Neue Götter Stephan Lanz
und Gläubige in der Stadt
Thesen und Fragen zum veränderten Verhältnis zwischen dem Städtischen und dem Religiösen Als erster westlicher Stadtforscher lenkte Mike Davis den Blick auf ein globales urbanes Phänomen, das in den Urban Studies bis dato kaum wahrgenommen worden war: »Wenn Gott in den Städten der industriellen Revolution starb, so ist er in den postindustriellen Städten der Dritten Welt wieder auferstanden«, schrieb Davis (2004, S. 30) in seinem Essay Planet of Slums. Heutzutage besetzten »der populistische Islam und das pfingstliche Christentum (und in Bombay der Shivaji-Kult) einen sozialen Raum analog zu dem des Sozialismus und Anarchismus des frühen zwanzigsten Jahrhunderts« (ebd.). Im Rahmen des von metroZones durchgeführten Kultur- und Forschungsprojekts ErsatzStadt 1 hatten wir in so unterschiedlichen Metropolen wie Istanbul, Mumbai, Lagos und Rio de Janeiro ebenfalls einen seit mindestens zwei Jahrzehnten anhaltenden Boom neuartiger religiöser Gemeinschaften und politisch-religiöser Organisationen beobachtet, die quer zu den Religionen, Stadttypen und Weltregionen erstaunliche Parallelen aufzuweisen schienen (vgl. Eckert 2003; Tugal 2005; Lanz 2004). Bis dahin zählte aus europäischer Perspektive die Annahme von Karl Marx und Friedrich Engels, dass sich die Arbeiterklasse im Rahmen ihrer industriell geprägten Urbanisierung säkularisiere. Nicht zufällig galt Berlin, damals eine der weltweit größten Industriestädte, als heidnischste Stadt der Welt. Urbanisierung wurde so mit einer fortschreitenden Säkularisierung gleichgesetzt. Bereits ein Blick auf die Einwanderungsstädte der USA, insbesondere aber auf die Urbanisierungsformen der Städte des Südens, bei denen das Religiöse immer präsent blieb, offenbart den Fehler, die für die europäische Realität zutreffende Annahme global zu verallgemeinern. Gegenwärtig ist daher weniger von einer Rückkehr des Religiösen in die vermeintlich säkulare Stadt auszugehen als von einer Transformation des Religiösen in der Stadt sowie von einer Transformation der Stadt durch neue und stark an Bedeutung wachsende Formen des Religiösen. Transformationen im Verhältnis zwischen dem Religiösen und dem Städtischen Als Stadtforscher entdeckten wir die Bedeutung neuer religiöser Gemeinschaften in der Stadt bezeichnenderweise erst, als wir ihren spezifisch urbanen Charakter zu erkennen begannen. Die globale Dimension des ErsatzStadt-Projekts öffnete die Augen für die räumliche, soziale und ideologische Breite dieses Phänomens. Offenbar passiert der globale Boom der Pfingstkirchenbewegung sowie verschiedener islamistischer Bewegungen nicht nur im urbanen Raum. Vielmehr scheint er tiefgreifend in urbanen Prozessen zu gründen und eingebettet zu sein sowie zugleich soziale Akteure und
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1 metroZones wurde ursprünglich als offene Arbeitsplattform von Jochen Becker und mir gegründet, um das Projekt ErsatzStadt durchzuführen. ErsatzStadt (2002 — 2006) war ein von der Kulturstiftung des Bundes gefördertes, von der Volksbühne Berlin getragenes sowie von metroZones in Kooperation mit Tulip House entwickeltes und kuratiertes Kultur- und Forschungsprojekt, das sich am Beispiel der Städte Istanbul, Rio de Janeiro, Buenos Aires, Kabul, Teheran, Lagos, Mumbai und Berlin der Erforschung des städtischen Alltags »jenseits der europäischen Civitas« widmete. Auf der Basis einer Analyse, die das globale Städtesystem und ihr historisches wie aktuelles Regieren aus einer postkolonialistischen Perspektive betrachtete, standen hierbei urbane
Entwicklungs-, Transformations- und räumliche Aneignungsprozesse im Fokus, die aus informellen, in der Regel geschmähten oder gar illegalen Formen der Selbstorganisation der städtischen Bewohner hervorgingen. Die Ergeb-nisse der Recherchen wurden in verschiedenen kulturellen Formaten auf der Theaterbühne dargestellt sowie in der Buchreihe metroZones (b_books Berlin) veröffentlicht. 2007 gründeten wir metroZones — Zentrum für städtische Angelegenheit als unabhängigen Verein, »um an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Politik verschiedene Ansätze der Forschung, Wissensproduktion, Kultur-praxen und politischen Interventionen zu kombi-nieren und öffentlich zu thematisieren« (w w w. metroZones.info). Seine Gründungsmitglieder sind Jochen Becker, Britta Grell, Anne Huffschmid, Stephan Lanz, Oliver Pohlisch, Katja Reichard, Erwin Riedmann und Kathrin Wildner. Zentrale Thesen und Inhalte dieses Textes basieren auf zahlreichen metroZones-Diskussionen, die zur Entwicklung des Forschungs- und Kulturprojekts Global Prayers — Erlösung und Befreiung in der Stadt geführt haben. Seit Anfang 2010 führt metroZones in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt und der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) das Global Prayers-Projekt durch. Gefördert wird es gegenwärtig durch das Forum Transregionale Studien Berlin, die Heinrich-Böll-Stiftung und die Neue Gesellschaft für bildende Kunst in Berlin.
