Projektvorschlag evolutengpassmodell

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K.G.: Individualität als Engpass der soziokulturellen Evolution - Skizzen für ein interdisziplinäres Forschungsprojekt

Was interessiert an der These, dass die unsterblichen Einheiten der Evolution den Engpass sterblicher Menschen mit je individuellen Biographien durchlaufen müssen? In dieser Hinsicht mischen sich kognitive, moralische und ästhetische Motive, die in wissenschaftlicher Absicht auseinanderzuhalten sind. Das erste Interesse besteht wohl darin zu zeigen, dass das individuelle Leben nicht gleichgültig ist, nicht einmal unter evolutionären Aspekten. Denn ob Gene oder kulturelle Institutionen sich reproduzieren, hängt nicht allein von der Qualität der Gene oder Institutionen (ihrer autopoietischen Selbststeuerung) ab sondern von dem, was einzelne Menschen unter mehr oder weniger zufälligen, mehr oder weniger von ihnen selbst beeinflussbaren Umweltbedingungen daraus machen. Zweitens sind wir moralisch berührt davon zu sehen, dass Menschen sich ändern können, dass sie einen freien Willen haben und nicht nur Opfer ihrer Antriebe oder Umstände sind. Diese Empfindung, diese Verehrung des freien Willens haben wir selbst von unseren Vorfahren geerbt, vielleicht liegt sie sogar in unseren Genen. Sie bildet gewissermaßen die heroische Seite des Engpass-Modells im Sinne eines Durkheimschen Gesellschaftskonzepts. Drittens ist natürlich auch das Gegenteil der Fall: wir lieben Individuen, die wir schön finden. Schönheit ist (wenn man von den heute möglichen technischen Eingriffen absieht) überhaupt keine lebensgeschichtlich erworbene Qualität, kein moralisches Verdienst, sondern der deutlichste Hinweis auf die andauernde Steuerung auch unseres individuellen Verhaltens durch überindividuelle Gene (sexuelle Selektion).

Vorschlag für ein evolutionstheoretisches Forschungsvorhaben Im Hinblick auf ein interdisziplinäres evolutionstheoretisches Forschungsprojekt schlage ich vor, den Focus auf die besondere Stellung menschlicher Individuen zu legen. Dies kann als Grundlagenforschung i.S. einer evolutionstheoretischen Reformulierung des methodologischen Individualismus in den Kultur- und Sozialwissenschaften sowie mit Anwendungskonnotationen im Hinblick auf die aktuelle Renaissance von Bildungsthemen angelegt werden. Grundlagentheoretisch interessiert der Bezug auf menschliche Individuen als Schnittstelle zwischen natürlicher und kultureller Evolution. Individuen stellen sowohl als phänotypische Lebewesen wie als kulturell konstituierte Einheiten den entscheidenden Engpass für die Replikation und Diffusion der basalen Einheiten dar. Nicht nur die Gene müssen individuell tradiert werden, sondern auch die soziokulturellen „Meme“ müssen - trotz aller symbolisch-technisch erweiterten Kommunikationsstrukturen der Gesellschaft - den kognitiven Engpass menschlicher Individuen passieren. In

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biologischer Hinsicht geht es nicht um den fertigen Organismus des Individuums sondern um seine nukleare Keimform. Auch in kultureller Hinsicht geht es nicht um das fertige Individuum sondern um die ontogenetische Entwicklung seiner kognitiven Anlagen. Zwar sind Diese in der biologischen Keimform angelegt, ihre Beschränkungen und Steigerungsmöglichkeiten zeigen sich jedoch erst im soziokulturellen Kontext. Im soziokulturellen Kontext muss der hier interessierende Engpass in zweierlei Hinsicht genauer beschrieben werden: einerseits als Bildungsprozess der Individuen (in dem ein global verbreitetes Arsenal schulischer Organisationsmittel einem durch die genetisch ererbte Ausstattung begrenzten kognitiven Potential gegenübersteht) und andererseits als Bildungsprozess kultureller Institutionen (in dem sich der Institutionenvorrat soziokultureller Populationen erneuert und stabilisiert).

Genetische Selektion in natürlichen Umwelten

Institutionelle Selektion in kulturellen Umwelten

↑ Menschliche Individuen ↑ als natürliche und kulturelle Phänotypen

Replikation und Variation von Genen durch Fortpflanzung

Restabilisierung

Replikation und Variation von Institutionen durch Sozialisation

Das Individuum als Engpass der soziokulturellen Evolution Mit der Formulierung vom „Individuum als Engpass“ soll die antiindividualistische Stossrichtung in den Diskursen über die menschliche Willensfreiheit gebrochen werden. Wenn Gehirnforscher behaupten, dass das menschliche Bewußtsein nicht „Herr im eigenen Hause“ sei, dann kann umgekehrt bezweifelt werden, dass die Gene das Bewußtsein uneingeschränkt beherrschen. Analog kann i.S. der Engpass-These bezweifelt werden, dass die kulturellen Institutionen das menschliche Handeln uneingeschränkt beherrschen, auch wenn Sozialwissenschaftler behaupten, dass das Handeln von den Traditionen der Gesellschaft bestimmt werde. Menschliche Individuen sind weder die vorausschauenden Schöpfer ihrer Sozialsysteme noch deren blinde Vollzugsorgane, sondern eher störende Elemente: „Anstatt soziologische Überlegungen auf die scheinbar feste Grundlage der Psychologie der menschlichen Natur zurückzuführen, könnten wir sagen, daß der menschliche Faktor das letztlich Ungewisse und unberechenbare Element im gesellschaftlichen Leben und in allen sozialen Institutionen ist. In ihm haben wir wirklich das Element vor uns, das letztlich von den Institutionen nicht vollkommen beherrscht werden kann." (K.R.Popper, Das Elend des Historizismus, 1974, S. 124)

Der auf den ersten Blick paradoxe Titel „Das Individuum als Engpass der soziokulturellen Evolution“ richtet sich gegen Beschreibungen, worin die Bedeutung


