Kg jg 2002 eu integration

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Die Europäische Union als Spiel und Beispiel. Ein einfaches Modell zur Darstellung von Integrationsprozessen Jörg Glombowski und Klaus Gilgenmann S. 69-98 in: Die Europäische Union aus politökonomischer Perspektive . Herausgegeben von Horst Hegmann und Bern­ hard Neumärker, Metropolis-Verlag Marburg 2002 1. Einleitende Bemerkungen1 Im Rahmen dieses Beitrags soll die europäische Integration vor allem unter der Perspektive der Zunahme der Mitglie­ deranzahl der Europäischen Union betrachtet werden („Er­ weiterung"). Für die faktische Entwicklung der EU sind die qualitativen Veränderungen, sei es als kontinuierlicher Strom kleiner Veränderungen, sei es in der Form großer Reformen („Vertiefung"), eben so wichtig. Die qualitativen Veränderungen können (oder müssen gelegentlich) den quantitativen Erweiterungen voran gehen, können umge­ kehrt aber auch von diesen angestoßen werden. Dieser Prozess quantitativer Vergrößerung und qualitativer Veränderung kann aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Blickrichtungen beleuchtet werden. Eine sich dabei anbietende Perspektive wäre die historische, die den Gesamtprozess als unregelmäßige Abfolge einmaliger Schritte darstellen bzw. interpretieren und dabei unter ande­ rem auch die bedeutende Rolle führender Politiker sowi e die kumulativen und spezifisch europäischen Charakteristi­ ka des Prozesses würdigen würde. Ein solches Vorgehen, wie es etwa die historische Schule der deutschen Ökonomie noch befürwortet hätte, widerspricht dem Grundverständnis der modernen Ökonomie, ode r jedenfalls ihres Main­ streams, der auf überhistorische und (vermeintlich?) unive r­ sell gültige Konzepte wie Rationalität, Effizienz und Gleichgewichtstendenzen setzt.2 Ökonomen finden bekanntlich häufig Wege, ihre als pro­ duktiv erachtete Sichtweise auf neue Themen anzuwenden oder neue Problematiken auf das aus ihrer Perspektive her­ aus Bearbeitbare zurecht zu stutzen. Ein Beispiel dafür liefert schon der Call for Papers für die diesem Tagungs­ band zugrundeliegende Tagung: „Wo nationale Politik sich zunehmend prekärer herausstellt, wird eine auf dieses Pro­ blem hin zugeschnittene stärkere Europäische Union allzu häufig nach dem Modell eines nunmehr gesamteuropäi­ schen Nationalstaats konzipiert." Natürlich läuft ein solches reduktionistisches Vorgehen Gefahr, für den zu erklärenden Prozess Wesentliches als unbequem zur Seite schieben. Wir werden im Folgenden ein kleines und recht einfaches Modell zur Darstellung von Integrationsprozessen entwi k­ keln, das hier auf den europäischen Integrationsprozess bezogen wird, sich aber einer allgemeineren Integrationslo­ gik verdankt.3 Dieses Modell schöpft aus mehreren ökono­ 1

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Die Verfasser danken einem anonymen Referenten für eine Reihe von nützlichen Verbesserungsvorschlägen und Michael Krüger für die kriti­ sche Durchsicht des Manuskriptes. Dass auch zeitgenössische Ökonomen in der Lage sind, die faktische Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses in ihren histori­ schen Details aus zu leuchten und ökonomisch sowie politisch zu inter­ pretieren, demonstrieren z.B. van Riel und Metten 2000. Siehe auch di­ verse Beiträge in Crafts und Toniolo 1996. Insofern ähnelt unser Vorgehen demjenigen Mattlis (Mattli 1999), der von einer allgemein formulierbaren Integrationslogik ausgeht, auch

mischen Quellen. Die erste wäre die kooperative Spieltheo­ rie. Ausgangspunkt ist nämlich die Unterstellung, dass in­ ternationale Kooperation grundsätzlich Gewinne ermö g­ licht, um deren Verteilung es Bargai-ning-Prozesse gibt, die zu einvernehmlichen Lösungen führen. Das Mittel zur Rea­ lisierung dieser Gewinne ist die Bildung bzw. Vergrößerung von Koalitionen von Staaten im Zeitverlauf. Die Kooperati­ onsgewinne können ökonomischer und/oder politischer Natur sein und sind als Nettogrößen zu denken, weil in der Regel mit den positiven Effekten der Koalitionsbildung auch negative Nebenwirkungen verbunden sind.4 Das Ende des quantitativen Erweiterungsprozesses wird entweder durch die Mitgliedschaft aller in Frage kommenden Länder oder durch eine mit der Zunahme der Mitglieder abnehmen­ de Attraktivität des Beitritts bestimmt. Hier stehen Epide­ mie-, Sättigungs- oder Stagnationsmodelle Pate. Das Modell nimmt auch Rezepte der evolutorischen Ökonomie bzw. der evolutorischen Spieltheorie auf, weil es Zufallselemente beinhaltet, die eine zeitliche Struktur des Aufeinandertref­ fens von Verhandlungspartnern und Standardresultate dieser Begegnungen definieren.5 Das Modell ist so gehalten, dass es zwar einerseits im Grundsatz ein rationales Verhalten der Akteure unterstellt, andererseits aber ein ziemlich schmales Verhaltensrepertoire postuliert. Daher ist die Rationalität eine beschränkte im Sinne von Simon (Simon 1977). Wir beginnen mit einem formalen Modell der Integration, dessen sehr vereinfachende Annahmen in fünf Schritten durch realitätsnähere Annahmen gelockert werden. In den Abschnitten 2 und 3 wird der Ausgangspunkt und das Ele­ mentarmodell vorgestellt. Abschnitt 4 lässt Umverteilungen zwischen Ländern zu, während Abschnitt 5 räumliche Nähe bzw. Ferne berücksichtigt. In Abschnitt 6 werden Größen­ unterschiede der Länder zugelassen. Die Annahme durch­ gängiger Nettogewinne durch Integration („Superadditivi­ tät") wird in Abschnitt 7 abgeschwächt. In Abschnitt 8 schließlich wird demonstriert, wie Veränderungen der Um­ welt als entscheidende Faktoren eingeführt werden können. 2. Der Ausgangspunkt Wir verwenden der Anschaulichkeit halber kein mö glichst allgemeines Modell sondern ein numerisches Modell mit fünf Akteuren (Ländern), die jeweils einzeln operieren kön­ nen, aber sich auch zu allen kombinatorisch möglichen wirtschaftlich-politischen Koalitionen zusammen finden können. Ausgeschlossen ist per Annahme, dass ein Land zwei verschiedenen Koalitionen gleichzeitig angehören kann. Das nachfolgende, recht spezielle Schema6 gibt an, welche Werte („v" von „value") dabei in jeder Konstellation erreicht werden können. v(l,2,5) steht zum Beispiel für den Gesamtwert, den die Koalition, die aus den Ländern l, 2 und 5 besteht, realisieren kann, nämlich 5. Damit ist bereits zum Ausdruck gebracht, dass Wertgrößen einen (mit Geld ve r­

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wenn dann der europäische „case" im Zentrum von Explikation und Überprüfung steht. Siehe dazu auch die knappen Bemerkungen in Abschnitt 7. Es ist jedoch in diesem Beitrag nicht unsere Intention, auf spezifische Nutzen- und Kostenkalküle der Beteiligten in bestimmten Phasen der europäischen Integration ein zu gehen. Wenn das zufällige Aufeinandertreffen in Beitritte zu Koalitionen mü n­ det, kann man den Prozess als Analogon zu einer Imitationslotterie, wie sie bei Iwai verwendet wird, interpretieren. Siehe hierzu Iwai 2000. Weitere Elemente seines Modells, wie Innovationslotterien und Replika ­ tionsmechanismen wären vermutlich ebenfalls für die Modellierung des Integrationsprozesses zu nutzen. Wir verwenden hier zur Darstellung das in der kooperativen Spieltheorie benutzte Konzept der charakteristischen Funktion.


