geblieben. S. die auch im internet nachlesbaren Kontroversen und die Gegenkritik von Buller. Umstritten ist hier vor allem die Auffassung vom modulartigen Aufbau des menschlichen Gehirns, das in einiger Hinsicht mit den Offenheitsannahmen nicht vereinbar scheint. Hier wäre noch zu prüfen, ob C.s Unterscheidung zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten als theoretischer Vorgriff auf die Modul-Theorie der Evol. Psychologie zu

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interpretieren ist oder eher als vorweggenommene Kritik daran i.S. einer Verteidigung der Offenheitsthese. 29 s. Carrol 2008 30 Zu den erweiterten Flexibilitätsannahmen aus der neueren Gehirnforschung s. zusammenfassend Doidge 2008, 277305 – In dieser Hinsicht bleibt immer noch eine Divergenz zu den Auffassungen einer soziologischen Anthropologie i.S. Claessens, wie sie sich in den aus der Gehirnforschung abgeleiteten Thesen (bei G.Roth u.a.) zeigen, in denen die menschliche Willensfreiheit als ein „metaphysisches“ und deshalb der wissenschaftlichen Untersuchung entzogenes Konstrukt bezeichnet wird. Dieser von vielen Naturwissenschaftlern verwendete Begriff des Metaphysischen basiert auf einer Reduktion des Physischen in Gestalt lebender Organismen. Als physisch gilt im Bereich des Lebendigen nur, was den Engpass der Individuen – und im Hinblick auf das Thema des Willens bzw. Bewußtseins – das menschliche Gehirn passiert. Jeder Sinn, der als Grund oder Motiv des Handelns wirksam wird, muss durch die Synapsenbildung des Gehirns hindurch, also die biophysischen Bedingungen erfüllen. Das ist richtig und zugleich in wesentlicher Hinsicht unvollständig, wenn man bedenkt, dass eben dieses Gehirn zur Aufnahme von Signalen aus der Umwelt, und insbesondere aus der sprachlich konstituierten Sozialwelt imstande ist. Denn genau diese Offenheit für Motive, die in der Kommunikation – und nicht nur im Einzelbewußtsein – existieren, ermöglicht jene Freiheit des Willens, die als metaphysisch bezeichnet wird. Die Distanzierung von äußeren und inneren Naturzwängen durch Reflexion im Medium der sprachlichen Kommunikation ist die Bedingung der Möglichkeit von Willensfreiheit. Diese soziale Konstitution kann man als metaphysisch bezeichnen – sie ist jedoch keine bloße Fiktion, keine Selbsttäuschung des Bewußtseins sondern eine grundlegende Erweiterung desselben, die sich einer bloß auf das Einzelindividuum und seine physische Ausstattung bezogenen Perspektive entzieht. 31 32

Zu 2. Theoriebausteine

Was es rechtfertigen könnte, auch Sexualität als einen Baustein in Claessens Theorieprogramm zu bezeichnen, sind die relativ langen Passagen über den Zusammenhnag zwischen Frauentausch, Opferpraktiken und Geldwirtschaft aus KA 5.4 (262-287) die Claessens u.a. dazu dienen, auf die Wettbewerbsordnung des modernen Kapitalismus mit ihren Wohlstandsgewinnen als Alternative zu den traditionellen Stabilisierungsmitteln religiös legitimierter Repression zu verweisen. Es fehlt jedoch ein expliziter Rückbezug auf den Darwinschen Mechanismus der sexuellen Selektion. Natürlich konnte Claessem noch nicht die neueren Ansätze in der Evolutionsbiologie und –psychologie kennen, die diesen Bezug wiederherstellen (Zahavi 1998, G.Miller 2001). Aber gerade von seinen Überlegungen zur Kultur des Kapitalismus her hätte es nahegelegen, an die Theorie der feinen Leute von Veblen wiederanzuknüpfen und den Mechanismus der Verschwendung als ein aus der Naturgeschichte der Sexualität stammenden Mechanismus – mit zivilisatorischen Folgen - zu erkennen. S. den Hinweis auf Veblen NN 9. 33 Hier anstelle des von Gehlen für den Neotenie-Komplex bevorzugt herangezogenen Bolk 34 S. dazu nochmal die Stellen in IPG 42 und in IPG III


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Claessens distanziert sich an einigen Stellen eher milde von Alsbergs “altväterischen Ton”. - In einer programmatischen Kritik an der mangelhaften Rezeption der modernen Evolutionstheorie in der Soziologie (Sociocultural Evolutionism – An Untried Theory,1979) hat Marion Blute darauf hingewiesen, dass Evolution im mainstream der soziologischen Theorietradition eher nach dem Muster der ontogenetischen Entwicklung eines Organismus und nicht nach dem Muster phylogenetischen Wandels konzipiert worden ist. Damit wird der Evolutionstheorie ein teleologisches Moment unterlegt, das der Darwinschen Theorie äußerlich und im Neodarwinismus explizit abgelehnt worden ist. Einschränkend muss hier allerdings angemerkt werden, dass mit der modernen Epigenetik (EvoDevo-Theorie) die Bedeutung ontogenetisch bestimmter Entwicklungsprozesse in der Evolutionsbiologie wieder zugenommen hat. Damit ist jedoch keine Rückkehr zu Vorstellungen gesetzmäßiger Entwicklungen (Phasen- und Stufenkonzepten) verbunden, denenzufolge emergente Phänomene in der Ausgangskonstellation wie in einer Keimbahn angelegt sind. 36 s. Alsberg Kap. 27 - Unklar ist hier, ob Claessens diese Auffassung teilt. Dafür könnte sprechen, dass er die Darwinsche Theorie gelegentlich auch als Mutationalismus bezeichnet. 37

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S. dazu auch meine schematische Darstellung im Anhang Zu 2.1 Körperausschaltung

Hier noch den Hinweis auf die bedeutende Rezeption der Alsbergschen Distanzierungsthese durch Blumenberg aufnehmen. Ders. 2006: Beschreibung des Menschen. S.550622. 39 „Man drückt den Tatbestand der Körperbefreiung gern so aus, daß wir durch die Technik einen künstlichen Ausgleich für die körperlichen Minderwertigkeiten herbeiführen wollen. In der Tat ist es heutzutage vielfach auch nicht anders, als daß das Werkzeug für die Bedürfnisse des Körpers einspringt. Der "Ausgleich" darf jedoch nicht so gedeutet werden, als ob die Technik von vornherein zu diesem Zweck geschaffen worden wäre. Vielmehr ist gerade umgekehrt, wie wir gesehen haben, die körperliche Bedürftigkeit eine entwicklungsgeschichtliche Folgeerscheinung des Werkzeuggebrauchs.“ (Alsberg, Anfang 8. Kap.) 40 Deshalb führt Fischer in seinem Kompendium über die PhA gerade Alsberg als Zeugen für deren Divergenz zur biologischen Evolutionstheorie an: „Der Mensch ist für die Philosophischen Anthropologen das natürliche Phänomen einer Durchbrechung der natürlichen Anpassung, nur vom Prinzip der »Körperausschaltung« in der Natur im Unterschied zur tierischen »Körperanpassung« zu begreifen. Die Loslösung vom Körper als Regulationsinstanz der Anpassung ist keine Loslösung von der Natur, auch nicht vom Körper. Durch die Distanz im Körper zum Körper ist der Mensch die zur künstlichen Setzung gezwungene »Gesetztheit«, er passt sich der Umwelt an, indem er sich mit Werkzeugen, Begriffen und Zeichen die Umwelt anpasst, bildet künstliche Milieus in der Natur aus dem Stoff der Natur, und lebt deshalb »auf der Erde« (inmitten der Natur) »in der Welt« (in der sozio-kulturellen Konstruktion). Insofern ist Philosophische Anthropologie systematisch verschieden von einer naturalistisch ansetzenden Evolutions-

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philosophie.“ (Fischer 2008, 582) Claessens hätte aber wohl nicht zugestimmt, dass sich hier eine aus „systematischen“ Gründen unüberwindbare Differenz zur Darwinschen Evolutionstheorie zeigt – insbesondere nicht nach Wiederentdeckung der sexuellen Selektion und der Gruppenselektion. 41 Hier ist anzumerken, dass mit der Bestimmung der Sprache als Werkzeug natürlich noch keine Sprachentstehungstheorie sondern nur ein funktionalistisches Argument formuliert ist. Außerdem fällt auf, dass mit der - gerade auch von Claessens bevorzugt herausgestellten - Funktion der Distanzerzeugung die Verständigungs- und Bindungsfunktion der Sprache in den Hintergrund tritt. - Vgl. dazu dann Tomasello! Claessens hat bereits darauf hingewiesen, dass die seit der Romantik beliebte Hypothese einer menschlichen Universalsprache mit dem Umstand kollidiert, dass die menschliche Sprache empirisch nur im Plural und auch als Unterscheidungsmerkmal konkurrierender Sozialsysteme vorkommt: „Mit „Sprache" wird in der Regel die verbalisierte Kommunikation gemeint. „Kommunikation" und „Leben" sind zwei sich gegenseitig definierende Begriffe. Nichtverbale Kommunikation instinktiver Herkunft oder deutlicher „beabsichtigter", d.h. bewußter Art (hier ist wohl nur sehr schwer zu trennen) tritt überall bei den „Tieren" auf. Da man immer mehr Einsicht darein bekommt, daß „Tiere" höher lernfähig sind, als man noch vor kurzem dachte, muß der Grad des „Beabsichtigt-Seins" höher als gängig angesetzt werden. Darüber hinaus zieht sich „symbolhafter" Ausdruck durch alle non-verbale Kommunikation, d.h. Beziehungsaufnahme und -Unterhaltung auf vielen Stufen der Evolution. Das Losreißen des „Wortes" und die Konstruktion einer anspruchsvolleren Syntax aus dem Gegebenen hat dann mindestens seit HERDER zur Definition des Menschen beigetragen. Dem Menschen wurde seither, zuletzt mit dem Begriff „Kompetenz", das Vermögen, sich sprachlich artikulieren zu können — sozusagen ab ovo — zugeschrieben. Alle Menschen „können" das „Sprechen". Diese Definition hat allerdings einen kleinen Haken: Sie wird nur möglich dadurch, daß alles menschliche Sprechen auch für Sprache gehalten wird; eine Konvention, die seit längerem, nicht seit langem!, akzeptiert wird, weil nämlich kein Mensch „die" Sprache spricht. Die Entwicklung des Menschen in tausenden von Kulturen und damit das Herausbilden von tausenden von „Sprachen" hat es unmöglich gemacht, an einem menschlichen Individuum die „reine" Sprachkompetenz nachzuweisen. Es müßte dann ja eben auch die „reine" Sprache sprechen. Man übersieht aber diesen Mangel in der Beweisführung, definiert im Zirkel: „der Mensch hat Sprachkompetenz, d.h. die Kompetenz zum Sprechen in menschlicher „Sprache", und läßt es dabei – klugerweise – bewenden . Praktisch tritt das Sprechen nur in einer „Sprache" auf, d.h. einer spezifischen Ausformung der – unterstellten – Kompetenz. Innerhalb dieses Rahmens allerdings ist die Behauptung überzeugend, „weiß" sogar ein Kind doch unmittelbar, ob ein Wort, ein Satz zur eigenen Sprache gehören könnten, auch wenn es dieselbe überhaupt noch nicht „beherrscht". (Claessens 2000, 155) 42 ... An dieser Stelle ist daran zu erinnern, daß der »Mensch« erst in der Abwehr der körperlichen Anpassung entstand? Hier muß nun analytisch tiefer gegangen werden, muß ein tiefes Paradoxon in der Entstehung des Menschen und in