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menschlicher Individualität auf das Ensemble der soziokulturellen Verhältnisse reduziert erscheint. Solche Auffassungen haben eine lange Tradition in den Sozialwissenschaften vom Materialismus Marxscher Prägung über Durkheims religionsaffine Beschreibung der Sozialität bis zur Luhmannschen Theorie autopoietischer Sozialsysteme. Der hier vertretene evolutionstheoretische Ansatz grenzt sich ab von antiindividualistischen Auffassungen - gleichgültig ob sie sich auf die vermeintliche Übermacht der Gene oder auf die kultureller Gegebenheiten stützen - und schließt sich jenen Ansätzen innerhalb der Evolutionstheorie an, die die evolutionäre Errungenschaft der Individualität betonen. Wenn etwas als Engpass bezeichnet wird, dann ist damit gewöhnlich eine Beschränkung (des Zugangs zu oder Zuflusses) von Ressourcen gemeint, ein Umstand, den es in praktischer Einstellung zu überwinden gilt. Ein Engpass kann allerdings sowohl zur Beschleunigung wie auch zur Verlangsamung beitragen – je nach den Eigenschaften der Einheiten, die den Engpass passieren. In der evolutionstheoretischen Verwendung der Engpass-Metapher ist eine unüberwindliche Bedingung des Lebens gemeint, wenn Dawkins (1994²) von der Keimzelle des Organismus als einem Engpass für die Tradierung der Gene spricht. In dieser Verwendung der Metapher ist immer noch der Charakter des Engpasses als eine - wenn auch unvermeidliche - Behinderung im Reproduktions- und Diffusionsprozess der Gene und nicht primär als eine evolutionäre Errungenschaft angesprochen. Im hier skizzierten Ansatz erweitern wir diese Betrachtungsweise (im Anschluss an Wieser, 1998) um ihre andere Seite: die Betrachtung des Engpasses der Individualität als eine Errungenschaft der Evolution, die die enorme Beschleunigung evolutionärer Prozesse in der soziokulturellen Evolution ermöglicht. Es geht um die phylogenetische Funktion der Ontogenese und die Respezifikation dieser Funktion für soziokulturelle Verhältnisse. Die Engpass-Metapher fügt sich in das grundlegende Muster der Evolution: dass nicht alles zugleich möglich ist und gerade deshalb höchst unwahrscheinliche Phänomene möglich werden. Eine dieser unwahrscheinlichen Erungenschaften ist die menschliche Individualität - und zwar sowohl in ihrer organischen Form als individuelles Lebewesen wie auch in ihrer kulturell gesteigerten Form als seiner selbst bewusstes Lebewesen - also jener Form, in der sie zum bevorzugten Thema der modernen Geisteswissenschaften wurde. Im Sinne der Einordnung in das Förderprogramm „Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften“ geht es nicht darum, neue Argumente in dem alten Streit zwischen individualistischen und antiindividualistischen Positionen zu finden, sondern die evolutionäre Einheit von Individualität und kultureller Population (einer Population, die sich global ausgebreitet hat) zu beschreiben.

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Evolutionstheoretische Aufklärung In den Kultur- und Sozialwissenschaften erscheinen Individualität und Tradition als Gegensätze: Individualismus als eine Haltung, die sich gegen Traditionen wendet, Traditionalismus als eine, die Individualitäten beschränkt. Dieses Spannungsverhältnis ist unbestreitbar ein Merkmal der modernen Gesellschaft. Die Betrachtung der beiden Pole dieses Verhältnisses mit den Mitteln der Evolutionstheorie ist allerdings geeignet, ein ganz anderes Licht darauf zu werfen. In evolutionstheoretischer Perspektive ist es gerade das symbolische Potential der Tradierung, das der menschlichen Sozialität eine besondere Wendung gibt und alle evolutionären Prozesse innerhalb der menschlichen Kultur immens beschleunigt. Demgegenüber erscheint das menschliche Individuum eher als ein Faktor der Entschleunigung, der die kulturelle Evolution an die physisch-organische Ausstattung des Menschen und damit an die evolutionären Bedingungen des Lebens zurückbindet. Andererseits erscheint das menschliche Individuum aber auch als andauernder Unruheherd in der Kultur, als ein treibender, kulturell aber nicht voll integrierbarer Faktor, der Tradierungsprozesse stört, Mutationen auslöst und die menschliche Sozialität in unvorhersehbarer Weise mit Variationspotential versorgt. Die aufklärerische Funktion evolutionstheoretischer Ansätze liegt in der reflektorischen Distanzierung von fundamentalistischem Denken. Damit sind keineswegs nur traditionell-religiöse Ursprungsmythen sondern auch alle jene modernen Formen des Fundamentalismus gemeint, die sich im Alltagsdenken (und sogar in der Wissenschaft, sogar in der Biologie) laufend reproduzieren. Die antifundamentalistische Stoßrichtung der Evolutionstheorie pädagogisch umzusetzen, ist kein leichtes Unterfangen, da es mit tiefsitzenden (ihrerseits vermutlich in unserer Natur verankerten) Bedürfnissen kollidiert. Es ist jedoch ein lohnendes Unterfangen, weil der eingeborene Fundamentalismus unseres Denkens seinerseits mit den kulturell erweiterten Strukturen, in denen wir leben, kollidiert. Mit der menschlichen Individualität wird ein Begriff ins evolutionstheoretische Blickfeld gerückt, der zum klassischen Reservat der Geisteswissenschaften zählt. Der menschliche Geist ist häufig als ein Phänomen beschrieben worden, das anders als die Natur operiert, obwohl ja nicht zu bestreiten ist, dass auch er ein Produkt der natürlichen Evolution ist. Es hat jedoch lange gedauert, bis diese Tatsache auch ihren Niederschlag in wissenschaftlichen Beobachtungen gefunden und Beiträge formuliert wurden, in denen der menschliche Geist sich selbst als ein Teil der natürlichen Evolution zu verstehen begann. Das Projekt wäre also ein Teil dieses unabgeschlossenen (und prinzipiell unabschließbaren) Reflexionsprozesses.


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Wer die menschliche Individualität in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen rücken will, gerät leicht in den Verdacht offene Türen einzurennen. Zumindest in den Weltregionen, die der europäischwestlichen Tradition folgen, erscheint der Individualismus kulturell fest verankert. Wer also die Öffentlichkeit – über wissenschaftliche Fachpublika hinaus - davon überzeugen will, dass es bei diesem Thema noch neue Perspektiven zu entdecken gibt, der muss zunächst einmal darlegen, warum der Individualismus keineswegs eine so gesicherte Bastion unserer kulturellen Überzeugungen ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Diese Darlegung kann in zweierlei Hinsicht erfolgen: zum Einen mit Bezug auf anti-individualistische Unterund Gegenströmungen in Geschichte und Gegenwart moderner Gesellschaften, zum anderen mit Bezug auf anti-individualistische (gelegentlich auch als antihumanistisch bezeichnete) Theorien und Methoden in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen – und zwar sowohl in den Natur- wie auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Auf anti-individualistische Tendenzen in der Gesellschaft - heute am auffälligsten in der globalen Wiederkehr religiöser Formen kollektiver Identifikation – werden wir in diesem Projekt nur in begrenztem Umfang eingehen können. Antiindividualistische Theorien und Methoden in den Geistes- und Sozialwissenschaften sollen dagegen ausführlich zum Gegenstand gemacht werden. Dabei soll gezeigt werden, was – jenseits des Streits um eine eher individualistische oder kollektivistische Methodologie - anders und neu gesehen werden kann, wenn man an das alte geisteswissenschaftliche Thema der Individualität mit evolutionstheoretischen Mitteln herangeht.

