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B.Schweitzer / K.Gilgenmann:Kritik -Beitrag zu dem Artikel von B. Stephan “Übereinstimmungen und Analogien zwischen der Evolution biotischer und der Entwicklung gesellschaftlicher Systeme” für die Zeitschrift Erwägen/Wissen/Ethik (2005)

Strukturelle Analogien bei biotischer und soziokultureller Evolution ((1)) Analogien sind kein Selbstzweck, sie sollten sich nicht in zufälligen oder irrelevanten Übereinstimmungen erschöpfen. Gute Analogien sind informativ, prägnant und heuristisch wertvoll. In ihrer Präzision gehen sie über Bilder, Metaphern oder Allegorien hinaus. Im günstigsten Falle führen sie zu neuartigen, prüfbaren Erklärungen und Vorhersagen oder zu theoretischer Vereinheitlichung. Insofern ist dem Anliegen des Hauptartikels von B. Stefan zu folgen, relevante von irrelevanten Analogien zu trennen (St. 2). Es ist auch richtig, dass Analogien stets im Hinblick auf einen bestimmten Gesichtspunkt formuliert werden müssen; Analogie ist demnach eine mindestens dreistellige Relation. Leider werden in dem Artikel jedoch keine präzisen Gesichtspunkte für die Suche nach Analogien formuliert. ((2)) Die Anlehnung an die in der Biologie übliche Unterscheidung von Analogie und Homologie (St. 3) erscheint wenig fruchtbar. Analogie im biologischen Sinn bedeutet stets funktionelle Analogie; Homologie besteht dagegen in partieller struktureller Übereinstimmung, die jedoch nur so weit reichen muss, dass eine gemeinsame Abstammung plausibel gemacht werden kann. Wir ha lten die Unterscheidung struktureller und funktioneller Analogien für ergiebiger. ((3)) Funktionelle Analogien zwischen Produkten biotischer und soziokultureller Evolution sind denkbar, etwa verschiedene Lösungen des gleichen Problems, wie Wärmeisolation durch Fell oder Bekleidung oder Förderung von Kooperation durch spezielle genetische Systeme oder moralische Regeln. Funktionelle Analogien bezogen auf Evolutions-, Entwicklungs- oder Veränderungsprozesse sind dagegen kaum vorstellbar, weil man der biotischen Evolution ke ine Funktion zuschreiben kann. Nur bei menschlichen Unternehmungen könnte man sagen, ein evolutionärer Vorgang habe eine analoge Funktion wie ein Plan, nämlich ein in irgendeiner Hinsicht optimiertes Produkt zu erzeugen. ((4)) Strukturelle Analogien zwischen Vorgängen des – neutral formuliert – Wandels bei biotischen und soziokulturellen Systemen sind als relevant und fruchtbar anzusehen. Analogie wird gelegentlich mit Ähnlichkeit identif i-

ziert. Nach Ernst Mach ist Analogie ein Spezia lfall der Ähnlichkeit, nämlich Übereinstimmung von Systemen hinsichtlich bestimmter Merkmale (Mach 1905/1926: 220–231). Als strukturelle Analogie kann man daran anschließend die Übereinstimmung von zwei oder mehr Systemen hinsichtlich der Beziehungen ihrer Elemente verstehen. Wenn bestimmte Beziehungen zwischen den Elementen eines Systems umkehrbar eindeutig den Beziehungen zwischen den Elementen eines anderen Systems zugeordnet werden können – ohne dass die Elemente gleichartig zu sein brauchen –, dann werden die beiden Systeme als in ihrer Struktur teilweise übereinstimmend oder als strukturell analog bezeichnet. Beispiele für solche strukturellen Analogien sind die traditionelle Gegenüberstellung von Mikro- und Makrokosmos oder die von Niels Bohr vorgeschlagene Analogie zwischen dem Aufbau des Atoms und des Planetensystems. Solche Analogien dienen vor allem als heuristisches Mittel (vgl. Bromme/Hömberg 1977, 17f; Schweitzer 2003). Sie dienen auch als didaktische Hilfsmittel, z.B. in der Analogie zwischen hydraulischen Modellen und elektrischen Stromkreisen. ((5)) Stephan nennt folgende Analogien zwischen biotischem und soziokulturellem Wandel: Evolution und Entwicklung seien Prozesse des Wandels, bei denen Neues entsteht (St. 2, 3) und der wechselnd rasch, langsam oder stagnierend verlaufe (St. 3, 51, 52). Biotischer wie technischer Wandel unterliege Zwängen bezüglich Material und Energie sowie der Notwendigkeit der Differenzierung, Spezia lisierung und Leistungsoptimierung (St. 52). ((6)) Es gibt jedoch gute Gründe dafür, weitergehende Analogien zwischen biotischer und kultureller Evolution zu suchen. Hier kann nur auf einige der wichtigsten hingewiesen werden: •

Bei beiden Vorgängen ist die Weitergabe von Information von zentraler Bedeutung, daher erscheint die Suche nach Einheiten und Mechanismen der Vererbung, Transmission oder Speicherung sinnvoll.