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seinen Bemühungen um Hominisation und Humanisierung aufgedeckt werden: die Abwehr des Anpassungsdrucks der alten Natur erfolgt durch die handgeführte Waffe, d. h. ein Vernichtungsmittel gegen Körperliches, gegen den Unterwerfung androhenden Kontakt. Bisher war mehr ihr distanzierendes Moment hervorgehoben worden. Nun muß mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß die Waffe zwar distanziert — nämlich zur Rettung der Insulierung in einer Gruppe — daß sie aber auch den körperlichen Anpassungsdruck auf Tiere, Menschenähnliche und Menschen, andere Gruppen weitergibt! In der erfolgreichen Abwehr wird der »Feind« »zum Tode angepaßt« — und eine tiefere Realisierung eben des abzuwehrenden Prinzips gibt es gar nicht: indem das »Körperausschaltungsprinzip« in der »Distanzierung« des Gegners realisiert wird, betätigt es sich gleichzeitig als »Körperprinzip«, nämlich in den Körper des Gegners hinein. NN 75 43 Hinweis auf Autoren wie S.J. Gould, die die Anwendung der Darwinschen Evolutionstheorie auf die menschliche Kultur mit dem Argument bestreiten, dass hier zuviel Intentionalität im Spiel ist. 44 Hinweis auf Thematisierung des Größenproblems bei Durkheim und seine weitgehende Vernachlässigung im mainstream der Soziologie trotz Globalisierung und „Weltgesellschaft“. S. aber evolutionstheoretisch dazu Richerson/Boyd 2005. 45 „Das Menschheitsprinzip stellte sich uns als ein Prinzip der außerkörperlichen Anpassung dar. Erschöpft es sich aber auch restlos im Anpassungsdienst oder greift es in einigen Auswirkungen über den bloßen Anpassungszweck hinaus, wodurch es dann auch mehr leisten würde als nur "Bewußtheit der Lebensführung"? Tatsächlich läßt sich der Eindruck nicht abweisen, daß der Kulturrahmen sich weiter spannt als der bloßen Anpassungssphäre entsprechen würde. So steht der Mensch innerhalb der Natur nicht gleichmäßig neben dem Tier, sondern sein Werdegang wird nachgerade aller übrigen Entwicklung zum Verhängnis. Man kann getrost behaupten, daß der Mensch in absehbarer Zeit die ganze Erde in seinen Pflanzengarten, in seine Haustierzucht, in seine chemisch-physikalische Werkstatt verwandelt haben wird.“ (Alsberg, Anfang 27. Kap.) Schon in einer vorhergehenden Passage über „die natürliche Bestimmung des Menschen“ prophezeit Alsberg, dass die durch Technik bewirkte Ausdehnung der ökologischen Nische des Menschen auf den ganzen Planeten zum Ende tradierter Formen der Konfliktverarbeitung führen muß: „Man hat unser heutiges Zeitalter ein solches der Technik genannt, und damit vielfach zum Ausdruck bringen wollen, daß nur die Technik, nicht aber die "Kultur" als solche einen Entwicklungsfortschritt aufzuweisen habe. "Abgesehen" von der Technik, so heißt es, stehe unsere Kultur auf keiner höhern oder gar auf einer tieferen Stufe als im klassischen Altertum. Nun hat schon der englische Kunsthistoriker Th. Buckle in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Behauptung aufgestellt, daß die Technik durch ihre Hebung des Verkehrs mehr zur Veredlung der Sitten beigetragen habe als alles Moralisieren. [Das gilt umsomehr, wenn man mit DeWaal das Moralisieren bereits im Tierreich verankert sieht, während die Technisierung erst mit dem Menschen anhebt! Anm.kg] Dies mag

eine einseitige Behauptung sein; doch ist ihr darin jedenfalls beizupflichten, daß die Technik mit ihren Raum und Zeit überwindenden Schöpfungen, mit ihrer Druckerpresse,

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Eisenbahn, Schiffahrt, Telegraphie, Radio, usw. die Menschen einander körperlich und geistig außerordentlich nahe gebracht hat. Aus der zunächst oberflächlich-lockern Annäherung wurde ein immer festerer Zusammenschluß, und dies nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in geistiger Beziehung. So ist es schließlich allein der Technik zu verdanken, wenn die Menschheit sich zu einem gemeinsamen, ineinander greifenden, übereinander aufbauenden Schaffen zusammengefunden hat, wenn der ganze Erdball in ein gemeinschaftlich-solidarisches Arbeitsfeld umgestellt wurde. Bei oberflächlicher Betrachtung der gegenwärtigen Zeitverhältnisse mag es allerdings scheinen, als ob die Technik durch ihre Vergrößerung der Reibungsflächen, durch ihre Komplizierung der Konfliktstoffe und durch ihre Verschärfung der Austragsmittel den Idealzustand der Menschheit geradezu hintertreibe. So richtig es aber auch ist, daß die Zusammenschließung der Menschheit zunächst eine Erhöhung der Spannungen und eine Verstärkung der Entladungen mit sich bringen muß, so sinnfällig ist es, daß der neue Zug ins Umfassende, Menschheitsumspannende, den die Technik in die Weltgeschichte hineinträgt, der Menschheitsidee gleichgerichtet und förderlich ist. Leuchtete nach dem letzten großen Krieg zum ersten Mal die Idee eines allgemeinen Völkerbunds am Menschheitshimmel auf, so ist dieser fundamentale Schritt in der Richtung zum Allmenschentum in erster Linie ein Erfolg der Technik. Denn der Krieg ist heute zu einem den gesamten Menschheitskörper erschütternden Ereignis geworden, und bei einer bis zur Unbekämpfbarkeit sich steigernden Verschärfung der Kriegsmittel kann es schließlich nur noch gegenseitige Zerstörung und Vernichtung, nur noch Besiegte und Verstümmelte, aber keine wahren Sieger mehr geben. So treibt die Technik von selbst die Menschheit - mit oder gegen ihren Willen - dem Allmenschentum in die Arme.“ (Alsberg 26. Kap.) 46

Zu 2.2 Gruppenbildung

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„Die Gruppe hat - nach Hugh Miller - generell eine höhere Überlebenschance als das Individuum; und zwar nicht etwa (nur), weil in ihr die gleichen Fähigkeiten und Fertigkeiten kumulieren oder sich simultan ergänzen, z. B. in der Form der Arbeitsteilung. Soweit diese Arbeitsteilung zu DauerSpezialisierung führt, ist das sogar ein negativer Effekt des Gruppenzusammenseins. Eine Gruppe ist vielmehr überlegen, weil: 1. das Individuum in ihr sich nicht so sehr der Umwelt anzupassen braucht, wie es nötig wäre, wenn es allein lebte, und weil 2. die Umwelt nicht so sehr verändert zu werden braucht, wie das durch ein spezialisiertes Individuum geschehen müßte (21). ... Zwei Beispiele - die so nicht bei Hugh Miller zu finden sind - mögen diese Position erläutern. Eine Baumgruppe mit Unterholz, die frei in einer Ebene steht, entwickelt ein eigenartiges Kooperationsklima: Im Zuge des Prozesses, der hier durchaus mit dem Begriff des »survival of the fittest« bezeichnet werden kann, wird der Angriff von Wind und Wetter besonders die auf der Hauptwindseite stehenden Bäume lichten, es werden hier nur widerstandsfähige Gewächse sich halten können, die ja durchaus nicht alle groß und kräftig zu sein brauchen. Unter dem Schutz dieses Ringes von »Außenangepaßten« wird sich aber in der


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Baumgruppe ein - gemessen am Außenklima - künstliches Innenklima entwickeln, das eventuell völlig andere Bedingungen aufweist, als die in der umgebenden Ebene vorhandenen. Die gesamte Baumgruppe weist, genau besehen, in nach innen zu sich verengenden Kreisen ein Kontinuum von Klimata auf, deren jedes etwas andere Bedingungen für das Aufwachsen und Gedeihen von Gewächsen hat. Die Umweltbedingungen der umgebenden Ebene sind damit in einer solchen Pflanzengruppe teilweise aufgehoben: es können in ihr Klimata entstehen, die teils Schutzklimata sind, teils evtl. später einmal auftretende andere Außenklimata vorwegnehmen.“ (IPG 95f) 48 In einem Literaturhinweis zu Miller in KA notiert Claessens: „Erste Entwicklung des Theorems von der »Insulation gegen selektive Pression«, mit bemerkenswert geringer Rezeption im einschlägigen Schrifttum, vermutlich, da Alternative zu Mutationstheorie.“ 49 “By orthodox Darwinism was meant the doctrine that the principle of natural selection, or "the survival of the fittest," must in and of itself provide a complete expla-nation of the evolution of life; and a corollary of this dogmatic doctrine was that whoever departs from it will necessarily offer only some vitalistic misrepresentation of evolutionary change. But science can subscribe to no dogma—of this we should by now be aware; and the effect of that orthodox Darwinism, so utterly un-Darwinian in its arbitrary limitation of observation and description, was to convict of professional malpractice any perceptive scientist who would find in evolutionary change something more than the innumerable adaptations of individual organisms to their particular habitats. And this was to preclude any intelligible description of the evolution at all! For, as Darwin set forth in a second major treatise, The Descent of Man and Selection in Relation to Sex (published in 1871, just twelve years after the publication of The Origin of Species in 1859), the progress which led through the lower and higher animals to man is certainly not to be described as a result of natural selection; and in that book he advanced a second principle, supplementary to the first, this being the principle of sexual selection which the orthodox scientist would dogmatically reject. As nothing was then known of the genetic processes that have made of the mode of sexual reproduction quite the most important factor in evolutionary change, Darwin's formulation of the principle was inevitably less than adequate; but it left no doubt of his recognition of another sort of adaptation over and above that which the orthodox doctrine would know, this other sort being the reproductive adaptation that fits living individuals not to their external surroundings but to one another, so that they are associated into self-regenerate and persisting groups such as are species. It is impossible to overstress the fact that what has been so widely promulgated as orthodox Darwinian doctrine was never the teaching of Darwin himself; nor should one lightly exempt from scientific censure those who in the name of Darwin distorted his theory in such a way as wholly to defeat his thought. It is a reproductive or sexual adaptation, and no mere adaptation to their changing habitats, that makes individuals fecund and fertile, that binds them into living groups, and that keeps their species integral, adaptable, and viable so that life may persist under environmental change. Is it not evident that except for this reproductive