Individualität in den Sozialwissenschaften Wer sich mit dem Menschenbild der modernen Sozialwissenschaften vertraut zu machen versucht, wird vielfach darüber belehrt, dass es in ihrem Gegenstandsbereich auf das einzelne Individuum nicht ankomme. Wer diese Evidenz bestreitet, zieht den Vorwurf auf sich, einem veralteten Denkansatz (etwa: „Männer machen Geschichte“) anzuhängen. Man müsse in dieser Hinsicht normative Positionen und empirische Gegebenheiten unterscheiden. Es gibt allerdings in den Sozialwissenschaften auch eine Tendenz, auf der Relevanz der Individuen zu bestehen, und dies ausdrücklich nicht in normativer sondern deskriptiver Hinsicht: das ist der Fall beim sogenannten methodologische Individualismus. Dieser Ansatz soll hier im Rekurs auf Evolutionstheorie verstärkt und erweitert werden. In der biologischen Evolutionstheorie wird das Auftreten von Individuen zu den großen Umbrüchen in der Entwicklung der natürlichen Organismen gezählt. Im Anschluss hieran muss auch das Auftreten menschlicher Individuen zunächst als eine evolutionäre Errungenschaft und als

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Bindeglied zwischen natürlicher und kultureller Evolution betrachtet werden. Spätestens seit die moderne Gesellschaft ihre Semantik auf Hochschätzung der Individualität umgestellt hat, gibt es die theoretische Debatte darüber, ob die Entwicklung menschlicher Individuen stärker durch Anlage- oder durch Umweltfaktoren beeinflusst sei. Diese Debatte wird durch das Engpasstheorem auf eine veränderte Grundlage gestellt. Denn hier ist es ja gerade die Autonomie der lebendigen Individuen, die gleichermaßen den Einflüssen der Anlagefaktoren (Gene) wie den Einflüssen der kulturellen Umweltfaktoren (Institutionen) Grenzen setzt. Sozialwissenschaftliche Theorieansätze sind in grundlegender Hinsicht auf Lösungen für Probleme sozialer Ordnung focussiert. Theoriegeschichtlich konkurrieren im wesentlichen zwei Lösungsansätze: Solche, die auf individuelle Interessenorientierung (rational choice) abstellen und solche die auf Normkonformität (socialized man) abstellen. Im Fall der Interessenorientierung wird sozial abweichendes („egoistisches“) Handeln als Normalfall behandelt und in den sozialen Handlungsfolgen nach Mechanismen gesucht, die dennoch soziale Ordnung ermöglichen. Im Falle der normativen Orientierung wird sozial konformes („altruistisches“) Verhalten als Normalfall betrachtet und sozial abweichendes Verhalten aus Normkonflikten (kollidierenden Normkomplexen der sozialen Umwelt) abgeleitet. Evolutionstheoretische Aspekte kommen in beiden Theorierichtungen nur am Rande – in bezug auf anthropologische Prämissen und andere mehr oder wenige konstante Voraussetzungen – vor. Ein wichtiger dynamischer Aspekt ist dabei lange Zeit vernachlässigt worden: nämlich die Frage, welche Rolle die (tendenziell globale) Ausdehnung menschlicher Sozialsysteme für eine angemessene Beschreibung der Probleme sozialer Ordnung spielt (size matters!). Der hier gewählte evolutionstheoretische Ansatz ist auch als ein Versuch zur Überwindung der Schwierigkeiten bei der Erklärung sozialer Ordungsprobleme in soziokulturell ausgedehnten Sozialsystemen zu verstehen. Systemtheoretische und rational-choicetheoretische Ansätze leiden an einer komplementären Vereinseitigung und Vereinfachung in ihren theoretischen Prämissen. Im RC-Ansatz werden die mit sozialwissenschaftlichen Mitteln zu erklärenden Phänomene auf bewusste Entscheidungen zurückgeführt. Der Begriff der rationalen Wahl wird dabei bis zur Unkenntlichkeit überdehnt, indem auch das institutionell Vorentschiedene (als frame) der individuellen Wahlentscheidung zugerechnet wird. In der Luhmannschen Systemtheorie werden umgekehrt alle Explananda auf Systemstrukturen zurückgeführt. Der Begriff operativ geschlossener Systeme wird auch auf Organisationen und Interaktionen ausgedehnt und damit soweit überdehnt, dass das Handeln und Erleben von Individuen nur noch als Systemkonstruktion vorkommt. In beiden


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Ansätzen wird die Differenz zwischen individuellen Handlungen (und ihren intentionalisierten Aggregatformen in Technik und Organisation) und kollektiv geteilten Erwartungen (und ihren institutionalisierten Aggregatformen in operativ geschlossenen Systemen) jeweils zu einer Seite hin aufgelöst, statt sie (wie im evolutionstheoretischen Ansatz möglich und notwendig) als Zusammenspiel kausal unabhängiger Faktoren zu modellieren. Der hier verfolgte Ansatz steht in der Tradition vielfältiger Ansätze zur Formulierung einer allgemeinen (zumindest biologische und soziokulturelle Phänomene übergreifenden) Theorie der Evolution. Ansatz und Fragestellung grenzen sich ab von Ansätzen, in denen der Begriff der Evolution auf soziokulturelle Phänomene angewandt, aber zentrale Theoriebegriffe der neodarwinistischen Synthese - wie operative Geschlossenheit der Replikation, Blindheit der Variation, Umweltabhängigkeit der Selektion - abweichend definiert werden. Es geht also um cultural inheritance with cultural modification and cultural selection im Kontext der natürlichen Evolution. Auch wenn auf biotischer und kultureller Ebene sehr verschiedenartige ‚choices and constraints’ zu berücksichtigen sind, so ist hier doch von der Einheit der Evolution des Lebens auszugehen. Die evolutionstheoretische Einbettung der Fragestellung im Bezug auf den Engpass, den phänotypische Individuen für die Reproduktion genetischer und kultureller Einheiten darstellen, zielt auch auf die Überwindung des unfruchtbaren Dualismus zwischen mikro- oder makrotheoretisch ansetzenden Methodologien in den Kultur- und Sozialwissenschaften.