Glombowski/Gilgenmann: Ein einfaches Modell zur Darstellung von Integrationsprozessen gleichbaren) gemeinsamen Maßstab aufweisen, addierbar und gegebenenfalls auch zwischen Teilnehmern an einer Koalition auf zu teilen oder um zu verteilen sind. v(l,2,3,4,5) = 9 v(l) = 1 v(2,4) = 3 v(l,4,5) =5 v(2) = 1 v(2,5) = 3 v(2,3,4) =5 v(3) = 1 v(3,4) = 3 v(2,3,5) =5 v(4) = 1 v(3,5) = 3 v(2,4,5) =5 v(5)= 1 v(4,5) = 3 v(3,4,5) =5 v(l,2) = 3 v(l,2,3) = 5 v(l,2,3,4) = 7 v(1,3) = 3 v(l,2,4) = 5 v(l,2,3,5) = 7 v(1,4) = 3 v(l,2,5) = 5 v(l,2,4,5) = 7 v(1,5) = 3 v(l,3,4) = 5 v(l,3,4,5) = 7 v(2,3) = 3 v(l,3,5) = 5 v(2,3,4,5) = 7 In der kooperativen Spieltheorie dient eine solche Funktion zumeist als Ausgangspunkt für Überlegungen, welche Ko­ alitionen zu Stande kommen werden bzw. in dem Sinne stabil sind, dass sie nicht durch Angebote von Außen aus­ einander dividiert werden können. Wir werden hier charak­ teristische Funktionen zwar als Instrument verwenden, aber nur partiell im Geiste der kooperativen Spieltheorie argu­ mentieren. Die oben numerisch spezifizierte Funktion hat eine Reihe von Eigenschaften: Sie ist zunächst einmal strikt symmetrisch7, d.h. man könnte ohne Probleme die Nummern zweier Länder vertauschen, ohne irgendwelche Zahlenwerte verändern zu müssen. We­ gen der Symmetrie können wir eine kompaktere Schreib­ weise benutzen. Wenn die in eckige Klammern gesetzte Zahl die Anzahl der an einer Koalition partizipierenden Länder ist, dann könnten wir das obige Schema auch aus­ drücken als v[l] = l v[2] = 3 v[3] = 5 v[4] = 7 v[5] = 9. Noch kompakter wäre der Ausdruck v[i] = 2i - l mit i = l,..., 5. Mit diesem Strickmuster fiele es uns leicht, Schemata für größere Anzahlen in Frage kommender symmetrischer Län­ der zu konstruieren. Unsere Funktion ist weiterhin „superadditiv", d.h. eine jede Koalition erzeugt einen Wert, der größer ist als die Summe der Einzelwerte der sie konstituierenden Länder. Das gilt sinngemäß auch bei der Bildung größerer Koalitionen aus kleineren. Die durchgängige Superadditivität ist die Grund­ voraussetzung dafür, dass es bei Unterstellung pay-off ma­ ximie-renden Verhaltens der Akteure zu einer Koalition aller beteiligten Länder (im Sprachgebrauch der kooperati­ ven Spieltheorie: einer „großen Koalition") kommen kann. Die Funktion ist so konstruiert, dass der durchschnittliche Wert einer Koalition pro Mitglied mit der Anzahl der Mit­ glieder steigt, was eine Betrachtung des Ausdrucks für den durchschnittlichen Wert, nämlich 7

Mit „strikter Symmetrie" ist gemeint, dass die Länder sich in keiner einzigen relevanten Dimension voneinander unterscheiden. Würden wir eine gleiche Größe der Länder annehmen aber z.B. unterschiedliche geografische Positionen zulassen, könnten wir die Numerierung der Länder nicht mehr beliebig vertauschen und auch nicht mehr von „strik­ ter" Symmetrie reden.

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v[i]/i = 2-I/i, unmittelbar ergibt. Die Zunahme fällt allerdings mit stei­ gendem i und geht für große i gegen den Grenzwert 2. Bei der Formulierung dieser Funktion abstrahieren wir zu­ nächst völlig von geografischen Verhältnissen,8 also z.B. von dem Umstand, ob Länder direkt benachbart sind oder weit voneinander entfernt sind. Ebenso abstrahiert sie von kultureller Affinität zwischen Ländern, die die durch Koali­ tionsbildung erzielbaren Wertzuwächse positiv beeinflussen könnte.9 Wir unterstellen, dass die Funktion über den betrachteten Zeitraum hinweg konstant und auch unabhängig von der zeitlichen Abfolge von Koalitionskonstellationen ist. So ist es z.B. für den Wert der Koalition, die aus l, 2 und 5 be­ steht, egal, ob diese Koalition aus einer Koalition hervo r­ ging, die zunächst l und 2 umfasste oder aus einer, die von 2 und 5 gebildet wurde. Von dynamischen intertemporalen Effekten wird auch insofern abstrahiert, als die Wirkungen von Koalitionen unmittelbar und in voller Höhe nach dem in Kraft treten entsprechender Beschlüsse eintreten. Ebenso ist v(l,2,5) davon unabhängig, ob die nicht beteilig­ ten Länder 3 und 4 ihrerseits eine Koalition bilden oder nicht. Letzteren Umstand kann man auch als Abwesenheit externer Effekte bezeichnen.10 Die Beschränkung unseres numerischen Modells auf fünf Länder dient, wie erwähnt, der Anschaulichkeit. Die Zahl der Länder ließe sich natürlich vergrößern. Die Beschrän­ kung spart aber Schreibarbeit, und immerhin lässt sich für den Fall von fünf Ländern schon Einiges zeigen. So ist fünf die kleinste Zahl, die zwei koexistierende Koalitionen er­ laubt, ohne dass alle Länder in Koalitionen einbezogen sind.11 Die Aufhebung einiger der spezifischen Restriktio­ nen ist durchaus möglich und wird im Weiteren zum Teil vorgenommen oder zumindest angedeutet. 3. Ein elementarer Integrationsprozess Für eine theoretische Rekonstruktion eines regionalen Inte­ grationsprozesses wie des europäischen kann man nicht von der zeitlichen Dimension dieses Prozesses, d.h. seinem stufenweisen Verlauf, abstrahieren, wie er sich in den Er­ weiterungsrunden der Vergangenheit abgespielt hat und aller Voraussicht nach weiter fortsetzen wird. Daher wählen wir nicht das Standardverfahren von Koalitionsspielen, bei dem ohne Rücksicht auf die zeitliche Dimension optimale Koalitionskonstellationen bestimmt werden12, sondern ma­

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Räumliche und weitere Differenzen werden in den Abschnitten 5 und 6 eingefügt. 9 Goodfriend und McDermott 1998 verwenden einen Index der „Familiari­ tät" von Ländern, der sich in unterschiedlichen Chancen von Wissens­ transfers ausdrückt. 10 Die Bildung oder Erweiterung von Wirtschaftsgemeinschaften kann die Positionen nicht partizipierender Länder verschlechtern (negativer ex­ terner Effekt) und so einen Druck erzeugen, selbst um Mitgliedschaft nach zu suchen oder (Gegen-)Ko-alitionen zu bilden. Aber auch Koali­ tionen können durch Bildung und Erweiterung alternativer Koalitionen sich einem solchen Druck ausgesetzt sehen. Siehe hierzu Mattli 1999, S. 43. Das nahe liegende Beispiel ist das Verhältnis zwischen EWG und EFTA. 11 Wenn wir die urprüngliche Sechsergemeinschaft und die in den späteren Erweiterungsrunden der EU hinzu kommenden Länder jeweils zu einem Akteur zusammen fassen könnten, dann wäre die Zahl 5 gar nicht einmal unrealistisch! 12 Dies gilt etwa für das häufig verwendete Lösungskonzept des „Kerns".


Glombowski/Gilgenmann: Ein einfaches Modell zur Darstellung von Integrationsprozessen chen eine Anleihe bei der evo -lutorischen Spieltheorie.13 Letztere operiert häufig mit der Annahme, dass aus einer Vielzahl von Akteuren unterschiedlichen Typs oder glei­ chen Typs mit unterschiedlichen Standardverhaltensweisen („Strategien") jeweils zwei (und nicht mehr!) Akteure in einer Runde zufällig aufeinander treffen und dabei bestimmte vorhersehbare Resultate produzieren, ohne dass dabei (rationale) Entscheidungen getroffen we rden müssten. Wir wollen hier im Kontext der einfachen charakteristi­ schen Funktion aus Abschnitt 2 unterstellen, dass in jeder Integrationsrunde ein Zufallsprozess einem Akteur (der auch eine Koalition sein kann) das Initiativrecht für Koaliti­ ons„verhandlungen" zuweist.14 Der Initiativneh-mer richtet sich an denjenigen Akteur, mit dem die Vereinbarung einer Koalition für ihn am vorteilhaftesten ist, bzw. wenn es meh­ rere gleichwertige gibt, an einen zufällig unter diesen Aus­ gewählten. Wenn er keine der möglichen Ve reinbarungen als vorteilhaft ansieht, macht er von seinem Initiativrecht keinen Gebrauch. Es wird dann in der nächsten Runde neu zugewiesen. In der betreffenden Runde macht der Koaliti­ onsbil-dungsprozess eine Pause. Echte Koalitionsverhandlungen schließen wir aus. Koaliti­ onsangebote haben nur eine zulässige Form, nämlich den Vorschlag, dass beide Beteiligten ihre vorher existierenden Wertzuweisungen (den Status quo ante) akzeptieren und nur den möglichen „Zugewinn" teilen, wobei letzteres aus­ schließlich in der Form gleicher Anteile der beteiligten Länder erfolgen soll.15 Wir schließen auch aus, dass Ange­ bote an einzelne Akteure einer bereits existierenden Koaliti­ on gemacht werden können. Der Vorteil, von dem soeben die Rede war, ist sehr einfach definiert: Es geht ausschließlich um den in der nächsten Periode erzielbaren Vorteil. Intertemporäre Überlegungen spielen also keine Rolle.16 Im Übrigen ist noch unterstellt, dass die Größe des Vorteils für ein jedes Land einfach bere­ chenbar ist, weil alle Länder die charakteristische Funktion 13 14

