third issue / summer 2006
EBBE USER FAX‘R
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third issue
words from the editors Tja, da hatte man gerade endlich das Vorwort zu dieser Ausgabe des Graffiti-Magazine geschrieben, sich zufrieden im Bürodrehstuhl zurückgelehnt und die Hände in den Nacken gelegt, da muss man schon wieder von vorne anfangen. Der Grund dafür liegt in der Brain Damage 13 vom November 2005. Wir haben ein bisschen spät wahrgenommen, dass sich dieses Heft dem gleichen Thema wie wir in diesem GM gewidmet hat. Wir wollen das nicht unerwähnt lassen. Bei ihnen unter „Evolution“, bei uns unter „Veränderung“ betrachten beide Magazine die hinter uns liegende Zeit und die dazugehörigen Entwicklungen im Graffiti-Writing. Wir bleiben dabei näher am Thema. Nichtsdestotrotz ist hier die Nr. 3 des GM. War zeitlich eine sehr knappe Aktion und enorm viel Stress. Beinahe hätten wir unser Erscheinungsdatum nicht einhalten können. Stressig waren gerade die Beschaffung der Photos. Wegen dieser speziellen Ausgabe musste eine Menge Leute angesprochen werden. Deren Photos kamen manchmal weit, die meisten aber sehr knapp vor Einsendeschluß. Manche kamen auch gar nicht, also griffen wir auf Alternativen zurück. Sehr froh sind wir über die Texte unserer Gastautoren. Davon hätten wir gerne mehr. Seht das als Aufforderung. Genug der Worte. Auf den kommenden Seiten gibt es sowieso ausreichend davon. To our english readers: one after another the english versions of the articles in this issue will be published on the internet.
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Veränderung / Stagnation Fortschritt / Rückschritt
Text_P.Michalski
Diese Ausgabe des Graffiti Magazine ist anders. Die ersten beiden Hefte folgten der magazintypischen Aufteilung von Pieces auf Zügen und Wänden, hatten die üblichen Tag- und Throw-up-Seiten und auch die obligatorischen Interviews. Dazu gab es noch ein paar Leckerlis. Zwar gibt es auch in dieser Ausgabe noch die Anklänge an ein branchenübliches Sprühvandalismus-Fanzine, doch ist es anders, da es sich einer einzigen Aufgabe widmet. Es folgt der Idee, ein einzelnes Themengebiet des Graffiti zu erörtern. Dieses Themengebiet läßt sich im Kern mit dem Begriff Veränderung und erweitert mit den Wörtern Rückschritt, Stagnation und Fortschritt beschreiben. Konkrete Auslöser für diese spezielle Ausgabe sind die unzähligen Diskussionen über Style, die jeder der Herausgeber des GM miterlebt hat. Ob nun selbst geführt oder nur mitangehört, es gab nie ein für alle Beteiligten befriedigendes Ergebnis. Wer nun 1_Backspin
Nr.17, Hamburg, 1999.
warum seinen Style aus welchen Gründen auch immer nicht, nur langsam oder sehr schnell verändert, oder auch vieles weitere den persönlichen Graffitistil betreffende, wird anderen Writern vielleicht immer ein Rätsel bleiben. Auch wir werden dieses hier nicht lösen. Können wir auch gar nicht. Doch regten diese Gesprächsrunden uns an, über den dominanten Begriff Style hinauszudenken und zu schauen, was sich denn noch so alles im Graffiti-Writing der letzten Jahre verändert hat? Wir sind uns bewusst, dass sich der eine oder andere Artikel in diesem Heft an bereits in anderen Graffitimags erschienenen Gedanken überschneidet. Dies zeigt die Bedeutung des Themas auf. Der wichtigste Vorläufer für dieses Themengebiet ist der von Loomit verfasste Artikel „Die fetten Jahre-5 Jahre im Zeichen des Hip Hop“.1 Loomit schildert dort seine Sicht der damals jüngeren Hip-Hop-Vergangenheit mit dem Schwerpunkt Writing in Deutschland.
