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K.Gilgenmann: Die Unterscheidung von Organisationen und Institutionen Vortragsskizze für das von Th.Malsch initiierte Treffen zur Vorbereitung einer DFG-Forschergruppe in Hamburg am 5./6. 10. 06 Ich möchte im Folgenden die Unterscheidung von Organisationen und Institutionen als ein Grundlagenproblem sozialwissenschaftlicher Kommunikationstheorie bezeichnen, das in einem evolutionstheoretischen Rahmen zu entfalten ist. Im Hinblick darauf möchte ich zunächst zwei Ebenen unterscheiden: 1. Bedingungen der Kommunikation in der natürlichen Evolution und 2. Bedingungen der Kommunikation in der kulturellen Evolution. Diese Unterscheidung soll hier nicht der Ausgrenzung von Phänomenen der natürlichen Evolution dienen, sondern der Eingrenzung in einem evolutionstheoretischen Rahmen. Bereits auf der erstgenannten Ebene handelt es sich um ein Emergenzproblem: nämlich die Bedingungen der Möglichkeit von

Kommunikation i.S. der menschlichen Kulturentwicklung überhaupt. Auf der zweiten Ebene handelt es sich um Emergenzprobleme zweiter Ordnung – nämlich alle möglichen Sonderentwicklungen, Steigerungsformen, Aggregatzustände der Kommunikation, die innerhalb der Kultur möglich werden. Hier tut sich ein weites Feld auf – und es kann es vielerlei Überschneidungen mit den anderen hier vorgestellten Projekten geben. Aus meiner Sicht kommt es dabei darauf an, das kommunikationstheoretische Instrumentarium in einem evolutionstheoretischen Rahmen zu verwenden und weiterzuentwickeln (dh. nicht nur in Analogie zur biologischen Evolutionstheorie sondern eingebettet in die dort beschriebenen Voraussetzungen).

Bedingungen der Kommunikation in der Evolution der Lebewesen, insbesondere bei Menschen (Emergenz I)

Bedingungen der Kommunikation in der kulturellen Evolution (Emergenzen II)

Kommunikation und Individualität in der Hominidenentwicklung

Probleme der Unterscheidung von Organisationen und Institutionen

Viele Hinweise deuten darauf hin, dass die besondere Entwicklung des menschlichen Gehirns aus einem Wechselwirkungszusammenhang mit der dichten Sozialität zu erklären ist, die in Primatengruppen zu beobachten ist.

Organisationen und Institutionen können als Mittel sozialer Ordnung betrachtet werden. Sie werden deshalb auch häufig gleichgesetzt oder zumindest nicht trennscharf unterschieden. Aus dieser Unschärfe entstehen Probleme ihrer Überund Unterschätzung.

Wenn man diese Verdichtung der Sozialität als Aggregatform kommunikativer Operationen betrachtet, dann könnte aus dieser Erklärung also auch in gattungsgeschichtlicher Hinsicht ein Primat der Kommunikation (vor individuellem Handeln und Erleben) abgeleitet werden. Solche Anfangskonstruktionen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. Denn es kann mit guten Gründen eingewandt werden, dass die verdichteten Formen der Primatensozialität die Individualität der Gruppenmitglieder bereits voraussetzen, ja dass die vielfältig beobachtbaren Formen der Primaten-Kommunikation ihrerseits schon die evolutionäre Funktion haben, Probleme zu verarbeiten, die aus der (kognitiv-organisch) gesteigerten Individualität der Mitglieder resultieren (zB. die Entdeckung und Sanktionierung von betrügerischem Verhalten).