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Vgl. z.B. Holler/Illing 1996 oder Güth 1999. Für die hier zu entwickelnden Koalitionsbildungsprozesse in der Zeit ist es essen-ziell, dass überhaupt eine Reihenfolge des Initiativrechts be­ stimmt wird. Die zufallsmäßige Erzeugung derselben ist nur eine der möglichen Verfahrensweisen. Man könnte auch nach der Größe von Ländern, nach einer alphabetischen Reihenfolge oder nach ihrer geogra­ fischen Lage vorgehen. Zufallserzeugte Reihenfolgen haben aber den Vorteil, dass man mit Hilfe von Simulationen besser erkennen kann, welche Typen von Koalitionsbildungen in einem bestimmten Modell stecken und mit welchen Häufigke iten sie sich manifestieren. Die Gleichverteilung ist in der hier unterstellten Situation identisch mit der Nash-bargaining solution, die man aber wohl zutreffender als norma ­ tives Konstrukt denn als Abbildung eines Verhandlungsprozesses be­ greift. Vgl. etwa Ho ller/Illing 1996, 180ff. Die Annahme, dass bereits existierende Besitzstände bei fortschreitender Integration erhalten bleiben, erscheint nicht unplausibel, wenn man die aktuellen Diskussionen über die Zukunft der gemeinsamen Agrarpolitik oder der europäischen Strukturfonds angesichts der Osterweiterung be­ trachtet. Sie ist jedoch auf lange Sicht zu rigide und wird in Abschnitt 4 relativiert. Der Deutlichkeit halber sei explizit darauf hingewiesen, dass immer nur zwei vorher voneinander unabhängige Parteien sich zusammenschließen können. So ist z.B. ausgeschlossen, dass in der Ausgangssituation ein Initiativnehmer eine große Koalition propagiert und realisiert oder dass sich in einer Periode zwei Zweierkoalitionen und ein einzelnes Land zu einer Koalition verbinden. Gegenüber der evolutorischen Spieltheorie ist die Annahme einer Aus­ wahlmög-lichkeit unter alternativen Partnern eine Abweichung in Rich­ tung des dort ausgeschlossenen Rationalverhaltens. Die Beschränkung des Kalküls auf die Resultate der folgenden Periode ist allerdings wieder eine erhebliche Vereinfachung, die unser Modell in der Nähe evolutori­ scher Modelle hält.

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kennen und die uniforme Teilungsregel als Norm akzeptie­ ren. Bei der nun folgenden Betrachtung der verschiedenen Tr a­ jekte gehen wir von der Situation aus, dass es zu Beginn noch keine Koalition, d.h. eine Akteursstruktur [1], [1], [1], [1], [1] gibt, und ermitteln die Entwicklung der möglichen Auszahlungen für die verschiedenen Abläufe unter den zahlenmäßigen Voraussetzungen der eingangs eingeführten charakteristischen Funktion. Ein Zufallsprozess bestimmt, welches der fünf Länder das Initiativrecht erhält. Da alle Länder gleich sind, können wir diesem Land die Nummer l zuweisen.17 Dieses Land stellt fest, dass jedes der vier als Koalitionspartner in Frage kommenden Länder die gleichen positiven Voraussetzungen für eine Koalition bietet, weil man ja in jeder de r möglichen Zweierkoalition zusammen 3 erzielt. Nach Abzug dessen, was man bereits allein realisie­ ren konnte, nämlich jeweils l, verbleibt zur Verteilung ein „Zugewinn" von l, von dem jedem Land der Koalition 1/2 zufällt.18 Nennen wir das Land, das von l als Koalitionspart­ ner gewählt wird, der Einfachheit halber Nummer 2, dann haben wir am Ende der ersten Periode das folgende Resultat („Zurechnung"): Zurechnungen in Periode 1: Initiativrecht bei einem der Länder. Akteursstruktur wird [2], [1], [1], [1] Land 1: 1+1/2 Land 2: 1+1/2 Land 3: l Land 4: l LandS: l Es ergeben sich in der Folge verschiedene Trajekte. Neh­ men wir z.B. an, dass das Initiativrecht l oder 2, d.h. der bereits existierenden Koalition zufällt.19 Mit der Erweite­ rung der Koalition um eine weiteres Mitglied -nennen wir es 3 - ergibt sich ein neuer Zugewinn von l, der aber dies­ mal in drei Teile geht. Das Resultat wäre nun: Zurechnungen in Periode 2, Variante 1: Initiativrecht bei der Zweierkoalition. Akteursstruktur wird [3], [1], [1] Land 1 : 1+ 1/2+1/3 Land 2: 1+ 1/2+1/3 Land 3: 1+1/3 Land 4: 1 Land 5: 1

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Uns interessieren an dieser Stelle nur die unterschiedlichen Verlaufsfor­ men und nicht, welche konkreten Länder den Integrationsprozess voran­ treiben. Deshalb können wir die Ländernummern so vergeben, wie der ablaufende Prozess es nahe legt. Wenn wir später Länder unterschiedli­ cher Größe oder, allgemein gesprochen, mit spezifischen Charakteristika betrachten, fallt diese Möglichkeit weg. Die Bezeichnung „Zugewinn" erinnert zu Recht an die eheliche Zuge­ winnge-meinschaft, in der ebenfalls von der „Koalitionsbildung" ab die „Gewinne" geteilt werden.. Wir unterstellen, dass das Initiativrecht immer einem Land zufällt, aber gegebenenfalls von der Koalition, der es angehört, ausgeübt wird. Damit ergeben sich für Einzelakteure und Koalitionen unterschiedlichen Um­ fangs unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, das Initiativrecht aus zu üben. Alternativ dazu könnten wir das Initiativrecht unter der faktischen Akteuren auslosen und dabei die Erfolgschancen dem Umfang der Ko­ alitionen entsprechend variieren lassen.


Glombowski/Gilgenmann: Ein einfaches Modell zur Darstellung von Integrationsprozessen Hätte dagegen ein noch nicht der bisher einzigen Koalition angehörendes Land - nennen wir es 3 - das Initiativrecht erhalten, wäre für 3 eine Koalition mit einem der beiden anderen noch nicht gebundenen Länder vorteilhafter als der Anschluss an die Koalition von l und 2. Geben wir dem von 3 bevorzugten Land die Nummer 4, dann ziehen 3 und 4 mit l und 2 gleich:20 Zurechnungen in Periode 2, Variante 2: Initiativrecht bei bisher ungebundenem Land. Akteursstruktur wird [2], [2], [1] Land 1 : 1+ 1/2 Land 2: 1+ 1/2 Land 3: 1+1/2 Land 4: 1+1/2 Land 5: 1 In Periode 3 haben wir Verzweigungen der Varianten. Die Variante l liefert zwei Untervarianten. Die Variante l/l sei der Fall, in dem das Initiativrecht der schon existierenden Dreierkoalition zufällt. Sie findet es lohnend, eines der beiden noch nicht integrierten Länder - nennen wir es 4 -in ihre Koalition auf zu nehmen. Dieser Schritt führt zu: Zurechnungen in Periode 3, Variante l/l: Initiati vrecht bei der Dreierkoalition. Akteursstruktur wird [4], [1] Land l: 1+1/2+1/3+1/4 Land 2: 1+1/2+1/3+1/4 Land 3: 1+1/3+1/4 Land 4: 1+1/4 Land 5: l In der Untervariante 1/2 fällt das Initiativrecht dagegen einem der beiden noch ungebundenen Länder zu, das aus Eigeninteresse dem anderen noch ungebundenen Land die Koalition vorschlägt. Daraufhin ergibt sich: Zurechnungen in Periode 3, Variante 1/2: Initiati vrecht bei einem noch ungebundenen Land. Akteurstruktur wird [3], [2] Land l: 1+1/2+1/3 Land 2: 1+1/2+1/3 Land 3: 1+1/3 Land 4: 1+1/2 Land 5: 1+1/2 Bei der Variante 2 gibt es keine Verzweigungen, denn un­ abhängig davon, wem das Initiativrecht zufällt, laufen alle Möglichkeiten auf dasselbe hinaus: Entweder ergreift eine der beiden Zweierkoalitionen die Initiative, das noch unge­ bundene Land 5 zu integrieren, oder das Land 5 tritt an eine der beiden Zweierkoalitionen mit einem Beitrittsantrag heran. Wenn die Koalition aus l und 2 vergrößert wird (wenn nicht, greifen wir zu einer Uninumerierung), erhalten wir als Resultat: Zurechnungen in Periode 3, Variante 2 Akteursstruktur wird [3], [2] Land 1: 1+1/2+1/3 Land 2: 1+1/2+1/3 20

Diese Aussage bezieht sich nur auf die in Periode 2 anfallenden Zurech­ nungnen. Die Länder 3 und 4 holen damit nicht den Vorteil auf, den lund 2 bereits in der ersten Periode durch erhöhte Zurechnungen reali­ sierten.