Prozesse zu generieren, die einen stetig wachsenden Einfluss auf urbane Entwicklungs- und Transformationsprozesse ausüben. Wie islamistische Bewegungen sind Pfingstkirchen herausragende Beispiele für die Prozesse der Glokalisierung im Rahmen der globalen »time-space compression« (David Harvey). Zum einen entstanden in den Metropolen zahllose Kirchen, deren Reichweite über ihre städtischen Nachbarschaften nicht hinausreicht, die sich aber als Teil einer globalen pfingstkirchlichen Gemeinschaft verstehen. Zum anderen entwickelte sich ein über Medien sowie Missionierungsund Migrationsbewegungen transnational agierendes Pfingstkirchlertum, dessen globale Ausbreitung häufig den (post)kolonialen Routen der Süd-Nord-Migration folgt. So territorialisieren sich in East London, der Einwandererzone der postkolonialen World City, afrikanisch und lateinamerikanisch dominierte Pfingstkirchen ebenso wie islamistische Gemeinden der Bangladeshi Community (vgl. Hussain 2007; Garbin 2008). Sie transformieren städtischen Raum durch soziale und symbolische Aneignung, aber auch durch politische Partizipation an lokalen Governance-Strukturen: Als faith based organizations, die soziale und kulturelle Angebote machen, integrieren staatliche Apparate sie zunehmend in urban renewal-Programme. Lässt sich, so fragten wir uns im Anschluss an solche Beobachtungen, die Renaissance des Religiösen, das sich gerade in Weltstädten in der zunehmenden sozialen, kulturellen und politischen Durchdringung des städtischen Alltags durch neue Religionsgemeinschaften manifestiert, als eine Art urbane Kulturrevolution verstehen? Betrachtet man hierzu den Stand der Forschung, fällt auf, dass zwar – vor allem in der Kulturanthropologie und der Sozialgeographie – einige Studien die Zusammenhänge zwischen neuen religiösen Bewegungen und dem städtischen Alltag untersuchen. Diese verbleiben aber meist auf der lokalen Ebene einzelner Stadtteile oder beschränken sich auf die Analyse einzelner Fragen. Zudem liegen in den transnational studies Sammelbände zur Rückkehr des Religiösen oder zu Charakter und globaler Ausbreitung religiöser Bewegungen vor – darunter aber keine, die deren Rolle für das Städtische untersucht. Vor allem fehlen vergleichende Studien auf globaler Ebene, welche systematisch die Ähnlichkeiten und Differenzen der Strukturen, Praktiken und Bedeutungen dieser global beobachtbaren wie lokal diversen Transformation des Religiösen in den Städten untersuchen. Diese Lücken versucht nun das von metroZones entwickelte, vor wenigen Monaten gestartete Forschungs- und Kulturprojekt Global Prayers – Erlösung und Befreiung in der Stadt (vgl. Anmerkung 1) zu bearbeiten. Religiöser Boom und städtische Armut Erste Recherchen offenbarten uns schnell den problematischen Charakter der oben angeführten Thesen von Mike Davis. Seine ebenso plastische wie pauschale Zuspitzung öffnet zwar die Augen für einen globalen Entwicklungstrend, vereinfacht diesen aber unzulässig und auf eine problematische Weise. Die Vogelperspektive, aus der er argumentiert, verleitet ihn generell