Eine evolutionstheoretische Erweiterung des methodologischen Individualismus Der methodologische Individualismus ist eine in den Sozialwissenschaften verbreitete Methode, deren Erklärungspotential gerade in der Abstraktion von den besonderen Lebensschicksalen einzelner Individuen besteht. Das vornehmste Ziel sozialwissenschaftlicher Erklärungen besteht in der Voraussage sozialer Ereignisse, seien es Geburtenraten, Wirtschaftskonjunkturen oder soziale Konflikte. Entgegen einer unter Sozialwissenschaftlern verbreiteten Spottrede sind solche Voraussagen ja durchaus möglich. Sie sind es umso eher, je mehr sie sich auf große Datenmengen stützen, die unter Beteiligung vieler Individuen zustande gekommen sind. Es ist jedoch mit den Mitteln der Sozialwissenschaften fast unmöglich - und darin liegt eine gewisse Ironie Voraussagen auf das Schicksal einzelner Individuen zu beziehen. Welchen Sinn hat es dann überhaupt den Begriff des Individuums mit dieser Methode zu verbinden? Welche Vorteile hat es, von Individuen als den Trägern der einzelnen Entscheidungen auszugehen, deren beabsichtigte und unbeabsichtigte Effekte sich zu den sozialwis-

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senschaftlich identifizierbaren Strukturaussagen aggregieren? Wäre es nicht besser, bei der Erklärung sozialer Ereignisse gleich von Strukturen oder strukturierten Systemen auszugehen, die sich nach bestimmten Mechanismen selbst reproduzieren und (eigendynamisch) verändern? Dies ist eine Frage, die im Folgenden durch das Engpass-Modell zugunsten eines evolutionstheoretisch erweiterten methodologischen Individualismus beantwortet werden soll. Die evolutionstheoretische Antwort basiert nicht auf der Annahme, dass nur Menschen als prima causa sozialwissenschaftlicher Kausalerklärungen in Frage kommen. Aber nur im Bezug auf das Handeln und Erleben von Individuen werden diese Erklärungen verständlich. In evolutionstheoretischer Perspektive ist es evident, dass kausale Mechanismen diesseits und jenseits des Engpasses individueller Lebensprozesse zur Wirkung kommen. Die Entscheidungsmuster, nach denen Menschen ihre Handlungsentscheidungen treffen, sind ja nicht so individualisiert (in einem höchstpersönlichen Sinne) wie es die Bezeichnung des methodologischen Individualismus suggeriert. Sie müssen aber allemal von lebendigen Individuen biographisch angeeignet und in je individuell erfahrenen Situationen vollzogen werden. Die Antwort auf die methodologische Fragestellung besteht nicht darin, dass soziokulturelle Strukturen nur im Rekurs auf die je persönlichen Motive individueller Menschen verstanden werden können, die an ihrem Zustandekommen beteiligt sind. Sie besteht vielmehr darin, dass Alles, was als strukturiertes soziales Ereignis zustande kommt bzw. als soziale Struktur beschrieben werden kann, den Engpass individuellen Erlebens und Handelns passiert haben muss, und dass es sich daher für die Sozialwissenschaften lohnt, die Funktion und Wirkungsweise dieses Engpasses nachzuvollziehen. In vielen Ansätzen des methodologischen Individualismus wird die entscheidende Rolle des Individuums gekennzeichnet durch ein einziges - nicht nur überindividuell verfügbares sondern auch überhistorisch wirksames - Verhaltensmuster: das der individuellen Nutzenmaximierung. Die nomothetische Annahme eines basalen Verhaltensmusters entspricht dem wissenschaftlichen Methodenideal der Physik. Die Verankerung eines solchen Musters im innersten Kern von Individuen – und damit die Zusammenziehung von biogenetisch und biographisch verankerten Dispositionen mit aktual situationsbewußten Wahrnehmungen zu einer einzigen Selektionslogik - ist jedoch mit einer evolutionstheoretisch angemessenen Beschreibung der Stellung von Individuen, die deren Eigendynmaik einerseits und die historische Zufallsabhängigkeit der Lebensprozesse andererseits herausstellt, nicht vereinbar. Die wichtigste Unterscheidung, die in individualistischer Perspektive methodologisch relevant wird, muss sich beziehen auf den Unterschied zwischen Wirkun-


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gen, die für das jeweilige Individuum aktiv erreichbar sind, und solchen Wirkungen, die sich seiner Handlungsreichweite und damit seiner Beeinflussbarkeit entziehen, und die es deshalb passiv erlebt. Dieser Unterschied kann nicht nur für einzelne Individuen festgestellt werden sondern gilt unter entsprechend modifizierten Voraussetzungen (aggregiert) dann auch für Gruppen, Organisationen und ganze Populationen von Individuen in einer jeweils gegebenen Umwelt. Wenn man den methodol. Individualismus im Rahmen eines evolutionstheoretischen Konzepts vertritt, muss man also den Unterschied herausstellen zwischen Wirkungen, die dem situationsbewußten Handeln von Individuen zugerechnet werden, und solchen Wirkungen, die zwar (als biogenetischer und bographischer Einfluss) über Individuen transportiert werden, kausal aber eher seiner Umwelt (bzw. vergangenen Umweltwirkungen) zugerechnet werden müssen. In evolutionstheoretischer Perspektive wäre ohne diese Unterscheidung für den Bereich der kulturellen Evolution - der ja gerade durch das gesteigerte Maß an bewußten, im Medium gedächtnisgestützter symbolischer Repräsentationen ermöglichter, intentionaler Handlungsentscheidungen charakterisiert ist - auch nicht der Nachweis kausal unabhängiger Mechanismen der Variation und Selektion möglich. Diese Aussage (über die proximat wirkenden Mechanismen) steht auch nicht im Gegensatz zu der grundlegenden These, dass alle Mechanismen (i.S. ultimater Wirkungen) – also sowohl die bewußten Handlungsentscheidungen, wie ihre durch Umweltselektion entstandenen genetischen und biographischen Dispositionen – letztlich demselben Ziel, nämlich der globalen Ausbreitung der jeweiligen soziokulturellen Institutionen (i.S. eines evolutionstheoretisch erweiterten Konzepts von „Globalisierung“) dienen. Die Tradierung lebensgeschichtlich erworbener Erfahrungen von Generation zu Generation ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal der soziokulturellen gegenüber der soziobiotischen Evolution. Dementsprechend muss jede Unterbrechung in der Kette der Tradierungsakte als eine Beeinträchtigung ihres adaptiven Potentials unter den Bedingungen sich verändernder kultureller und natürlicher Umwelten verstanden werden. Wenn Errungenschaften der soziokulturellen Evolution, die sich als geeignet erwiesen haben, Probleme sozialer Ordnung zu lösen, nicht oder unzulänglich tradiert werden, fallen die individuellen Akteure auf den Stand der Problemlösung zurück, der sich mittels genetisch ererbter kognitiver Ausstattung als Handlungsalternativen anbietet. Hier hat die Spieltheorie gezeigt, dass die Interaktion unter den Bedingungen der Beschränkung auf je individuelle Nutzenmaximierung für typische Situationen nur suboptimale Lösungen bietet. Der evolutionstheoretische Kern der Erweiterung des methodologischen Individualismus besteht also in der Beschreibung der Tradierungsprozesse als Teil der Se-