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Land 3: 1+1/2 Land 4: 1+1/2 Land 5: 1+1/3 Wir erkennen unschwer, dass die Variante 2 bis auf die unterschiedliche Numerierung der Länder zu demselben materiellen Resultat wie Variante 1/2 führt. Periode 4 bringt den Abschluss des Koalitionsbildungspro­ zesses in allen Varianten. Entweder wird eine Viererkoaliti­ on um das letzte freie Land ergänzt (Variante l/l), oder eine Dreier- und eine Zweierkoalition schließen sich zusammen (Variante 1/2 bzw. 2) . In jedem Falle erhält jedes der nun­ mehr vollständig integrierten Länder noch eine weitere zusätzliche Zurechnung von 1/5. Die Zurechnungen ergeben sich wie folgt: Zurechnung in Periode 4 , Variante l/l, große Koalition Land l: 1+1/2+1/3+1/4+1/5 = 137/60 Land 2: 1+1/2+1/3+1/4+1/5 = 137/60 Land 3: 1+1/3+1/4+1/5 = 107/60 Land 4: 1+1/4+1/5 = 87/60 Land 5: 1+1/5 = 72/60 Durchschnitt: = 108/60 Zurechnung in Periode 4, Variante 2 bzw. 1/2, große Koalition Land l: 1+1/2+1/3+1/5 = 122/60

Land 2: 1+1/2+1/3+1/5 = 122/60

Land 3: 1+1/2+1/5 = 102/60

Land 4: 1+1/2+1/5 = 102/60

Land 5: 1+1/3+1/5 = 92/60

Durchschnitt = 108/60

Bemerkenswert an diesem Prozess ist, dass er in jedem Fall

- trotz verschiedener Pfade dorthin - in eine große Koalition oder die vollständige Integration mündet. Ferner fällt auf, dass seine Mechanik trotz einer völlig symmetrischen Aus­ gangslage recht unterschiedliche Zurechnungen, d.h. Un­ gleichheiten zwischen vorher gleichen Ländern generiert und zwar sowohl auf dem Wege zur vollständigen Integrati­ on als auch danach, wenn die Zurechnungen permanent den zuletzt gezeigten entsprechen. Die Zurechnungstrukturen sind also pfadabhängig, d.h. von der „Geschichte" des Sy­ stems abhängig. Das Initiativrecht erweist sich als ein wert­ volles Recht. Deshalb ist eine Teilnahme an der „Lotterie", die es verteilt, rational. Die sich heraus bildenden Ungleich­ heiten der Zurechnungen könnte man als Ansatzpunkte von internen Reformen mit dem Ziel ihrer Beseitigung oder Abschwächung begreifen. Abb. 1: Übersicht über den Verlauf des Koalitionsbildungs­ prozesses Periode 0 Konstellationen

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2 [3],[1],[1]

3 [4],[1]

[1],[1],[1], [2],[1],[1],[ [1],[1] 1]

4 [5]

[2],[2],[1]

[3],[2]


Glombowski/Gilgenmann: Ein einfaches Modell zur Darstellung von Integrationsprozessen

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4. Umverteilung

5. Räumliche Differenzierung

In der Geschichte der europäischen Integration haben Um­ verteilungsprozesse von Beginn an eine Rolle gespielt, sei es in Form der Finanzierung gemeinsamer Politiken aus dem Gemeinschaftshaushalt, aus denen manche Länder einen größeren Vorteil ziehen als andere, sei es in der Form von Politiken, die die Verminderung der nationalen Wohl­ fahrtsunterschiede zum direkten Ziel haben. Da unser Modell bislang symmetrische Ausgangssituatio­ nen unterstellt und die sich bildenden Koalitionen bislang ausschließlich die Funktion erfüllen, Zugewinne zu realisie­ ren und zu verteilen, kann eine Verteilungsproblematik ausschließlich als Konsequenz der sich herausbildenden Unterschiede in den Zurechnungen entstehen, und eine Umverteilung kann folglich nur diese teilweise vermindern. Wir unterstellen, dass eine Umverteilung nur dann erfolgen wird, wenn ein entsprechender Vorschlag für die Mehrheit der Mitglieder einer Koalition akzeptabel ist. Akzeptanz seitens der teilnehmenden Länder soll gebunden sein an die Erzielung eines nationalen Vorteils durch den Umvertei­ lungsprozess. Wir nehmen weiterhin an, dass Umvertei­ lungspläne, die die Reihenfolge der Zurechnungen verän­ dern, ebenso wenig in Frage kommen wie Vorschläge, die Zurechnungen der negativ betroffenen Länder so weit redu­ zieren, dass der Vorteil des letzten Integrationsschrittes gänzlich verloren ginge. In Periode 2 taucht das Problem der ungleichen Verteilung innerhalb einer Koalition zum ersten Mal auf und zwar nur in der Dreierkoalition der Variante l. Land 3 wäre an einer Umverteilung interessiert, ein diesbezüglicher Vorschlag würde aber bei nutzenmaximierendem Verhalten der beiden Koalitionspartner keine Mehrheit erhalten. In Periode 3 würde in Variante l/l ein Umverteilungsvo r­ schlag innerhalb der Viererko alition an der Ablehnung der beiden reicheren Partner scheitern, und in den beiden Vari­ anten 1/2 bzw. 2 würden die beiden besser gestellten Länder Vorschläge des schlechter gestellten Dritten ablehnen. In Periode 4 ändert sich die Situation. Ohne in eine ausführ­ liche Diskussion möglicherweise akzeptabler oder zulässi­ ger Umverteilungsregeln über die eingangs gemachten Be­ merkungen hinaus ein zu treten21, wäre zu erwarten, dass sich bei Variante l/1 für die korrigierte Verteilung 132/60, 132/60, 108/60, 93/60, 83/60 eine Mehrheit, bestehend aus den Ländern 3, 4 und 5 finden würde. Für die Variante 2 wäre etwa die korrigierte Ve rteilung 118/60, 118/60, 104/60, 104/60, 96/60 mehrheitsfähig. Beide Korrekturvo r­ schläge ändern die Rangfolge der Länder nicht, lassen Prä­ mien für die Integrationsanfuhrer bestehen und nehmen auch nur einen Teil der Integrationsgewinne der reicheren Länder (der „Nettozahler") aus der letzten Erweiterungsrun­ de in Beschlag und erzeugen damit keine Reuegefühle. Wenn Umverteilungsprozesse im Kontext eines Modells mit symmetrischer Ausgangslage möglich erscheinen, dann darf man sie auch für asymmetrische Fälle in Betracht ziehen.

Wenn die Zugewinne maßgeblich mit wirtschaftlichen Vo r­ teilen wie positiven Skaleneffekten in der Produktion und sinkenden Transaktionskosten in Folge größerer Märkte begründet werden, dann ist es plausibel, einen positiven Zusammenhang zwischen der Nähe von Ländern und den durch wirtschaftliche Integration erzielbaren Zugewinnen zu unterstellen. In unserem Modell kann man dieses Moment einfach durch die Einführung von zwei Annahmen berücksichtigen. Zum einen können wir eine räumliche Struktur definieren, der zu Folge die Länder zum Beispiel entlang einer Achse ange­ ordnet sind oder sich auf einem Kreis mit gleichen Abstän­ den voneinander befinden.22 Zum Zweiten können wir Ex­ tra-Zugewinne definieren, die sich aus Nachbarschaften ergeben. Im Folgenden wählen wir eine Kreisstruktur (vgl. die Ab­ bildung) und postulieren, dass gegenüber unserer Aus­ gangsverteilung jede Koalition soviel Werteinheiten zusätz­ lich erhält, wie sie Grenzen (in wirtschaftlicher Hinsicht)

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Es liegt nahe, in Analogie zu den schlichten Kalkülen, die wir der Koali­ tionsbildung und der Verteilung der Zugewinne zu Grunde gelegt haben, nur simple Umverteilungsvorschläge und Entscheidungsroutinen zu zu lassen.