dazu, das weltweit konstatierte Wachstum von Armutsvierteln als urbane Apokalypse zu pauschalisieren. Indem sie Ambivalenzen, lokale Eigenarten sowie die Blickwinkel und Handlungen der Bewohner außer Acht lässt, spielt diese Argumentation einem historisch vorherrschenden Diskurs in die Hände, der Bewohner so genannter Slums als marginale und tendenziell kriminelle Massen stigmatisiert (vgl. Pithouse 2007). Daraus erklärt sich auch Davis’ Annahme, wonach für den städtischen Boom des Religiösen zuvorderst veränderte Weltbilder urbaner Armutsbevölkerungen verantwortlich seien. Die neue Bedeutung des Religiösen erscheint so als Bestandteil einer »Kultur der Armut«, die sich vermeintlich dadurch erklären lässt, so bringt es Asef Bayat (2007, S. 579) auf den Punkt, dass »Armut und prekäres Leben zusammen mit Anomie und Gesetzlosigkeit die Entrechteten dazu bringen, bereitwillig Ideologien und Bewegungen anzunehmen, die Erlösungs- und Unterstützungsgemeinschaften anbieten und dabei politische Radikalität predigen«. Das Verhältnis zwischen Armut und religiösem Boom scheint weitaus komplexer und ambivalenter zu sein, als es diese vermeintliche Kausalität vermuten lässt. Zwar zählen urbane Religionsgemeinschaften heute in vielen Metropolen zu den wichtigsten Akteuren in der Organisierung städtischer Armer – oft übernehmen sie originär staatliche Funktionen, wenn sie in Armutsvierteln Bildung, Rechtsprechung, Wohnungsbau, ja sogar Sicherheit organisieren. Wie Studien von Bayat (2007) oder Eckert (2003) zeigen, gründet dies aber nicht primär in einer religiös-ideologischen Radikalisierung der Armen. Vielmehr entstammen zentrale Akteure etwa bei islamistischen oder hindu-nationalistischen Bewegungen den gebildeten Mittelklassen. In ihren Missionierungs- oder Mobilisierungsbestrebungen machen diese sich die Ignoranz korrupter Staatsapparate für die Bedürfnisse städtischer Armer zunutze: Da es sich die Armen gar nicht leisten könnten, ideologisch zu sein, so argumentiert Bayat, bänden sie sich an solche Gruppierungen, die willens und in der Lage seien,
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sie effektiv in ihren Alltagsbedürfnissen zu unterstützen – und dies seien in Städten des Ostens in den vergangenen Jahrzehnten eben primär radikale religiöse Bewegungen gewesen. Auf der anderen Seite lässt sich ein Boom urbaner Religionsgemeinschaften ebenso innerhalb der Mittelklassen oder gar der Eliten identifizieren: In Istanbul werden beispielsweise in den letzten Jahren zunehmend elitäre Gated Communities für ein post-islamistisch orientiertes urbanes Milieu errichtet (siehe dazu auch den Artikel von Orhan Esen, S. 169); in Rio de Janeiro wenden sich zahlreiche urbane Professionelle afro-synkretistischen Religionspraxen zu; in Lagos boomen insbesondere jene Neo-Pfingstkirchen, deren Prosperity-Gospel, d. h. das Versprechen, wonach die Treue zu Jesus und der jeweiligen Kirche bereits im Diesseits durch materiellen Wohlstand und sozialen Aufstieg vergolten wird, die gebildeten und aufstiegsorientierten urbanen Milieus anspricht.
