Kg jg 2003 institutionen

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Institutionen als Elementareinheiten soziokultureller Evolution Klaus Gilgenmann und Jörg Glombowski schen Ebene der Organismen und Populationen er­ scheint auf den Bereich der soziokulturellen Evolution kaum anwendbar.2 Die Frage ist also zunächst, welche Modifikationen für ein entsprechendes Modell soziokul­ tureller Evolution vollzogen werden müssen.

1. Einleitung Der Institutionenbegriff hat eine lange Tradition in den Sozialwissenschaften. Daher wird häufig übersehen, dass in den konkurrierenden Ansätzen, die sich darauf beziehen, eine klare Definition meist vermieden wird. Entgegen einer Tendenz zur Ausweitung des Begriffs in neueren Ansätzen wird in diesem Beitrag eine engere Definition vorgeschla­ gen, die sich auf ein evolutionstheoretisches Konzept stützt. Die übliche funktionalistische Deutung von Institutionen als Mittel zur Reduktion von Unsicherheit erscheint uns unzureichend für deren Definition, da diese Funktion auch vielen anderen sozialen bzw. technischen Einrichtungen zugeschrieben werden kann. Um zu einer strikteren Defini­ tion zu kommen, werden im Folgenden zwei Instrumente verwendet:

- Das evolutionstheoretische Instrument der Unterschei­ dung evolutionärer Mechanismen – und damit die Plat­ zierung der Institutionen als basale Einheiten in einem Modell soziokultureller Evolution, das kausal voneinan­ der unabhängige Wirkungsmechanismen, also konstitu­ tive Blindheit, annimmt;

- das kommunikationstheoretische Instrument der Unter­ scheidung zwischen Handlungs- und Erlebenskompo­ nenten der Kommunikation und damit die Platzierung der Institutionen auf der Seite der Erlebenskomponen­ ten, der kognitiven Konstrukte. 2. Institutionen als Einheiten der Evolution 2.1 Grundlagen der Evolutionstheorie Institutionentheorien, die Anleihen bei Evolutionstheori­ en machen, bleiben meist undeutlich an einem Punkt, der in der neueren biologischen Evolutionstheorie als grundlegend angesehen wird: das ist die Bezeichnung der basalen Einheiten, die in evolutionären Prozessen repliziert werden. Für diese Einheiten wird in der biolo­ gischen Evolutionstheorie operative Geschlossenheit behauptet. Diese Auffassung, die eingebettet ist in das Konzept der kausalen Unabhängigkeit – also Zufällig­ keit des Zusammenwirkens – der evolutionären Mecha­ nismen, hat sich durchgesetzt gegen die in der soziokul­ turellen Erfahrungswelt verankerte Intuition Lamarcks von der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften. Ve r­ änderungen auf der genetischen Ebene vollziehen sich demnach strikt unabhängig von Veränderungen auf der Ebene der Organismen und ihrer Umweltwahrnehmun­ gen.1 Angesichts dieser Theorieentscheidungen erscheint die Übertragung evolutionstheoretischer Modelle zwischen Biologie und Sozialwissenschaften erschwert. Insbeson­ dere das Modell der operativen Geschlossenheit der ba­ salen Replikationseinheiten gegenüber der phänotypi­

2.2 Divergenz und Äquivalenz Eine Divergenz ist offenkundig: die Vererbung erwo r­ bener Eigenschaften macht die Besonderheit der sozio­ kulturellen Evolution aus. Diese Divergenz zwingt aber nicht zum Verzicht auf ein theoretisches Modell, in dem die operative Geschlossenheit von Elementareinheiten mit der operativen Offenheit und Komplexität soziokul­ tureller Phänomene kombiniert wird. Um diese Kombi­ nation evolutionstheoretisch tragfähig zu machen, ist nur zu zeigen, dass die Wirkungen auf die Elementareinhei­ ten soziokultureller Evolution zu trennen sind von den Wirkungen auf der phänomenalen Ebene zusammenge­ setzter sozialer Ereignisse. Die Elementareinheiten soziokultureller Evolution müs­ sen als operativ geschlossene Einheiten eingeführt werden, die sich wie Gene selbst durch Umwelterfahrungen nicht verändern können. Damit ist ausgeschlossen, dass es sich bei diesen Einheiten um menschliche Individuen handeln könnte, da diese offensichtlich aus Umwelterfahrungen lernen und diese Erfahrungen sogar vererben können.3 Da­ mit ist aber nicht ausgeschlossen, dass der Gebrauch , der von diesen Einheiten auf der phänotypischen Ebene ge­ macht wird, im strikten Sinne der evolutionären Selektion unterliegt. Ein Begriff für solche operativ geschlossenen Einheiten liegt in der sozialwissenschaftlichen Theorietradition mit dem Begriff der Institutionen schon vor. Er ist in der älteren ökonomischen und soziologischen Theorietradition zu­ nächst auf grundlegende Phänomene bezogen worden, die unmittelbaren Handlungszugriffen entzogen sind und eben dadurch zu den Möglichkeitsbedingungen sozialen Han­ delns und Erlebens gehören.4 Tab. 1: Einheiten der Evolution

Emergente Einheiten Selektionseinheiten Basale Einheiten

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Die klassische Selektionstheorie besagt, dass das Gen die Einheit der Vererbung und der Variation ist, das Individuum die Einheit der Selekti­ on und die biologische Art die Einheit der Evolution (Mayr 1994a).

Soziobiologisch Arten Organismen Gene

Soziokulturell Akteurssysteme Akteure Institutionen

Als ein Grund für das Fehlen einer soziologisch ausgearbeiteten Evoluti­ onstheorie wird genannt, dass es „für eine auf Sozialstrukturen konzen­ trierte Disziplin schwierig [sei], ein basales Element zu erkennen, das Variationen unterliegt, als Einheit der Selektion fungiert und replikati­ onsfähig ist; zumindest gibt es bisher kaum überzeugende Vorschläge dafür.“ (Stichweh et al. 1999, S.9) Dazu ausführlicher Abschnitt 4.1. So Durkheim vielzitiert „...die Soziologie kann also definiert werden als die Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wir­ kungsart.“ (Durkheim 1961 [1895] 100), vgl. den Überblicksartikel von Dubiel 1976. Diese Tradition wird abgestützt durch Ethnologie und Kul­ turanthropologie (vgl. Malinowski 1975 [1949], Douglas 1986).


Gilgenmann/Glombowski: Institutionen als Elementareinheiten soziokultureller Evolution Während Institutionen in älteren Verwendungen des Be­ griffs als strukturelle Voraussetzungen des Handelns be­ schrieben werden, die für das Handeln selbst nicht erreich­ bar sind, findet sich in neueren Verwendungen oft keine klare Abgrenzung von handlungsnahen Begriffen der Rege­ lung, des Vertrags, der Organisation etc. Diesen Formen kann dann nicht mehr der Status der Latenzgeschütztheit und Unerreichbarkeit für intentional intervenierendes Han­ deln zugeschrieben werden. Die neoinstitutionalistische Annahme, dass Institutionen durch intentionales Handeln „geschaffen“ werden können, soll im Folgenden durch evolutionstheoretische Annahmen ersetzt werden. Institutionen sind hier weder handlungs-, noch entscheidungs-, noch lernfähig. Sie verhalten sich zu den vielfältigen Formen des Sozialen wie Genotypen zu Phänotypen. Der Anschluss an die konkurrierenden Ve r­ wendungen des Institutionenbegriffs soll dadurch hergestellt werden, dass in einem Kreislaufmodell verschiedene Phasen im „Lebenszyklus“ von Institutionen unterschieden werden. 3. Institutionen als Konstrukte der Kommunikation 3.1 Mikro- und Makroebene Alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen operieren mit der Unterscheidung verschiedener Ebenen in der Beschreibung ihrer Gegenstände. Im Prinzip handelt es sich um die Unter­ scheidung zwischen einer Ebene sozialer Makrophänomene, die sich der unmittelbaren Beobachtung schon aufgrund ihrer raum-zeitlichen Größe entziehen und deshalb den bevorzugten Gegenstand der wissenschaftlichen Beobach­ tung bilden, und einer Ebene sozialer Mikrophänomene, die der unmittelbaren Beobachtung in der Teilnehmerperspekti­ ve zugänglich ist. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung wird in me­ thodologischer Perspektive auch von einem Mikro-MakroProblem der Sozialwissenschaften gesprochen, das darin besteht, die Beschreibung der verschiedenen Ebenen der Sozialität theoretisch zu verknüpfen.5 In der Perspektive des methodologischen Individualismus wird das Problem durch die Annahme verschärft, dass eine angemessene Erklärung sozialer Phänome auf Motive rekurrieren müsse, die in der Teilnehmerperspektive auf der Mikroebene entfaltet we r­ den. Vertretern strukturfunktionalistischer Ansätze wird deshalb vorgehalten, dass sie eine (genetische) Erklärung verfehlten. Tab. 2: Ebenen der Kommunikation Makroebene Mikroebene