wegfallen lässt. Der Zusammenschluss zwischen l und 2 lässt z.B. eine Grenze wegfallen, während der zwischen 3 und 5 es nicht tut. Der Zusammenschluss zwischen l, 5 und 4 lässt zwei Grenzen wegfallen, während der zwischen l, 3 und 4 nur eine wegfallen lässt. Jede Viererkoalition lässt drei Grenzen wegfallen, die große Koalition ihrer fünf. Damit ergibt sich folgendes modifizierte Ausgangsschema: v(l,2,3,4,5) = 9+5 v(l) = 1 v(2,4) = 3 v(1,4,5) = 5+2 v(2)= 1 v(2,5) = 3 v(2,3,4) = 5+2 v(3) = 1 v(3,4) = 3+1 v(2,3,5) = 5+1 v(4) = 1 v(3,5) = 3 v(2,4,5) = 5+1 v(5) = 1 v(4,5) = 3+1 v(3,4,5) = 5+2 v(l,2) = 3+1 v(1,2,3) = 5+2 v(1,2,3,4) = 7+3 v(l,3) = 3 v(1,2,4) = 5+l v(1,2,3,5) = 7+3 v(l,4) = 3 v(1,2,5) = 5+2 v(1,2,4,5) = 7+3 v(l,5) = 3+1 v(1,3,4) = 5+1 v(1,3,4,5) = 7+3 v(2,3) = 3+l v(l,3,5) = 5+l v(2,3,4,5) = 7+3 Die zeitliche Entwicklung der Koalitionsstrukturen unter­ scheidet sich nicht grundlegend von der in Abschnitt 3 de­ monstrierten. Insbesondere wird auch jetzt nach vier Peri­ oden die große Koalition realisiert. Allerdings ist jetzt die Wahl der Partner wesentlich eingeschränkter bzw. zielge­ richteter. Spielen wir der Illustration halber den Fall durch, dass das Initiativrecht den Ländern in der Reihenfolge ihrer Nume­ rierung zufällt. Für Land l sind seine direkten Nachbarn 2 22

Man braucht der Phantasie keine Grenzen auf zu erlegen. Insbesondere dann, wenn wir die Zahl der Länder vergrößern würden, ergäben sich vielfältige geometrische Figuren, u.a. auch der Realität nachgebildete räumliche Strukturen.


Glombowski/Gilgenmann: Ein einfaches Modell zur Darstellung von Integrationsprozessen und 5 attraktiver als die weiter weg liege nden Länder 3 und 4. Es wählt, so wollen wir annehmen, Land 5 als Partner, wodurch für jedes Land ein Zugewinn von l entsteht. Land 2 hat die Auswahl zwischen der schon bestehenden Koaliti­ on aus l und 5, oder Land 3 oder aber Land 4. Die aus die­ sen Optionen resultierenden Zugewinnanteile für Land 2 sind 2/3, l und 1/2. Also wählt Land 2 ohne Zögern Land 3 als Partner, weil dies eindeutig die beste Wahl ist. Das In­ itiativrecht wandert nun zu Land 3 bzw. der Koalition aus 2 und 3. Das Bündnis mit 4 bringt für jedes beteiligte Land 2/3, wohingegen der Zu-sammenschluss mit der Ko alition aus l und 5 nur jeweils 1/2 brächte. Es kommt also zur Ko­ alition aus 2, 3 und 4. Die Bildung einer großen Koalition bringt dann für jedes Land einen weiteren Zugewinn von 3/5 und wird deshalb von 4 vorgeschlagen und realisiert. Wir sehen, dass es in diesem Beispiel nur einmal zwischen zwei gleichwertigen Optionen eine Zufallsentscheidung gibt. Auch hier steht am Ende des Integrationsprozesse keine Gleichverteilung der Zugewinne, sondern eine Hierar­ chie der Zurechnungen, nämlich Land 1: 1+1+3/5 = 39/15 Land 2: 1+1+2/3+3/5 = 49/15 Land 3: 1+1+2/3+3/5 = 49/15 Land 4: 1+2/3+3/5 = 34/15 Land 5: 1+1+3/5 = 39/15 Auf sie könnte man nun, was wir jedoch nicht tun wo llen, Umverteilungsüberlegungen anwenden. 6. Ungleich große Länder Bisher haben wir eine Ausgangssituation unterstellt, in der alle Länder -gemessen an ihren Ausgangswerten - gleich groß waren. Nun können die Ausgangswerte sich natürlich unterscheiden, zum Beispiel auf Grund ihrer Bevölkerungs­ größe und/oder ihrer Arbeitsproduktivitäten.23 Es wäre für viele Modifikationen unseres Modells relevant, die Gründe für diese Unterschiede zu genauer zu spezifizieren, etwa wenn Umverteilungsprozesse auf der Basis von Pro-KopfEinkommen ins Auge gefasst würden. Darauf verzichten wir hier jedoch und unterstellen lediglich unterschiedliche v(i)-Werte. Der Illustration halber spezifizieren wir eine Stratifikation der Ausgangsgrößen gemäß der Formel v(i) = 6-i,i= l, ..., 5 Sie liefert uns die Ausgangsverteilung v(l) = 5 v(2) = 4 v(3) = 3 v(4) = 2 v(5) = l Wir können nun die bisherige Annahme eines Zugewinns von l bei der Bildung jeder neuen Koalition auf die Situati­ on ungleicher Ausgangslagen übertragen und auch die übri­ gen Annahmen, besonders die hinsichtlich des Initiativ­ rechts und der Teilung des Zugewinns beibehalten. Wenn wir dies tun, ändert sich nichts Wesentliches an unseren bisherigen Resultaten, weshalb sich dann auch eine ausführ­ liche Analyse erübrigt. Allerdings stellt sich die Frage, ob unterschiedliche Aus­ gangsgrößen sich nicht auf die realisierbaren Zugewinne von Koalitionen unterschiedlicher Größe auswirken sollten. So weit die Herstellung gemeinsamer Märkte die Quelle der 23

Internationaler politischer Einfluss und militärische Stärke wären rele ­ vante selbständige Faktoren, auch wenn sie mit ökonomischer Größe korreliert sein sollten.

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Zugewinne bzw. der Superadditivität ist, erscheint es plau­ sibler, dass wir der Koalition zweier großer Länder einen größeren Wertsteigerungseffekt beimessen als einer Koali­ tion zweier kleiner. Ein Beispiel für eine moderate Berücksichtigung der unter­ schiedlichen Ländergrößen liefert das folgende Schema: Schema I Bei einer symmetrischen Ausgangsverteilung würde dieses Schema zu unserem Ausgangsbeispiel aus Abschnitt 3 rüh­ ren. Zusammen mit der gerade angegebenen Stratifizierung liefert es natürlich eine andere charakteristische Funktion. Zusammen mit der oben angegebenen Ausgangsverteilung24 liefert es eine charakteristische Funktion, zu deren Eigen­ schaften wir Folgendes bemerken: Die Durchschnittswerte der Ausgangsverteilung, der Zwe i­ er-, Dreier-und Viererkoalitionen sowie der Wert der großen Koalition bilden die Zahlenfolge 3, 9, 15, 21 und 27, d.h. genau das Dreifache der entsprechenden Werte der symme­ trischen Ausgangsverteilung unseres ursprünglichen Falles, die im Übrigen exakt reproduziert würden, wenn wir die hier spezifizierten Ausgangswerte durch 3 teilten. Es kann angesichts dieser Ähnlichkeit, insbesondere des gleichen Charakters der Superaddi-tivität, nicht verwundern, dass sich bei sonst gleichen Annahmen ganz ähnliche Koaliti­ onsbildungsprozesse ergeben wie im symmetrischen Fall bzw. im Fall von Zugewinnen, die nicht von der Größe der Koalitionspartner abhängen. Immerhin gibt es einen Unter­ schied, der Erwähnung verdient. Er betrifft die Auswahl von Koalitionspartnern, vor die sich derjenige gestellt sieht, dem das Initiativrecht zugefallen ist. Die Wahl zwischen potenti­ ellen Partnern entscheidet sich jetzt maßgeblich auf Grund ihrer Größe25, während bei symmetrischen Ve rhältnissen ein Zufallsmechanismus die „Entscheidung" übernahm. Interes­ sant ist vielleicht der Hinweis, dass der Vorteil des Initiativ­ rechts dazu führen kann, dass sich die anfängliche Größen­ reihenfolge verändert, dass also ein Land ein anderes durch frühere Beteiligung am Integrationsprozess - gemessen an der Größe seiner Zurechnung - überholen kann. 7. Ein nicht strikt superadditiver Fall Unsere bisherigen superadditiven Fälle haben die Eigen­ schaft gemeinsam, dass sie in jeder Periode zu einer (weite­ ren) Koalitionsbildung und schließlich zur großen Koalition fuhren. In realen Integrationsprozessen hingegen geschehen Erweiterungen minder kontinuierlich und laufen auch nicht notwendiger Weise auf die Einbeziehung aller potenziellen Mitglieder hinaus. Kann dieser Aspekt des Integrationspro­ zesses möglicher Weise unter Verwendung nicht strikt su­ peradditiver charakteristischer Funktionen modelliert we r­ den? Die Analyse des folgenden Schemas trägt zur Beantwo rtung dieser Frage bei:

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Es bereitet keine Schwierigkeiten, andere Ausgangsverteilungen zu wählen, die zugehörigen charakteristischen Funktionen zu ermitteln und die Schrittfolgen der möglichen Integrationsabläufe zu ermitteln. Ebenso können natürlich andere Annahmen hinsichtlich der möglichen Zuge­ winne geteroffen werden. Insofern ergibt sich eine Analogie zu unserer Analyse der räumlichen Differenzierung.