Die in der Einleitung erwähnte Ausgabe der „Brain Damage“ war für uns keine Inspiration. Sie hält sich nicht eng am Thema. Wir treten hier nicht an, die seit Loomits Artikel klaffende zeitliche Lücke zu schließen, sondern gehen eigene Wege. Dabei ist uns, den Herausgebern des GM, klar, dass wir hier keine seit Urzeiten geltenden und für immer und ewig währenden Wahrheiten schriftlich festhalten. Etwas, was so persönlichkeits-, gruppen-, lokal- und zeitabhängig ist wie das Sprühen von Pieces, Throw-ups und Tags, kann sehr wahrscheinlich nicht allgemeingültig festgehalten werden. Graffiti-Writing ist in vielen seiner Aspekte stetig in Bewegung und auch wir fangen nur einen Moment der Geschichte ein, betrachtet von einer möglichst objektiven und neutralen Warte aus. Während es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich ist, den Begriff Graffiti-Writing in eine allseits befriedigende Definiton zu bringen, ist es ein leichtes, Veränderung als ein dazugehörendes Element zu lokalisieren. Veränderung meint in dieser Ausgabe des GM auf der simpelsten Ebene z.B. die Umgestaltung einer Wand durch ein buntes Bild oder einen schönen Tag. Es kann aber auch weit über diese Beispiele hinausgehen, wenn sich ein praktizierender Vandale durch seine Sucht oder durch die von ihm gesammelten Eindrücke als Writer in seiner Persönlichkeit entwickelt. Auf einer höheren Ebene beschäftigt sich unser Themenbereich mit der veränderte Darstellung von Graffiti in den GRAFFITI MAGAZINE_5
Medien und der sich wandelnden Akzeptanz desselben in der Bevölkerung. Dabei darf unser Themengebiet in seiner Ausprägung als Fortschritt nicht überbewertet werden. Das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts, und nicht nur diese Jahre, zeigen überdeutlich, dass der Fortschrittsglaube vieler Menschen überdacht werden muß. Umweltverschmutzung, Waffen- und Überwachungstechnologie, Teile der Globalisierung und vieles andere zeigten deutlich, dass Fortschritt nicht immer Segen bringt. Dies ist im Graffiti-Writing und dem damit zusammenhängenden Wirtschaftszweig ähnlich. Nicht alles, was uns als technische Innovation zu verkaufen versucht wird, ist auch wirklich neu oder zwingend notwendig. Bei den Styles im Graffiti-Writing ist dies nicht anders. Es ist sehr schwierig(aber möglich!), nach über 30 Jahren des professionellen Sprühvandalistentums noch etwas wirklich Neues und Eigenes zu schaffen, und deshalb sind auch in diesem Bereich alle Neuerungen und Erfindungen kritisch zu hinterfragen. Der Übersichtlichkeit und der Einfachheit der Bearbeitung unseres gestellten Themas wegen wurden die markantesten Unterscheidungen und Neuerungen der letzten Jahre ausgesondert und ihnen eigene Artikel gewidmet. Um das Thema der Veränderung/ Rückschritt/ Fortschritt/ Stagnation nicht zu theoretisch darzustellen, kommen zuerst drei Sprühfreaks zu Worte. Der Writer Ebbe(ab 6_GRAFFITI MAGAZINE
S.8) macht dabei den Anfang. Er kann nicht unbedingt in Old oder New School eingeteilt werden und deshalb war er für ein Interview hinsichtlich unseres Leitmotives besonders interessant. Danach tauschen sich zwei Writer über unser Thema Veränderung im Bezug auf Style aus. Der eine, „User“, gehört zur Dortmunder Old School und schildert seine Sicht der Dinge(ab S.14). Er steht im Dialog mit „Fax‘r“, einem Kölner Künstler der eher jüngeren Generation(ab S.16). Dann lassen wir unter „Die unendliche Stylegeschichte“ die Pieces für sich und ihre Produzenten sprechen(ab S.20). Darauffolgend erzählen einige Wände(ab S.30) ihre Story und der enorm angestiegenen Wichtigkeit der Backjumps(ab S. 37) wird danach Tribut gezollt. Eine der wichtigsten Veränderungen, mit denen sich viele Sprayer früher oder später auseinandersetzen müssen, ist die veränderte juristische Bewertung ihrer Taten. Die letztjährige Gesetzesänderung(ab S.46) und ihre Folgen für die Szene beschreibt Barbara Uduwerella vom Hip Hop Hamburg e.V. Zum Schluß noch einen Blick in die Glaskugel, also in die Zukunft: Der Bericht über die filmische Dokumentation „ArtInConsequence“(ab S.48) widmet sich dem Fortschrittsaspekt des Writings und zeigt somit, was im Graffiti noch möglich ist.