Formen des kollektiven Handelns und Erlebens Populationen, Systeme, Differenzierungsformen der Gesellschaft Formen des individuellen Handelns und Erlebens Austausch, Kooperation, Technik, Tradition

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Das hier skizzierte Programm zielt darauf, die Alternative zwischen top down verfahrenden (system-struktur­ theoretischen) und bottom up ve rfahrenden (mikrofundiert emergenztheoretischen) Ansätzen durch ein Kreislaufmo­ dell mit zwei Ebenen und vier kausal wirkenden Mechanis­ men zu ersetzen. Um Hypothesen zur Verknüpfung der Phänomene auf verschiedenen Ebenen entwickeln zu kön­ nen, wird der im Mainstream der Sozialwissenschaften bevorzugte Grundbegriff der Handlung durch den der Kommunikation ersetzt. Diesem Vorschlag liegen v.a. zwei Überlegungen zugrunde: Den konkurrierenden handlungstheoretischen Ansätzen ist es bisher nicht gelungen, einen tragfähigen Konsens über die Relation von bewusstseinsbasierten und organisch­ physisch basierten Komponenten der Grundoperation menschlicher Sozialität herzustellen. In handlungstheoreti­ schen Ansätzen wird stets (hierarchisch oder konsekutiv) das Eine dem Anderen subsumiert. Im Zwang zur Redukti­ on auf entweder geistige oder materielle Komponenten liegt ein Auslöser andauernden Paradigmenstreits. Ein kommu­ nikationstheoretischer Ansatz erlaubt es stattdessen, die Grundoperationen menschlicher Sozialität als nicht weiter zu reduzierende (materiell und geistig konstituierte) Einheit zu behandeln und soziale Phänomene – insbesondere Insti­ tutionen – als Produkte der Ausdifferenzierung von Hand­ lungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation zu erklären. Der Rekurs auf Kommunikation als Grundoperation er­ scheint auch besser als der Rekurs auf individuelle Hand­ lungen vereinbar mit einem evolutionstheoretischen Ansatz zur Erklärung der Bedingungen des Wandels sozialer Insti­ tutionen. Evolutionstheoretische Ansätze verlangen die Bestimmung von kausal voneinander unabhängigen Wir­ kungsmechanismen.6 Ein kommunikationstheoretischer Ansatz kann die Wirkung evolutionärer Mechanismen aus Unterbrechungen der Kommunikation erklären, die an ve r­ schiedenartigen Konstellationen der Kommunikation anset­ zen und verschiedenartige institutionelle Lösungen hervo r­ bringen. Für die Konstruktion kausal unabhängiger Wirkungsme­ chanismen in einem Modell soziokultureller Evolution reicht die Unterscheidung sozialer Mikro- und Makrophä­ nomene nicht aus. Sie entspricht nicht der Differenz zwi­ schen genetischer und phänomenaler Ebene in der Evoluti­ onsbiologie, sondern eher der von Organismen und Popula­ tionen. Um zu einem evolutionstheoretisch differenzierteren Ansatz zu gelangen, enthält der Begriff der Kommunikation mit den in ihm angelegten Differenzierungen die Möglich­ keit, auf beiden Ebenen noch einmal zwischen offenen und geschlossenen Formen der Kommunikation zu unterschei­ den. 3.2 Offenheit und Geschlossenheit Zur Lösung der skizzierten Theorieprobleme wird hier vo r­ geschlagen, die Unterscheidung von Ebenen durch die Un­

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Vgl. Alexander et al. 1987. Die Bezeichnung als „Mikro-MakroProblem“ stammt aus der Soziologie. In der ökonomischen Theorietradi­ tion wird die Mikro-Makro-Unterscheidung weniger gegenstandsorien­ tiert gehandhabt und stattdessen auf disaggregierte (Mikro-) und aggre­ gierte (Makro-)Daten bezogen. Das vergleichbare theoretische Problem wird hier in der Verknüpfung zwischen Partial- und Totalanalyse ges e­ hen (partial vs. general equilibrium).

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Die Unabhängigkeit i.S. der Darwinschen Prämissen ist z.B. nicht ge­ währleistet, wenn der Selektionsmechanismus durch die Intentionalität des Handelns oder rational kalkulierende Nutzenerwartungen gesteuert wäre. Ein komplementäres Problem mit der kausalen Unabhängigkeit der Mechanismen hat die funktionalistische Systemtheorie, wenn sie die Selektionsfunktion den Medien der Funktionssysteme zuordnet.


Gilgenmann/Glombowski: Institutionen als Elementareinheiten soziokultureller Evolution terscheidung zwischen Handlungs- und Erlebenskomponen­ ten der Kommunikation zu ergänzen, um den Anforderun­ gen an kausale Unabhängigkeit der evolutionär wirksamen Mechanismen und der operativen Geschlossenheit der basa­ len Einheiten gerecht zu werden. Alle Formen kultureller Sozialität werden in diesem Modell zurückgeführt auf ve r­ schiedenartige Kombinationen der vier Grundkomponenten der Kommunikation – Mitteilung, Information, Ve rstehen und Anschließen – die zu evolutionär unwahrscheinlichen Formen der Kommunikation verknüpft werden können. Tab. 3: Komponenten der Kommunikation Handeln Erleben Alter Mitteilung Information Ego Anschlussverhalten Anschlussverstehen Kommunikation ist im evolutionären Kreislauf einerseits als eine prozessierende und dadurch offene Form zu beschrei­ ben. Ihre Offenheit ist schon dadurch gewährleistet, dass sie nur in der rekursiven und prokursiven Verknüpfung mit vergangener und künftiger Kommunikation existieren kann. Andererseits setzt sie aber mit jeder Verknüpfung operative Schließung, also Institutionen, schon voraus. Institutionen sind operativ geschlossene Formen der Kommunikation, die Verknüpfungen ermöglichen, indem sie Anderes ausschlie­ ßen. In jeder Operation der Kommunikation werden Institu­ tionen reproduziert: retrospe ktiv in ihren Verknüpfungen und prospektiv in ihren Anschlussmöglichkeiten. Institutionen sind in allen Formen der Ko mmunikation wirksam. Auch in den evolutionär unwahrscheinlichsten Formen kombinieren sie Offenheit mit Geschlossenheit. Intentionale Offenheit der Kommunikation ist dadurch ge­ geben, dass sie auf andere Kommunikation ausgerichtet und prinzipiell unabschließbar ist. Institutionelle Geschlossen­ heit der Kommunikation ist dadurch gegeben, dass sie im­ mer schon mit vergangener Kommunikation verknüpft ist. Die in handlungstheoretischen Ansätzen betonte Ent­ scheidungsoffenheit wird hier ersetzt durch die Offenheit der Kommunikation i.S. ihrer prokursiven Intentionalität, die das mögliche Scheitern von Kommunikation an Proble­ men der Verknüpfung einschließt. Die operative Offenheit und konstitutive Unabgeschlossenheit der Kommunikation bildet den „chaotischen“ Vordergrund eines Netzwerks, das durch das latente Wirken von Institutionen im Hintergrund ermöglicht wird. Die Erklärung für das Zustandekommen von Institutionen durch unbeabsichtigte Effekte von Hand­ lungen wird ersetzt durch die Rekonstruktion der Ausdiffe­ renzierung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation.