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lektionslogik von Wahlhandlungen. Dabei müssen die restabilisierenden Voraussetzungen (Identifikation mit Anderen) wie auch die dynamischen Folgen des Engpasses beschrieben werden, den die institutionellen Problemlösungen in ihrer Rezeption durch je individuelle menschliche Lebewesen passieren müssen. Das evolutionstheoretische Engpasstheorem erweitert den methodologischen Individualismus im Rekurs auf den spezifisch erweiterten Kontingenzspielraum der soziokulturellen Verhältnisse des Menschen. Der Umstand, dass die transindividuellen Einheiten der soziokulturellen Evolution (Meme, Institutionen) massenhaft den Engpass individueller kognitiver Entwicklung durchlaufen müssen, hat die evolutionäre Funktion, den für die kulturell erweiterten Sozialsysteme des Menschen typischen Willkürspielraum des Handelns (Technisierung, Organisation, Staatlichkeit, etc.) im Wechsel der Generationen zu „renaturalisieren“ i.S. der Regeneration oder Neubildung von Institutionen. Was durch den menschlichen Engpass regeneriert wird, ist der Institutionenpool der kulturellen Population. Dieser gemeinsame Bestand wird in kulturellen Sozialsystemen durch die dynamisch weitreichenden Effekte intentionalen Handelns laufend gefährdet. Im Wechsel der Generationen wird deshalb nicht nur der Nachwuchs „sozialisiert“ sondern es werden auch die vergangenen Effekte sozialen Handelns „instutionalisiert“, d.h. sie werden wieder zu selbstverständlichen (latenzgeschützten) Voraussetzungen des sozial geteilten Erlebens. Dies geschieht allerdings nicht automatisch und sondern höchst selelektiv: Was mit der natürlich beschränkten kognitiven Verarbeitungskapatizität der nachwachsenden Generation nicht kompatibel ist, also den Indvidualitätstest nicht besteht, kann auch nicht in den Institutionenpool der Generation gelangen. Diese Beschränkung wird in kulturell hochentwickelten, insbesondere modernen Gesellschaften dadurch kompliziert, dass die Nachwuchssozialisation ihrerseits intentional (in eigens zu diesem Zweck ausdifferenzierten Bildungseinrichtungen) organisiert wird. Dadurch wird einerseits der Spielraum für die Weitergabe des kulturell akkumulierten Wissens erweitert, andererseits seine Transformation in Bestandteile des Institutionenpools gefährdet. Der springende Punkt ist also im Beitrag des menschlichen Engpasses zur Transformation intentionaler Handlungseffekte in Institutionen zu sehen. Dies muss hier zunächst als ein in den Sozialwissenschaften bisher ungelöstes Theorieproblem herausgearbeitet werden. In der Sprache des methodologischen Individualismus handelt es sich um das Problem der Verknüpfung von Mikro- und Makroebene. Das Problem besteht in der zirkulären Verknüpftheit der Phänomene, die sowohl von der Mikroebene wie auch von der Makroebene her betrachtet werden können. Der Punkt, der durch das Engpasstheorem geklärt werden soll, bezieht sich vorrangig auf die Verknüpfung der Makro- mit der Mikro-


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ebene i.S. der Verarbeitung von emergenten Strukturen der Makroebene auf der Mikroebene. Im Hinweis auf die Zirkularität der Prozesse, die in der kulturellen Evolution zur sozialen Institutionenbildung beitragen, liegt ein wesentliches Moment soziologischer Aufklärung gegenüber anti-demokratischen und fundamentalistischen Tendenzen. Es zeigt sich, dass Institutionen keiner transzendentalen Begründung bedürfen weder durch höhere Wesen noch durch eine objektive Natur der Dinge. Ein Teil dieses sich selbst begründenden Zirkels liegt in den institutionalisierten Formen der Entscheidung Vieler (zB. in der Politik durch Wahlen, die den Volkswillen repräsentieren) ein anderer Teil in der Institutionalisierung in der Vergangenheit getroffener Entscheidungen, die durch Identifikation mit der jeweiligen sozialen Einheit im Wechsel der Generationen vollzogen wird. Letzterer steht im Focus des hier skizzierten Projekts.

Das Engpass-Modell als Rahmen für pädagogische Fragestellungen Um die spezifisch pädagogischen Fragestellungen zu modellieren, beginne ich zunächst mit einem vereinfachten Kreislaufmodell der soziokulturellen Evolution. Hierin kann als normaler Regelkreis beschrieben werden, dass Individuen als handelnde Akteure die soziokulturelle Makroebene mit Variationspotential (MikroMakro-Transformation) versorgen. Die Selektionsprozesse auf der Makroebene lasse ich zunächst beiseite und betone nur, dass dieselben Individuen auch für die Restabilisierung des Institutionenvorrats der Population sorgen. Dies geschieht in zwei (im Hinblick auf die kausal wirksamen Mechanismen zu unterscheidenden) Schritten: Erstens durch Prozesse der Identifikation in der Perspektive des kollektiv geteilten Erlebens (Makro-Mikro-Transformation) und zweitens durch Prozesse der Internalisierung des Institutionenvorats (Tradierung durch Interaktionen auf der Mikroebene). Dass kulturelle Tradierung die Identifikation mit Anderen voraussetzt, ist ein Teil der Beschreibung des evolutionären Engpasses, deren Kern in der biologischkulturellen Doppelnatur menschlicher Individuen besteht .