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Ich laufe vor Trends davon Die S-Bahnlinie 11 der Deutschen Bahn AG von Bergisch-Gladbach nach Düsseldorf-Wehrhahn. Bis vor kurzem war es ein regulärer Anblick Pieces von zwei bestimmten Writern nebeneinander auf Waggons der genannten „Essi-Line“ zu sehen. 2-3 mal wöchentlich konnte man mit Panels oder mehr von ihnen rechnen: Ebbe und Oliv. Während letzterer seinen Style langfristig veränderte, war ersterer unberechenbar. In scheinbar willkürlicher Abfolge konnte bei Ebbe innerhalb kürzester Zeit ein Retro- auf einen Bubble- auf einen Ill- und auf einen Blockbusterstyle folgen. Welcher Geist steckt hinter solch überraschenden Schritten? Diese Frage trieb uns und wir vermuteten, dass er zu unserem Themenheft sehr viel beitragen könnte. Wir trafen Ebbe und es stellte sich heraus, dass Veränderung ein extrem wichtiger Bestandteil seines Denkens und Handelns sind. Er beschrieb es uns. Die Anfangsjahre von Ebbes Sprüherkarriere waren die frühen 90er. Gerade dem Anfängerstatus entronnen, folgte er den damals gültigen Regeln des Graffiti-Writings wider-
standslos. Ebbe malte den vorherrschenden RTA- und Shore-Style. Klar und simpel in der Form, sauber in der Ausführung. Rumprobiert wurde nicht. Die Frage nach kindlichem Spieltrieb oder Neugier hinsichtlich seines damaligen Styles verneint er. Er meint auch, dass er wenig von sich selber gemacht hat. Sein eigenes Handeln oder das anderer, mag es nun das Wri ting betreffen oder nicht, zu hinterfragen lag ihm fern. Mit einem sehr ironischem Unterton beschreibt er eine beispielhafte Szene, wo ein Sprühkollege einen, Ebbes Augen nach coolen Zugspot als „heiß“ bezeichnete, weil dort vor einem halben Jahr „mal jemand laufen“ musste. Ebbe hielt sich aus diesem Grunde weg von der Abstellanlage. Heute unvorstellbar. Nach seinen ersten Jahren im Graffiti kam dann der Writer Keats mit seinen illmäßigen Bildern. Der „malte derbe freakig“ und Ebbe fand eine neue Richtung für seine Malerei. Ohne das neue Vorbild zu kopieren wurde ihm nachgeifert. Ebbe begann viel auszuprobieren, aber in Rückschau meint er, dass er trotzdem nicht wirklich weiterkam, außer das sein Style „eigener“ wurde. „Eigener“ wurden seine Buchstaben auch dadurch, daß er bei ihnen alle früher so ver-
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folgten Qualitäten abschaffte. Sauber und deckend malen, all das war nicht mehr. Ebbe sprühte wilde, möglichst verrückte Buchstaben. Harmonische Balken bei seinen Bildern entwickelten sich zu unharmonischen. Dies ging parallel zu seinem Dasein. Er wurde in seiner Persönlichkeit mehr er selbst und wie in seinen Bildern verwarf Ebbe auch in seinem Leben alle Strukturen. Bildung und Schule oder Arbeit wurden stark vernachlässigt, denn das war alles unwichtig. Er ließ sich gehen, hing lieber rum und sprühte. Irgendwann kam dann der Punkt, wo er sich von der allgemeinen Stylentwicklung überholt fühlte, aber nicht nur von dieser. Wie bereits erwähnt, Leben und