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adaptation there could have been no evolution of species? Nor could there have been the evolutionary progress that was always directed toward modes of sexual reproduction keeping species adaptable and viable, a progress advanced through the wholesale replacement of what had become poorly associated by those few species still able to persist and multiply because they were still adequately associated. This actual evolution never resulted from, and is consequently not to be causally explained through, any selection of individuals better fitted to survive, it resulted wholly from the selection of living groups better integrated and longer able to persist; and that orthodox doctrine was in truth nothing but a superstitious scholastic tabu which effectually forbade any productive study of evolutionary change, precluded all causal inquiry into living processes, and professionally disbarred any scientist who would pursue such inquiry.” Miller (16f) 50 Bei neueren Vertretern der Theorie der sexuellen Selektion wie G. Miller, Zahavi und in der Evolutionären Psychologie (Buss, Cosmides/Tooby ua.) habe ich keinen Hinweis auf die Arbeit von H. Miller gefunden. Sie äußern sich auch eher vorsichtig zu Fragen der Gruppenselektion und neigen dem gendeterminierten Individualismus zu. Vermutlich ist Millers Theorieansatz untergegangen in Folge der fulminanten Kritik an jedweder Form von Gruppenselektion durch G. C. Williams 1966, Adaptation and Natural Selection. Andererseits gibt es heute sehr ausgearbeitete und empirisch abgesicherte Wiederaufnahme von Gruppenselektionstheorie bei Sober / Wilson, 1998, Unto Others, bei Gould / Eldredge („nested hierarchies“), bei RichersonBoyd 2005 und in der Nischentheorie von Oddling-Smee, 2003. 51 Unterscheidung proximater und ultimater Faktoren nach Tinbergen 1963. 52 Die Argumente für Mehrebenenselektion von Sober/Wilson 1999 zusammenfassend Ruso: „Einen Versuch, die verschiedenen Selektionsebenen zusammenzuführen, unternahmen David Sloan Wilson und Elliott Sober. Sie stellten 1999 die sogenannte MultilevelSelektionstheorie vor, die den weiter verbreiteten Ansatz der Selektion auf der Ebene der Gene sowie die Selektion auf Ebene der Individuen einschließt und als gleichberechtigte Elemente neben die Gruppenselektion stellt. In diesem Modell bleiben die Gene die „Datenträger", über die sich Eigenschaften von Generation zu Generation übertragen. Individuen und Gruppen sind die Vehikel dieser Gene, durch die jene miteinander in Wechselwirkung treten können. Die Wechselwirkung zwischen Individuen wäre die natürliche Selektion, wie sie von Darwin beschrieben wurde. Die Wechselwirkung zwischen Gruppen wäre genau genommen eine Form von Konkurrenz. Mathematisch wird die Multilevel-Selektionstheorie durch die Price-Gleichung gestützt. Dieses mathematische Modell zeigt, dass sowohl durch Individualselektion, als auch durch Gruppenselektion stabile Gruppen entstehen können. Wenn sich Individuen der Gruppe stärker voneinander unterscheiden, als sich die Gruppen voneinander unterscheiden, dann überwiegt die Individualselektion. Wenn sich jedoch die Individuen einer Gruppe ähneln, die Gruppen aber stark voneinander unterscheiden, dann überwiegen die Effekte der Gruppenselektion.“ (Ruso, 2009, 45f)


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„Darwin hat die Selektionsprozesse auf Individualniveau erkannt und beschrieben. Auf der einen Seite scheint die Begrenzung auf das Individuum, ohne die Ausweitung auf höhere Ebenen (Gruppe usw.) nicht schlüssig, da die Individualebene selbst schon drei Niveaus über dem ursprünglichen molekularem Niveau liegt. Auf der anderen Seite ist es fragwürdig, die natürliche Selektion auf das Gen-Niveau zu beschränken. Schließlich wurde die natürliche Selektion am Beispiel der Individuen erkannt und beschrieben. Es ist fragwürdig, eine Gesetzmässigkeit, die bei der Evolution von Organismen erkannt wurde, für eben jene Organismen für ungültig zu erklären. Wenn man aber für Organismen eine Evolution auf Basis der natürlichen Selektion annimmt, dann wäre es willkürlich, sie auf Molekular-, Bakterien-, Eukaryoten- und Vielzeller-Niveau zu beschränken. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass es sich um einen Mechanismus handelt, der allen komplexen dynamischen Systemen, welche bestimmte Eigenheiten aufweisen, zu eigen ist.“ (Ruso, 2009, 49) 53 Was nur von hard-core-Feministen bestritten wird, mit denen es Claessens wohl auch zu tun bekam. 54 Dass Claessens gesehen hat, dass die Formen der Sexualität – anders als jene organischen Merkmale, die dem Überlebenskampf (Flucht oder Angriff) dienen – dem Alsbergschen Prinzip der Körperausschaltung entziehen, wird in einer späteren Passage besonders deutlich, in der Claessens Sexualität und Nachwuchspflege im Hinblick auf zivilisatorische Errungenschaften verknüpft sieht: „... während noch die Distanzierung von der alten Natur deren Spezialisierungsdruck abwehren soll, tritt er in verändertem Gewand sogleich wieder auf, als Notwendigkeit, die zu gewinnende und die gewonnene Freiheit durch Spezialisierung zu sichern. Freilich ist das zuerst nicht jene körperliche Spezialisierung, die in Gebiß und Klauen, Flügeln und Hufen ausmündet. Es ist »nur« die Aufteilung des zur Stabilisierung notwendigen Verhaltens, eines sehr komplexen Verhaltens, unter die Genossen. Die zwei Geschlechter, die phylogenetisch eingeführte »monoparentale« Hege des Nachwuchses, nämlich das Angewiesensein des menschlichen Nachwuchses auf die Mutter oder die Mütter und nicht mehr auch den Vater, gab das Vorbild. Und hier war die körperliche Spezialisierung unaufhebbar, zumindest, was Geburt und Säugen anbetraf, war in den Distanzierungsprozeß mit eingedrungen, hatte sich als ein eigentlich fremdes, ja abzuwerfendes Prinzip eingenistet.“ (NN 28f.) 55 Deshalb lässt sich in Alsberg „Menschheitsprinzip“ die Stabilisierung kultureller Sozialsysteme nur über Technik – Organisationstechnik und Waffentechnik – erklären. Durch Nichtberücksichtigung der sexuellen Selektion erhält das Alsbergsche „Menschheitsprinzip“ eine einseitig maskulin-heroische Akzentuierung: Distanzierung von der „alten Natur“ mittels Technik. Damit erscheint der kulturelle Innenraum nur auf herrschaftliche Gewalt (Konfliktunterdrückung nach dem Muster der Verwandtschaftsselektion) statt auf wechselseitigem Respekt (Konfliktvermeidung nach dem Muster der Reziprozität) abgestellt – ein zivilisatorisches Potential, auf das Claessens doch mit seinen Hinweisen (in KA 5.4 ua.) auf Frauentausch, Gabentausch, Geldwirtschaft und die Wettbewerbsordnung des modernen Kapitalismus zielt.

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Das wird im folgenden Zitat deutlich: „»Insulation gegen selektive Pression« wäre dann Gruppenbildung bei Menschenähnlichen, die bereits unter der Auswirkung des Körperausschaltungsprinzips standen. Damit ergänzen sich einerseits beide Prinzipien: Das Körperausschaltungsprinzip gibt jene Distanz, die »Offenheit« zugänglich macht; das Insulationsprinzip sichert diese Offenheit gegen Zurückfall, »stabilisiert« sie. Unter etwas anderer Perspektive: Das Körperausschaltungsprinzip tendiert zur Entwicklung von Ratio; das Insulationsprinzip tendiert zur Differenzierung und Tradition, d. h. kooperativ entwickelten, sich (d. h. die Gruppe) stabilisierenden Lebenstechniken zur Vermeidung des Verlustes von Offenheit ([Miller] 273). Beide Prinzipien enthalten also unter diesem Blickwinkel Gegensätzliches; und zwar gleichzeitig die These Schelers, daß Menschliches sich im Abbau von Traditionen bewähre dann wird das Körperausschaltungsprinzip betont (das Geistkonzept Schelers sei hier ausgeklammert!); und die These Plessners von der »Hälftenhaftigkeit« des Menschen -, dann wird die Insulationsthese hervorgehoben.“ (IPG 97f) 57 Hierzu evtl. noch die Passagen bei Miller suchen – mit stark teleologischem Einschlag. 58 In dieser Hinsicht erhellende Hinweise auf den Gebrauch der Sprache – einerseits als Mittel der räumlichen Ausdehnung und andererseits als Mittel der Zersetzung traditioneller Formen der Sozialität in IPG. Zunächst zur räumlich-technischen Ausdehnung: „Übersehen wird hier großzügig, daß Rom ein sich exemplarisch im Raum ausdehnender Staat war und wurde, und daß - besonders bei damaligen Beförderungsmitteln - sich Raum hier unmittelbar einprägen und auch im Zeitbegriff niederschlagen mußte. Wenn der Begriff des »Erfahrens« überhaupt einen Sinn haben soll, dann doch nur so! »Abstrakte« Denkschemata hier nicht auftretender Art, ... mögen dann in derart »allgemeinen«, d. h. zur Weltumspannung auch fähigen Sprachen eingearbeitet werden, sie sozusagen anregen; aber die Gleichwertigkeit aller Sprachen kann auf dieser Basis nicht behauptet werden.“ IPG S.152 Und hier zur (reflexiv) zersetzenden Wirkung: „Sobald nun der Mensch seine Gruppe, sich und dann auch seine Sprache selbst derart reflektiert, daß alles artikulierbar erscheint - bis hin zu dem Zustand, daß der, der nicht unaufhörlich artikuliert, sich verdächtig macht -, scheint sich Insulation aufzulösen und damit auch die bewirkte Absicherung, die damit erreichte Ableitung der Geltungsfrage: »Alles löst sich sozusagen auf.« ... Was tut denn die nun zum Zuge kommende Sprache? Zuerst ist sie Sprache über den Hintergrundcharakter von Kultur (Herodot), dann der eigenen Kultur (Demokrit), dann von Geltung überhaupt (Montaigne). Sie »zersetzt« also den Filz der unartikulierten Gruppenselbstheiligung, setzt ihren Geltungsanspruch in Frage und beginnt deren Geltung außer Kurs zu setzen.“ (IPG 192) 59