Makroebene Restabilisation ↓ Mikroebene

Umwelten

Selektion ←

Systeme

Situationen

Wettbewerb (Ausdehnung)

Populationen

Identifikation

Individuen

Technisierung

Institutionen

Tradierung

Organisationen

Erleben

→ Replikation

Handeln

Makroebene ↑ Vari ation Mikroebene

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In einem zweiter Durchgang durch das skizzierte Schema ist es wichtig zu berücksichtigen, dass die beschriebenen Schritte bzw. Prozesse rekursiv miteinander verknüpft sind: Die restabilisierende Identifikation mit dem (durch Prozesse auf der Makroebene veränderten) Institutionenvorrat der soziokulturellen Population baut immer schon auf der Tradierung des Institutionenvorrats in Prozessen der Interaktion auf der Mikroebene auf. Das gilt bereits für das technisch folgenreiche Handeln einzelner Akteure (Technisierung als MikroMakro-Transformation). Innovationen auf der Makroebene, insbesondere Phänomene der Ausdehnung der soziokulturellen Populationen kommen nur zustande auf der latenten Grundlage eines gegebenen Institutionenvorrats. Also können auch institutionelle Innovationen (Veränderungen des Instititutionenvorrats) immer nur vor dem Hintergrund von gegebenen institionellen Strukturen perzipiert und verarbeitet werden. Und diese Gegebenheit ist unabdingbar an die ontogenetische Entwicklung kognitiver Strukturen einzelner Individuen gebunden. Im Hinblick auf die spezifischen soziokulturellen Verhältnisse der modernen (globalisierten) Gesellschaft ist nun in einem dritten Durchgang eine weitere Komplikation einzuführen: Es ist nicht nur zu berücksichtigen, dass Prozesse der Technisierung des Handelns und der Ausdehnung der soziokulturellen Populationen rekursiv an Prozesse der (restabilisierenden) Identifikation und der (replikativen) Tradierung gebunden sind. Es ist nun auch zu berücksichtigen, dass soziokulturell ausgedehnte Populationen mit technischen Mitteln auf die Bedingungen der Identifikation mit dem kollektiven Institutionenvorrat und auf die Bedingungen seiner Tradierung zurückwirken. Erst diese Rückwirkungen ermöglichen die evolutionär unwahrscheinliche Ausdehnung soziokultureller Populationen auf der Makroebene. Die erstgenannte Rückwirkung erfolgt durch Medien der Massenkommunikation (Schrift, Buchdruck, Internet). Die zweitgenannte Rückwirkung erfolgt durch die pädagogische Organisation von Bildungsprozessen im modernen Massenschulwesen. Erst mit diesem dritten Durchgang in dem skizzierten Modell rekursiv verknüpfter Mechanismen sind wir an der Stelle angekommen, an der die Probleme und Risiken von organisierten Lehr-Lern-Prozessen als Merkmale moderner Gesellschaften in den Blick kommen. Es handelt sich dabei um die unintendierten Variationseffekte, die aus der intentionalen Rückwirkung auf die Prozesse soziokultureller Tradierung entstehen.

Zur Entfaltung des Engpass-Modells Die besonderen Fähigkeiten menschlicher Individuen zu lernen, das Gelernte symbolisch zu kommunizieren und als symbolisch generalisierte Gedächtniseinheiten von Generation zu Generation weiterzugeben, gelten als konstitutive Merkmale soziokultureller Evolution. Die


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Hochschätzung des individuellen Lernens und der geteilten Gedächtnisleistungen hat im Verlaufe dieser Evolution ständig zugenommen - bis hin zur Entwicklung des modernen Schulwesens, das den menschlichen Nachwuchs einem strikten pädagogischen Reglement zur Organisation von Lernprozessen unterwirft. Von Europa ausgehend hat sich dieses Organisationsmodell zur Bereitstellung des für die Regeneration komplexer gesellschaftlicher Einheiten benötigten Lernens inzwischen global verbreitet. Gleichzeitig aber stößt dieses Erfolgsmodell in seinem Inneren zunehmend auf Probleme, die in Beschränkungen der natürlichen und kulturellen Ausstattung menschlicher Individuen begründet sind. Das menschliche Individuum erscheint als Engpass für das soziokulturell erwartete Lernpotential. Dementsprechend werden viele Forschungsanstrengungen der Humanwissenschaften darauf gerichtet, diesen Engpass zu überwinden. Die moderne Evolutionstheorie kann zu dieser Forschung grundlegend beitragen, indem sie zunächst die Frage stellt, welche evolutionäre Funktion den Einschränkungen zukommt, die aus dem Engpass menschlicher Individualität für soziokulturelle Einheiten erwachsen. Diese Fragestellung führt im wesentlichen zu zwei Hypothesen: Erstens hat der Engpass menschlicher Individualität für die soziokulturelle Evolution eine selektive Funktion. Nicht alles, was sich in der Lebensspanne der Individuen einer Generation ereignet hat und in deren kommunikativen Netzen gespeichert ist, ist im Wechsel der Generationen tradierbar. Vieles muss in diesem Sinne „vergessen“ werden, um das kognitive Potential einer neuen Generation nicht zu überlasten und Platz für neue Verknüpfungen, also Variationsspielraum für die Anpassung an veränderte Umweltbedingungen, zu lassen. Zweitens hat der Engpass menschlicher Individualität für die soziokulturelle Evolution eine restabilisierende Funktion. Vieles, was in der Lebensspanne der Individuen einer Generation kommuniziert worden ist, weist als symbolische Sinneinheit nicht die operative Geschlossenheit auf, die benötigt wird, um die soziokulturelle Einheit mit entsprechenden Sinnstrukturen zu regenerieren. Nicht alles, was memorierbar (also nur in diesem Sinne »Mem«) ist, taugt als basale Replikationseinheit soziokultureller Evolution. Es gehört zu den gesicherten Erkenntnissen der modernen Entwicklungspsychologie, dass die Aneignung symbolischer Sinneinheiten in primären Entwicklungspozessen zur Bildung latenzgeschützter - also normalerweise der Reflexion und intentionalen Veränderung entzogener - Sinneinheiten führt. Der Engpass menschlicher Individualität hat hier also die Funktion, eine der operativen Geschlossenheit der Gene vergleichbare Schließung symbolischer Sinneinheiten und damit basale Replikationseinheiten zu ermöglichen, ohne deren institutionelle Geschlossenheit soziokulturelle Evolution nicht fortsetzbar wäre.