kungen, die erst dadurch entstehen, dass in die raum­ zeitliche n Bedingungen der Kommunikation intentional eingegriffen und entweder die räumliche oder zeitliche Reichweite der Kommunikation transzendiert wird. Jeder technische Eingriff in die natürlichen Bedingun­ gen der Kommunikation ist unter den Bedingungen schon entwickelter Soziokulturalität zugleich ein Eingriff in insti­ tutionelle Strukturen der Kommunikation. Nicht die äußere Natur selbst, sondern ihre institutionelle Repräsentation wird durch diese Eingriffe substituiert und zur Variation veranlasst. Aus den technischen Beschränkungen, die mit der raum­ zeitlichen Entschränkung der Kommunikation einhergehen, erwachsen neue und andere Formen der Kommunikation – die als evolutionäre Errungenschaften auch nicht zwangs­ läufig wieder verschwinden, wenn die technischen Be­ schränkungen ihrerseits durch neue Techniken wieder auf­ gehoben werden.7 Die Emergenz neuer Formen der Kom­ munikation in der Folge von Unterbrechungen der Kommu­ nikation ist als evolutionäre Wirkung zu bezeichnen, die nicht als äußere Restriktion der Kommunikation (in Raum und Zeit), sondern als Aufspaltung und (asymmetrische) Rekombination8 von Handlungs- und Erlebenskomponenten erfahren und in der Form der Verselbstständigung von Erle­ benskomponenten zu neuen Institutionen verarbeitet wird.9 Institutionen treten als symbolisch verselbstständigte For­ men des Erlebens an die Stelle äußerer Umweltbeschrän­ kungen der Kommunikation.10 Als Beschränkungen ermög­ lichen sie zugleich evolutionär unwahrscheinliche Formen der Kommunikation. Institutionen sind durch symbolische Generalisierung stabilisierte Erwartungen oder auch „Erwartungen von Er­ wartungen“ in dem Sinne, dass dieselben Erwartungen im Erleben Anderer vorausgesetzt werden können.11 Der be­ sondere Charakter generalisierter Erwartungen als Umwelt­ beschränkungen wird deutlicher, wenn sie mit den natürli­ 7

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Das gilt z.B. für jene Reflexionsformen der Kommunikation, die zunächst durch die zeitliche Verzögerung ermöglicht und erzwungen werden, die mit der Übertragung von Informationen in schriftliche Mitteilungen ver­ bunden (vgl. Abschnitt 4.2.) Der Begriff der Rekombination von Handlungs- und Erlebenskomponen­ ten der Kommunikation wird hier in Analogie zur genetischen Rekom­ bination verwendet, die in der biologischen Evolutionstheorie für Varia ­ tion im Gen-Pool sorgt. Jede Form der Arbeitsteilung bewirkt schon das Auseinandertreten der im Erleben verankerten Motive von den im Handeln verwirklichten Zwek ­ ken (Gehlen 1975, 31f).

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3.3 Unterbrechungen der Kommunikation Für eine evolutionstheoretische Betrachtung ist es grundle­ gend, die Emergenz bestimmter Formen aus der Beschrän­ kung von Möglichkeiten zu erklären. Im Hinblick auf For­ men der soziokulturellen Evolution ist hier zu unterscheiden zwischen „natürlichen“ Beschränkungen in Raum und Zeit, aus denen die Formen der Interaktion unter Anwesenden (mit allen ihren Feinheiten der wechselseitigen Abstimmung im Bereich des sens orisch Wahrnehmbaren und motorisch Darstellbaren) emergierten und „technischen“ Beschrän­

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Man könnte also sagen: Instititutionen treten der prozessierenden Kom­ munikation als Umweltbeschränkungen „zweiter Ordnung“ gegenüber. Für die soziokulturelle Evolution werden diese institutionellen Be ­ schränkungen im Folgenden jedoch als Beschränkungen erster Ordnung bezeichnet und von Beschränkungen zweiter Ordnung (Regulierungen und Sanktionen) unterschieden, die sich intentionalen Eingriffen ver­ danken. Zur Auffassung von soziokultureller Evolution als Substitution externer durch interne Beschränkungen (vgl. Campbell 1965). Auch Esser stellt in seiner Definition des Instititutionenbegriffs diese Reflexivität des Erwartens heraus und zieht damit eine Grenze gegen­ über einfachen Regelmäßigkeiten des Handelns (Gewohnheitshandeln) und sozialen Gebilden wie Organisationen (Esser 2000, 5). Allerdings leitet er den Geltungsanspruch von Institutionen dann doch aus Hand­ lungsfolgen (Sanktionen bei Übertretung) ab und fügt Legitimitätsgel­ tung ohne klare Abgrenzung als zweite Bestimmung hinzu (Esser 2000, 8). Den Unterschied zwischen (organisationsgestützten) Mitteln der Sanktion und (öffentlichkeitsgestützen) Mitteln der Legitimation macht jedoch bereits die Transaktionskostenanalyse deutlich.


Gilgenmann/Glombowski: Institutionen als Elementareinheiten soziokultureller Evolution chen Umweltbeschränkungen in Raum und Zeit verglichen werden, die ja fortbestehen und in der menschlichen Gesell­ schaft auch nur durch Kommunikation wirksam werden. Es handelt sich in beiden Fällen um überindividuelle, symbo­ lisch generalisierte Schemata der menschlichen Umwelt­ wahrnehmung. Die künstlichen Umweltbeschränkungen durch Institutionen führen zu Freisetzungen von den natür­ lichen Beschränkungen, wie im Folgenden zu spezifizieren sein wird. 4. Institutionenwandel durch evolutionäre Mechanismen Viele Institutionentheorien machen Anleihen bei der Evolutionstheorie oder bezeichnen sich als „evoluto­ risch“ und beziehen sich dabei ausdrücklich auf das Darwinsche Konzept evolutionärer Mechanismen. Sie bleiben jedoch zumeist undeutlich in einem Punkt, der in der biologischen Evolutionstheorie als grundlegend an­ gesehen wird: das ist das kausal von einander unabhän­ gige – also nur zufällig koinzidierende – Wirken evolu­ tionärer Mechanismen. Viele Sozialwissenschaftler hal­ ten das Konzept der kausal unabhängigen Wirkungsfak­ toren nicht für anwendbar auf soziokulturelle Evolution, und Evolutionsbiologen schließen aus, dass Theorien der soziokulturellen Evolution den Darwinschen Prämissen entsprechen könnten. Für den hier skizzierten Theorie­ vorschlag kommt es also zunächst darauf an zu zeigen, dass es möglich ist, kausal voneinander unabhängig wi r­ kende Mechanismen in der soziokulturellen Welt des Menschen zu bezeichnen. Institutioneller Wandel wird im Folgenden beschrieben als kausale Wirkung von rekursiv verknüpften evolutionä­ ren Mechanismen, die die jeweils gegebenen Strukturen der Kommunikation unterbrechen und Differenzierungen her­ vorbringen zwischen Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation und zwischen ve rschiedenen Ebenen der Kommunikation, auf denen sich verschiedenartige Ko n­ stellationen von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation reproduzieren. Das folgende Schema be­ nennt vier evolutionäre Mechanismen und vier Einheiten der Kommunikation, auf die diese Mechanismen (i.S. von Unterbrechungen der Kommunikation) einwirken: auf der Mikroebene Individuen und Kollektivakteure, auf der Ma­ kroebene Populationen und Institutionen. Diese Einheiten sind selbst als historische Konstrukte soziokultureller Evo­ lution zu verstehen. Ihre institutionelle Gestalt ist abhängig von der Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Jede Gesell­ schaft verfügt über einen tradierten Pool und eine auf ihre Umweltbedingungen abgestimmte Auswahl an Institutio­ nen, auf die sie zurückgreift in der Weise, in der sie ihre Kommunikationen verknüpft.

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Tab. 4: Evolutionstheoretisches Kreislaufmodell

Systeme

Restabi lisation fi

Umwelten

Makroebene

Populationen

4. Öffentlichkeit

Gesellschaft

Makro­ ebene

› Selektion

3. Wettbewerb

Kreislaufmodell

1. Tradition

Repli­ kation fl

Mikroebene

Hierarchien

2. Technik

Indivi duen

Mikro­ ebene

Handeln

‹ Variation

Erleben

Der Wandel von Institutionen wird in diesem Modell durch folgende Mechanismen bestimmt:

- Replikation: die Tradierung von Institutionengefügen im Generationswechsel, die das individuelle Erleben sozia­ lisiert.

- Variation: der Gebrauch technischer Innovationen, der Handeln und Erleben differenziert.

- Selektion: die Konkurrenz um knappe Umweltressour­ cen, die unpassende Institutionengefüge eliminiert.