Die Unschärfe ist nicht nur in der Sprache der Massenmedien und der Politik zu beobachten sondern auch in den Sozialwissenschaften. Der Mangel einer klaren Unterscheidung fällt besonders auf bei Theorieansätzen, die den Terminus Institution zur Selbstbezeichnung verwenden wie Neoinstitutionalismus, Neue Institutionenökonomie etc. In erster Näherung lässt sich jedoch bereits hier ein folgenreicher Unterschied feststellen (der in den genannten Ansätzen keineswegs angemessen reflektiert wird): Organisationen benötigen (jeweils situationsbezogen) Sanktionsmittel, um soziale Ordnung zu gewährleisten, Institutionen hingegen nicht. Sanktionen („Überwachen und Strafen“) sind aber keineswegs unproblematische Mittel der Ordnungsbildung, sie sind relativ kostspielig. Institutionen benötigen diese Mittel nicht, weil sie als symbolische Steuerungsmittel im (sozial geteilten) Langzeitgedächtnis der Individuen einer kulturellen Population verankert sind. Sie verhalten sich damit ähnlich wie Gene, die in der organischen Ausstattung der Individuen verankert sind. Bei der Unterscheidung zwischen Organisationen und Institutionen handelt es sich nicht nur um ein Problem wissenschaftlich zweckmäßiger Definitionen. Der Widerstand dagegen, solche Unterscheidungen zu vollziehen, ist seinerseits tief in kulturellen Traditionen verwurzelt. Das zeigt sich besonders in Fragen der Grenzziehung zwischen Politik und Religion.

Symbolgebrauch und die Tradierung lebensgeschichtlich erworbenen Wissens

Technisierung der Kommunikation und die Verselbständigung von Handlungs- und Erlebensanteilen auf der Makroebene

Tradierung mit den Mitteln symbolsprachlicher Kommunikation wird als das Merkmal angesehen, durch das sich die kulturelle von der organischen Evolution unterscheidet. Der evolutionäre Vorteil ist zunächst in der gesteigerten Flexibilität für Anpassungsprozesse zu erkennen.

Das Moment der kulturellen Evolution, das ihr enormes Tempo und ihren Ausbreitungserfolg erklären kann, ist die Entkoppelung der tradierbaren Erfahrungen von der Bedingung eigenen Erlebens. Der Punkt, an dem die kulturelle Sonderevolution des Menschen abzweigt, besteht demnach in dem Potential zum sozialen Lernen mittels fremder, durch Kommunikation erlangter, sprachlich-symbolisch repräsentierter Erfahrungen. Für die Nutzung dieses Potentials ist der Gebrauch technisch erweiterter Kommunikationsmittel als selbstverstärkender Mechanismus der kulturellen Evolution zu betrachten. Die Technisierung der Kommunikation setzt an der Mitteilungskomponente der Kommunikation, dem Zeichengebrauch an. Nur dadurch, dass Erleben auch mitgeteilt wird, können geteilte Erwartungen entstehen, und nur dadurch, dass Mitteilungshandlungen technisierbar sind, entstehen kulturell erweiterte Möglichkeiten der Institutionenbildung.

„Im Lichte evolutionärer Betrachtung erweist sich die menschliche Kommunikation als ein Prozeß, der sich verschiedener Teilsysteme bedient, des phylogenetisch jüngeren Systems der Symbole, dessen Variationspotential über keine eingebaute Begrenzung verfügt, und des entwicklungsmäßig älteren Systems nonverbaler Kommunikation, das unmittelbar an das phylogenetisch ererbte Programm menschlicher Affektivität angeschlossen ist. Mit der Verkuppelung dieser Systeme erweist sich die menschliche Kommunikation als eine neue, übergeordnete Ganzheit, welche schneller als der naturale Prozeß Varianz zu erzeugen vermag und aus dieser, rascher als die natürliche Auslese, diejenigen Varianten herausfiltert, die den Akteuren in einer gegebenen Situation ausreichende Verhaltenssicherheit geben können. In der natürlichen Evolution erwies sich dieser Modus menschlicher Kommunikation dem älteren


K.Gilgenmann: Die Unterscheidung von Organisationen und Institutionen Vortragsskizze für das von Th.Malsch initiierte Treffen zur Vorbereitung einer DFG-Forschergruppe in Hamburg am 5./6. 10. 06 als überlegen und wurde so zur Grundlage für einen eigenständigen Prozeß der kulturellen Evolution.“ (P. Meyer) Die Stabilität menschlicher Kommunikation (trotz ihrer hohen Variabilität) basiert auf der Kombination von primitiveren Formen der körperbasierten Signalsprache mit den kulturell evolvierten Formen der Symbolsprache. Es gibt einerseits – wie sich besonders in der kindlichen Entwicklung zeigen lässt - einen fließenden Übergang von Signalen zu Symbolen, wie auch andererseits einen Restabilisierungseffekt durch Verknüpfung von Symbolen mit affektiv besetzten Signalen.