Zu 2.3 Kindheit

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Bei Gehlen (s. Der Mensch, 1978) unter Bezugnahme auf den niederländischen Anatomen Bolk (mit rassentheoretischen Konnotationen) – s. dazu Fischer 2008 - nochmal nachlesen, wie Claessens zwischen Portmann und Bolk unterscheidet.


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Schon das Eingangszitat oben lässt erkennen, dass Portmann die Phänomene der langsameren Reifung beim Menschen zwar auch im Sinne der Offenheitsannahmen der PhA deutet, jedoch zögert, sie als Retardation zu deuten. Das wird in der Fortsetzung des Textes S. 126 noch deutlicher: „Vergessen wir auch nicht, daß diese vielbesprochene Langsamkeit ja nicht einfach das Kennzeichen der ganzen menschlichen Ontogenese ist, wie das so oft behauptet wird; erinnern wir uns noch einmal daran, daß sich die embryonale Zeit wie auch die des extraembryonalen Frühjahres gegenüber der Entwicklung der Menschenaffen gerade durch Raschheit des Massenwachstums auffällig auszeichnet. Nur bei der Berücksichtigung dieser Tatsachen wird man die eigenartige reiche Gliederung unserer Entwicklungszeit in Perioden deutlich erkennen. Die langsame Periode beginnt, sobald die somatische und die psychische Voraussetzung für die Aufnahme der vielseitigen sozialen Verhältnisse geschaffen ist, d. h. nach dem ersten Lebensjahre, wenn die Elemente der menschlichen Haltung, Sprache und Handlungsweise vorliegen. So wie das frühe rasche Wachstum mit der starken Massenzunahme des Gehirns im Zusammenhange steht, so ist das gemächliche Wachstum der anschliessenden Periode wieder in Korrelation zu Besonderheiten der Ausbildung unseres Nervenlebens.“ Ähnlich Portmann 1969 schon S. 98f.: „Nicht deutlich genug kann man sich den Gegensatz vor Augen führen, der die Entwicklung im Mutterleib, diese für alle Individuen einer Art so gleichförmigen Vorgänge, von dem Reichtum sondert, den die besonderen Entwicklungsbedingungen für die Frühzeit des Menschenkindes schaffen. Und dies in einer Zeit, in der so wichtige Akte unserer Gestaltung geschehen. Die Prozesse der Reifung, die ja auch im Mutterkörper gefördert würden, kombinieren sich bei uns in ihren wichtigsten Phasen mit den Erlebnissen, die eine so viel reichere Umgebung mit vielen Reizquellen den bildungsfähigen Anlagen bietet. So geschehen naturgesetzliche Abläufe beim Menschen im ersten Lebensjahr statt unter allgemein gültigen Bedingungen im Mutterleib bereits unter einmaligen Voraussetzungen; jede Phase des außerembryonalen Lebens steigert diese Einmaligkeit durch die erhöhten Möglichkeiten der Abweichungen individueller Bedingungen. So steht bereits im ersten Lebensjahr das Leben des Menschenkindes unter dem Gesetz des «Geschichtlichen», in einer Zeit, wo der Mensch als echtes Säugetier noch unter den reinsten naturgesetzlichen Verhältnissen im Dunkel des Mutterschoßes sich ausformen müßte. Schon in diesem extraembryonalen Frühjahr geschehen neben «Vorgängen» von durchaus genereller Artung auch ungezählte «Ereignisse», die einmalig sind - und wie oft schicksalbestimmend, ohne daß man diese Bedeutung in der Umgebung voll zu ermessen vermöchte.“ Dass Portmann in seinen Folgerungen viel vorsichtiger operiert als Gehlen u.a. Vertreter der PhA. zeigt auch das folgende Zitat S. 107: „Die lange Dauer unserer Wachstumsperiode muß beim Vergleich der Entwicklung von Mensch und Tier ganz besonders auffallen. Während die Eigenart des ersten Lebensjahres wenig Aufmerksamkeit gefunden hat, ist dieses lange Wachstum immer wieder beachtet und gedeutet worden. Meistens hat man unsere Wuchsart gegenüber der eines

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Tieres allgemein als «verlangsamt» interpretiert. Entsprechend sind denn auch Retardation und damit im Zusammenhang Fötalisierung in jüngster Zeit Stichworte für die Theorien der Menschwerdung und aller biologisch orien-tierten anthropologischen Versuche geworden. Wir wollen in unserer Darstellung die gesicherten Tatsachen voranstellen, wie sie die vergleichende Übersicht ergibt. Erst in zweiter Linie, von den jederzeit nachprüfbaren Aussagen abgeleitet, kann eine Deutung im Sinne der Evolutionsidee folgen. Deshalb nennen wir das Wachstum des Menschen in der Zeit nach dem ersten Lebensjahr bis zu Beginn der Pubertät vorzugsweise beschreibend «langsam», nicht sogleich verlangsamt. Diese zweite Aussage braucht eine besondere Beweisführung.“ 62 Hier ist im Hinblick auf neuere Diskussion (mit bildungstheoretischen Implikationen) A. Montagu, 1981, Growing Young, zu nennen. 63 Ich stütze mich hier auf Ausf. von Fischer 2008 S. 202ff, 504ff 64 Cosmides-Tooby S. 30, 32, 36 - hier mit Bezug auf A. Montagu. Unter Kritik steht in dieser Hinsicht auch die affirmative Aufnahme des Neotenie-Theorems bei dem Paläontologen S.J. Gould – s.folg. Anm. 65 Miller: „So wie Fitnessindikatoren lassen auch Altersindikatoren einigen Spielraum für Täuschungen. Das mag mit der bei uns sichtbaren „Neotenie" zusammenhängen, also dem Umstand, dass wir uns - so wird behauptet - einige der körperlichen und geistigen Merkmale junger Menschenaffen bis ins Erwachsenenalter bewahren. Unsere Gesichter ähneln eher denen sehr junger als denen ausgewachsener Schimpansen. Unsere verspielte Kreativität gleicht mehr dem Verhalten junger Primaten als der strengen, trägen Brutalität erwachsener Menschenaffen. Stephen Jay Gould sieht in unserer Neotenisierung einen entscheidenden Trend in der menschlichen Evolution und hält unsere Flexibilität im Verhalten für eine Begleiterscheinung unserer allgemeinen Neotenie. Neotenie lässt sich jedoch auch ganz anders interpretieren. Vielleicht haben sich unsere neotenischen Merkmale durch sexuelle Selektion als trügerische Anzeichen von Jugend entwickelt. Wenn männliche Hominiden jüngere, fruchtbarere Frauen älteren, weniger fruchtbaren vorzogen, dann entstand ein sexueller Selektionsdruck auf die Frauen, körperlich und im Verhalten jünger zu erscheinen, als sie wirklich waren. Dies konnten sie erreichen, indem sie jünger aussehende Gesichter entwickelten und auch im Erwachsenenalter verspielt, kreativ, spontan und ungehemmt blieben. Das Ergebnis wären neotenisierte weibliche Hominiden. Dasselbe Argument konnte für die Männer gelten, insoweit die weibliche Auswahl Anzeichen jugendlicher Energie bevorzugte. Wir wissen nicht, weshalb unsere Abstammungslinie diese neotenischen Zeichen entwickelte und andere Primaten nicht - man könnte sich auf die Unvorhersehbarkeit der sexuellen Selektion berufen, was aber keine besonders befriedigende Erklärung ist. Meiner Ansicht nach benannte Gould mit seiner Theorie der Neotenie eine Reihe leicht trügerischer Jugendindikatoren, die sich durch eine Form von sexueller oder sozialer Selektion entwickelt haben müssen. Dies ist keine konkurrierende Theorie zur menschlichen Evolution, sondern beschreibt einige körperliche und psychologische Tendenzen, die noch der evolutionären Erklärung bedürfen.