- Restabilisation: die Differenzierung und Ausdehnung des verfügbaren Institutionen-Pools selbst. Es gibt in diesem evolutionstheoretischen Modell keine Universalien und keine Letztfundierung. Statt Strukturde­ termination gibt es nur Sperrklinkeneffekte und Pfadabhän­ gigkeiten, statt Individualdetermination i.S. rationaler Hand­ lungswahl nur blinde Variation. Es gibt hier auch keinen institutionenfreien Raum, in dem eine erste Institution aus der Interaktion menschlicher Akteure emergiert. Deshalb ist als Form der Darstellung ein Kreislaufmodell gewählt, in das an beliebiger Stelle eingestiegen werden kann. Der Fortgang ist jedoch nicht beliebig, sondern durch die Abfol­ ge evolutionärer Mechanismen und institutioneller Errun­ genschaften festgelegt. Ursac hen und Wirkungen institutio­ nellen Wandels sind nicht leicht auseinander zu halten, wenn Institutionenbildung als Prozess betrachtet wird. In die Beschreibung evolutionärer Mechanismen, die ja selbst evolutionäre Errungenschaften sind, gehen Institutionalisie­ rungen immer schon ein. Jeder Mechanismus kann selbst wiederum als Institution betrachtet werden. Dennoch muss für konkrete historische Situationen zwischen Ursache und Wirkung unterschieden werden. Wir starten in dieser Modellskizze mit Institutionen und Individuen als Produkten der Evolution (Replikation) und enden mit der Re-Institutionalisierung von Handlungsfolgen im Institutionenpool der Gesellschaft (Restabilisation). Dazwischen liegen zwei Stufen der Entfaltung menschlicher Handlungsintentionalität (Variation und Selektion), die aus


Gilgenmann/Glombowski: Institutionen als Elementareinheiten soziokultureller Evolution den Beschränkungen der organischen Evolution heraus und zur Einbettung in ein soziokulturelles Institutionengefüge führen. 4.1 Tradition und Individualisierung Die Beschreibung des Replikationsmechanismus und seiner Wirkungen hat eine Doppelfunktion im hier skizzierten Modell, da mit ihm zugleich der Einstieg und Abschluss des Kreislaufs markiert wird. Nach einer auch in den Sozialwi s­ senschaften gängigen Auffassung wird Kultur definiert durch die „Übertragung von Wissen, Werten und anderen verhaltensrelevanten Faktoren vermittels Lehre und Nach­ ahmung von einer Generation auf die näch­ ste“.(Boyd/Richerson 1985, 2). Diese Auffassung legt es nahe, in der Tradierung von Institutionen auch den für die soziokulturelle Evolution grundlegenden Replikationsme­ chanismus zu sehen. Wenn Tradierung als eine Art Implementation und Re­ naturalisierung der Institutionen betrachtet wird, erscheint die Form der Individualisierung als paradoxer Effekt. Die Auflösung dieser Paradoxie ist in der Form der Rekombina­ tion von Handlungs- und Erlebenskomponenten auf der Mikroebene zu erkennen:

- Die evolutionäre Unterbrechung ergibt sich aus der natürlichen Differenz des individuellen Erlebens gegen­ über den (gegebenen) Institutionen des kollektiven Han­ delns. Das individuelle Erleben findet darin umso weni­ ger Anschlusspunkte, je ausdifferenzierter sich die Insti­ tutionen auf der Makroebene darstellen.

- Die institutionelle Rekombination ergibt sich schon (primordial) aus der Gegebenheit eines geteilten symbo­ lischen Horizonts der Kommunikation. Jede Form der Teilnahme an Kommunikation ist sozialisationswirksam und bewirkt Tradierung von Institutionen. Andererseits ergibt sich aus dem Grad der Ausdifferenzierung der In­ stitutionen die Einschränkung sozialisatorischer Vollin­ klusion und dadurch verstärkte Individualisierung. Individualisierung kann sowohl als gattungsgeschichtliche Ausgangslage als auch als evolutionäre Steigerungsform beschrieben werden. Für die gattungsgeschichtliche Aus­ gangslage (vgl. Wieser 1998) muss der kausale evolutionäre Mechanismus nicht genauer bezeichnet werden, der zur Individuation geführt haben mag. 12 Für die anschließende soziokulturelle Entwicklung kann jedoch der jeweilige Kon­ text gesellschaftlich ausdifferenzierter Institutionen als die historische Ausgangslage bezeichnet werden, in der die Form der Unterbrechung der Kommunikation evolutionäre Individualisierungsschübe ausgelöst hat.

Zur gattungsgeschichtlichen Ausgangslage gehören die Symbolisierungsleistungen der Ko mmunikation13, auf die im Folgenden unter dem Aspekt der Institutionenbildung Bezug genommen wird. Individualisierung muss als ein Aspekt dieser Ausgangslage bezeichnet werden, der die besondere Lernfähigkeit, die Verarbeitung von Umwelter­ fahrungen ermöglicht, die dann ihrerseits je nach Individua­ lisierungsgrad zu verschiedenen Formen der Tradierung von mitlaufender Sozialisation bis zum organisierten Bildungs­ system führt. Unter dem Aspekt der Replikation von Institutionen durch Tradierung wird der Umstand bedeutsam, dass Men­ schen nicht schon als voll handlungsfähige Subjekte auf die Welt kommen, während Institutionen gewissermaßen immer schon da sind. Dieser Umstand bildet auf der Mikroebene der Kommunikation die Ausgangslage einerseits für die Evolution institutioneller Formen der Individualisierung, andererseits aber auch für fehlende Abwägungsrationalität und sozialen Konformismus der Individuen (vgl. Abschnitt 4.4). Im hier skizzierten Modell wird die kulturelle Substitu­ tionsfunktion von Institutionen nicht primär auf Menschen bezogen, sondern auf deren (symbolisch generalisierte) Umweltwahrnehmungen. 14 Wenn Menschen durch Instinkte gesteuert würden, dann würde dies keinen Unterschied machen, da diese Instinkte ja selbst als Ergebnisse der Um­ weltanpassung gedeutet we rden müssten. Da dies jedoch nicht oder nur in geringem Maße der Fall ist, muss die für die soziokulturelle Evolution konstitutive Substitution nicht in den menschlichen Individuen (ihrer Instinktarmut), son­ dern in ihren kognitiven Umweltbezügen gesehen werden: nämlich in der Substitution von natürlichen durch kulturelle (symbolisch generalisierte) Umweltbeschränkungen. Institu­ tionen werden somit nicht als Ersatz für natürliche Instinkte, sondern als Ersatz für natürliche Umweltbeschränkungen gedeutet. Die Freiheit der menschlichen Individuen zur Selbst­ steuerung wird dadurch nicht eingeschränkt, sondern ge­ steigert. Mit Bezug auf Individuen kommt es hier darauf an zu zeigen, dass die Strukturierung der Mikroebene der Kommunikation durch Institutionen der Makroebene im historisch entfalteten Modell nicht als sklavische Replikati­ on15, sondern zugleich schon als Variation zu verstehen ist. Mit der Replikation von Institutionen qua Sozialisation wird auch die Differenz zwischen der Ebene der Institutionen und der Ebene der Individuen repliziert – und damit bereits der Spielraum für Variationen.16

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Die allgemeine Bestimmung des Replikationsmechanismus als Auflö­ sung primordialer Strukturen der Ko mmunikation und Absprungpunkt der soziokulturellen Evolution muss hier im Dunkel der Vorgeschichte gelassen bzw. der Paläontologie überlassen werden. Als kausaler Unter­ brechungsmechanismus kann Replikation erst näher bestimmt werden, wenn der gesamte Kreis lauf dargestellt und die institutionellen Differen­ zierungen bestimmt sind, von denen die jeweilige institutionelle Repli­ kation historisch ausgeht.

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Hier natürlich primär die Ausdifferenzierung der menschlichen Sprache als diejenige Institution, ohne die die Erlebenskomponenten der Kom­ munikation keine Dauerhaftigkeit gewinnen, also die Vielfalt der Institu­ tionen sich gar nicht entfalten könnte. In der anthropologischen Institutionentheorie werden Institutionen als Formen gedeutet, deren Funktion in der Kompensation der Verunsiche­ rungen besteht, die durch den Verlust an Instinkststeuerung in der Ent­ wicklung der menschlichen Gattung eingetreten sind (vgl. Gehlen 1975). Oder als „Übersozialisation“ im Sinne eines alten Vorwurfs gegen den Strukturfunktionalismus (vgl. Wrong, 1961). Die Variation, die durch individuelle Abweichungen vom institutionali­ sierten Sozialisationspfad auf der Mikroebene passiert, kann weder durch Institutionen, noch durch intentionale Handlungen gesteuert wer­ den.