Die Igreja Batista Calvario in Pedra Branca, Brasilien © Robert Hruzek
Zum Verhältnis zwischen dem Religiösen und dem Politischen Auch die These, wonach religiöse Akteure säkulare politische Bewegungen in den Städten schlicht abgelöst hätten, erweist sich als wenig hilfreiche Simplifizierung. Auch hier gilt, dass das Verhältnis zwischen dem Politischen und dem Religiösen deutlich komplizierter ist, als es diese Ablösungsthese nahelegt. Zum einen lässt sich fragen, ob politische und religiöse Konzepte von Befreiung und Erlösung – Stichwort marxistische Befreiungskirchen in lateinamerikanischen Metropolen oder auch »kommunistische Heilsversprechen« (Anne Huffschmid) – nicht häufig ebenso eng an religiöse Logiken gekoppelt waren. Zum anderen muss der tendenzielle Niedergang säkularer urbaner Bewegungen nicht zwangsläufig auch den Verfall emanzipativer politischer Kräfte in den Städten bedeuten. Denn die religiösen oder religiös-politischen Organisationen scheinen oft einem anderen – postkolonial inspirierten und sich gegen westliche Vorstellungen von Modernisierung richtenden – Verständnis von Emanzipation zu folgen. Grundsätzlich fällt am Ursprung des urbanen Booms sowohl der Pfingstkirchen als auch der islamistischen Bewegungen eine ähnliche, fundamental politische Motivation, sie zu begründen oder sich ihnen anzuschließen, auf (vgl. Marshall 2009): Es ist das Streben nach Gerechtigkeit, nach einem dritten Weg jenseits des Kapitalismus oder Kommunismus, oder – im Falle von Diaspora-Gemeinschaften – nach einem durch Hybridität charakterisierten »dritten Raum« (Homi Bhaba) jenseits von marginalem Minderheitsstatus und mehrheitsgesellschaftlicher Assimilation (vgl. Schiffauer 2010). Dies bezieht sich auf die jeweiligen nationalen Gesellschaften – und hier den Kampf für soziale und staatsbürgerliche Rechte oder gegen korrupte und autoritäre Eliten – ebenso wie, von einem postkolonialistischen Standpunkt aus, auf die globalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse – d. h. den Kampf gegen globale Strukturen der Ausbeutung oder des kulturellen Imperialismus und damit der Diskriminierung anderer Werte: Die Vorstellung von einem vollständig pfingstkirchlich missionierten Lagos ist so die Vorstellung von einer gerechten, gut regierten und geordneten Stadt, die im Widerspruch zur empfundenen Ungerechtigkeit, Unsicherheit und Gottlosigkeit des vermeintlichen urbanen Chaos steht (vgl. Ukah 2010). Eine solche Gerechtigkeit würde sich im Sinne der religiösen Gemeinschaften allerdings in der absoluten Wahrheit einer göttlichen Ordnung manifestieren und damit andere Wahrheitsansprüche prinzipiell delegitimieren. Das zentrale Problem herkömmlicher, gerade marxistisch inspirierter Studien zum Verhältnis zwischen dem Politischen und neuen Formen des Religiösen scheint darin zu liegen, dass sie religiöse auf bloß soziale Bewegungen reduzieren und mit dieser funktionalistischen Perspektive die politische Bedeutung des Religiösen an sich aus dem Auge verlieren. Ein Forschungsansatz, der einen analytischen Reduktionismus zu vermeiden sucht, in dem sich der herrschende Diskurs manifestiert, wonach Modernität per se durch Vernunft gespeist wird und sich Vernunft und Glauben konträr gegenüberstehen, muss religiösen Glauben ernst nehmen. Notwendig ist ein Versuch, so fordert Marshall (2009, S. 3) zu Recht, »einen analytischen Raum freizumachen«, innerhalb dessen es gelingen könnte, religiöse Praktiken und Lebensweisen zu verstehen, welche mit jenem »säkularen Vokabular«, das der sozialwissenschaftlichen Wissensproduktion zugrundeliegt, nicht erfassbar sind. Die primäre Aufgabe bestünde darin, »die Binnenperspektive der Handelnden und die Erfahrungen, die ihr zugrunde liegen, zu rekonstruieren« (Schiffauer 2010, S. 27), das heißt – konträr zu Mike Davis – die