In allen Formen der Technisierung der Kommunikation wiederholt sich das bereits im Übergang von Signalen zu symbolsprachlicher Kommunikation erkennbare Prinzip der Einsparung von Ressourcen bzw. Energie (durch die Steuerungsmittel der emergenten Ebene). „Rezessive genetische Information kann Generationen überdauern, ohne sich in Merkmalen von Individuen zu realisieren. Auch kulturelle Information kann – besonders gut in schriftlicher Form – Zeiten überdauern und Räume überbrücken, ohne sich in sozialen Strukturen zu realisieren.“ (Vowinckel)

Das Risiko der Individualität

Der Vorgang der Tradierung setzt lebendige Individuen mit einer bestimmten organischen und kognitiven Ausstattung voraus. Individualität ist keine Fiktion – weder in biologischer noch in kultureller Hinsicht. Sie muss in kultureller Hinsicht als eine höchst riskante und durch transindividuell wirksame Faktoren immer wieder gefährdete Errungenschaft betrachtet werden. Wenn Individualität als evolutionäre Errungenschaft betrachtet (also nicht etwa wie im methodologischen Individualismus als gegeben vorausgesetzt, oder wie in der Systemtheorie als kommunikative Fiktion behandelt) wird, dann wird zugleich ihre Wechselwirkung mit transindividuellen Faktoren deutlich. Anlage, Kultur und Umwelt lassen sich als verschiedene Quellen der Verankerung von Sozialiät in menschlichen Individuen, also als verschiedene Arten des (kollektiv) geteilten Gedächtnisses beschreiben, die mit dem jeweiligen individuellen Gedächtnis zugleich verschiedene Aspekte der Individualität hervortreiben: •

In den Anlagen reproduzieren sich die genetisch gespeicherten Erfahrungen der Steinzeit-Gemeinschaften - das genetische Langzeit-Gedächtnis der Individuen;

in Sozialisationsprozessen reproduzieren sich die kulturell tradierten und ontogenetisch verankerten Erfahrungen vergangener Generationen - das symbolische Langzeitgedächtnis der Individuen;

in sozialen Situationen reproduzieren sich die übereinstimmend wahrgenommenen Anteile der je aktuellen Umwelterfahrung - das symbolische Kurzzeitgedächtnis der Individuen. Alle drei Dimensionen stehen für Beschränkungen der Kommunikation, die evolutionär unwahrscheinliche Formen ermöglichen. Die Beschränkungen sind jedoch für sich genommen wirkungslos. Sie kommen stets erst durch phänotypische Individuen, in der Kombination individuellen Handelns und Erlebens zur Wirkung. (Individualität als Engpass der soziokulturellen Evolution. )