Bei beiden Vorgängen handelt es sich um Phänomene, die sich an oder in Populationen abspielen, bei denen es um Merkmalsverteilungen in Gruppen von Individuen geht. Auch Kulturen sind nicht homogen, sie bestehen aus Indi-


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Merkmale.

chanismen stammesgeschichtlichen wie soziokulturellen Wandels sind vielfach ausgearbeitet worden:

Bei beiden Vorgängen handelt es sich um Weitergabe von

viduen mit unterschiedlichen Kombinationen kultureller •

Evolution der Lebewesen, sondern auch der Erkenntnisge-

durchlaufen müssen (vgl. Dawkins 1994, 405– 416). Im

winn in Alltag und Wissenschaft stets nach dem Mecha-

Falle menschlicher Individuen erscheinen biotische und

nismus von ungerichteter Variation und selektiver Beibe-

kulturelle Evolution sogar in derselben Einheit gekoppelt, deren organische und kognitive Entwicklung den Engpass

haltung («blind variation, selective retention») vor sich gehe. Karl Popper (1972/1984) und andere haben diese Posi-

bildet, den die jeweiligen Informationen passieren müssen,

tion nachdrücklich vertreten; sie ist auch auf Vorgänge bei

um sich in soziokulturellen Populationen zu reproduzieren.

der Ausbildung von Immunsystemen und Nervensystemen

Beide Vorgänge führen in der Regel nicht nur zur – hier

ausgeweitet worden.

angedeuteten – Optimierung (St. Zusammenfassung), son-

Richard Dawkins und später David Hull haben darauf

dern auch zur Entstehung von Ordnung und Design sowie

hingewiesen, dass sich die Einheiten der biotischen Verer-

zu einer fortschreitenden Anpassung oder kumulativen

bung, die Gene, in abstrakter Weise als Replikatoren be-

Adaptation. Daher lässt sich im Verlauf beider Vorgänge

schreiben lassen und dass derartige Replikatoren sich auch

zumindest partiell Komplexitätszuwachs oder «Fortschritt»

im soziokulturellen Bereich, als Einheiten der Informati-

ausmachen (vgl. Dennett 1995; Dawkins 1996).

onsübertragung oder der kulturellen Vererbung auffinden

Bei beiden Vorgängen treten aber auch suboptimale,

lassen. Für solche kulturellen Vererbungseinheiten hat

nachteilige, pathologische; im soziokulturellen Bereich:

Dawkins den Begriff «Mem» geprägt, wobei die Debatten

nichtintendierte Merkmale auf (vgl. Schweitzer 1999), und

um dessen präzise Charakterisierung noch andauern (vgl.

hier wie da kommt es zu Niedergang und Aussterben von Populationen, Arten, Gesellschaften und Kulturen. «Wäh-

Dawkins 2001).

rend optimale Anpassung als Beleg für intelligentes Design

1976/1994;

Blackmore

1999/2000;

Aunger

Von Replikatoren werden die Merkmale Fruchtbarkeit,

genommen werden könnte und somit als Unterstützung für

Wiedergabetreue und Langlebigkeit gefordert (Dawkins

teleologische Ansätze [...], ergeben suboptimale Leistung,

1982). Darüber hinaus müssen sie Verhalten beeinflussen

offensichtliche Fehler im ‹Design›, Rekapitulationen, Ru-

können, eine Übertragungsgeschichte haben und Teil eines

dimente […] nur Sinn in einer Theorie oder einem Sy stem

Organismus oder einer Kultur sein (Durham/Weingart

von Theorien, die mit Begriffen wie historischer Zufall,

1997).