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Offensichtliche Präferenzen für Jugend sind nicht immer das, als was sie erscheinen mögen. Oft lassen sich Jugendindikatoren nur schwer von Fitnessindikatoren unterscheiden. Schließlich sind Fitnessindikatoren meist stark konditionsabhängig, und die Kondition ist in der Blüte der Jugend am besten. Unter ansonsten gleichen Bedingungen wird jeder Mechanismus zur Partnerwahl, der entstand, um einen konditionsabhängigen Indikator zu bevorzugen, eher Jugend dem Alter vorziehen, einfach weil junge Individuen den Indikator mit einer besseren Kondition präsentieren. Die Tatsache, dass Frauen oft ältere Männer bevorzugen, lässt jedoch darauf schließen, dass sich Partnerwahlmechanismen leicht dahingehend entwickeln können, diese Vorliebe für Jugend auszugleichen, wenn sie sich als der Adaptation abträglich erweist.“ (Miller 2001, 244f. ) 66 S. dazu (blank slate) ausf. Pinker ... 67 Ausführungen zu Neotenie finden sich deshalb bei H.Miller im Kontext gruppenspezifischer Nachwuchspflege bei Menschen und Tieren: „Through their efficient nurture of progeny, human populations secure their repeated regeneration not by fitting individuals to meet external conditions but by removing them from these; for here the effective envi-ronment of the group has come to be nothing else than the group itself, inasmuch as each grown generation in its turn provides the environment of the new generation that rises to replace it. We are shown here in human nurture the issue of an evolutionary process that had maintained its continuous and directed change through some hundreds of millions of years of animal history, this process having earlier worked to lengthen embryonic development and later worked to lengthen and to better nurture. Most clearly discernible in a quarterbillion years of mammalian history is this sustained advance—one that was clearly always of reproductive mode and never merely of adaptive type—toward the fully domestic process of regeneration that was bequeathed only to this new realm of mankind, thereafter to distinguish what is human from all that remains specific and animal. In this discernment of the nature and direction of the long evolutionary progress that gave existence and character to man, and incidentally indeed to all else that lives, we anticipate the largest deliverance of a science of life, to the spelling out of which what follows in this book must properly be devoted. What is man, that we should have been advised to make him "the measure of all things" and the very touchstone of nature? He has in the past been variously defined: religiously, as the creature blessed with an immortal soul; ethically, by way of his conscience that divides good from evil; and rationalistically as Homo sapiens, the ani-mal uniquely endowed with an innate knowledge of cosmic structure. To all of these traditional definitions we may respectfully look for some insight into human nature; but we seek here a scientific or biological definition, and what currently passes for this would have us distinguish man from other nature by the prehensile hands that fitted our ancestors to life in the trees, together with the erect stature which, it is said, came to those brachiate animals from holding on to an upper branch while they ran along a lower. As a matter of fact, whether our forebears ever were treedwellers has become of late a moot question; and in any case such arboreal habitation can have conditioned only

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one phase of the long progress to man, this being broadly but correctly enough characterized by the taxonomist when he places man among the mammals. It is true that the development of mammary glands and the suckling of newborn young compose only one feature of the long gestation and lengthy nurture given to human progeny; but here was nevertheless a large and discerning acknowledgment of the direction of evolutionary change that led to fully domestic man. It is the animals that bring nurture to their progeny that may evolve handlike extremities and become more erect when they cradle and carry the young; and the prehensile hands and upright stature of man are anatomical features auxiliary to his fully domestic mode of reproduction, even as is the large brain of man, while the intelligence and spirituality of man are behavioral consequences of that consummate domesticity. These "facts of life" too, are coming to fuller recognition today, thanks chiefly to the psychologist, although the causal relations among them are not always very clearly discerned. Thus, a contemporary anthropologist tells us that "the emergence of man's large brain occasioned a profound change in the plan of human reproduction" birth having to take place sooner because of overdevelopment of the fetus' head while the fetus was in a more helpless state; but he then at once properly directs our attention to the successive phases of this evolution when he adds that the bipedal mother was already able to hold the child. Only when nurtural habit was sufficiently far advanced to require long association between parents and progeny was there need or possibility of this evolution of the large brain; and it is consequently only in the later originated and more evolved mammalian orders that we find evidence of this cranial evolution.” (Miller 1964, 71f) In einer Anm. zu dieser Passage verweist Miller u.a. auf Bolk und Montagu: „ED-II, pp. 339t. A. Irving Hallowell quotes several passages from The Part Played by Infancy in the Evolution of Life, by John Fiske (1899). In his work Das Problem der Menschenwerdung (Jena, 1926), L. Bolk developed a very similar approach. The latest, most thorough, best documented, and easily available discussion is to be found in The Direction of Human Development, by M. F. Ashley Montagu (New York, 1955)” In einer weiteren Passage stellt Miller die konstitutive Bedeutung der erweiterten Nachwuchspflege beim Menschen heraus: “We have only to look about us to see how in human growth the whole bodily development of the individual is directed by the domestic conditioning of infantile behavior; for the human infant must be weaned, taught to eat and drink, to stand and walk, to eat and sleep and defecate regularly, to speak, and to feel and "behave itself" humanly. And one observes how quickly, within two or three generations, immigrant strains come even without intermarriage to resemble in physique and physiognomy the indigenous neighbors whose behavioral forms they appropriate. Darwin early presented a striking illustration of the effect of nurture upon anatomical development when he attributed changes of dentition and facial structure in primitive man to the increasing use of tools. The stone-age technology was directly transmitted down the generations; but, as even stone tools are more efficient and adaptable instruments than are teeth and jaws, the selection of what was


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behaviorally more advanced overrode that of what was anatomically more adaptive. We may now perceive that the advantage of intelligence over instinct lies in the greater plasticity of intelligence, regarded not as an individual achievement but appraised as a group-character directly transmitted down the generations. Although each nurtured generation will bring to the next generation much the same behavioral patterns as it had itself been nurturally given, any and all conditions affecting the parental development will later be reflected in the parental conditioning of progeny. The parent which in its later unnurtured growth had been threatened by some new sort of predator or nourished by some new sort of sustenance will duly condition the progeny to flee the one and to seek the other. (It is even found in simian groups that behavioral innovations originating and propagated among the growing progeny may then be adopted by the parents.) Where in the unnurtured group all heritable character must be transmitted through the genotype of the reproductive cell, in the nurtured group there is a direct propagation of newly induced characters of behavioral response, this establishing new forms of group-behavior so that the group may be said to profit from individual experience; and in the higher or more domestic animals this emancipation from the genetic limitations imposed upon instinctive behavior could be quite considerable, as in these groups most of what is effectively adaptive is nurturally transmitted, which is to say transmitted by behavior itself. In all of the foregoing we have been concerned only with forms of adaptive behavior conducive to individual survival, our purpose being to note how these may be directly rather than genetically transmitted; and we have supposed that all forms of reproductive behavior, conjugal and parental, would still be genetically bequeathed so that they remained instinctive. One could reasonably expect the reproductive instinct, this being so fundamental and indispensable a condition of group-persistence, to remain unaffected by any evolution of adaptive intelligence which might better secure survival, especially as this behavioral evolution was itself supported upon the instinctive parental-filial association that ties each nurtured generation to the last and the next. However, as we learned from our consideration of mammalian history in its later decline, the progress toward full domesticity was by no means an advance that brought greater assurance of persistence to vertebrate species which still needed to be widely adaptable and sufficiently adapted in order to persist, but which gradually dissolved the species-process that had kept them so; for the progress was ultimately directed toward the domestic and behavioral process that would preserve a human society, it did not advance toward some perfected species perpetuated by its superlative genetic process. The ethologist finds that in fact the reproductive behavior of the animal, no less than is its adaptive behavior, can be completely transformed through the nurtural conditioning of new growth.” (Miller, 1964, 152f) 68 Nach dem gleichen Muster wie bei Alsberg die Unspezialisiertheit des menschlichen Organismus als eine Folge des Körperausschaltungsprinzips erklärt wird. 69 In diesem Sinne Claessens: „Die allgemein akzeptierte These der »Philosophischen Anthropologie« von der Offenheit des Menschen wird seit Portmann/Gehlen damit in

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Zusammenhang gebracht, daß der Mensch im Zuge einer soziologisch nicht näher gekennzeichneten evolutionären Entwicklung eine »Frühgeburt« sei, die ihre Existenz, d. h. ihre Überlebenschancen nur dem »sozialen Uterus« verdankt, in den sie aus dem Mutterleib heraus hineingeboren wird; d. h., daß der kleine Mensch in den Schutz der für ihn aktiven Mutter und anderer reiferer Individuen hineingeboren wird, innerhalb dessen sein Überleben und sein Aufziehen einerseits nach entwicklungspsychologischen Gesetzmäßigkeiten geschieht, andrerseits unter dem Erziehungsdruck der Außenwelt garantiert wird. Diese Frühgeburt verhindert eine bei längerem Verbleiben im Mutterleib - als theoretischem construct - unterstellte Spezialisierung, nach der dieses Wesen dann als Nestflüchter hätte bestehen können; das Unfertigsein des Menschen ist also der Gewinn für den Preis der Ausgesetztheit, ist seine spätere Freiheitschance. Die Gefahren der Ausgesetztheit werden kompensiert durch einen Schutz, für den logisch, soll etwas Neues ermöglicht worden und geschehen sein (und das wird ja mit der These von der »Frühgeburt« behauptet!) nur eine Gruppe neuer Art gedacht werden kann, - was allerdings selten ausführlicher dargestellt oder betont wird. Der Gruppenschutz oder »Kulturschutz« wird meist einfach unterstellt. (KA, 49) Im Anschluss hieran plädiert Claessens für eine Fundierung der Neotenie-These durch Gruppenselektion (KA Abschnitt 2.1 „Insulation als Nischentechnik und Produktivkraft zur Menschwerdung“): „Daß der Mensch ähnlich seinen direkten Vorfahren in Horden, d. h. in Gruppen aufgetreten ist, scheint allgemein unbestritten zu sein. In diesem Gruppenzusammenhang wird der Vormensch evolutionär »Mensch« und erhält sich über lange Zeiten. Diesem Gruppenzusammenhang selbst könnte die Fähigkeit zugeschrieben werden, den Übergangsmenschen zum Menschen erst weiter zu entwickeln. Offenbar wird dieser Ansatz deshalb nicht verfolgt, weil das bei anderen auch im Gruppenzusammenhang lebenden ähnlichen Lebewesen nicht geschehen ist. So wird beim Menschen auf das entwickelte binokulare Sehen, die Beidhändigkeit, auf den aufrechten Gang, den Sprechapparat, die Entwicklung des Neo-cortex und die damit verbundene Symbolfähigkeit verwiesen. Aber wie entwickelt sich so etwas? Es gibt hier sozusagen ein »missing link«, ein fehlendes Glied in der Kette der Argumentation. Man kann z. B. die weiteren Fähigkeiten des Menschen, wie sie sich in der später in »Geschichte« übergehenden Evolution gezeigt haben, auf eine »Kephalisation« eine Vergehirnlichung - zurückführen; deren Hintergründe oder Gründe bleiben aber wieder im Dunkeln. Der fehlende Begründungszusammenhang kann vermutlich, wie ich bereits in »Instinkt, Psyche, Geltung« ausgeführt habe, durch ein Ein- und Zusammenfügen der HughMillerschen These von der »Insulation gegen selektive Pression« und der Alsbergschen These von dem »Körperausschaltungsprinzip« gefunden werden. Mit »Insulation« meint Hugh Miller Systeme in der lebenden Welt, die, in anderer Weise als »Nischen« und doch ähnlich, Abwehrkräfte gegen den allgemeinen Anpassungsdruck entwickeln: naturwüchsig sich bildende »BioSoziotope«. Diese Abwehrkräfte in der praktizierten Insulation entstehen genauso ungewollt, wie eine Gruppe von Pflanzen zusammenstehen oder auch eine Gruppierung von