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Auf der einen Seite geht es im Engpass-Modell um eine evolutionstheoretische Beschreibung der Grenzen menschlicher Lern- und Aufnahmefähigkeit für soziokulturelle Komplexität. Insofern hat seine Beschreibung Konsequenzen für jedwede Pädagogik. Auf der anderen Seite geht es um eine Beschreibung der Grenzen kultureller Evolution selbst. Hier ist zu zeigen, dass nicht jedwede symbolisch-memetische Sinneinheit, die von Menschen gelernt werden kann, als basale Einheit der soziokulturellen Evolution taugt. Menschliche Lernprozesse sind offenkundig lebenslang möglich. Aber nur in bestimmten Phasen der menschlichen Entwicklung laufen sie so ab, dass sich daraus selbstverständliche Erwartungsstrukturen, institutionelle Hintergrundannahmen, bilden, die zu Strukturen der Sozialität werden. Insofern markiert das Individuum als Engpass die Grenzen kultureller Institutionenbildung bzw. der Stabilisierung kulturell erweiterter sozialer Einheiten. Die Verknüpfung der Frage nach den Replikationseinheiten der kulturellen Evolution mit dem Modell des Engpasses dient zunächst dem Festhalten an neodarwinistischen (nichtlamarckistischen) Prämissen: Auch für die kulturelle Evolution gilt, dass die basale Replikation operativ gegen Umwelteinflüsse geschützt (intentional unbeeinflussbar) verläuft. Die operative Geschlossenheit der kulturellen Meme - also ihre ontologische „Renaturalisierung“ nach kulturellen Reflexionsprozessen, die variativ und selektiv in Memkomplexe eingreifen ist Voraussetzung ihrer kognitiven Verarbeitung in primären Sozialisationsprozessen. Dies ist im Rekurs auf entwicklungspsychologische Untersuchungen (und im Gegensatz zu jeder instrumentell-zielorientierten Pädagogik) aufzuzeigen. Zu den Voraussetzungen, die hier im Sinne des evolutionären Engpass-Modells wirksam sind, gehört die Verzahnung der kognitiven Verarbeitung kulturell-memetischer Informationseinheiten mit organisch-genetischen Faktoren, die 1. durch die Körperbasiertheit der Kognition (Piaget) und 2. durch die affektabhängige Steuerung von Lernpotentialen (Ciompi) ermöglicht werden. Ein instruktiver Sonderfall dieser Funktion des evolutionären Flaschenhalses ist das Lernen von Sprachen - auch wegen der hier schon besser untersuchten genetischen Anteile. Die Institution der Geschichte und die Organisation der Geschichtsschreibung stellen prominente Beispiele für die Engpassfunktion der Individuen in der soziokulturellen Evolution dar. Die neurobiologisch beobachtbaren Funktionen des menschlichen Gedächtnisses opieren stets nur in der jeweiligen Gegenwart und sind darauf ausgelegt, das für diese Zwecke erforderliche Wissen über vergangene Ereignisse in konsistenter Form (einschließlich eines passenden individuellen Selbstbildes) vorzuhalten. Von daher ist offenkundig keine Garantie für die Wahrheit der Erinnerung zu erwarten. Die primäre Form der Korrektur des individuellen Erinnerungsvermögens stammt aus der Kommunikation mit anderen Beobachtern. Sie ist (aufgrund des kognitiven


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Konsistenzdrucks) so nachhaltig wirksam, dass Menschen in den meisten Fällen gar nicht unterscheiden können, ob sie ihr Wissen aus eigenen oder fremden Quellen haben. Es ist aber ebenso offenkundig, dass auch die kommunikative Erweiterung des Gedächtnisses keine Garantie für die „objektive“ Richtigkeit der Erinnerung darstellt. Ansätze für eine Diskussion über die Richtigkeit der geschichtlichen Erinnerung können in der soziokulturellen Evolution erst mit der Existenz schriftlicher Aufzeichnungen aufkommen. Historiker berichten, dass in schriftlosen Gesellschaften die Erinnerung an vergangene Ereignisse maximal über drei Generationen funktioniert und die übrige Vergangenheit in mythologische Geschichtserzählungen verpackt wird. Mit den schriftlichen Aufzeichnungen ist zwar noch keine objektive Wahrheit der historischen Erkenntnis verbürgt, jedoch die Möglichkeit des kritischen Vergleichs zwischen den in einer lebendigen Kommunikationsgemeinschaft tradierten Erinnerungen und davon ein Stück weit unabhängig existierenden Quellen eröffnet. Erst in der modernen Gesellschaft wird dieser Vergleich von Wissenschaftlern methodisch betrieben und das auf diese Weise destillierte Wissen über schulischen Unterricht in den individuellen Engpass der kulturellen Tradition wiedereingeführt. Zur Entfaltung des Engpass-Modells gehört die Beschreibung eines Mechanismus der kognitiven Trägheit (inertia, resistance to change). Der „Nürnberger Trichter“ - Lernen per download - funktioniert eben nicht. Es handelt sich beim menschlichen Engpass um einen ähnlichen Verzögerungsmechanismus wie den, der auf der Ebene von materiellen Investitionen zB. von Wirtschaftsunternehmen bei Fittness-Problemen in der Konkurrenz beobachtet wird (Nelson/Winter). Dieser Mechanismus führt auf der Ebene der kognitiven Verarbeitung kultureller Mem-Komplexe durch Individuen zur negativen Selektion übergroßer, insbesondere in temporaler Hinsicht inkompatibler Komplexität. Zur Entfaltung des Engpass-Modells gehört auch die differenzierte Beschreibung der memetischen Einheiten selbst. Ihre Eigentümlichkeit erschließt sich nicht durch lexikalische sondern nur durch hierarchische Beschreibung. Eine ungeheure Menge komplex verbundener und

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unverbundener Meme kann problemlos mithilfe technisch erweiterter Gedächtnisspeicher aufbewahrt werden, ohne dass dies die soziokulturelle Tradierung direkt tangiert. Zugleich wächst aber auch die Menge der basalen Mem- oder Institutionenkomplexe (zB. die Erstsprache), die von einer relevanten Minderheit oder der Mehrheit der nachwachsenden Individuen einer (tendenziell globalen) Population angeeignet werden müssen, um das in technisch erweiterten Speichern aufbewahrte Wissen zu erschließen und für die Reproduktion der dominanten Strukturen einer soziokulturellen Umwelt nutzen zu können. Das hier skizzierte Engpass-Theorem kann auch als Ansatz zur Fundierung einer Theorie des soziokulturellen Wertewandels in Abhängigkeit von generationsspezifisch prägenden Grunderfahrungen verstanden werden, wie sie von R. Inglehart ( 1971, 1977, 1990) vertreten und mit umfangreichen Daten des World-ValuesSurveys aus 43 Ländern abgestützt wird. Theoretische und empirische Argumente zur menschlichen Entwicklung (kognitiv-affektive Entwicklungspsychologie, biologische und kulturelle Anthropologie etc.) sollen herangezogen werden, soweit dies nötig ist, um das Engpass-Argument im Hinblick auf die Verknüpfung genetischer und memetischer Faktoren beim Individuum stark zu machen. Es geht also nicht nur um das Individuum als black box (wie in Rational Choice Theorien). Es geht aber auch nicht um die ganze Breite psychologisch fundierten Wissens sondern um die spezifische Flaschenhals-Funktion der im individuellen Organismus verankerten kognitiven Prozesse für die Replikation memetischer Einheiten der soziokulturellen Evolution. Zur Einbettung dieser Funktionsbeschreibung in eine Theorie der soziokulturellen Evolution müssen (neben der hier beobachtbaren Replikation und primordialen Variation) auch die anderen evolutionären Mechanismen (kulturell erweiterte Variation, Selektion und Restabilisation) bezeichnet werden, denen die memetischen Einheiten ausgesetzt sind, bevor und nachdem sie den Engpass der individuellen Entwicklung durchlaufen.