Glombowski/Gilgenmann: Ein einfaches Modell zur Darstellung von Integrationsprozessen Schema II Im Unterschied zum vorhergehenden Schema I sind hier die durch Integrationsschritte zu erzielenden Zugewinne offen­ sichtlich im Durchschnitt wesentlich kleiner als im vorheri­ gen Fall. Unterstellen wir für einen Augenblick eine sym­ metrische Ausgangskonstellation. Für diesen Fall träten Zugewinne ausschließlich bei der Bildung von Zweierkoali­ tionen auf.26 Die Erweiterung einer Zweier- zu einer Dreier­ koalition wäre uninteressant, denn diese erbrächte lediglich genau die Summe dessen, über was die Parteien zuvor schon verfügten. Ein Vergleich der Formeln für die Zweier­ und die Viererkoalitionen zeigt weiterhin, dass die Bildung von Viererkoalitionen aus Zweierkoalitionen immer ve r­ lustbringend ist und deshalb nicht Statt findet. Daraus kön­ nen wir schließen, dass es unter diesen Umständen lediglich zu zwei Zweierkoalitionen kommen und dabei bleiben wird. Wir erhalten also nicht das bisher übliche Endresultat einer großen Koalition. Die zweite Koalitionsbildung muss im Übrigen der ersten nicht in der nächsten Periode folgen. Sie kommt nur bzw. erst dann zu Stande, wenn das Initiativ­ recht nach einer ersten Koalitionsbildung aus zwei Ländern einem der drei noch ungebundenen Länder zufällt. Damit haben wir demonstriert, dass die fehlende durchgängige Superadditivität unvollständig bleibende Integrationspro­ zesse „erklären" kann. Ändert sich etwas an diesem Befund, wenn wir zu unglei­ chen Ausgangsbedingungen übergehen? Wir können diese Frage ein Stück weit aus der allgemeinen Analyse des Schemas II beantworten, ohne konkrete Ausgangszahlen zu kennen. Wir legen zunächst lediglich fest, dass die Länder ihrer Größe nach - beginnend mit l - numeriert sind und es keine gleich großen Länder gibt. Der Zugewinn beim Zusammenschluss zweier unabhängi­ ger Länder i und j ist gleich v(ij)-v(i)-v(j) = (v(i)+v(j))/2. Dieser Zugewinn ist positiv. Bei hälftiger Teilung ist der erzielbare Zu-gewinn für i gleich (v(i)+v(j))/4>0 Ein Land i wählt nun offenbar, wenn ihm das Initiativrecht zufällt, das größte nicht -gebundene Land als Partner, weil es damit seinen eigenen Zugewinn und damit seine Zurech­ nung maximiert. Fällt das Initiativrecht in der Folgeperiode auf ein noch ungebundenes Land, dann steht nichts der Bildung einer zweiten Zweierkoalition im Wege, denn auch sie ermö glicht einen positiven Zugewinn. Die bereits für den Symmetrie­ fall konstatierte Unmöglichkeit eines Zusammenschlusses zweier Zweierkoalitionen zu einer Viererkoalition bleibt ohne Einschränkungen auch für den Fall unterschiedlicher Ländergrößen erhalten, denn der Wert einer jeden Viererko­ alition ist kleiner als die Summe der Werte der beiden Zweierkoalitionen, so dass mindestens eine von beiden bei einer Integration verlieren muss und deshalb nicht zur Ve r­ fügung steht. Kann aus der ersten Zweierkoalition eine Dreierkoalition werden und sich entlang dieser Schiene eventuell der Koali­ tionsbildungsprozess noch weiter fortsetzen? Die notwendi­ ge Bedingung, die erfüllt sein muss, damit eine Zweierkoalition, bestehend aus i und j, ein drittes Land k in 26

Wenn v[i] wieder den Wert einer Koalition mit i Mitgliedern bezeichnet, dann gilt v[l] = l und v[i] = i+l für i = 2, ..,5

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alition, bestehend aus i und j, ein drittes Land k in die Koalition aufnimmt27, lautet v(i,j,k) > v(i,j)+v(k) bzw. [v(i)+v(j)+v(k)] (1+1/3) > [v(i)+v(j)] (1+ l/2)+v(k) Daraus folgt zunächst [v(i)+v(j)+v(k)]/3 > [v(i)+v(j)] 12 und nach weiteren Umformungen v(k) > [v(i)+v(j) ]/2 Damit also eine Dreierkoalition in Frage kommt, muss der Beitrittskandidat größer sein als der Durchschnitt der schon existierenden Koalition. Diese Bedingung erscheint zu­ nächst nicht restriktiv. Jedoch ist sie es bei näherem Hinse­ hen, ohne allerdings - wie im symmetrischen Fall - das zuStande-kommen von Dreierkoalitionen gänzlich zu verhin­ dern. Die Restriktion entsteht durch die gezielte Auswahl des größten Partners durch den Initiativnehmer der ersten Runde. Demnach kann es nur zu einer der Koalitionen (1,2), (1,3), (1,4) oder (1,5) kommen. Es kann natürlich kein Land geben, das größer ist als der Durchschnitt der beiden größ­ ten. Folglich werden sich die beiden größten Länder nie mit einem anderen zu einer Dreierkoalition zusammen schlie­ ßen. Das zweitgrößte Land könnte allerdings größer sein als der Durchschnitt von l und 3 und a fortiori auch als die Durchschnitte von l und 4 sowie von l und 5.28 Wir wählen zur konkreteren Betrachtung wieder die von oben (aus Abschnitt 6) bereits bekannte lineare Größenhier­ archie. Damit ergibt sich als charakteristische Funktion v(l) = 5 v(2,4) = 9 v( 1,4,5) =10 2/3 v(2) = 4 v(2,5) = 7,5 v(2,3,4) = 12 v(3) = 3 v(3,4) = 7,5 v(2,3,5)=102/3 v(4) = 2 v(3,5) = 6 v(2,4,5) = 9 1/3 v(5) = 1 v(4,5) = 4,5 v(3,4,5) = 8 v(l,2)=13,5 v(l,2,3)=16 v(l,2,3,4)=172/3 v(l,3)=12 v(l,2,4) = 14 2/3 v(l,2,3,5) = 16 1/3 v(l,4)=10,5 v(l,2,5)=13 1/3 v(l,2,4,5)=15 v(l,5) = 9 v(l,3,4) = 13 1/3 v(l,3,4,5) = 13 3/4 v(2,3)=10,5 v(l,3,5)=12 v(2,3,4,5) = 12,5 v(l, 2,3,4,5) =18 Es zeigt sich dann, dass bei dieser quantitativen Konstellati­ on lediglich zwei Dreierkoalitionen in Frage kommen, näm­ lich Runde l Runde 2 (1.4) ? (1,2,4) (1.5) ? (1,2,5) Kann sich hieraus eine Viererkoalition ergeben? Auch für die Beurteilung dieser Frage lässt sich wieder ein Testkrite­ rium ableiten. Es muss jetzt gelten v(l) > fv(i)+vj)+v(k)]/3, 27

Anders formuliert, die Bedingung dafür, dass als Antwort auf den Antrag „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in Eurem Bunde der Dritte" ein Ja in Frage kommt. 28 Dies wäre der Fall, wenn die Reihenfolge der Ausgangswerte 5, 4, 2.8, 2 und l oder etwa 5, 4.2, 3, 2 und Iwäre. Dass selbst das drittgrößte Land größer sein könnte als der Durchschnitt von l und 4, spielt in so fern kei­ ne Rolle, als eine Koalition von l und 4 Land 2 zur Ergänzung der Koali­ tion vorziehen würde.