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unterschiedlichen Tieren, vielleicht wegen genetischer Vorteile, zusammenleben mag. Ungewollt entwickeln solche zusammenstehenden oder lebenden Lebewesen »künstliche Innenklimata«, d. h. Innenklimata, die sich charakteristisch gegen das herrschende Außenklima absetzen. Stehen z. B. Pflanzen eng zusammen, so ergibt sich in der Regel zur Mitte dieser Gruppierung hin, resp. zwischen ihnen ein schattigeres und vermutlich auch feuchteres, unter Umständen etwas gemäßigteres, in jedem Fall aber ausgeglicheneres Klima, als außen um diese Lebewesengruppe herum herrscht. Solche sich insulierenden Gruppen aus Lebewesen werden also, ohne es zu wissen, zu Mäzenen für Entwicklungen, die nun nicht vorrangig durch Mutationstheorie erklärt werden müssen: andere ökologische Bedingungen innerhalb eines Bestandes ermöglichen andere Entwicklung als außerhalb dieses Bestandes. Der »gene-flow« kann hier - ohne Hinzunahme von Mutationstheorie - zu anderen, neuen Entwicklungen führen, die außerhalb keine Überlebenschance hätten. Außerdem kann aus allgemeiner Erfahrung unterstellt werden, daß innerhalb solcher künstlicher Innenklimata »feinere«, feingliedrigere, oder in irgendeinem anderen Sinne anspruchsvollere Lebewesen aufwachsen, d. h. aufwachsen können als außerhalb dieses Schutzes. Denn das Hauptcharakteristikum dieser Insulationsphänomene ist ihr Schutzcharakter; sie stellen selbstgebildete ökologische Nischen dar. Dieses Nischenprinzip, Prinzip ökologischer aber auch differenzierterer Formen von Nischen, ist ein Prinzip der Evolution überhaupt. Hierbei scheint eine kontroverse Entwicklung aufdeckbar: Während die Evolution auf die Säugetiere hin die Nischenfunktion einem überlebensfreundlichen Medium wie Wasser, dann dem eindeutigeren Schutz des Eies, zuletzt dem Mutterlebewesen selbst übertragen hat (das insofern direkt der Mäzen des Nachwuchses wird und selbst in sich jenes künstliche Innenklima entwickelt, das die Voraussetzung für anspruchsvollere Entwicklung ist), wendet sich auf den Menschen zu die Entwicklung in gewisser Weise um: jetzt wird der Uterus wieder ein sozialer Raum, was ja nichts anderes bedeutet, als daß ein Teil der Schutzfunktion, den der mütterliche Innenraum übernommen hatte, nun wieder nach außen verlagert wird, was nicht möglich wäre, wenn ein solcher Außenraum nicht vorher geschaffen würde: Der »soziale Uterus«. Bei vielen entwickelteren Arten ist ein solcher Außenraum dadurch vorhanden, daß entweder bei bi-parentaler Pflege beide Eltern für die sonst überlebensunfähigen Nesthocker solange sorgen, bis sie das Nest verlassen können. Sie bleiben vorerst ständiges Angebot für Schutz, wie z. B. bei den Primaten, von denen ja auch der Nachwuchs in überlebensnotwendigen Techniken angelernt wird. Die frühe Vorverlegung der Geburt des Menschen, von der - wie oben gesagt - angenommen werden kann, daß sie einen ursächlichen Zusammenhang mit seiner teilweise höheren »Primitivität« hat, wäre nun nicht erklärbar, wenn nicht der in der Hordenneigung angelegte Insulationsmechanismus bei ihm eine besondere Note erhalten und behalten hätte.“ (KA 59ff) 70 In Nova Natura projiziert Claessens die schützende Bremsfunktion auf das gesamte Bildungswesen der Gesellschaft: „Die Situation gebietet eine Technik der Informationsbremsung. Aber die geschieht, wie fast alles, ungeplant und

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doch passend — allerdings nur mit aufschiebender Wirkung, die die expandierenden Kräfte nicht ahnen läßt. Es war von drei Kulturen die Rede: der neuen, technologischen, die auf Materialisierung von Prinzipien, Begriffen drängte, die den Begriff arbeiten lassen wollte, und der älteren, die bei der Idee, den Ideen, den »reinen«, nicht maschinenverschmutzten Begriffen bleiben wollte und blieb, und der vermittelnden, ökonomischen. Diese drei (Unter)Kulturen bieten sich nun zur Informierung des Kindes an, zur gebremsten Information. Sie wird leicht bewerkstelligt: in der eigentlichen »Bildungskultur« vermag man überhaupt nicht das neue Wesen der Gesellschaft zu erfassen, nicht ihre Chancen, nur ihre Drohungen. So vermittelt man Lesen und Schreiben, Rechnen und Reflektieren bis hin zum Begriff. Aber dessen Materialisierung und damit seine Realisierung in Technik und Wirtschaft bleibt außerhalb des Blickfeldes; bestenfalls eine besorgt gesehene Gegenwart taucht auf, nur flüchtig belichtet. Das geliebte Mythologem, die »Wahrheit«, liegt in der Vergangenheit. So setzen hier zwar Sprache und Denken zur Reflektion dazu an, dem Menschen sein höchstes Werkzeug, den Begriff, dienstbar zu machen, pervertieren aber in Rückwärtsgewandtheit zu Esoterik; bremsen, freilich ungewollt und unschuldig, den Elan des geweckten Anspruchs. Anders in der neuen technologischen und der ökonomischen Kultur. Hier hat man den Begriff, das Prinzip, materialisiert.“ (NN 57f) 71 Hier evtl. Hinweis auf Anschlußstellen in der evolutionären Pädagogik bei Treml u.a. 72 S. dazu die immer noch lehrreichen Ausführungen bei Claessens, 1968, über die Kombination und Substitution von Instinktsteuerung durch Sozialisation. Lehrreich sind diese Ausführungen aber gegen verharmlosenden Bildungsoptimismus, in dem verkannt wird, wie sich immer wieder schwerwiegende Zivilisationsverluste im Generationswechsel ergeben können: „Es sei daran erinnert, daß nach der prinzipiellen Hominisationsleistung, dem Schaffen künstlicher Innenklimata, der kleine Mensch die Hominisationschance »ererbt«: teils bereits phylogenetisch verankert, da er nur im warmen Innenklima von Mutter und Gruppe eine »Frühgeburt« zu sein wagen kann; teils, weil er eben unter »Menschen« geboren wird. Aber mit dem Auftreten auf dieser Welt, mit dem Herauszwängen aus dem künstlichen Innenklima »mütterlicher Leib« und der nicht nur symbolischen Abtrennung von der mütterlichen Versorgung, ist er hinfälliger denn je. Sein Organismus »weiß«, daß er »erwachsen« werden kann; aber er kann es nur, wenn ihm geholfen wird, wenn sein Schreien, der Ausdruck der Nöte der alten Zentren (die ihrerseits die Not des Körpers weitergeben) Menschen, »erfahrene Individuen« zur Hilfe bringt. Das ist bei Freud die Quelle aller moralischen Malice. Aber die Moral liegt tiefer, teils ist sie künstlicher: Tiefer liegt sie, weil der Anspruch eines Lebendigen, erhalten zu werden, unmittelbar an ihm erkennbar ist — das begegnende erwachsene ZNS kann diese neue Situation wahrnehmen. Schon Wölfe lösen sich in Wohngemeinschaften bei der Pflege der »Kinder« ab, während andere für die Gruppe jagen. So ist auch der Anspruch auf emotionale Zuwendung bei Säugern ein unmittelbarer. Die Moral ist in diesem seltenen Fall das direkte Derivat der Notwendigkeit, die Situation ist »normativ« — von Natur aus. So wendet sich in der Regel das


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weibliche Säugetier, dann der Mensch, dem hilflosen Säugling zu — vor aller Moral. Mit »Moral«, der menschlichen Moral, verhalten sich Menschen dann immer differenzierter. In komplexen Gesellschaften wenden sie sich dem Säugling zu Anfang »untermoralisch«, quasi-tierisch zu; aber gleichzeitig damit bekommt er nun nicht mehr die menschliche Zuwendung, sondern eine Art: eine schichtspezifische Art der Zuwendung: er wird in »seine« Kaste, seinen Stand, seine Klasse, seine Schicht, seine Subkultur hinein erzogen. Wir wissen, daß das für Einige volle Chance zur Humanisierung bedeutet, für andere, in der Regel die Mehrheit, reduzierte Chance. Stellt nun das Ganze der Humanisierungschance den menschlichen »Standard«, den menschlichen Maßstab dar und unterstellen wir, daß die Hemmung der neueren, erkennenden, analysierenden Teile des ZNS doch auch Steuerung der atavistischen Dynamik der älteren Zentren bedeutet, dann ergeben sich für diese zwei Arten von Rache: Erstens: die besonders dynamische Rache für das Vorenthalten des noch tierischen Anspruchs, z. B. der emotionalen Zuwendung. Sie wird sich — das Ausmaß ist noch ununtersucht! — vor allem gegen die Mutter wenden, wird zur Rache am Weiblichen überhaupt werden, erste Quelle von »Sadismus«. Zweitens: die schleichende Rache für das Vorenthalten der vollen Entfaltungschancen. Die erste Rache zu unterbinden oder zu mildern gibt es wenig Chancen. Das tiefe Ungenügen am Mangel an Zuwendung, existentiell werdend in der späteren Erschwerung heterosexueller Partnersuche und beständigen Kontaktes, wird beim menschlichen Individuum nur im seltenen Fall des »hingebungsvoll liebenden« Partners aufhebbar sein — und dann noch weiter in feinen Rachetendenzen wirksam. Hier muß sowieso die fehlerträchtige Ausgangssituation vermieden werden. Die zweite Rache ist die Warnung an den Menschen: die Bedingung seiner Menschwerdung einzulösen, über Hominisation hinaus die Humanisierung aller zu ermöglichen. Das ist vorerst Utopie. Diejenige Zwischenlage der Stabilisierung von Distanz, die »Kultur« genannt wurde und wird, war (und ist) ja so paradox wie der Gebrauch der sie ermöglichenden primären Waffe. Geschichtet, in Subkulturen unterschiedlicher Entfaltungschancen für den Menschen aufgeteilt, ist sie der Teufelskreis selbst: noch und gerade in ihrem Bemühen, die Archaik der alten Zentren unter Kontrolle zu halten, definiert »Kultur« allüberall die ausbrechende Rache, die »Straftat«, als Archaik selbst. Indem sie sie zusätzlich unterdrückt, produziert sie jene »Frustrationen«, jene Behinderungen des prinzipiellen Distanzierungsanspruchs, unter dem sie doch selbst angetreten ist. Sie erzeugt sie und reproduziert sie in der Unterdrückung. Solche »Sanktionen« reproduzieren sich also selbst. Das wurde ein bedeutender Teil der menschlichen »Geschichte«, ist es heute noch.“ (Claessens 1970, 76f.) 73 Diese Aussage richtet sich in erster Linie gegen die inflationäre Verwendung des Mem-Konzepts von Dawkins und Blackmore. Eine zureichende Spezifikation des Replikationsmechanismus unter Bezug auf den Generationswechsel fehlt aber auch in den soziologisch anschlussfähigeren Un-