Gilgenmann/Glombowski: Institutionen als Elementareinheiten soziokultureller Evolution 4.2 Technisierung und Kooperation Unsere Ausgangsthese, dass Institutionen nur als operativ geschlossene Merkmalsträger – wie Gene – ihre Funktion in der Kommunikation erfüllen können, hat Konsequenzen für die gesamte Darstellung. Alle evolutionären Mechanismen wirken auf Kommunikation und im Netzwerk der Kommu­ nikation. Sie verändern also den Gebrauch, der von Institu­ tionen als Verknüpfungen der Kommunikation gemacht wird. Drei der vier genannten Mechanismen – Replikation, Selektion und Restabilisation – wirken aber nicht unmittel­ bar auf Institutionen selbst ein, sondern bewirken nur Ve r­ änderungen des Kontexts, in den bestimmte Institutionen eingebettet sind.17 Der einzige Mechanismus, der in den institutionellen Kern der Kommunikation eindringen und darin Mutationen hervorbringen kann, ist der der Variation. Er wird in diesem Modell bestimmt durch intentionale Handlungen der Technisierung. Technik ist selbst ein Ko n­ strukt der Kommunikation. Ihr vorausgesetzt sind nicht nur bestimmte hochentwickelte Institutionen (wie das moderne Rationalitätskonzept), sondern auch schon die basalen Symbolisierungsleistungen der Kommunikation, die Tech­ nisierung als sekundäre operative Schließung ermögli­ chen.18 Wenn hier vorgeschlagen wird, Technik als eine sekun­ däre Form der operativen Schließung der Kommunikation zu verstehen, die eine primäre operative Geschlossenheit immer schon voraussetzt, dann handelt sich zunächst um dasselbe Argument, das in der soziologischen Theorietradi­ tion schon mit Bezug auf das Schließen von Verträgen ge­ braucht wird (vgl. Durkheim 1988, 7. Kap.). In der Betrach­ tung von Technik als Konstrukt der Kommunikation geht es allerdings nicht darum, diese auf ihre symbolischen Voraus­ setzungen zu reduzieren. Gerade an Phänomenen der Tech­ nik wird deutlich, dass die menschliche Kommunikation eine irreduzible symbolisch-materielle Doppelstruktur auf­ weist. Die in der ökonomischen Institutionentheorie heraus­ gestellten Transaktionskosten verweisen auf die andauernde Materialität und materielle Ressourcenabhängigkeit der Kommunikation. Diese Ressourcenbeschränkungen können bekanntlich mit technischen Mitteln transzendiert werden. Die Überschreitungen haben jedoch selbst wiederum exter­ ne Kosten, die auf die Strukturen der Kommunikation zu­ rückwirken. In vielen Darstellungen erscheint es so, als ob technische Innovationen schon durch andauernden Gebrauch zu Institu­ tionen werden könnten. Genauer wäre es aber zu sagen, dass technische Innovationen die Bildung von neuen Institu­ tionen auslösen können. Im evolutionstheoretischen Ansatz ist es zunächst notwendig, zwischen technischen Erfindun­ gen (Inventionen) und ihrer Anwendung (Innovationen) zu 17

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Im Falle der Replikation besteht dieser Kontext aus dem Bewusstsein menschlicher Individuen einschließlich technisch erweiterter Gedächt­ nisspeicher, im Falle der Selektion aus der Kombination von Institutio­ nen, von der auf der phänotypischen Ebene von Akteuren Gebrauch ge­ macht wird, im Falle der Restabilisation aus dem Institutionenpool einer Population. Ähnlich wie im Falle des Replikationsmechanismus ist es auch im Falle des Variationsmechanismus nicht möglich, einen gattungsgeschichtli­ chen Anfangspunkt zu bezeichnen. Viele Phänomene der Kommunikati­ on, die eng mit der primordialen Ausdifferenzierung eines symbolischen Horizonts zu tun haben, können bereits als Vor- oder Frühformen der Technisierung verstanden werden. Dazu ist auch die kommunikative Technik der Verneinung zu zählen.

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unterscheiden. Das gilt unabhängig davon, ob es sich um Innovationen der materiellen Produktion wie Maschinen, Innovationen des Austauschs wie Geld und Kredit, oder Innovationen der Kontrolle und Verknüpfung von Handlun­ gen wie Buchhaltung und Organisation handelt (vgl. Schumpeter 1935). Die zu den technischen Erfindungen passenden Institutionen werden im günstigen Fall durch ihren Gebrauch schon vorgeformt. Auch hier wäre genauer zu sagen, dass der Gebrauch, die Anwe ndung von Technik eine Form der (öffentlichen) Abstimmung darstellt, die als solche dem technischen Zugriff entzogen ist. Die Bildung passender Institutionen erfolgt dann häufig auf dem Wege metaphorischer Übertragung: eine neue Technik bedient sich des institutionellen Gewandes einer älteren Technik (und umgekehrt). Ein wesentliches Moment der Technisierung als Variati­ onsmechanismus ist zu erkennen in der Fehlerhaftigkeit aller Technik. Darin ist sie der Gen-Mutation vergleichbar. Diese konstitutive Fehlerhaftigkeit der Technik ist in der Ingenieurseinstellung selbstverständlich bewusst wird (Per­ row 1987), in der Anwendereinstellung aber verdunkelt bzw. als Ausnahme gedeutet (Baecker 2000). Ihre evolutio­ näre Bedeutung wird im Kreislaufmodell erkennbar im fehlerausmerzenden Wettbewerb, fehlerabsorbierender Umweltdifferenzierung und fehlertoleranter Erziehung der Individuen. Die Wirkung des Variationsmechanismus ist jedoch nicht allein aus der Fehlerhaftigkeit von Technisie­ rungsprozessen abzuleiten. Vielmehr sind Wirkungen auf Institutionen zu identifizieren, die sich gerade aus gelingen­ den Formen der Technisierung (trotz ihrer immanenten Fehlerhaftigkeit) ergeben: Das ist die Ve rknüpfung der Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation in Formen, die den natürlichen (primordialen) Fluss der Kommunikation (auf der Mikroebene handelnder und erle­ bender Individuen) unterbrechen und gegeneinander verselbständigen. Auf der einen Seite werden Handlungskomponenten der Kommunikation in Formen des kollektiven Handelns ve r­ knüpft oder in technische Apparate ausgelagert. Auf der anderen Seite werden Erlebenskomponenten der Kommuni­ kation dem kollektiven Handeln in Entscheidungsstrukturen übergeordnet oder in apparativen Ingenieursleistungen ve r­ gegenständlicht. In jedem Fall wird die unmittelbare Ve r­ bindung zwischen Handeln und Erleben unterbrochen, um die Technisierungsgewinne zu erzielen. Was macht Techni­ sierungen der Kommunikation so attraktiv, dass sie in der menschlichen Gattungsgeschichte zum entscheidenden Treibsatz soziokulturellen Wandels werden können? Die Antwort ist: Unsicherheitsverarbeitung. Wir greifen damit die Erklärung auf, die in der neuen Institutionenökonomie generell für die Bildung von Institutionen gegeben wird und bereits alle geregelten Formen des Austauschs und der Ko­ operation einschließt. Wir halten es allerdings für nötig, bei diesem Erklärungsansatz zwischen Konstrukten des inten­ tionalen Handelns und symbolisch generalisierten Formen des Erlebens stärker zu unterscheiden. Was Technisierungen der Kommunikation, die sich in sachlichen Gegenständen, Maschinen etc. niederschlagen, von Technisierungen des sozialen Austauschs und der Ko­ operation unterscheidet, ist nicht ihre Fehleranfälligkeit, sondern die Form der Fehlerbekämpfung. Institutionen, die Technisierung ermöglichen, sind in beiden Fällen vorausge-