Style gingen bei Ebbe überein. In ihm entwickelte sich das Verlangen nach einem „Cut“, nach einem trennenden Schnitt von seiner bisherigen Existenz, nach einem Druck auf die Stoptaste. Er wollte nicht nur mit seiner Malerei neu anfangen, sondern sein Leben von seiner Vergangenheit trennen, seine Sachen packen und an anderer Stelle jungfräulich beginnen. Ebbe bewegte sich aus seiner gewohnten Umgebung heraus und tat, was er in diesem Moment für richtig hielt. GRAFFITI MAGAZINE_9
Ebbe startete woanders von vorn, lebens- und writingmäßig. Seine Kunst führte er wieder ganz an den Beginn seiner Sprüherkarriere zurück, er wurde nochmals ein Toy. Standardcaps und schlechte Sprühdosen bezog er abermals in sein Schaffen mit ein. Qualitätsmalen nach althergebrachter Definition blieb weiterhin nicht sein Ding. Über diesen Umweg des Neubeginns kam Ebbe dann noch einmal zurück zum Style der End80er und anfänglichen 90er Jahre, wieder zum RTA- Style, zurück zu den Ursprüngen. Stile wie der letztgenannte werden heute unter dem Begriff Retrostyle gehandelt. Mit dem Aufgreifen alter, noch nicht vergessener Stile hat Ebbe sein Malrepertoire erweitert und je nach Verlangen wird jetzt in den einzelnen Schubladen gewühlt und das passende rausgesucht. Im Moment ist dies besonders häufig der Retrostyle. Er ist sich bewusst, dass es im Graffiti-Writing insgesamt eine Tendenz zur Rückbesinnung gibt. Sein erklärtes Ziel ist es zwar, nicht dem Trend zu folgen und nicht „wie viele 1000 andere zu malen“, doch ist er sich klar darüber, dass er der einen Modeerscheinung entkommen und ungewollt direkt in der nächsten gelandet ist. Hier seine Kernaussagen zu diesem Thema: „Manche sind Trendsetter. Manche laufen Trends hinterher. Ich laufe vor Trends davon.“ Ein schwieriges Unterfangen. Es ist der Versuch, sich von anderen Writern abzusetzen. Dies tut er auf bestimmte Weise. Den Pieces im alten Style verleiht er immer eine eigene, spezielle Note und frischt sie somit ein bisschen auf. In den meisten Fällen tut er das über die Farbwahl, da „die Endungen der einzelnen Balken zu begrenzt sind“ und damit in der Formgebung einfach nicht viel Spielraum zur Eigengestaltung bleibt. Er zieht es lieber vor nur wenige Farben zu kombi-
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nieren. Dies steht im Gegensatz zu den originalen Pieces aus der damaligen Zeit, die zumeist farbig wilder waren. Die Retrostyles funktionieren bei Ebbe aber nicht nur als gemalte Bilder. Sie sind auch eine Hommage an damals als diese Stile „das Nonplusultra waren.“ Es ist ein Festhalten an der „guten alten Zeit“ und immer wieder eine kleine Zeitreise. In Ebbes Augen ist die Benutzung eines bestimmten alten Stils auch kein Biten. Er legt Wert darauf, nicht direkt das geistige Eigentum eines anderen Sprühers zu benutzen, sondern eher die Art und Weise und sieht das als Huldigung des Originals. Aber benutzt wird nicht nur Retrostyle. Die Auswahl ist sehr groß. Ebbe meint, er ist „über die Jahre wieder ins Ausprobieren