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Modell der Ausbreitung und Regeneration soziokultureller Institutionen mit zwei Ebenen, vier evolutionären Mechanismen und dem Focus auf der Stellung menschlicher Individuen Umwelten

Selektion ←

Systeme

Situationen Populationen Wettbewerb Makroebene Makroebene (emergente Makro(emergente MakroAusdehnung und Differenzierung konstellationen) einheiten) Identifikation Technisierung Menschliche Individuen Restabilisation ↑ downward causation upward causation (als operative Einheiten der so↓ Variation reembedding ziokulturellen Evolution) disembedding Institutionen Organisationen Tradierung Mikroebene (latente, operativ geschlosMikroebene (manifeste, operativ Take-off kultureller Evolution sene Elementareinheiten) offene Akteurseinheiten) Erleben

→ Replikation

Kenner methodologisch individualistischer Handlungstheorieansätze können in dem hier skizzierten Modell die Umrisse von Colemans „Badewanne“ wiedererkennen – mit dem Unterschied, dass die Effekte der Aggregation vieler Einzelhandlungen auf der Makroebene hier i.S. eines kreisförmigen Verlaufs der Institutionenbildung rekursiv verknüpft sind mit der Situationswahrnehmung der Akteure auf der Mikroebene. Damit kann aus dem Colemanschen Handlungsmodell ein evolutionstheoretisches Kreislaufmodell werden. Menschliche Individuen kommen in diesem Modell der soziokulturellen Evolution über vier kausal unabhängig voneinander wirkende Mechanismen zur Wirkung. Die evolutionären Mechanismen der Variation und Selektion kommen jeweils zweifach vor: Variation auf der Mikroebene als nichtintendierter Nebeneffekt der Tradierung (abweichende Sozialisation) und als Moment der Mikro-Makrotransformation durch technische Steigerung intentionalen Handelns. Selektion als intendierter Effekt des Wettbewerbs der Akteure auf der Makroebene und als restabilisierendes Moment der MakroMikro-Transformation in Prozessen der kulturell erweiterten Gruppenidentifikation. Die evolutionären Mechanismen - Replikation, Variation, Selektion, Restabilisierung - bezeichnen ultimate Funktionen im evolutionären Kreislauf der kulturellen Elementareinheiten. Die Pfeile deuten an, dass diese Funktionen in ihrer Wirkungsweise rekursiv verknüpft sind. Die kulturspezifische Besetzung dieser Funktionen durch Operationen lebendiger Individuen – Tradierung, Technisierung, Wettbewerb, Identifikation – bezeichnet die evolutionstheoretisch proximaten Wirkungsmechanismen. Menschliche Individuen wirken in aufsteigender Richtung als Beschleuniger und in absteigender Richtung als Stabilisatoren der soziokulturellen Evolution. Sie bilden

Handeln

auf der Makroebene die Märkte und Öffentlichkeiten, die als innergesellschaftliche Umwelt über den Erfolg oder Misserfolg institutioneller Variationen entscheiden. Und sie bilden auf der Mikroebene mit ihren natürlich beschränkten kognitiven Eigenschaften den entscheidenden Engpass für die Tradierung soziokultureller Institutionen. Die replikative Tradierung von Institutionen über die kognitiven Potentiale lebendiger Individuen kann als Startpunkt einer Beschreibung des evolutionären Kreislaufs aus der Mikroperspektive betrachtet werden. In dieser Perspektive folgt in aufsteigender Linie die Aggregation und variationssteigernde Technisierung spezifischer Ego-Alter-Konstellationen des Handelns zur Verselbständigung der Makroebene. Die Ausdehnung kultureller Populationen und die Binnendifferenzierung ihrer innergesellschaftlichen Umwelt durch wettbewerbgesteuerte Prozesse auf der Makroebene kann komplementär als Startpunkt einer Beschreibung des evolutionären Kreislaufs aus der Makroperspektive betrachtet werden. In dieser Perspektive folgt in absteigender Linie die restabilisierende Identifikation in spezifischen Ego-Alter-Konstellationen des Erlebens als rückwirkende Verknüpfung der Makroebene mit der Mikroebene. Hier auf der Mikroebene liegt der tradigenetische Engpass, aus dem einerseits ein kulturell regenerierter Institutionenvorrat und andererseits sozial handlungsfähige Individuen hervorgehen, die die soziokulturelle Evolution auf dem eingeschlagenen Pfad der globalen Ausbreitung ihrer Institutionen wieder beschleunigen.


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Literaturhinweise zum Engpass-Theorem

Zum Projektantrag

Das Verhältnis von Individualität und Sozialität ist ein Thema, das die Menschheitsgeschichte mindestens seit der europäischen Antike fortlaufend und in immer wieder neuen Selbstdarstellungen beschäftigt. Das Thema ist in jüngster Zeit in der Philosophie von Volker Gerhardt (Individualität - das Element der Welt, München, 2000) und in der Biologie von Wolfgang Wieser (Die Erfindung der Individualität oder Die zwei Gesichter der Evolution, Berlin 1998) wieder aufgenommen worden. Im Vergleich mit diesen Ansätzen greift die neuere soziologische Theorie der Individualität (vgl. zusammenfassend Schroer, 2000) historisch und evolutionstheoretisch zu kurz. Im Folgenden sind einige Textauszüge zur theoretischen Annäherung an den Gegenstand des Vorschlags eines evolutionstheoretischen Forschungsprojekts über das menschliche Individuum als Engpass der soziobiotischen und soziokulturellen Evolution zusammengestellt. Im Hinblick auf Anschlußstellen in Biologie, Philosophie und Kognitionswissenschaften, Kultur- und Sozialwissenschaften aus Texten von Baldus, Boyd/Richerson, Büschges, Coleman, Dawkins, Elias, Gerhardt, Luhmann, Nipkow, Piaget, Simmel, Treml, Vogel, Voland, Wieser.

Die hier skizzierten Überlegungen sind entstanden in der Diskussion und Kooperation mit dem Philosophen und Biologen Bertold Schweitzer. Einige dieser Formulierungen sind in einen Forschungsprojektantrag eingegangen. Klaus Gilgenmann im Juli 2005 (mit Erweiterungen Stand 29.09.2006)


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