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tersuchungen von Richerson und Boyd 2005, bei Sperber u.a. 74 Hier ist vor allem an die kausale Unabhängigkeit der Prozesse zu denken, mit der sich das Zusammenwirken evolutionärer Mechanismen abspielt. Dies setzt im Falle des Replikationsmechanismus – ähnlich der genetischen Replikation – ein gewisses Maß an operativer Geschlossenheit gegenüber Umwelteinflüssen voraus. 75

Zu 3. Fortsetzung

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Ebenso wie für die naturalistisch fundierten Zeitdiagnosen, von denen sich Claessens abgrenzte.

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Die noch bei Durkheim ein wichtiger Erklärungsfaktor für sozialen Strukturwandel darstellte ... – s. dazu erneut Richerson/Boyd 1998 78 Im Unterschied zu der breiten Diskussion evolutionstheoretischer Ansätze in der angelsächsischen Soziologie von den sozialökologischen Ansätzen der Chicago-Schule bis zu Campbell und Richerson/Boyd. 79 Besonders auffällig erscheint die Ignoranz gegenüber der in „Das Konkrete und das Abstrakte“ vorgeschlagenen Verbreiterung des theoretischen Fundaments in der Soziologie. Hier hätte bereits die ältere und auch die erneute Debatte über das sogenannte Mikro-Makro-Problem in den Sozialwissenschaften (Alexander et al. 1987, Greve et al. 2008) erheblich von Claessens profitieren können, wenn gesehen worden wäre, dass die Probleme der Beschreibung des Übergangs zwischen Mikro- und Makrophänomenen des Sozialen nicht nur methodologischer Natur sind, sondern Probleme der menschlichen Kognition und der Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme in der kulturellen Evolution spiegeln. Auch der für die soziologischen Methodendiskussion relevante Befund, dass ein im engeren Sinne nutzenmaximierendes Verhalten (rational choice) eher auf der Ebene von Kollektivakteuren bzw. Sozialsystemen als auf der Mikroebene individuellen Verhaltens zu beobachten ist, ließe sich im Rahmen der bereits von Claessens herangezogenen Gruppenselektionstheorie gut erklären. 80 81

Zu 3.1 Zurück zur Natur

In KA hat Claessens den kleinen Band Nova Natura als „Kurzfassung von »Instinkt-Psyche-Geltung« unter Betonung des Gedankens der Notwendigkeit einer neuen Befreundung mit der Natur“ bezeichnet. Die kuschelig daherkommende Bezeichnung dient der Distanzierung gegenüber kulturpessimistischer Naturverteufelung. Es handelt sich aber keineswegs um eine popularisierende Kurzfassung seiner wissenschaftlichen Arbeit. Vielmehr erspart sich Claessens hier den Apparat an Belegen und Verweisen – spricht gewissermaßen „ex cathedra“ – um deutlich zu machen, dass es um übergreifende Fragen der Weltanschauung geht. 82 In Nova Natura stellt Claessens die Ambivalenz der Mechanismen der Inklusion und Exklusion unter dem sozialen Schutzschirm der Gruppe heraus: „Die alte Natur war eine Folie, in die man eingebettet war — mit feinen Angstfäden durchzogen, die ereignisweise anschwollen, wieder sich zusammenzogen. Selten die Konfrontation mit dem großen Feind, der existenzbedrohend war. In der Gruppe, der Horde, tritt zwar der Gegner häufiger und periodisch auf, aber ein Mechanismus schützt die


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Menschvorläufer davor, vom Artgenossen getötet zu werden: man zeigt die eigene Schwäche, bietet den Hals zum tödlichen Biß an — und der Gegner läßt ab. Mit der Stabilisierung der Distanzierungsleistung durch die insulierende Gruppe gewinnt nicht nur der Menschvorläufer die Mensch-Chance, sondern auch die Gruppe eine neue Qualität: sie löst die alte Natur ab, wird Übergangslösung — bis sie »Kultur« aus sich heraus entwickelt, die zweite Natur des Menschen, seine eigentliche Natur. Aber vorerst ist es nur die Gruppe allein, mit minimaler materieller Ausstattung, nur Vorzeichen von Kultur. Diese Gruppe ist die schützende Mauer um sich selbst. Das heißt: durch sie wird die alte Natur abgehalten und erst durch sie jene Distanzierung konstitutionell, die der Hintergrund des Verhältnisses zum Werkzeug, zum »Ding« ist. Vor der entfremdeten alten Natur erst heben sich die entfremdeten Dinge ab. In der Gruppe braucht man sich nicht vor der alten Natur zu fürchten; trotzdem wirkt sie angsterregend, weil nunmehr fremd; die sekundäre Angst ist da. Diese zweite Angst wird die Chance der Gruppe, ihr stärkstes Bindemittel [Religion! Anm. kg]. Sie braucht diese zweite Angst auch, diese Angst, die so groß werden kann, daß der Ausgestoßene stirbt. Sie braucht diese Angst des naturunfähig gewordenen und kulturreifen Menschen, weil sie selbst Angst produziert, Angst, die aus ihr heraustreiben könnte. Die Gruppe schützt zwar, aber sie hat eine weitere unheimliche Eigenschaft: sind vier da, so treten, wie sich einer auch wende und drehe, immer drei ihm entgegen mit Bitten, Forderungen, auch Hilfen, aber mehr potentiellen Drohungen. So sehen vier nach innen und sehen Hilfe, aber mehr noch Zwang; sehen nach außen und erleben vorgreifend Angst, sekundäre Angst. Sie vergraben die dritte, die tertiäre Angst vor den Genossen in sich, entwickeln psychische Techniken, ihr zu begegnen und bleiben in der Gruppe. So ist die tiefe Befreundung mit dem helfenden Menschen untermischt mit verdrängtem Bewußtsein vom Gruppenzwang, und eine wichtige Quelle des menschlichen Antriebsüberschusses kann die konstitutive Frustration seiner Lage werden, die unentwegt Aggressionsbereitschaft ausbrütet.“ (NN 20) 83 Die Formulierung „Zivilisierung der Kultur“ stammt von Heiner Mühlmann 1996. 84 S. das Eingangszitat zum 3. Abschnitt aus NN 12 – Hierhin gehört aber auch der Hinweis auf das Heraustreten aus der Geborgenheit der sozialen Gruppe als (zivilisierende) Kulturarbeit: „Hier sollte auf diejenige Kulturarbeit verwiesen werden, der sich Menschen aussetzen, wenn sie »das warme Nest« verlassen. Und mit dem »warmen Nest« ist nicht nur der materiell und sozial geheizte Raum der subalternen Behörde gemeint (in der es auch »Sturmecken« gibt!), sondern das Sich-Begnügen überhaupt - das unter anderem Aspekt einen hohen Wert darstellen mag.!“ Claessens, 1989, 336 85 In diesem Sinne schließt Claessens in Nova Natura mit einem gewissen Bildungspathos (Fortsetzung des Eingangszitats aus NN 96): „Zum allgemeinen Bildungsbürger einer sich selbst sichernden Gesellschaft werdend, kann [der Mensch] die imaginierte Teilhabe an »Besitz«, »Macht«, »Prestige« fallenlassen, sie haben keine Achtung mehr, werden der Verachtung anheimfallen. Noch im bewußt zu überhöhenden Geschlechtlichen vom Druck der körperlichen Anpassung

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gelöst, kann er sich überhaupt lösen und sich dem anderen Menschen zuwenden. Distanzieren wird nun ein bewußter Akt, kein »Vollzug eines phylogenetischen Auftrages«, aber Weitertreiben einer Chance im Zulassen des Unbewußten, der Vergangenheit mit ihren Schrullen, der Infantilität und Skurrilität, wird aktive Toleranz, Zurücknahme des feindlichen Anspruchs, der doch nur immer Unterdrückung war. Der Mensch kann entscheiden, womit er sich befreunden will.“ 86 S. die Ausführungen zum Replikationsmechanismus oben in 2.3 87 An vielen Symptomen wird heute deutlich, dass in avancierten Ländern der modernen Gesellschaft (wie in der BRD) die Unsicherheit darüber zunimmt, ob eine weitere Ausdehnung des psychosozialen Moratoriums sekundärer Sozialisationsprozesse durch das moderne Bildungswesen oder eher dessen Reduktion durch frühe Anpassung an die innergesellschaftlichen Selektionsprozesse angestrebt werden soll. 88 Die von Claessens (in KA) verwendete Unterscheidung zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten - Nahwelt und Fernwelt - macht nur Sinn in einem naturalistischen Theoriekonzept (also nicht in Sozialtheorien, die ausschließlich auf Sinnkonstrukte abstellen). Der springende Punkt ist in der evolutionär unwahrscheinlichen Ausdehnung der menschlichen Sozialität über das bei anderen Lebewesen und in der längsten Phase der Menschheitsgeschichte beobachtbare Maß hinaus zu sehen. Alles was menschliche Sozialsysteme mit den Mitteln symbolisch generalisierter und technisch erweiterter Kommunikation in räumlicher und zeitlicher Hinsicht darüber hinaus treibt, ist der Makroebene der Abstraktionen zuzurechnen: also nicht nur die Ideen über die Organisation der Gesellschaft, sondern jede Form von Organisation von der Verwaltung mesopotamischer Kornkammern bis zu den global players der Moderne. 89 Paradox ausgedrückt: in Formen der reflexiven Institutionalisierung. 90 91