gekommen“ und das, weil einige Sachen „nur kurzweilig flashen“. Er versucht anders zu sein als andere Sprüher und will immer wieder Neues schaffen. Langeweile wird durch unterschiedliche Bilder vermieden. Er liebt es Leuten aus der Writing-Szene durch den schnellen Wechsel zwischen den verschiedenen Spielarten des Style und insbesondere durch unerwartetes technisches Können vor den Kopf zu stoßen. Ebbe befindet sich in einem ständigem Wandel und sieht selbst „keinen stringenten Faden“ in seinem Gesamtwerk, welches vielleicht ja der stringente Faden ist. Absichtlich dasselbe malt er nur für den „Flash“ des hier beispielhaft genannten unterschiedlichen Hintergrundes. Bei all den scheinbar willkürlichen Wegen durch die verschiedenen Stile hat Ebbe festgestellt, dass die konsequente Ablehnung aller Regeln im Graffiti-Writing nicht zwangsläufig glücklich macht. Er ist mittlerweile der Meinung, dass „manche Gesetzmäßigkeit einfach gut ist.“ Er nennt das Beispiel Farbenlehre. Heutzutage macht er sich gerne
Gedanken über Farben im krassen Gegensatz zu seiner Zeit vor dem „Cut“. Damals ging die willkürliche Auswahl soweit, dass er sich in einem schlecht sortierten Dosenladen die wildesten Farbkombinationen hat andrehen lassen, nur nach dem Kriterium, dass „die bestdeckenste Farbe für die Outline vorgesehen war.“ Beim Malen vor Ort wurde dann einfach wahllos in den Beutel gegriffen, die erstbeste Sprühdose herausgenommen und losgelegt. Seine heutige Herangehensweise an ein Piece beschreibt er als deutlich unterschiedlich zu früher. Es ist ein langfristiger Prozess geworden. Erst brütet Ebbe ausgiebig herum bis sich irgendwelche Gedanken zu einem Sketch verfestigen. Er denkt dabei meistens an bereits gesehene Sachen und zeichnet diese auf. Insgesamt gesehen meint Ebbe, er wäre „niemand, der 1000 Sketche macht und derbe viel verschiedene Sachen aus dem Ärmel schüttelt.“ Die beim unserem Gespräch vor uns liegende Auswahl Photos seiner Pieces stellen diese Aussage als Understatement bloß. Mit seinen Bildern versucht Ebbe etwas auszusagen. Als Hauptintention seiner Malerei versteht er „sich selber zu malen und „Seele zu zeigen.“ Die „Liebe zum Graff“ soll sichtbar werden, genauso wie er versucht durch Styles aufzufallen. Ebbe sagt ansonsten über sich, dass er keine Ausnahme wäre. Er sieht, dass er sich zwischendurch im Writing hat gehen lassen und nun wieder zur Ruhe gekommen ist. Seine heutige Beziehung zum Sprühen beschreibt er als „wie am Anfang.“ Heute rennt er aber nicht mehr blind hinterher.
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Blade is back Es war in Wiesbaden, irgendwann in den 90ern. Ein Jam mit vielen Writern, legalen Flächen und unter Anderen war Blade aus New York gekommen, zwanzig Jahre älter als die deutsche Old School. Nur zehn Minuten nachdem er sein Piece fertig hatte, ist ein fünfzehnjähriger Writer drüber gegangen, „weil das Piece total scheiße aussah“. Für ihn war es ein Toypiece, Blades Style von 1980 kannte er gar nicht.