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Religionsgemeinschaften, und zwar ihre Programmatik ebenso wie ihr Handeln, zunächst aus sich heraus zu verstehen um es dann kritisch reflektieren zu können. Auf der Grundlage des Gouvernementalitätskonzepts von Michel Foucault erscheint es möglich, religiöse Gemeinschaften und ihr raumbezogenes Handeln in den Städten auf eine solche Weise zu analysieren. Versteht man Regieren mit Foucault zum einen als »Gesamtheit von Prozeduren, Techniken und Methoden, welche die Lenkung von Menschen untereinander gewährleisten« (Foucault, zit. in Lemke u. a. 2000, S. 10), zum anderen als »Kontaktpunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist« (ebd., S. 29), dann unterdrückt Regierung nicht Subjektivität, sondern fördert Selbsttechnologien, die an Regierungsziele angedockt werden können. Die Religionsgemeinschaften sind aus dieser Perspektive zunächst als Programmatiken der Konversion und Erlösung sowie als Regierungstechnologien zu verstehen, um diese kollektiv umzusetzen und in den Individuen zu verankern (vgl. Marshall 2009). Dabei bieten sie zum einen religiöse Rituale an – in denen beispielsweise Individuen »neu geboren« werden und in einem fortwährenden »spirituellen Krieg« das Böse bekämpfen – und zum anderen präzise Verhaltensregeln, mit deren Hilfe sich die individuellen Gläubigen tagtäglich selbst regieren sollen. In dieser Verschränkung aus Selbst- und Fremdregieren durchlaufen die Gläubigen einen Subjektivierungsprozess, der sie als neue Menschen schaffen und sie aus einem sozialen Kontext, der als buchstäblich teuflisches urbanes Chaos wahrgenommen wird, in einen göttlich geordneten Raum – gleichsam eine Stadt Gottes – hinausheben soll: Raum ist dabei durchaus, in einem Lefebvre’schen Sinne, als auch geographischer Raum zu verstehen. Um sowohl das Konzept des Regierens als auch das Agieren der – in diesem Fall – pfingstkirchlichen Gemeinden im städtischen Raum beispielhaft zu diskutieren, möchte ich im Folgenden auf meine aktuellen Untersuchungen in Rio de Janeiro zurückgreifen. Dies kann lediglich in Form einer vorläufigen Skizze erfolgen, da die teilnehmenden Beobachtungen und Interviews, die ich über vier Monate hinweg in zwei Favelas durchgeführt habe, erst seit kurzem abgeschlossen und noch nicht ausgewertet sind.
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2 Unter Drogenkomplex verstehe ich hier eine gewaltsame und illegale Konstellation des Regierens der Favela, die im Wesentlichen kartellähnliche »Drogenkommandos« und deren lokale Gangs, in die Drogenökonomie involvierte mörderische Polizeieinheiten, illegale Milizen, korrupte staatliche Institutionen, Kunden, indirekt involvierte sowie davon betroffene Bewohner umfasst.
Drogen und Gott in den Favelas In Rio de Janeiro ist der anhaltende Boom der Pfingstkirchen, der seit den 1980er Jahren primär in den Favelas, also den ursprünglich irregulären, bis heute stigmatisierten Siedlungen zu beobachten ist, direkt gekoppelt an den gleichzeitigen Aufstieg des Drogenkomplexes zu einem Gewaltregime, das die allermeisten Favelas beherrscht (vgl. Lanz 2007).2 Zum einen ist die Attraktion der Pfingstkirchen im Kontext der existentiellen Unsicherheit zu sehen, der die Bewohner im Rahmen des Drogenkomplexes ausgeliefert sind: Vor allem Frauen konvertieren häufig nach einem gewaltsamen Verlust ihrer Söhne oder Ehemänner oder nach deren Einstieg in den Drogenkomplex, um für ihre Leben oder Seelen wenigstens beten zu können. Zugleich sind Pfingstkirchen oft die einzigen Akteure, die in tragischen oder prekären Lebenssituationen – gerade auch im Gefängnis – seelischen und sozialen Beistand leisten. Oft scheint ihr Erfolg davon abzuhängen, dass sie es schaffen, Drogenhändler und Süchtige aus dem Drogenkomplex »herauszuholen« und sie zu bekehren. Zugleich werden sehr viele Kirchen von ehemaligen Süchtigen oder Gangstern gegründet, die, so ihre Deutung, in ihrer schlimmsten Lebensphase Jesus gefunden haben und nun in seinem Auftrag handeln. Oftmals, so eine Interviewpartnerin, »retten sie ihre Ärsche, indem sie konvertieren«. Tatsächlich erscheint diese »Wiedergeburt« in vielen Fällen als einzige verfügbare Option, um aus dem Zirkel von Gewalt und Todesgefahr ausbrechen zu können. Im Zuge ihrer wachsenden Bedeutung haben die religiösen Gemeinschaften eine prägende Wirkung auf