Zu 3.2 Zivilisierung der Kultur

Obwohl nicht explizit auf Durkheim bezogen sieht es doch so aus, als ob sich die Formel vom „kleinen Leviathan“ sich direkt gegen die bei Durkheim und in großen Teilen der Ethnologie anzutreffende Verharmlosung des sozialen Drucks in einfachen Gesellschaften richtete. In seinem Werk über die elementaren Formen des religiösen Lebens hatte Durkheim geschrieben: „Die primitiven Gesellschaften sind keine Leviathane, die den Menschen mit dem ungeheuren Gewicht ihrer Macht erdrücken und ihn einer harten Disziplin unterwerfen. Er gibt sich ihnen im Gegenteil spontan und ohne Widerstand hin.“ Durkheim, 307f) 92 Durkheim 1981. Man hat Durkheim eine (nicht nur methodologisch gemeinte) Überhöhung des Sozialen vorgeworfen. Dabei wird jedoch häufig übersehen, wie sehr Durkheim zugleich das Individualitätskonzept der Moderne gegen reaktionäre Kulturkritik verteidigt. 93 s. Das Unbehagen in der Kultur (Freud, 1948) - In dieser Hinsicht noch zugespitzt s. Girard. 94 s. NN 84f. 95 In Claessens Beschreibung der Größenproblematik menschlicher Sozialsysteme stehen in KA eher kognitive Probleme im Vordergrund:


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„Die Gruppe muß übersichtlich sein: Jeder muß alle »im Auge« behalten können, um rechtzeitig jede Andeutung von »Zusammenbruch« mitbekommen zu können, d. h. um rechtzeitig zur Hilfe für die Wiederaufrichtung des Widerstandsgeistes zur Stelle sein zu können.* Außerdem ist die gegenseitige direkte körperliche Hilfe sehr viel schneller leistbar, wenn die Gruppe klein ist. Die damit praktizierte Solidarität verstärkt wiederum den Zusammenhang usw. usf. Die Vergrößerung einer Gruppe gefährdet alle diese zusammenhaltenden Mechanismen. Der »Beschwörer« mußte nur gegen eine neue Außenwelt, die durch den Traum vermittelte »zweite Welt« antreten, zu ihr eine friedliche, beruhigende, heilsame oder vermittelnde Beziehung herstellen. Insofern hatte er ebenfalls mit der Grenze der Gruppe zu tun und sicherte sie, besonders als emotionale Grenze nach außen. Aber die Gruppe blieb real gleich groß. Bei der quantitativen Vergrößerung der Gruppe treten qualitativ andere Probleme auf: Nun gilt es nicht mehr nur eine Beziehung zu möglicherweise verunsichernden »Außengeistern« herzustellen, es muß vielmehr der durch die zunehmende Größe der Menschengruppe in Frage gestellte insulative Zusammenhang ohne die erwähnten Hilfen der Kleinheit und Übersichtlichkeit hergestellt oder gesichert werden. Die Anstrengungen gehen »nach innen«! Wir könnten uns eine solche Auffangbewegung gegen das Auseinanderstreben und emotionale Zerfallen der Gesamtgruppe (und eventuell auch der Einzelgruppen mit der Konsequenz des totalen Rückfalls in vormenschliche Zustände) unter dem Machtaspekt vorstellen: Ein Mächtiger verhindert den Zerfall durch sein »Charisma«, seine persönliche Ausstrahlung, oder mit Gewalt. Es spricht aber viel dafür, daß über lange Zeiten diejenigen Möglichkeiten eingesetzt und genutzt wurden, die die Erfahrungen der kleinen Gruppen selbst anboten (und hier schließen sich unsere Überlegungen für eine Strecke an die Analysen von Clastres und z. B. die Beobachtungen von Eibl-Eibesfeld, Koch und anderen an). Der Machtweg war nicht nur »nicht notwendig«, - er hätte auch im Hinblick auf das gewünschte Ergebnis sprengend gewirkt. Dazu hier nur kurze Erläuterungen; dies Thema wird die Analyse von jetzt an sowieso weiter begleiten.“ KA 181f 96 Exklusion von Individuen oder Gruppen mit sozial abweichendem Verhalten aus dem Sozialsystem – oder bei entsprechender Differenzierung aus bestimmten Teilen desselben. 97 S. dazu schon den Unterabschnitt „Gruppe und Geltung“ in IPG IV, I – ausführlicher dann in KA. 98 In dieser Hinsicht folgt Claessens eher Elias – Entstehung der Zivilisation aus der Höfischen Gesellschaft – als der Protestantismus-These von M.Weber. 99 S. Anm. zur Ebenendifferenzierung als evolutionstheoretische Rekonstruktion des Mikro-Makro-Problems in 3.0 und 3.2 - Hier oder in 3.2 fehlen noch Ausführungen zur Wiedereinführung der in der alten Kultur weitgehend externalisierten Konkurrenzkonflikte in den zivilisatorisch geregelten Formen des Wettbewerbs. Anschluss an Hinweis in 1.1 100 S. die programmatische Verwendung der Formulierung vom Unbehagen an oder in der Moderne bei Taylor, Berger, Baumann und in der sozialphilosophischen Schule der Kommunitaristen.

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Dazu Claessens – hier allerdings ohne klare Unterscheidung der Verhaltensmuster zwischen ingroup und outgroup: „Wir brauchen uns keinen Täuschungen darüber hinzugeben, daß Menschen ihre menschlichen Feinde, auch unter den nächsten Genossen, nicht schon früh erkannt hätten. Eine besondere Angst, die dritte nach der alten natürlichen Angst und der durch die Distanzierung produzierten, die menschliche Angst, schlug sicher von Anfang an in Furcht vor dem Unterdrücker und Haß gegen ihn um. Vermutlich wurde dieser Haß besonders durch erlittenen, zu erleidenden körperlichen Schmerz erzeugt, danach durch Entzug von Bewegungsmöglichkeit, Entzug von Entfaltungschance, Vorenthalten entfalteten, anspruchsvollen Schicksals, Vorenthalten von Rollen — durch »relative Deprivation«, im Vergleich erst festzustellende Zurückstellung. Aber von diesen ganzen Mechanismen konnten sicher die letzten, feineren immer wieder über sehr lange Zeiten stillgelegt werden. Es war nur je eine Regelung des gesellschaftlichen Lebens zu finden, die die Mehrheit nicht in Not leben ließ und die weiteren Unterschiede kulturell selbstverständlich machte, z. B. über die unentwegte Behauptung der Notwendigkeit von Arbeitsteilung einerseits, den wirklich gewährten Schutz durch die Adelsgruppe andererseits. Dennoch bricht das Leben und das Wissen um die relative Deprivation in allen Kulturen ständig durch, führt mindestens zu Kämpfen zwischen Rangnahen. Nach der gleichgültigen Entfremdung von der alten Natur, die als Preis für die Distanzierung von ihr hingenommen wurde, schleicht sich das Gefühl einer feindlichen Entfremdung mit dem Erlebnis von Unterdrückung ein. Diese feindliche Entfremdung kann lange Zeit durch die Allgemeinheit dieses Schicksals getarnt bleiben, große Gruppenkatastrophen verschleiern sie. Mit ruhigeren Zeiten wird sie bewußter, schlägt als Bewußtsein um in Verhalten, aber gegen die Nächstschwächeren. So wird feindliche Entfremdung, solange es geht, weitergegeben. Vermittels der Genugtuung, die aus der Weiterleitung feindlicher Entfremdung gezogen werden kann, wird die eigene Situation neutralisiert.“ (NN 32f ) 102 Im Blick auf Waffentechnik zeigen sich also auch Gründe für eine Umkehrung in der Gewichtung zwischen Alsbergund Miller-Theorem – die Claessens nicht entgangen sein können. S. nur KA 120, 192 sowie 212ff zu Krieg und Jagd und KA 378 mit Hinweis auf die Waffen der Tiere. S. schon das o.a. Zitat aus NN 75. 103 Die dem hier skizzierten Mechanismus der Konfliktexternalisierung entsprechende Formel bei Claessens lautet: „Innenstabilisierung durch Außenstabilisierung“. Diese aus der PhA stammende Formulierung ist allerdings eher auf die Probleme kognitiver Systeme als auf die Konfliktlagen sozialer Systeme focussiert: „Die Weltinterpretationen entwickeln sich aus ihren Vorläufern, den großen Mythen, die charakteristischerweise meist nicht nur die Interpretation der Herkunft des Menschen (und insbesondere des betreffenden Volkes, was zu Anfang meist dasselbe sein soll) zu erklären versuchen, sondern - sozusagen in diese Interpretation hineingeschoben - offenbar bereits sehr früh, z. B. durch Ritualisierung, auch die Legitimation der Herrschaftsordnung versuchen. In der praktischen Ausübung von Herrschaft entstehen dann in den Hochkulturen die Religionen als höchster Ausdruck der gelungenen Befriedigung des Bedürfnisses der


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Menschen nach »Innenstabilisierung«. Für ein kompliziertes und nicht mehr durch Instinkte eindeutig geleitetes Wesen ist die Ordnung der Außenwelt ein logisch einfaches Mittel, zur Innenberuhigung zu kommen; in diesem Sinne ist die These von Innenstabilisierung durch Außenstabilisierung zu verstehen. (KA 311f) 104 S. nur Huntingtons „Clash of Civilisations“ und die Flut an Literatur über Religionskonflikte, die heute auf dem Markt ist. Religion kommt bei Claessens in NN und KA zwar vor, erscheint aber – unter dem Aspekt der Entstehung fundamentalistischer Bewegungen in der Moderne – eher unterbelichtet. 105 Bei genauerer Betrachtung wäre hier noch zu differenzieren zwischen räumlichen und zeitlichen Aspekten der Ausdehnung. Während die globale Vernetzung und Verdichtung der Kommunikationsmittel in der Moderne keine Verlagerung von Konflikten in eine desozialisierte Außenwelt zulässt, entsteht mit der Steigerung der Speicherkapazitäten in den neuen Netzen ein prinzipiell unbeschränkter Zugang zu den Wissensvorräten der Gesellschaft, der keine Exklusion von relevantem Wissen mehr zulässt, aber auch alles Vergessen erschwert. 106 Ausführungen über Mechanismen der Konfliktexternalisierung in Gilgenmann 2011.

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