Zehn Jahre später finde ich in Berlin Pieces, die mindestens genauso schlecht sind, wenn nicht noch schlechter. Sie erinnern mich eher an meine ersten Sprühversuche in den 80ern. Ohne jede Erfahrung, ohne irgendeinen Schwung, ohne Spannung, ohne alles, was man in zwanzig Jahren Graffiti in Deutschland durchgemacht hat. Wie kann heute in Zeiten von Internet, Magazinen, HipHopStores und Graffiti-Workshops überhaupt jemand so schlechte Bilder malen? Ist er erst neun Jahre alt oder war es eine besoffene Aktion nach einer Party? Nein. Es war einer der angesagtesten Stylekings. Wie bitte? Obwohl ich schon lange keine Pieces mehr gemacht habe bin ich immer noch absoluter 14_GRAFFITI MAGAZINE
Fan, verfolge wer was macht und freue mich über neue Talente und bekannte Namen, bemerke Entwicklungen. Zu unserer Zeit gab es langsamere Veränderungen, meistens wenn sich Writer aus anderen Städten getroffen haben und verschiede Stile gesehen und verarbeitet wurden. Städte hatten ihren eigenen Stil, in München konnte keiner taggen, in Amsterdam alle, sogar jeder Sechsjährige. Schon der Umzug eines Writers konnte den Stil einer ganzen Stadt verändern. Mit den Magazinen und später auch dem Internet hat sich vieles schneller verändert und heute gibt es in jeder Stadt jeden Stil. Auch den angeblich neuen Ill-Style. Allerdings haben die Skandinavier bereits Anfang der 90er für uns Mitteleuropäer seltsame Pieces gemalt, Ill-Styles, die die auf Ausgleich bedachte Grundordnung aller unserer Stile ignorierten. Gibt es inzwischen überall, auch hier und auch richtig gute. Eine positive neue Stilentwicklung. Aber wer kommt auf die Idee, Blade, PNut, Fuzz und andere Großväter aus der Mottenkiste zu holen oder Pieces zu malen, wie Hintergrundgraffiti in TV-Shows von Bühnenbildmalern, die noch nie ein Piece gesehen haben? Je schlechter, desto besser? Ein aktiver Writer hat mir dazu gesagt, er
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fände diese Pieces gut, er könne alle anderen Pieces, alle Styles, nicht mehr sehen. Aber was sagt er damit? Ist die Entwicklung im Graffitiwriting am Ende? Es kann nichts Neues mehr kommen, also zurück in die Zukunft? In fast allen Bereichen der Kultur gibt es schon länger eine Retrobewegung, sei es in der Musik, Mode oder im Film. Alte Erfolge werden heraus geholt, neu verpackt und mit einer Mischung aus melancholischer Erinnerung und Zukunftsskepsis gerne angenommen oder direkt zum Kult erklärt, wobei viele der aktuellen Konsumenten von Pilotenbrille bis Klapprad damals gar nicht geboren waren. Vielleicht hat diese Vergangenheitssehnsucht jetzt auch die Writer erwischt und lässt sie glauben, früher war alles besser, weil klarer, einfacher und unkompliziert. Keine filigranen Fill-Ins, keine sauberen Outlines, kein 3D, einfach der Name. Auffallend ist auch, dass die New-OldSchool-Ill-Styles einfach schnell hingeknallt werden. Ohne Leidenschaft, ohne Hingabe. Vorbei die Zeiten, in denen man sich sechs Stunden für ein Piece nimmt, dreißig Dosen für nur eine Wand, eine aufwändige Skizze und genug zu essen und trinken dabei hat. Stattdessen reichen heute anscheinend drei
Dosen und sechs Minuten. Vielleicht liegt es daran, dass heute Writer in der Regel ihre Dosen kaufen und dafür die Kohle fehlt. Deshalb müssen weniger Dosen reichen. Ein Problem, das früher nicht so bekannt war, weil fast alle ihre Dosen geklaut haben. An einem Tag kamen dann schon mal zweihundert Dosen zusammen, die man großzügig raus hauen konnte. Diese aufwändige Art Pieces zu malen sucht man an den Zuglinien im Land heute oft vergebens. Auch die Backjumps in den Lay-ups verlangen schnelle Pieces und haben schon zu einer Entwicklung zu eher unsauberen, schnellen Pieces geführt. Aber vielleicht hat Writing als Bewegung insgesamt einen Punkt überschritten, an dem es nicht mehr kontinuierlich weiter geht. Das Global Village ist doch kleiner, als man es gedacht hätte. Nichts, was es nicht gibt, alles geht. Mehrere tausend Writer auf der ganzen Welt tauschen sich aus, jeder findet etwas, dass ihm gefällt und kopiert es. Es gibt nicht mehr das Mekka New York, nicht mehr den Styleking, sondern viele, wenn nicht hunderte sehr gute Writer überall, von New York bis Castrop-Rauxel. Ob nun Writing oder Rap, Breakdance oder Skateboarding, überall fragt man sich, was soll da noch kommen? Innovation fehlt überall. Seit der