den materiellen, sozialen und symbolischen Raum der Favela. Aus der Perspektive der Pfingstkirchen stellt die gewaltsam beherrschte Favela das paradigmatische Schlachtfeld im spirituellen Krieg zwischen Gott und Teufel, Krieg und Frieden dar. Die Kirchen, die dieses Bild über ihre Medien – zu denen der zweitgrößte nationale Fernsehsender gehört – verbreiten, sind so wesentlich mitverantwortlich für den vorherrschenden öffentlichen Diskurs, der die Favela als quasi-natürlichen Raum von Chaos und Gewalt stigmatisiert (vgl. Birman 2010). Die Kirchen versuchen nun alles, um die vermeintlich vom Teufel beherrschte Favela in einen Raum zu transformieren, der Gottes Gesetzen gehorcht. Sie veranstalten in den Straßen Gottesdienste und »Kreuzzüge«, um zu missionieren; sie »erobern« temporär Drogenverkaufsstellen, indem sie dort beten und daher für Dealer als unantastbar gelten. Sie haben afro-synkretistische religiöse Stätten und Praktiken oft gewaltsam aus den Favelas vertrieben, da sie ihnen als teuflische Erscheinungen gelten; sie wandeln Wohnungen, Kneipen oder Läden zu Kirchen um, beschallen die öffentlichen Räume mit »heiliger« Musik und
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eignen sie sich symbolisch durch Wandgemälde oder Poster an. Neben solchen räumlichen Aneignungsformen greifen die Kirchen auch durch ihre Beteiligung an lokalen Governance-Strukturen in das Regieren der Favela ein. Als faith based organizations bieten die größeren unter ihnen soziale, kulturelle oder erzieherische Infrastrukturen und Aktivitäten an und übernehmen so Funktionen, die der Staat vernachlässigt. Im Verhältnis zu ihren Gläubigen stellen die Kirchen klare Regeln des Verhaltens auf. Sie geben Anweisungen, bezogen auf ihr Familienleben, ihre Geschlechterrolle, ihre sexuelle Orientierung, ihr Konsumverhalten oder ihre kulturellen Aktivitäten. Auf diese Weise gerät jede individuelle Konversion zu einer Pfingstgemeinde zuallererst zu einer Frage des Regierens seiner selbst. Das Ereignis der Konversion – die »Wiedergeburt« – stellt meist einen völligen Bruch mit dem bisherigen Lebensstil und eine extreme Anstrengung dar, eine neue persönliche Identität zu kreieren. Sehr oft ist dies nicht unmittelbar erfolgreich, sondern erzeugt einen andauernden Kampf mit sich selbst und seinem sozialen Umfeld. Viele Konvertierte verlassen eine Gemeinde wieder oder wechseln zu einer anderen. Nicht selten steigen sie nur aus, um den Karneval mitfeiern zu können, und kommen danach zurück. Auf der anderen Seite können viele der lokalen Kirchen als Mini-Unternehmen ihrer Pastoren verstanden werden, die eine Kirche nicht selten mit der klassischen Motivation eines Entrepreneurs gründen. In der Favela ist es einfach, eine Kirche zu gründen: Man kann einen Raum mieten, einen Altar konstruieren, weiße Plastikstühle platzieren, einen Namen für die Kirche erfinden und ihn über die Tür pinseln. Notfalls sind selbst die Papiere, die jemanden als Pastor ausweisen, auf dem Schwarzmarkt zu kaufen. Hier offenbart sich, dass das pfingstkirchliche Programm wie jedes Regierungsprogramm zwar in seiner Gesamtheit letztlich scheitert und im Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdregieren immer wieder neu justiert werden muss, gleichwohl aber starke Wirkungen auf die Subjekte und die Gesellschaft entfaltet: Zum einen spiegeln die faktischen, von ihrem Programm weit abweichenden Regierungsmuster der Pfingstkirchen den historisch gewachsenen Charakter der Favela als spezifischen städtischen Raum wider – hier etwa in Hinblick auf die Informalität, die individuelle Kreativität und die Prekarität der selbstorganisierten Regulation der Favela. Auf der anderen Seite begannen sich in den großstädtischen Favelas die Pfingstkirchen, die der Programmatik einer globalen Gemeinschaft folgen, erst durchzusetzen, als sie sich an lokale soziale Praktiken akkulturalisierten – etwa durch das Aufweichen allzu konservativer Kleiderordnungen oder durch das Dulden temporärer »Sündenphasen«, das dem Konzept der Konversion als radikaler Wiedergeburt diametral widerspricht.