Gilgenmann/Glombowski: Institutionen als Elementareinheiten soziokultureller Evolution setzt. Im Falle der Technisierung von sozialem Austausch und Kooperation (mittels Verträgen und Hierarchien) tritt jedoch an die Stelle des stets einsatzbereiten Ingenieurs die Einsatzbereitschaft von Akteuren mit einer Sanktionsmacht, die die institutionellen Verknüpfungen der Kommunikation praktisch absichert.19 Die These der konstitutiven Unsicherheit lässt sich auf Technisierungen, Organisationen und auf Institutionen selbst beziehen – evolutionstheoretisch allerdings nur unter Berücksichtigung einer klaren Differenz zwischen den Kon­ strukten intentionalen Handelns (Regeln, Techniken, Ve r­ trägen, Organisationen) und Institutionen als (dem direkten Handlungszugriff entzogenen) Konstrukten kollektiven Erlebens. Technisierung und Organisation können unter dieser Voraussetzung als sekundäre Formen der Unsicher­ heitsverarbeitung interpretiert werden, als Schließung der Kommunikation, die in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Primärform der Unsicherheitsve rarbeitung mittels Institutionen steht. Jede Art von Technisierung und Organisation greift in bestehende institutionelle Verknüp­ fungen der Kommunikation ein und ersetzt den institutiona­ lisierten durch einen sekundären Unsicherheitsverarbei­ tungsmechanismus. Dieser Mechanismus kann mit Bezug auf den Institutionenpool insgesamt als Variation bezeichnet werden. Das Gelingen der Technisierung hängt ab von Ve r­ änderungen des institutionellen Gefüges, die sich dem tech­ nischen Zugriff entziehen. 4.3 Konkurrenz und Systembildung Konkurrenz und Wettbewerb gehören zu den meist unter­ suchten Themen in der ökonomischen Theorietradition. Sie bilden seit A. Smiths Metapher von der unsichtbaren Hand auch den wichtigsten Ansatzpunkt für ökonomische Evolu­ tionsmodelle. Wir übernehmen hier den Bezug auf Konkur­ renz unter Umweltbeschränkungen für die Beschreibung des Selektionsmechanismus der soziokulturellen Evolution20, in Verbindung mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit eines Hobbesianischen Sanktionsmonopols für eine gegebene Population von Kollektivakteuren, das die Wirkung institu­ tioneller Verknüpfungen der Kommunikation auf der Ma­ kroebene absichert. In der Beschreibung von Selektion als Wirkung der Konkurrenz unter den Bedingungen knapper Umweltres­ sourcen kommt zunächst die materielle Seite in der Doppel­ struktur der Ko mmunikation zur Geltung. Einerseits schlägt sich der Druck der Umwelt in der andauernden materiellen 19

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Mit dem Bezug auf Sanktionsmittel bei der Lösung von Austausch- und Kooperationsproblemen berücksichtigen wir, dass die Wirksamkeit institutioneller Lösungen genetisch auch von materiellen Bedingungen abhängt, die handlungsmäßig herstellbar sind. Erweiterte Voraussetzun­ gen dafür werden in Abschnitt 4.4 auf der Makroebene angeführt. Fest­ zuhalten bleibt aber, dass diese Bedingungen, dem Geltungsanspruch von Institutionen äußerlich bleiben, der von intentionalem Handeln di­ rekt nicht erreicht werden kann. Vgl. dagegen Esser, der Sanktionen und Legitimität gleichermaßen als Geltungsgründe anführt (Esser 2000, 8f, Kap. 10, 11). Auch für die Beschreibung des Selektionsmechanismus gilt, dass er selbst als Produkt der soziokulturellen Evolution aufzufassen ist und dass seine Anfänge im Dunkel der Vorgeschichte liegen. Jedenfalls ist anzunehmen, dass nur ein langer und durch viele historisch Zufälle be­ stimmter Weg von naturwüchsigen Formen der Konkurrenz in Stam­ mesgesellschaften bis zur Entdeckung des „Wettbewerbs als Entdek­ kungsverfahren“ geführt hat.

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Ressourcenabhängkeit der Handlungskomponenten der Kommunikation nieder. Andererseits wirkt sich im Um­ weltbezug der Akteure die symbolische Ersetzung materiel­ ler Beschränkungen durch Institutionen aus, die für die soziokulturelle Evolution typischen Freiräume der Kommu­ nikation erst ermöglicht. Institutionen senken die Transakti­ onskosten im Austausch der Akteure. Um hier Ursachen und Wirkungen auseinanderhalten zu können, ist zunächst zu fragen, wie sich Konkurrenz bzw. die institutionell geregelten Prozesse des Wettbewerbs auf die Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunika­ tion auswirken. Ausgangspunkt der Beoachtung ist die be­ reits vollzogene, sekundäre operative Schließung von Ak­ teurskommunikation in den technischen Formen des Ve r­ trags und der Organisation. Sie zieht eine Grenze zwischen Vertragspartnern und Unbeteiligten, zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern, zwischen Innen und Außen, die zu einem Moment ihrer Selbstbeschreibung gegenüber der Außenwelt wird. Was in der Konkurrenz hinzukommt, ist die strikte Unterbrechung der Kommunikation mit der Au­ ßenwelt (nicht jeder kooperiert mit jedem) und ihre Be­ schränkung auf wechselseitige Beobachtung mit den In­ strumenten, die den Akteuren dafür zur Verfügung stehen. In der Konkurrenz kollektiver Akteure wird die Verselb­ ständigung von Erlebenskomponenten der Kommunikation durch wechselseitige Beobachtung gesteigert in Formen der Beobachtung zweiter Ordnung (z.B. an Marktpreisen, öf­ fentlichen Meinungen etc.). Aus der Wirkung der Konkurrenz als Kommunikations­ unterbrechung lassen sich Folgewirkungen für institutionel­ len Wandel ableiten. In dieser Hinsicht ist von primärer Bedeutung, dass nicht das Verhalten der konkurrierenden Akteure (auch nicht ihr gesteigertes Umweltbeobachtungs­ verhalten und die Umsetzung in kollektive Handlungsent­ scheidungen), sondern die in der Umwelt vo rgegebenen Beschränkungen die Selektion bestimmen. Diese Beschrän­ kungen werden durch technische Steigerungen der Reich­ weite der Kommunikation (in Raum und Zeit) modifiziert und institutionell verunsichert. Der Ersatz natürlicher durch technische Beschränkungen der Kommunikation geht einher mit einem verstärkten Bedarf für die Absicherung gegebe­ ner Institutionen durch ein gemeinsames Sanktionsmonopol. Die Ausdehnung der Konkurrenz kollektiver Akteure mit technischen Mitteln verlangt nach homogenen Regeln ihrer Austragung und damit nach gesicherten Grenzen innerhalb der Population konkurrierender Kollektivakteure.21 Als wesentlicher Sekundäreffekt der Konkurrenz – jenseits der selektiven Wirkung auf passenden oder unpassenden Insti­ tutionengebrauch – kann somit die Nachfrage nach der Sanktionsmacht von Staaten oder anderen Organisationen beschrieben werden.22 Die Bildung von (territorial begrenzten) Systemen kon­ kurrierender Kollektivakteure kann beschrieben werden als Effekt wechselseitigen Beobachtens konkurrierender Akteu­ re unter gegebenen Umweltbeschränkungen, die durch den Einsatz und die Reichweite organisierter Sanktionsmacht 21 22

Zum Populationsbegriff in der neuen Institutionenökonomie vgl. Han­ nan und Freeman (1995, 296ff). Mit dieser grob skizzierten Bestimmung ist auch der gesamte Rege­ lungsbereich des Rechts angesprochen, der sich auf der Grundlage des staatlichen Gewaltmonopols gegenüber der Politik institutionell ausdif­ ferenziert hat.


Gilgenmann/Glombowski: Institutionen als Elementareinheiten soziokultureller Evolution modifiziert und bestimmt werden.23 Diese Systembildung hat Auswirkungen auf den institutionellen Wandel jenseits der Wirkungen, die sich unmittelbar aus dem selektiven Erfolg bestimmter Akteure innerhalb der Population erge­ ben, durch die Grenzziehungen, die sich zwischen verschie­ denen Populationen (mit verschiedenen Institutionenpools) ergeben.24 Die intentionalen Anstrengungen einzelner Ak­ teure bilden in evolutionärer Hinsicht nur das Medium insti­ tutionellen Wandels. Prozesse der Selektion lassen sich auf allen Ebenen der Kommunikation und in ihren verschiedenen Bezügen re­ konstruieren. Im evolutionstheoretischen Sinne soll hier von Selektion aber nur im Bezug auf Populationen von Kollek­ tivakteuren die Rede sein, also z.B. nicht schon im Bezug auf den einfachen Wettbewerb von Akteuren, die in ve r­ schiedener Weise von Institutionen Gebrauch machen. Ein­ zelne Akteure bzw. Kollektivakteure können schon deshalb nicht die Einheit der soziokulturellen Selektion sein, weil die hier zu beobachtenden Prozesse des Wettbewerbs selbst schon Gegenstand intentionaler Handlungseingriffe sind. Die Regelung des Wettbewerbs im Sinne sozial erwünschter Ergebnisse ist selbst ein Kollektivgut, das – ähnlich wie andere Regulierungen, die Kooperations- und Austausch­ probleme lösen – Mithilfe staatlicher Ordnungs- und Sank­ tionsmacht hergestellt wird. (vgl. Olson 1968).25 Wenn hier von Selektion im evolutionstheoretischen Sinne die Rede ist, dann sind Prozesse des Wettbewerbs gemeint, in denen nicht konkurrierende Akteure sondern ganze Institutionen­ gebilde – Selektionen von Institutionen – zur Wahl stehen. Dies ist der Fall auf der Ebene der Systeme, auf der Popula­ tionen von Kollektivakteuren – mittels staatlich gebündelter und territorial begrenzter Organisationsmacht – miteinander in Konkurrenz treten. In dieser Konkurrenz gibt es keine Garantie für sozial erwünschte Ergebnisse. Was durch den evolutionären Mechanismus des Institutionenwettbewerbs garantiert wird, ist nur der Umstand, dass genügend Varian­ ten im Institutionenpool verbleiben, damit soziokulturelle Evolution sich fortsetzen kann. Institutioneller Wandel vollzieht sich nicht nur als Um­ weltselektion aus dem geteilten Institutionen-Pool konkur­ rierender Akteure. Die evolutionäre Anpassungsfähigkeit soziokultureller Populationen gegenüber ihrer innergesell­ schaftlichen Umwelt basiert auch auf dem vorausgesetzten Variantenreichtum des Institutionenpools. In evolutions­ theoretischer Hinsicht kommt es demnach darauf an zu zeigen, wie es möglich ist, dass einmal getroffene Selektio­ nen nicht zum Verlust aller nichtselektierten Optionen füh­ ren.

