Projektskizze vdk antrag

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Technisierung der Kommunikation – Evolutionstheoretische Aspekte der Vernetzungsdynamik Teilprojektskizze zum Antrag für eine DFG-Forschergruppe „Vernetzungsdynamiken der Kommunikation“ von Klaus Gilgenmann (Universität Osnabrück) (1) Zusammenfassung Technische Innovationen, insbesondere der Kommunikationsmittel, werden häufig als Auslösepunkte soziokulturellen Wandels genannt. Unter welchen Randbedingungen und in welchen Prozessen sich Veränderungen der Kommunikationsmittel strukturbildend auswirken, bleibt jedoch oft im Unklaren. Ziel des Projekts ist ein Beitrag zur Erklärung der Dynamik kommunikativer Vernetzungen durch Beschreibung der evolutionären Mechanismen, die darin zur Wirkung kommen. Im Zentrum steht dabei eine genaue Beschreibung von Technisierungen der Kommunikation als Mechanismus der Variation innerhalb der soziokulturellen Evolution. (2) Forschungsgegenstand und Forschungsziele Wie ist soziale Ordnung in einer so ausgedehnten und komplexen Form von Sozialität möglich, wie sie unsere heutige Gesellschaft darstellt? Die Soziologie hat die für ihr methodologische Selbstverständnis konstitutive Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung überwiegend in einer auf die moderne Gesellschaft beschränkten Weise behandelt, ohne diese Beschränkung selbst in einem größeren Zusammenhang zu reflektieren. Wenn man die Frage auf alle möglichen Formen menschlicher Sozialität bezieht, dann gibt es mindestens drei Antwortmöglichkeiten, die sich als naturalistische, kulturalistische und rationalistische Argumentationen unterscheiden und in einem evolutionstheoretischen Rahmen zusammenführen lassen. Antworten, die sich auf natürliche Anlagen des Menschen beziehen, die aus den Jäger- und Sammler-Gemeinschaften stammen, die über viele Jahrtausende das Leben des homo sapiens bestimmten, erscheinen als zureichende Erklärungen sozialer Ordnung nur in den Grenzen sehr kleiner Gemeinschaften. Antworten, die sich auf die Formbarkeit der menschlichen Natur durch seine natürliche und kulturelle Umwelt, seine Lernfähigkeit und die Tradierbarkeit seiner lebensgeschichtlich erworbenen Erfahrungen von Generation zu Generation beziehen, erscheinen als zureichende Erklärungen sozialer Ordnung nur in den Grenzen traditionell-hochkultureller Gesellschaften. Antworten, die sich auf die Fähigkeit des Menschen beziehen, sich im Hinblick auf seine natürliche und kulturelle Umwelt rational kalkulierend und individuell Nutzen maximierend zu verhalten und dabei Nutzen aus hochspezialisierten Formen der Vernetzung zu ziehen, erscheinen als zureichende Erklärung sozialer Ordnung nur für bestimmte Bereiche der modernen Gesellschaft. Sie können unterstützt aber auch bedroht werden durch die Koexistenz mit Mechanismen sozialer Ordnungssicherung, die aus älteren Formationen der menschlichen Sozialität stammen. Um die Konflikte, die aus solchen Überlagerungsprozessen entstehen, besser zu verstehen, ist es notwendig, die evolutionären Mechanismen genauer zu untersuchen, die der andauernden Ausdehnung und Verdichtung der Netzwerke der menschlichen Kommunikation in der soziokulturellen Evolution zugrundeliegen. Vernetzungsdynamiken der Kommunikation sind zu erklären durch Technisierungen, die zur institutionellen Verselbständigung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation in spezifischen Konstellationen führen. Sie bilden Organisationskerne komplexer Sozialsysteme, die in geteilten Umwelten um dieselben Ressourcen konkurrieren und dabei eine ständige Ausdehnung ihrer kommunikativen Netze betreiben. Ihre Ausdehnung bewirkt eine fortlaufende Veränderung der natürlichen und kulturellen Umweltbedingungen, die innerhalb der Kommunikation verarbeitet werden muss. Durch institutionelle Tradierung dieser Anpassungsvorgänge beschleunigt sich das Tempo und erhöht sich die Riskiertheit der kulturellen Sonderevolution.