Glombowski/Gilgenmann: Ein einfaches Modell zur Darstellung von Integrationsprozessen d.h. das beitretende Land muss größer sein als der Durch­ schitt der bereits existierenden Dreierkoalition. Man kann leicht nachprüfen, dass in unserem konkreten Fall keine der beiden Bedingungen v(3)>[v(l)+v(2)+v(5)]/3 erfüllt ist.29 Das heißt, es kann sich auf diesem Wege keine Viererkoalition bilden. Damit fällt ein weiterer Trajekt zu einer großen Koalition aus. Die Existenz einer der beiden oben als möglich ermittelten Dreierkoalitionen schließt nicht aus, dass sich zu einer Drei­ erkoalition eine schwächere Zweierkoalition (also (3,5) bzw. (3,4)) gesellt. Das wird, früher oder später, in Abhän­ gigkeit von der Zuweisung des Initiativrechts auch gesche­ hen. Wir bekämen für diese Konstellationen eine Aufteilung des Gesamtbestandes an Ländern in einen durchschnittlich größeren Dreierclub und einen durchschnittlich kleineren Zweierclub. Diese Aufteilung hat nun zwar alle Länder in Koalitionen eingebunden, es kann aber aus ihr keine allum­ fassende Koalition entstehen. Die dafür erforderlichen Be­ dingungen v(l,2,3,4,5) > v(l,2,4) + v(3,5) bzw. v(l,2,3,4,5) > v(l,2,5 ) + v(3,4) werden, wie man leicht feststellen kann, nicht erfüllt. Eine Frage ist hier noch stets offen geblieben, nämlich ob aus der Konstellation zweier Zweierkoalitionen heraus das letzte ungebundene Land noch Anschluss findet. In unserem konkreten Fall gibt es nur eine Konstellation, die das ermöglicht: Wenn Land 4 in der ersten Runde das Initiativrecht hat, wählt es die Koalition mit Land l . Wenn das Initiativrecht dann 5 zufällt, wählt es Land 2 als Partner. Der Durchschnitt der stärkeren Koalition aus 4 und l beträgt 3,5, der der schwächeren Koalition aus 2 und 5 ist 2,5. Da­ mit ist der Wert von Land 3 größer als der Durchschnitt der schwächeren Zweierkoalition. Land 3 ist daher dort will­ kommen wird einer Aufforderung zum Beitritt Folge lei­ sten. Bei einer Koalitionsstruktur von (1,5) und (1,4) ent­ sprechen beide Größendurchschnitte dem Wert von 3, so dass sich eine Koalitionsbildung für keine der Parteien lohnt. Wenn Land 4 das ungebundene Land sein sollte, dann steht es entweder einer Koalitionsstruktur (1,5) und (2,3) gegenüber oder aber (1,3) und (2,5). In beiden Fällen ist aus der Sicht der Zweierkoalitionen Land 4 „unter ihrem Ni­ veau". Es versteht sich, dass das Resultat mit anderen Zah­ len modifiziert werden kann. Als Ergebnis des Abschnitts halten wir fest, dass es bei unterschiedlichen Ausgangsgrößen der Länder gemäß der Stratifikation aus Abschnitt 6 und unter den Voraussetzun­ gen des Schemas II, d.h. einer nicht superadditiven Funkti­ on, mindestens zu zwei Zweierkoalitionen, aber nie zu einer großen Koalition kommen wird. Bei geeigneten Zuweisun­ gen des Initiativrechts können zwei von 10 kombinatorisch möglichen Dreierkoalitionen resultieren, die dann durch

komplementäre Zweierkoalitionen ergänzt würden. Das Zustandekommen einer Viererkoalition ist ausgeschlossen. Man kann spezielle quantitative Voraussetzungen und ge­ eignete Reihenfolgen des Initiativrechts finden, bei denen eine Viererkoalition plus ein nicht gebundenes Land das Ende des Integrationsprozesses markieren. 8. Separierung von Kosten und Nutzengrößen und Ver­ schiebungen im Zeitablauf Unsere bisherige Analyse ist unter Anderem auch deshalb stark vereinfachend, weil wir die historisch-empirischen Voraussetzungen für die Verwendung der verschiedenen charakteristischen Funktionen nicht genauer beschrieben haben. Ein Schritt in diese Richtung ist die Spezifikation der Zusammensetzung der Wertgrößen aus Kosten- und Nut­ zengrößen, verbunden mit näheren Erläuterungen zu deren Zustandekommen bzw. Verläufen in Abhängigkeit von Veränderungen der Koalitionsstrukturen. Pauschal argu­ mentierend, könnte man mit ökonomischen Kosten und Nutzen sowie politischen Kosten und Nutzen vier Gruppen spezifizieren, womit man bei geeigneter Aggregation zu­ mindest vier Terme hätte, die auf die eine oder andere Wei­ se in einem einzigen Wertausdruck zusammen zu fassen wären. Wir machen es uns hier bewusst einfach, indem wir die Nutzen mit ökonomischen Faktoren identifizieren und die Kosten mit politischen.30 Politische Kosten wären in erster Linie der Verlust nationaler Entscheidungskompeten­ zen, die allerdings durch die neuen oder erweiterten politi­ schen Mitwi rkungsrechte auf Koalitionsniveau zum Teil ausgeglichen würden. Dazu kämen mit steigendem Umfang der Koalitionen steigende politische Koordinationskosten, insbesondere dann, wenn Vetorechte erhalten bleiben.31 Sicherheitspolitische und internationale handelspolitische Vorteile größerer Koalitionen wären allerdings auch zu berücksichtigen. Wie sich der Umfang der Koalitionen auf die politischen Kosten ihrer Mitglieder auswirkt, kann von deren Größe abhängen, etwa in dem Sinne, dass große Mit­ glieder relativ mehr Einfluss behalten als kleine, also gerin­ gere Kostensteigerungen haben, wenn die Koalitionen einen größeren Umfang annehmen.32 Wir wollen eine solche dif­ ferenzierte Betrac htung hier jedoch nicht vornehmen, son­ dern uns wieder auf die Betrachtung symmetrischer Ve r­ hältnisse beschränken. Insbesondere unterstellen wir, dass die politischen Kosten des repräsentativen Mitglieds einer Koalition mit deren Umfang überproportional zunehmen. Damit ist die Möglichkeit ve rbunden, dass die Ausdehnung

30

31 29

Unter anderen Größenkonstellationen wäre jedoch eine Viererkoalition möglich. Wenn wir z.B. die folgende Reihenfolge der Ländergrößen hät­ ten: 4,1; 4; 3,9; 1; 0,5 und das Initiativrecht zunächst Land 4 zufiele, dann würde offenbar die Koalition (1,4) gebildet. Land 2 ist größer als der Durchschnitt von Land 4 und Land 1. Deshalb würde die Koalition, wenn sie das Initiativrecht erhielte, mit Erfolg Land 2 zum Beitritt auf­ fordern. Bekäme diese Koalition nochmals das Initiativrecht, würde auch Land 3 zum Beitritt aufgefordert, denn seine Größe übertrifft den Durchschnitt der Dreierkoalition der Länder l, 4 und 2.

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32

Diese Unterscheidung ist allerdings nicht eindeutig. Man könnte auf die Labels „ökonomisch" und „politisch" verzichten und bestimmte Fakto­ ren wie Souveränitätsverzicht, Sicherheit, Marktumfang usw. direkt be­ nennen. Der Zusammenhang von Entscheidungskosten und erforderlicher Zu ­ stimmungsquote wurde bereits von Buchanan und Tullock (1962 ) nach­ drücklich betont. Eine rein formale Betrachtung der Entwicklung der Repräsentationsver­ hältnisse in der Europäischen Kommission, im Ministerrat und im Par­ lament, wie sie etwa mit Hilfe von Machtindizes ausgedrückt werden kann, könnte die These von dem Einflussverlust der großen Mitglieds­ länder bei wachsenden Mitgliederzahlen nahe legen, aber eine solche Betrachtung wäre eben bloß formal. Im Zweifelsfall wären die „Großen" wohl in der Lage, in ihrem Sinne nach zu bessern.


Glombowski/Gilgenmann: Ein einfaches Modell zur Darstellung von Integrationsprozessen an irgend einem Punkt an der Zunahme der politischen Kosten ihre Schranke finden kann. 33 Den politischen Kosten stehen ökonomische Vorteile ge­ genüber, die sich aus der Vergrößerung der Märkte, der Freizügigkeit der Produktionsfaktoren, der Vereinheitli­ chung von Regeln und Politiken, größerer wirtschaftlicher Stabilität, festen Wechselkursen bzw. einheitlicher Wäh­ rung usw. ergeben und um deren Willen die Souveränitäts­ verluste und andere Nachteile in Kauf genommen werden, jedenfalls so lange die Vorteile überwiegen. Bezüglich des Verlaufs der Nutzenkurve eines repräsentativen Mitglieds in Abhängigkeit vom Umfang der Koalition, der es angehört, nehmen wir an, dass sie steigt, wenn auch möglicherweise unterproportional. Man könnte z.B. damit argumentieren, dass die erzielte Marktvergrößerung mit jedem zusätzlichen Mitglied relativ kleiner wird und dass vermutlich zuneh­ mende geografische Abstände zu neuen Mitgliedern die ökonomischen Vorteile geringer ausfallen lassen, als wenn sich Nachbarn der Gemeinschaft anschließen. Der Einfach­ heit halber werden wir jedoch von einem linearen Ansteigen der Nutzenfunktion eines repr äsentativen Mitglieds mit zunehmender Mitgliederzahl ausgehen. Die politischen Kosten und ökonomischen Nutzen einer politischen und wirtschaftlichen Union hängen selbstve r­ ständlich nicht nur von ihr selbst ab. Sie unterliegen exter­ nen Einflüssen vielfältiger Art, die sich als Schocks (Welt­ wirtschaftskrisen, kriegerische Auseinandersetzungen, Re­ volutionen, ökologische Katastrophen) oder als langsam wirkende Veränderungen der Umwelt (Aufholprozesse von Ländern der Dritten Welt, nachhaltige Differenzen der Pro­ duktivitätsentwicklungen zwischen Staatengruppen, Verän­ derung politischer Grundauffassungen usw.) manifestieren können.34 Solche Ereignisse oder Prozesse wären als extern verursachte Verschiebungen von Kosten- und Nutzenkurven zu berücksichtigen und würden sich tendenziell auf die Attraktivität existierender und potentieller Koalitionen aus­ wirken. Folglich geraten die Ausdehnung, Verschmelzung, Verkleinerung oder Teilung von Unionen auf Grund exter­ ner Prozesse ins Blickfeld. Für die faktische historische Entwicklung ist der von diesen externen Veränderungen ausgehende Anpassungsdruck vermutlich von letztlich ent­ scheidender Bedeutung. Als Nutzenfunktion unterstellen wir b[i] = -l+3i Die Kosten seien gegeben durch c[i] = 1+0,1 i+0,02 i2 Die Werte der Koalitionen verschiedenen Umfangs ergeben sich aus den Differenzen zwischen ihren jeweiligen Nutzen und Kosten: v[i] = b[i] - c[i] = - 2+2,9 i - 0,02 i 2 Diese Annahmen führen zu den folgenden Zahlen v[l] = 0,88 v[l]/l = 0,88 v[2] = 3,72 v[2]/2 = l,86 33