Variation und Selektion operieren.» (Mahner/Bunge 1997, 363) •

Donald T. Campbell (1974) hat betont, dass nicht nur die

Informationen, die den Engpass lebendiger Individuen

Bei allen Systemen, in denen derartige Replikatoren vorkommen, kommt es durch die Mechanismen Variation,

Den Prozessen des stammesgeschichtlichen wie des sozi-

Reproduktion und Selektion zu Evolutionsprozessen, die

alkulturellen Wandels kann man kein übergreifendes Ziel

zum Entstehen von Komplexität, Design und Anpassung

zuschreiben, aber unter Umständen lokale, für bestimmte

führen. Diese Hypothese wird als «Universeller Darwinis -

Zeitabschnitte geltende Richtungen oder Trends. Keiner

mus» (vgl. Dawkins 1976/1994; Dennett 1995; Blackmore 1999/2000) oder als «verallgemeinerte Evolutionstheorie»

der beiden Vorgänge verläuft (insgesamt) geplant oder gesteuert in dem Sinne, dass angestrebte Ziele erwartungsgemäß erreicht werden. Selbstverständlich soll nicht behauptet werden, es gäbe keine bewusste Planung und Steuerung in Kultur und Gesellschaft. Es erscheint aber notwendig, dabei zwischen Variations- und Selektionseffekten zu unterscheiden und die relativen Anteile auf einer breiten theoretischen wie empirischen Basis zu diskutieren.

((7)) Die bedeutendsten strukturellen Analogien beziehen sich auf die zugrundeliegenden Mechanismen (zum Mechanismusbegriff in Natur- und Sozialwissenschaften vgl. Bunge 2004). Übereinstimmungen hinsichtlich der Me-

(vgl. Schurz 2001) bezeichnet. •

Auch wenn die Annahme, es gebe identifizierbare Einheiten der kulturellen Informationsübertragung abgelehnt wird oder die Frage offengelassen wird, ist es möglich, weitreichende Analogien hinsichtlich geeigneter mathematischer Modelle für biotischen und soziokulturellen Wandel herauszuarbeiten

(vgl.

Cavalli-Sforza/Feldman

1981;

Boyd/Richerson 1985). «Culture can have heritable properties and evolve in a Darwinian sense even if it is continuous, error-prone, and individually ephemeral.» (Henrich/McElreath 2003)

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((8)) Bei allen soeben genannten Analogien ist die Diskussion keineswegs abgeschlossen, doch dürfen sie als die avanciertesten und meistdiskutierten Modelle ge lten, zu denen selbstverständlich Kritik und Ausarbeitung von Alternativen höchst wünschenswert gewesen wären. Le ider wird jedoch im Aufsatz von Stephan dieser gesamte Diskussionsstrang ausgeble ndet, und diese Ausblendung führt zu den in ihrer Pauschalität unhaltbaren Behauptungen: «Der prinzipielle Unterschied besteht jedoch darin, dass Evolution Artenwandel über die Bildung individueller Varianten, Selektion und Fortpflanzung ist, während die technischen Systeme wie alle gesellschaftlichen Subsysteme und die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse von Menschen entwickelt und gestaltet werden.» (St. Zusammenfassung) und «Analog ist nur, dass Neues entsteht [...], nicht aber die Art und Weise des Entstehens von Neuem.» (St. 52)

((9)) Dagegen steht das Argument, dass sowohl der Erklärungswert als auch die heuristische Fruchtbarkeit einer verallgemeinerten Evolutionstheorie, auch speziell bezogen auf den soziokulturellen Bereich, wesentlich höher zu veranschlagen ist als der aller bekannten konkurrierenden Theorien. Sowohl die theoretische Mode llierung – sei es mit oder ohne diskrete Replikatoren – als auch die empirischen Befunde hinsichtlich des Verlaufs von Prozessen des biotischen wie des soziokult urellen Wandels, insbesondere bezüglich der Ablaufmuster, der Vorhersagbarkeit oder der Muster optimaler und suboptimaler Merkmale deuten darauf hin. ((10)) Im Aufsatz von B. Stephan werden Merkmale und Stadien des Wandels von soziobiotischen und soziokult urellen Einheiten nachgezeichnet. Jedoch werden weder Analogie - noch Evolutions- und Entwicklungsbegriff hinreichend präzisiert. Zudem werden relevante strukturelle Analogien zwischen biotischem und kulturellem Wandel nicht genannt, und folglich kommt es zu der u. E. unzutreffenden Einschätzung, soziokultureller Wandel sei nicht als Evolution, sondern als Entwic klungsprozess aufzufassen.

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