Die Verselbständigung von Handlungs- und Erlebenskomponenten auf der Mikroebene der Kommunikation wird im hier skizzierten Ansatz als Schlüssel zum Verständnis komplexer sozialer Phänomene betrachtet. Die asymmetrische Ausdifferenzierung von sozialen Handlungs- und Erlebenskonstellationen ist in zwei komplementären Prozessen zu beobachten, die sich wechselseitig voraussetzen: Zum Einen in der Steigerung der Effizienz und Reichweite des Erlebens durch technische Entkoppelung von raumzeitlichen Beschränkungen. Die Erweiterung der natürlichen Gedächtnisfunktionen durch externe Speicher erlaubt es, Erfahrungen zu machen, ohne selbst handeln zu müssen, und diese Inhalte als institutionell geteilte Erwartungen zu tradieren. Zum Anderen in der Steigerung der Effizienz und Effektivität des Handelns durch Ersparnis an Reflexions- und Verhandlungsleistungen bei der Bildung hierarchisch organisierter Handlungsketten, also entscheidungsbasierten Organisationen und physikalischen Maschinen. Die Beschreibung der technischen Verselbständigung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der Kommunikation soll im Rahmen eines Simulationsmodells auf Konsistenz geprüft werden. Wichtige Bezugstexte: Blumenberg; H., 1963, Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie S. 7-54 in: Hans Blumenberg, 1981, Wirklichkeiten in denen wir leben. Philipp Reclam jun. Stuttgart Blute, M., 1979: Sociocultural Evolutionism: An Untried Theory. Behavioral Science 24: 46–59. Claessens, Dieter, 1993 (zuerst 1980), Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankf. M.: Suhrkamp Barkow, J. / Cosmides, L. / Tooby, J. (Hrsg.), The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Generation of Culture. Oxford: Oxford Univ. Press. Malsch, Th., 2005, Kommunikationsanschlüsse. Zur soziologischen Differenz von realer und künstlicher Sozialität, VS, Wiesbaden Mayr, E., 2003: Das ist Evolution. München: Bertelsmann. Popitz, Heinrich, 1995, Der Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen Richerson, P. J. / Boyd, R., 2005: Not By Genes Alone. How Culture Transformed Human Evolution. Chicago / London: Univ. of Chicago Press.

(3) Bezug des Einzelprojekts zum Rahmenprogramm Bei der Frage nach Ursachen und Wirkungsmechanismen, die die Dynamik kommunikativer Vernetzungen erklären können, handelt es sich um eine für die Thematik des Verbundprojekts grundlegende Fragestellung. Evolutionstheoretische Einbettung der Vernetzungsdynamik gehört zu den theoretischen Prämissen mehrerer Teilprojekte. Der (in mancher Hinsicht kontraintuitive) Bezug auf Technisierungen der Kommunikation als Variationsmechanismus innerhalb der kulturellen Evolution ist allerdings nicht unumstritten und bedarf sorgfältiger Ausführung. Veränderungen der technischen Kommunikationsmittel können als Ereignisse beschrieben werden, die strukturbildende bzw. –regenerierende Effekte innerhalb der Kommunikation auslösen und ihrerseits durch bestimmte Strukturen der Kommunikation ermöglicht werden. Die zirkuläre Verknüpfung dieser Prozesse ist gebunden an den für die soziokulturelle Evolution grundlegenden Mechanismus der Tradierung lebensgeschichtlich erworbenen Wissens – also auch an den theoretischen Bezug auf Lebens- und Bewußtseinsprozesse menschlicher Individuen. In evolutionstheoretischer Perspektive genügt es nicht, die Existenz eines Mechanismus der Kommunikation (wie zB. Reflexion) aus den Vorteilen abzuleiten, die er für soziale Systeme innerhalb bestimmter Umweltbedingungen bietet. Es muss auch in genetisch-historischer Perspektive gezeigt werden, wie es möglich war, dass dieser Mechanismus sich entwickeln konnte. In einer evolutionstheoretisch ansetzenden Beschreibung der Vernetzungsdynamik der modernen Gesellschaft kann gezeigt werden, dass individualistische Wahlhandlungstheorien und Theorien funktionaler Differenzierung verschiedene Aspekte derselben Umweltbedingungen beschreiben.


(4) Angaben zur Vernetzung mit anderen Projekten Die Kooperation mit anderen Projekten liegt nahe auf der Basis der angesprochenen kommunikationstheoretischen Grundlagenprobleme. Hier zeigen sich Verbindungen zu den Fragen der Grenzziehung und Systembildung bei Malsch u.a., zu evolutionären Mechanismen bei Schneider, Malsch u.a., zu Technisierung bei Brosziewski und Ellrich, zu Sozialintegration bei Wenzel und Ellrich. In verschiedenen Teilprojekten wiederkehrende Bezeichnungen wie Parasit oder Hybrid oder Grenzüberschreitung machen Sinn aus der Perspektive eines Beobachters, der von essentiellen Gegebenheiten ausgeht und sich aus empirischen Gründen zur Durchbrechung seiner typologischen Vorannahmen gezwungen sieht. Im evolutionstheoretischen Populationsdenken ist umgekehrt laufender Formwandel der Ausgangspunkt und die Fixierung bestimmter Formen das zu erklärende Phänomen. Deshalb ist auch die Beschreibung von Mechanismen der Grenzbildung ein prominenter Anwendungsfall für eine evolutionäre (dh. nicht essentialistisch typologisierende) Theorie sozialer Differenzierungen. Über die Klärung von evolutionären Grundlagen hinaus sind weitere Verbindungen denkbar in der Anwendung des hier skizzierten Erklärungsansatzes auf bestimmte empirische Fragen, die in anderen Teilprojekten bevorzugt untersucht werden. Naheliegend wären Analysen des Technikgebrauchs bestimmter Organisationen, sowohl in ihrem internen Aufbau wie in ihren Publikumsbezügen.


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