34

Die steigenden politischen Kosten bewirken mit anderen Worten, dass die Super-additivität der charakteristischen Funktion von einer bestimm­ ten Größenordnung der Koalitionen an verloren geht. Ein schönes Beispiel bietet der Versuch der EU, der Steuervermeidung durch Anlage des Vermögens im Ausland einen wirksamen Riegel vor zu schieben. Offensichtlich hängt der Erfolg solcher Politiken stark da­ von ab, wie kooperationsbereit die Steueroasen außerhalb der EU sich verhalten.

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v[3] = 6,52 v[3]/3 = 2,173 v[4] = 9,28 v[4]/4 = 2,32 v[5] = 12 v[5]/5 = 2,4 Die erste Spalte ist eine charakteristische Funktion in ve r­ kürzter Form, die zweite gibt die Zurechnungen pro Mit­ glied der Koalitionen unterschiedlicher Größe an. Die so konstruierte Funktion ist, wie man leicht erkennt, in dem hier betrachteten Bereich superadditiv. Allerdings nehmen die durch Erweiterungen erzielbaren Zugewinne pro Land mit zunehmender Mitgliederzahl ab. Für hohe i, genauer gesagt für i > 10, nimmt in unserem Zahlenbei-piel der Durchschnittswert eines Mitglieds einer Koalition dieser Größenordnung ab. Die Funktion ist dann nicht mehr super­ additiv, d.h. die Zunahme der Kosten ist größer als die Nut­ zenzunahme. Die Verläufe des Integrationsprozesses ähneln sehr stark den bisher für die superadditiven und symmetrischen Fälle beschriebenen, insbesondere gilt die in Abb. l dargestellte Ablauffolge der Koalitionen. Wegen dieser Ähnlichkeit erübrigt sich eine ausführliche Darstellung des Ablaufs. Vergleichen wir mit diesem ersten Beispiel ein zweites mit gleicher Nutzenfunktion, aber einer stärker steigenden Ko­ stenfunktion c[i]= l+0,6 i+0,1 i 2 Wir erhalten jetzt die alternativen Zahlen v[l] = 0,3 v[l]/l = 0,3 v[2] = 2,4 v[2]/2 = l,2 v[3] = 4,3 v[3]/3 = 1,433 v[4] = 6 v[4]/4 = l,5 v[5] = 7,5 v[5]/5 = l,5 v[6] = 8,8 v[6]/6 = l,47 Das Maximum des Werts einer Koalition pro Mitglied wird jetzt schon bei 4 Mitgliedern erreicht und würde vom sech­ sten Mitglied ab fallen. Unter unser Annahmen wird bei fünf potentiellen Mitgliedern keine große Koalition resultie­ ren. Nehmen wir nun an, dass unsere beiden Beispiele zeitlich aufeinander folgen und durch eine Verschiebung der Ko­ stenfunktion zu Stande kommen. Es sind dann zwei Kon­ stellationen (Reihenfolgen) zu unterscheiden. Eine plötzli­ che starke Senkung der politischen Kosten, d.h. der Über­ gang vom Beispiel 2 zum Beispiel l , würde den Kreis der Teilnehmer erweitern und letztlich zu der vorher nicht reali­ sierten bzw. zu realisierenden großen Koalition fuhren. Ein starkes Ansteigen der politischen Kosten, d.h. der Übergang vom Beispiel l zum Beispiel 2, würde dagegen den noch im Gange befindlichen Integrationsprozess vor Erreichen der großen Koalition bremsen oder möglicherweise zu einem Abbröckeln des bereits erreichten Mitgliederstandes füh­ ren.35 Die Auslöser für diese Änderungen wären in erster Linie externer Natur, könnten aber auch Ergebnisse innerer Reformen sein, die auf eine Senkung der politischen Kosten durch Veränderung von Abstimmungsverfahren, Verwal­ tungsvereinfachung, Dezentralisierung oder Lernprozesse hinaus laufen. 35

Ein Austritt könnte mit extra Kosten für alle Beteiligten, insbesondere aber für das austretende Land oder die austretende Ländergruppe, ver­ bunden sein, die eine Schwelle - wenn auch keine unüberwindliche ­ bilden könnten.


Glombowski/Gilgenmann: Ein einfaches Modell zur Darstellung von Integrationsprozessen 10 9. Fazit und Ausblick Wir haben unser einfaches Ausgangsmodell in mehrere Richtungen modifiziert, indem wir • • • •

die Symmetrieannahme (gleich große Länder) aufgeho­ ben haben (Abschnitt 6) eine räumliche Struktur eingeführt haben (Abschnitt 5) die Möglichkeit von Umverteilungen innerhalb von Koalitionen betrachtet haben (Abschnitt 4) die Annahme der Superadditivität abgeschwächt haben (Abschnitt 7) und

eine Separierung von Kosten- und Nutzengrößen und extern bedingte Verschiebungen der Kostenfunktion im Zeitablauf ins Auge gefasst haben (Abschnitt 8). Jede dieser Änderungen hatte Konsequenzen für die Koali­ tionsbildungsprozesse und deren Endphase. Es läge nahe, alle diese Änderungen simultan in das Basismodell einzu­ führen. Damit ginge freilich der Vorteil der Anschaulichkeit verloren. Für eine simultane Berücksichtigung aller hier vorgestellten Modifikationen wäre es wünschenswert, das erweiterte Modell zu simulieren und dabei auch die Zahl der potentiellen Mitglieder variabler zu gestalten. Darüber hin­ aus bieten sich weitere Modifikationen an, insbesondere hinsichtlich der Verhaltens- und Informationsannahmen, der Umverteilungsmodalitäten und der externen Effekte, die vom Integrationsprozess auf Drittländer ausgehen und um­ gekehrt. Im Sinne dieses Ausbaus hoffen wir, dass unser kleines Modell sich als ein Anstoß zur Entwicklung brauch­ barer Werkzeuge zur Beschreibung von Integrationsprozes­ sen erweist. Literaturverzeichnis Buchanan, James und Gordon Tullock (1962), The Calculus of Consent. Logical Foundations of Constitutional De­ mocracy, Ann Arbor: University of Michigan Press, (12. Aufl. 1990) Crafts, Nicolas und Gianni Toniolo (Hrsg.) (1996), Econo­ mic Growth in Europe Since 1945, Cambridge: Cam­ bridge University Press Goodfriend, Marvin und John McDermott (1998), Industrial Development and the Convergence Question, American Economic Review, 88,1277-1289 Güth, Werner (1999), Spieltheorie und ökonomische (Bei)Spiele, 2. völlig neu bearbeitete Auflage, Berlin u.a.: Springer Holler, Manfred J. und Gerhard Illing (1996), Einführung in die Spieltheorie, Berlin/Heidelberg: Springer (3. verbes­ serte und erweiterte Auflage) Iwai, K. (2000), A Contribution to the Evolutionary Theory of Innovation, Imitation and Growth, Journal of Econo­ mic Behavior & Organization, 43, 167-198 Mattli, Walter (1999), The Logic of Regional Integration. Europe and Beyond, Cambridge: Cambridge University Press Riel, Bart van und Alman Metten (2000), De keuzes van Maastricht. De hobbelige weg naar de EMU [Die Ent­ scheidungen von Maastricht. Der holprige Weg zur Eu­ ropäischen Währungsunion], Assen: Van Gorkum

Simon, Herbert (1977), Rationale Entscheidungsfindung in Wirtschaftsunternehmen, in: Recktenwald, Horst Claus (Hrsg.) (1989), Die Nobelpreisträger der ökonomischen Wissenschaft 1969-1988, Band II, Düsseldorf: Verlag Wirtschaft und Finanzen, 592-633


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