An Innovationen im Gebrauch technisch erweiterter Kommunikationsmittel lassen sich Epochenschwellen der kulturellen Evolution festmachen. Umbrüche werden markiert durch die asymmetrische Ausformung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation, Einschränkungen des Handelns oder Erlebens, die emergente Formen der Verknüpfung der Kommunikation i.S. sozialer Systembildung hervorbringen. Das Auftreten kultureller Institutionen in der Interaktion zwischen Anlage- und Umwelteinflüssen kann als Differenzierungsvorgang beschrieben werden, der bereits in einfachsten Formen menschlicher Kultur einsetzt und technische Kreativität freisetzt. Die Auslösepunkte sind in besonderen Mitteilungs- oder Informationsaufbewahrungsleistungen zu sehen, die durch die Asymmetrisierung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation mit technischen Mitteln ermöglicht werden. Diese asymmetrische Ausformung liegt zum einen in der Steigerung der Effizienz und Effektivität des Handelns durch Ersparnis an Reflexions- und Verhandlungsleistungen bei der Bildung hierarchisch organisierter Handlungsketten, also in der Transformation zu Organisationen oder in materiell vergegenständlichter Form zu Maschinen. Sie liegt zum anderen in der technischen Erweiterung der Möglichkeiten des Erlebens, der natürlichen Gedächtnisfunktionen – im Zusammenspiel von Sprache und Gehirn –durch Schrift, Buchdruck etc. als externe Speicher, die es erlauben, dass beim Lernen nicht immer wieder von neuem begonnen werden muss, also in der Kondensation von geteilten Erwartungen zu Institutionen. Als Kontrastfall zu den auf Leistungssteigerung durch Technisierung und Institutionalisierung ausgelegten Formen der Kommunikation ist aufwändige Kommunikation – wie zB. in der wissenschaftlichen Diskussion, in avantgardistischen Formen der Kunst u.a. – anzuführen. Hier handelt es sich evolutionsgeschichtlich gewissermaßen um „teure Signale“ – ähnlich den Formen, die in der innerartlichen sexuellen Selektion verwendet werden. Ihre Funktion besteht in der Durchmischung des Institutionenpools, im Vorhalt von Variationen für veränderte Umweltbedingungen. Gesteigerte Freiheitsgrade der Akteure auf der Mikroebene

In einfachen kulturellen Formationen sind die stärksten Abweichungen vom biologischen Verhaltensprogramm auf der Mikroebene zu beobachten. Ältere und einfachere Formationen üben hohen kulturellen Konformitätsdruck auf das Verhalten der Individuen aus und weichen gerade damit vom genetisch verankerten Erbe ab. Neuere und komplexer strukturierte Gesellschaften differenzieren stärker zwischen Mikro- und Makroebene, verlagern den Konformitätsdruck auf die Makroebene und schaffen mehr Freiheitsspielräume auf der Mikroebene. Erst in der modernen Gesellschaft können sich die Formen der Tradierung soweit vom Interaktionsverhalten der Menschen ablösen, dass sich Freiheitsgrade für das individuelle Verhalten ergeben, die eine Vielfalt kultureller Verhaltensmuster innerhalb einer gesellschaftlichen Population möglich machen. Das hat die Konsequenz, dass mit Bezug auf die genetisch ererbten Antriebe menschlichen Verhaltens auf der Mikroebene – primär in Bezug auf das andere Geschlecht sowie in Bezug auf altersspezifische Entwicklung - in der modernen Gesellschaft mehr individelle Freiheiten ausgelebt werden können als in älteren Formationen menschlicher Sozialität - mit Konsequenzen, die heute u.a. im „Kampf der Kulturen“ hervortreten. Die konfliktreiche Suche nach neuen Bindungen (Institutionengebilden) der Kommunikation wird ausgelöst durch die neuen computergestützten Netzwerke, die globale Reichweite mit enorm gesteigerten Speicherkapazitäten verbinden und durch die Wiedereinführung von Interaktivität mit technisch erweiterten Mitteln (sekundäre Oralität) Druck auf tradierte Unterscheidungen und Verknüpfungen zwischen Mikro- und Makroebene der Kommunikation ausüben.


K.Gilgenmann: Die Unterscheidung von Organisationen und Institutionen Vortragsskizze für das von Th.Malsch initiierte Treffen zur Vorbereitung einer DFG-Forschergruppe in Hamburg am 5./6. 10. 06 Literaturhinweise Gilgenmann, Klaus & Schweitzer, Bertold (2006) Homo – sociologicus – sapiens. Zur evolutionstheoretischen Einbettung soziologischer Menschenmodelle. Zeitschr. f. Soziologie Jg. 35, Heft 5, Oktober 2006 Meyer, Peter (1992) Evolutionäre Voraussetzungen menschlicher Kommunikation: Verhaltenssicherheit durch selektive Prozesse

S. 85-1003, in: Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft: Zur Theorie und Pragmatik globaler Interaktion, Horst Reimann (Hg.) Opladen Westdt. V. 1992 Vowinckel, Gerhard (1986): Verwandtschaft, Freundschaft und die Gesellschaft der Fremden. Grundlagen menschlichen Zusammenlebens. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft


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