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Es handelt sich hier nicht um den Systembegriff der Luhmannschen Theorie, da damit weder einzelne Akteure (als Organisationssysteme) noch Differenzierungen der Gesellschaft insgesamt (als Funktionssyste­ me) bezeichnet werden sollen. Die immer wieder zu beobachtende Verlaufsabhängigkeit in der Ent­ wicklung konkreter historischer Institutionen-Gefüge muss aus den Be­ schränkungen erklärt werden, die sich aus dem einer Population von Ak­ teuren verfügbaren Institutionenpool ergeben. Der Begriff des Kollektivakteurs, der hier unspezifischer gebraucht wird, wird bei Olson (1968) durch das gemeinsame Handeln individuel­ ler Akteure definiert, das kollektiven Nutzen bringt, für das aber keine individuellen Anreize existieren.

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4.4 Differenzierung und Institutionalisierung Institutionen wurden eingangs als operativ geschlossene Verknüpfungen der Kommunikation bezeichnet. Die Fort­ setzbarkeit der Kommunikation auch unter evolutionär unwahrscheinlichen Voraussetzungen ist an die operative Geschlossenheit dieser Verknüpfungen – d.h. ihre Stabilität – gebunden. Institutionen sind prästabilisierte Erwartungen an Kommunikation. Diese Stabilität ist hier jedoch nicht vorauszusetzen, sondern aus Bedingungen der Kommunika­ tion zu erklären. Es wurde gesagt, dass Institutionen in so­ ziokulturellen Prozessen der Selektion, Stabilisierung und Replikation (in ihrem informationell codierten Kerngehalt) nicht verändert und in Prozessen der Variation nur zufällig – also nicht intentional – verändert werden. Die Frage ist also jetzt: wie entstehen Institutionen? Es ist die Frage nach dem Restabilisationsmechanismus, dessen Beschreibung den hier skizzierten Kreislauf abschließt. Der Bedarf für einen Restabilisierungsmechanismus muss aus den Besonderheiten der soziokulturellen Evolution erklärt werden. Man kann in der Substitution von äußeren durch innere Beschränkungen der Kommunikation bereits das evolutionäre Sonderrisiko sehen, das den Bedarf für einen weiteren Mechanismus zur Restabilisation erklärt. Diese allgemeine Bestimmung muss allerdings durch die Unsicherheiten spezifiziert werden, die aus Rückwirkungen intentional organisierten Handelns auf den Selektionsme­ chanismus entstehen. Zumindest für die entwickelteren Verhältnisse der modernen Gesellschaft gilt, dass die evolu­ tionären Wirkungen des Wettbewerbs nicht ohne die „sicht­ bare Hand“ des Staates (zur Beschränkung von Opportu­ nismus-Problemen) zustande kommen. Dies erklärt den Bedarf für Restabilisation als zweiten Selektionsmechanis­ mus, dessen Wirken sich intentionalen Handlungszugriffen entzieht. Der stabilitätssichernde Status, der die Wirkung von In­ stitutionen im Netzwerk der Kommunikation ausmacht, wird im hier skizzierten Modell mit der Ausdifferenzierung der Umweltbezüge erreicht, die sich jenseits der Hand­ lungsentscheidungen einzelner Akteure vollzieht. In den Differenzierungsprozessen der innergesellschaftlichen Um­ welt erreichen die institutionellen Ve rknüpfungen der Kommunikation den Status der Latenzgeschütztheit und Unerreichbarkeit für Interventionen und damit jene operati­ ve Geschlossenheit, die für ihr Fungieren als basale Einhei­ ten der soziokulturellen Evolution erforderlich ist. Funktionale Differenzierung stellt übrigens nicht die einzige (und im globalen Maßstab auch nicht die dominan­ te) Form der Differenzierung dar. Für die Betrachtung glo­ baler Zusammenhänge ist es wichtig zu sehen, dass diese Form der Differenzierung stets coevoluiert und komplemen­ tär ergänzt wird mit kultureller Differenzierung.26 Funktio­ nale Differenzierung sorgt für Skalengewinne der Institutio­ nen und damit für eine selektive „Superstabilität“ – kulturel­ le Differenzierung hingegen für die anpassungsnotwendige Vielfalt im Institutionen-Pool der Weltgesellschaft. Insofern ist die Wirkung des Restabilisationsmechanismus auch damit erst einigermaßen angemessen bezeichnet. 26

Abweichend von der Globaldiagnose funktionaler Differenzierung (Luhmann 1997) müsste „kulturelle Differenzierung“ als Reproduktion segmentärer Differenzierungsformen unter den Bedingungen funktiona­ ler Differenzierung beschrieben werden.


Gilgenmann/Glombowski: Institutionen als Elementareinheiten soziokultureller Evolution Es kann hier jedoch nicht um eine möglichst vollständi­ ge Beschreibung der Wirkungen gehen – also der Vielfalt der Institutionen, die aus Differenzierungsprozessen der innergesellschaftlichen Umwelt hervorgehen. Es geht viel­ mehr darum, die Wirkungsweise des Mechanismus selbst genauer zu beschreiben. Es ist also zunächst wieder zu fra­ gen, wie dieser Mechanismus auf gegebene Verknüpfungen von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommuni­ kation wirkt. Es handelt sich um die Frage, wie neue Institu­ tionen überhaupt zustande kommen können, die einen ve r­ änderten Gebrauch, eine andere Auswahl aus dem Gen-Pool ermöglichen. Die Antwort kann sich nicht allein auf eine Akteurskonstellation auf der Mikroebene beziehen, sondern setzt die Unterscheidung von mehreren Phasen des Prozes­ ses voraus. Zunächst muss angenommen werden, dass der größte Teil dieses Prozesses im Verborgenen abläuft, also als Entstehungsprozess gar nicht beobachtbar ist. Effekte der Variation auf der Mikroebene der Kommunikation las­ sen sich zwar beobachten – es lässt sich jedoch nicht fest­ stellen, was davon wirklich zum Bildungsprozess neuer Institutionen führt. Auch die Effekte der Selektion durch Wettbewerb lassen sich noch nicht identifizieren, solange der restabilisierende Effekt nicht eingetreten ist, der Institu­ tionen in der soziokulturellen Evolution erst sichtbar macht. Die Wirkung des Restabilisationsmechanismus beruht auf der Unterbrechung reziproker Interaktivität der Ko m­ munikation, die in der modernen Gesellschaft v.a. in den Medien und Formen der Öffentlichkeit erzeugt wird: 27

- Was öffentlich gesagt wird, kann nicht mehr gut bestrit­ ten werden. Der Absender der Mitteilung hat sich festge­ legt. Das wird nicht nur von Vielen wahrgenommen, vielmehr ist es wichtig, dass sich jeder einzelne Emp­ fänger der Mitteilung als Einer von Vielen erlebt. Ein Teil der restabilisierenden Wirkung beruht auf einem sozialen Opportunismus.28

- Was öffentlich gesagt wird, kann der Empfänger der Mitteilung kaum festlegen. Egos Handlungsfreiheit bleibt von dieser Konstellation weitgehend unberührt. Weil die Transaktionskosten gering sind, kann das Ve r­ öffentlichte zur stabilen Voraussetzung individueller Handlungswahl werden. 29 27