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Stephan Lanz lehrt und forscht an der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) zu Stadtpolitik, städtischen Bewegungen, sozialräumlichen Stadtentwicklungsprozessen und urbanen Kulturen in Metropolen wie Berlin, Rio de Janeiro und Istanbul. Er ist wissenschaftlicher Koordinator des Forschungs- und Kulturprojekts »Global Prayers: Erlösung und Befreiung in den Metropolen der Welt« (metroZones, Viadrina, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, seit 2009). Er ist Gründungsmitglied von metroZones. Lanz publizierte u.a. die Bücher »Berlin aufgemischt: abendländisch – multikulturell – kosmopolitisch?« (2007), »Self Service City: Istanbul« (Hg., mit O. Esen, 2005) oder »Die Stadt als Beute« (mit K. Ronneberger/W. Jahn, 1999).
Pfingstkirche »Templo do Espirito Santo« in der Favela Mandela de Pedra, Rio de Janeiro; © Stephan Lanz
Innenraum
Global Prayers: Ein transdisziplinäres Forschungs- und Kulturprojekt Diese skizzenhaften Ausführungen zu Rio de Janeiro konnten einige der erwähnten Fragestellungen lediglich oberflächlich behandeln. Andere Fragen, gerade sofern sie die transnationale Dimension der Kirchen und Bewegungen betreffen, bleiben völlig offen. Um auf einer globalen Ebene das Verhältnis zwischen dem Städtischen und dem Religiösen sowie zwischen Erlösung (dem Religiösen) und Befreiung (dem Politischen) vergleichend zu erforschen, werden im Rahmen von Global Prayers acht wissenschaftliche und weitere künstlerische Fallstudien in Rio de Janeiro, Jakarta, Mumbai, Lagos, Beirut, Istanbul, London und Berlin sowie auf den transnationalen Routen zwischen diesen Städten gleichsam Tiefenbohrungen durchführen. Dabei geht es aus unterschiedlichen analytischen Perspektiven im Kern um folgende Fragestellungen: nach den Bedeutungen und Wirkungsweisen der Kirche »Missões Ministeriais: Portas abertas« des Religiösen an sich innerhalb der neuen Religionsbewegungen in der Favela Mandela, Rio de Janeiro und ihrem Agieren im urbanen Raum; nach der Existenz und dem © Stephan Lanz Wesen globaler Muster im Vergleich der auf den ersten Blick so unterschiedlichen Bewegungen; nach dem Verhältnis zwischen globalen Zugehörigkeiten, nationalen Programmatiken und lokalen Ausprägungen, also nach der Art und Weise, wie verschiedene räumliche scales in Struktur und Wirken der Gemeinden ineinander verschachtelt sind; und generell nach den jeweiligen Konstellationen des Regierens im oben ausgeführten Sinne. Methodisch soll das Projekt neue Wege gehen und dafür disziplinäre Grenzen überschreiten – und dies nicht nur innerhalb der Wissenschaften. Vielmehr sollen in einer engen Kooperation zwischen Wissenschaftlern und Künstlern neben ethnographischen und geographischen Arbeitsweisen auch künstlerische Forschungsmethoden und Produktionsweisen sowie kulturelle Präsentations- und Diskussionsformate das Wissen von Global Prayers generieren. Auf diese Weise hoffen wir, die erwähnten Beschränkungen der bisherigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen wenigstens an einigen Stellen durchbrechen zu können.
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Schiffauer, Werner (2010): Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs ¸. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Tugal, Cihan (2005): Die Anderen der herrschenden Stadt. Die Neugründung der Stadt durch Informalität und Islamismus. In: Orhan Esen/Stephan Lanz (Hg.): Self Service City: Istanbul. Berlin: b_books, metroZones 4 , S. 327 — 342 Ukah, Asonzeh (2010): Die Welt erobern, um das Himmelreich zu errichten. Pfingstler, Prayer Camps und Entwicklung in Nigeria. In: Britta Grell/ Stephan Lanz (Hg.): Urban Prayers — Die Renaissance religiöser Bewegungen in den Metropolen. Berlin: b_books, metroZones 10 (im Druck)
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