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Auch für die Beschreibung des Restabilisationsmechanismus gilt, dass er selbst als Produkt der soziokulturellen Evolution aufzufassen ist und dass seine Anfänge weit zurück liegen – allerdings vermutlich nicht so weit wie im Falle der anderen drei Mechanismen. Prototypische Formen wären in allen Formen der öffentlichen Mitteilung zu sehen, in denen reziproke Interaktion unterbunden ist. Die Neue Institutionenökonomie lehrt uns, dass das Problem des Oppor­ tunismus in allen Formen der sozialen Kooperation ernst genommen werden muss. Sie sagt aber nicht genau, worin opportunistisches Verhal­ ten besteht. Als typisch gilt die eigeninteressierte Wahrnehmung mate­ rieller Interessen, die dann lediglich durch Grenzen der Information be­ schränkt ist. Dieses Verhaltensmuster wird idealtypisch gegenüberge­ stellt einem Verhaltensmuster, das sich an intrinsisch verankerten Nor­ men orientiert. Diese Typisierung verkennt jedoch die vielfältigen Phä­ nomene des Normenkonformismus, die auch als opportunistisches Ve r­ halten gedeutet werden können, ohne auf einen materiellen Eigenvorteil zurückgeführt werden zu können. Im Hinblick auf eine transaktionskostentheoretische Analyse der Wir­ kungsweise von Öffentlichkeit ist hervorzuheben, dass die asymmetri­ sche Struktur der Massenkommunikation (ähnlich aber auch schon die primordialen Medien öffentlicher Veranstaltungen) es in der Publikums­ rolle ermöglicht, Ablehnung oder Zustimmung zu geringen Kosten zu

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Die genetische Erklärung von Institutionen im hier skizzier­ ten Kreislaufmodell bezieht sich also auf die Entstehung einer Konstellation auf der Makroebene der Kommunikati­ on, in der eine deutliche Trennung zwischen technisch ve r­ selbstständigten Handlungspotentialen auf der einen Seite und symbolisch verselbstständigten Erlebenspotentialen auf der anderen Seite eingetreten ist. Diese Konstellation ist durch die Asymmetrie zwischen einem als Kollektivakteur identifizierbaren Sender und vielen anonymen (d.h. als Akteure nicht identifizierbaren) Empfängern von Mitteilun­ gen (die nur das Wissen vereint, dieselbe Mitteilung zu empfangen) gekennzeichnet. In dieser Konstellation ent­ scheidet sich, welche der – in vorgängigen Variations- und Selektions prozessen entstandenen – Erwartungen an Kom­ munikation in den geteilten Wissensvorrat einer Population von Akteuren übernommen (oder nicht übernommen) we r­ den. Institutioneller Wandel kann demnach abschließend als Folge des Wettbewerbs konkurrierender Kollektivakteure in Medien und Formen öffentlicher Kommunikation beschrie­ ben werden. Die im Wettbewerb der Kollektivakteure gege­ benen Unsicherheiten zweiter Ordnung – nicht über die Erfolgsaussichten konkurrierender Akteure sondern über die Umweltbedingungen des Wettbewerbs – werden durch Ausdifferenzierung einer zweiten Ebene der Beobachtung verarbeitet.30 Funktionsbezogene und andere Unterschei­ dungen in Bezug auf die innergesellschaftliche Umwelt der jeweiligen Population werden zu Prämissen der Kommuni­ kation; symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sorgen für (evolutionär unwahrscheinliche, translokale und funktionsspezifische) Verknüpfungen. Die auf die innerge­ sellschaftliche Umwelt der Akteure bezogenen Unterschei­ dungen gewinnen ihre für die soziokulturelle Evolution benötigte Stabilität erst dadurch, dass sie die Medien und Formen31 der Öffentlichkeit durchlaufen – wie ein Säurebad – das Handlungs- und Erlebenskomponenten trennt. 5. Schluss Abweichend von der gängigen Praxis in den Sozialwissen­ schaften wurde in diesem Beitrag eine strikte Unterschei­ dung zwischen Prozessen der Technisierung, der Organisa­ tion und der Institutionalisierung vorgeschlagen. Dieser Vorschlag erfolgte aus Gründen der begrifflichen Klarheit im Rahmen eines evolutionstheoretischen Ansatzes und nicht aufgrund einer Vorliebe für eine passiv-erlebende Einstellung zur Welt oder einer Abneigung gegen den in­ strumentellen Aktivismus der Moderne. Wir gehen davon aus, dass die Substitution institutioneller Voraussetzungen der menschlichen Kommunikation durch Konstrukte inten­ äußern. Das macht diese Medien zu einem zuverlässigeren Barometer für sich verändernde Einstellungen, Wertungen etc. als die durch vieler­ lei Rücksichten belastete reziprok-symmetrische Interaktion unter An­ wesenden (vgl. North 1992, 101 am Beispiel der Sklaverei – allerdings ohne Reflexion auf Öffentlichkeit). Gerade weil die Änderungskosten niedrig sind, kann funktionale Evolution hier einsetzen. Vgl. dagegen Esser (2000, 379). 30

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In diesem Sinne muss hier von Institutionenwettbewerb als einem Wettbewerb zweiter Ordung ges prochen werden, der Medien und For­ men der Öffentlichkeit voraussetzt. Hier ist der Plural zu beachten: mit Formen der Öffentlichkeit ist kei­ neswegs nur die Form der öffentlichen Meinungsbildung i.S. der Politik gemeint, sondern verschiedenartige Öffentlichkeiten in verschiedenen Funktionsbereichen der Gesellschaft.


Gilgenmann/Glombowski: Institutionen als Elementareinheiten soziokultureller Evolution tionalen Handelns konstitutiv ist für soziokulturelle Evolu­ tion und dass Evolution auch auf diesem Pfad für die Rege­ neration ihrer eigenen Voraussetzungen sorgt. Auch dies ist nur methodologisch gemeint i.S. der Annahme ihrer Fort­ setzbarkeit und nicht i.S. einer Weltverbesserungserwar­ tung. Ob durch den hier skizzierten Vorschlag ein Beitrag zur Annäherung von soziologischer und ökonomischer Institu­ tionentheorie erreicht werden kann, muss natürlich der Dis­ kussion überlassen bleiben. Der hier gewählte evolutions­ theoretische Ansatz kollidiert jedenfalls sowohl mit der in der ökonomischen Theorietradition vertretenen Auffassung, Institutionen ließen sich effizient gestalten, wie auch mit der in der soziologischen Theorietradition vertretenen Auffas­ sung, der Bestand der Gesellschaft könne durch Institutio­ nen garantiert werden. Andererseits kann in evolutionstheo­ retischer Perspektive aber auch gefragt werden, ob die Ve r­ einigung konkurrierender Theorieprogramme überhaupt wünschenswert und nicht eher als eine Gefährdung des Artenreichtums der Sozialwissenschaften und ihrer Anpas­ sungsfähigkeit im Wandel der Gesellschaft zu verstehen wäre. Literatur Alexander, J.C., Giesen, B., Münch, R., Smelser, N. J. (Hrsg.) (1987): The Micro-Macro Link, Berkeley, London Baecker, D. (2000): Der Ingenieur, in: Merkur, 54, S. 1089­ 1101 Boyd R., Richerson, P. (1985): Culture and the Evolution­ ary Process, Chicago Campbell, D.T. (1965): Variation and Selective Retention in Socio-cultural Evolution, in: Barringer, H.R., Black­ stein, G.I., Mack, R.W. (Hrsg.), Social Change in Developing Areas, Cambridge, Mass., S. 19-49 Douglas, M. (1986): How Institutions Think, Syracuse, N.Y. Dubiel, H. (1976): Institution, in: Ritter, J. (Hrsg.), Histori­ sches Wörterbuch der Philosophie, Bd.4, Darmstadt, S. 417-424 Durkheim, É. (1961 [1895]: Die Regeln der soziologischen Methode, hrsg. und eingeleitet von König, R., Neu­ wied Durkheim, É. (19882): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frank­ furt/M. Esser, H. (2000): Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 5: Institutionen, Frankfurt/M., New York Gehlen, A. (1975): Urmensch und Spätkultur, Frankfurt/M. Hannan, M.T., Freeman, J. (1995): Die Populationsökologie von Organisationen, in: Müller, H.-P., Schmid, M. (Hrsg.), Sozialer Wandel. Modellbildung und theore­ tische Ansätze, Frankfurt/M., S. 291-339 Luhmann, N. ( 1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. Malinowski, B. (1975 [1949]): Eine wissenschaftliche Theo­ rie der Kultur und andere Aufsätze, Frankfurt/M.

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