Technobewegung in den 90ern gibt es keine einzige neue Bewegung mehr. Alles war schon mal da, alles wurde schon gemacht. Ob nun die Street-Art-Welle oder die gerollten Tags, beides gab es schon in den 80ern in New York. Eben genau wie die New-OldSchool-Ill-Styles. Eine Entwicklung findet nicht mehr statt. Stillstand. Gibt es nichts mehr zu entdecken? Wer heute mit dreizehn Writer wird, hat zwar immer noch die Möglichkeit in eine für ihn neue Welt einzutauchen, was den großen Reiz am Writing ausmacht. Aber egal wohin er auch kommt, es waren schon etliche da. Sind die Ill-Styles also vielleicht so etwas, wie das letzte Aufbäumen gegen den Stillstand? Verbergen sich hinter den schlechtesten Pieces der Stadt doch gerade die, die den Stillstand nicht hinnehmen, nicht ertragen können, und um jeden Preis etwas anderes machen wollen? Und fällt ihnen nur ein, besonders weit nach hinten zu schauen und sich in einen Wettkampf um das schlechteste Bild zu stürzen? Dabei gibt es noch einen Bereich im Writing, der gerade in Deutschland seit jeher vernachlässigt wurde: Throw-Ups. Alles was man dazu braucht sind nur zwei Dosen und wenig Zeit. Aber, und das ist der Unterschied zu den Ill-Styles, an einem Throw-Up erkannt
man die Klasse eines Writers. Nur wenige haben es zu wirklich guten Throw-Ups gebracht. Und eigentlich sollte man sich den Titel Style-King doch verdienen. Auch durch Leidenschaft und Hingabe.
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Is Blade really back? 2006. Graffiti gibt es jetzt schon eine lange Zeit. Vielleicht kennen viele die Welt gar nicht ohne. Bei manchen geht es sogar so weit, dass sie selbst Graffiti sprühen. Vielleicht sprühen sie legal auf Wänden oder illegal auf Zügen. Der Untergrund hat sich seit Beginn wenig verändert. Warum auch?
aus Schweden oder Italien in einem Magazin oder in einem der vielen Graffiti-Internetforen. Bei so vielen Graffitis wird es schwer zu entscheiden wonach man einen Style bewerten soll. Früher hat man viel Wert auf Sauberkeit gelegt, oder wie nah eine Highlight an der Outline sitzt. Diese Werte scheinen uns einfach inzwischen überholt. Daher galt es ab einem gewissen Punkt für uns erstmal Graffiti wieder aus seinen selbst geschaffenen, zu stramm gewordenen Korsett zu befreien. Dazu musste man die Regeln brechen und die Ästhetik, an die sich das Graffitipublikum über Jahre gewöhnt hatte, bewusst angreifen. Weg von der Verkrampftheit mit der wir Graffiti kennen gelernt hatten ( zum Beispiel Odems Stylegesetz ) und zurück zu der Naivität von Blade und Co. Das Motto wurde: Je mehr Leute den Kopf schütteln, desto eher erreicht man dieses Ziel.
Aber ganz im Gegensatz zum Untergrund hat sich die Art und Weise, in der sich der Style der Writer verändert, weiterentwickelt. Während man sich früher wohl eher an den Wänden und Zügen seiner Stadt oder der Umgebung orientiert hat, kann man sich heute tausende Bilder auf tausenden von Internetseiten und in hunderten von Magazinen angucken. Und Reisen waren wohl zu Zeiten von User und seinen Jungs bestimmt spannender & inspirierender, heutzutage gibt es jedenfalls wenig Neues zu entdecken. Gleichzeitig wird es durch diese, ich nenne sie einfach mal Allerdings gelten auch dabei Regeln und Graffiti-Globalisierung, schwerer für Sprüher, gerade denkt man ein neues Element ästhetische Prinzipien. Dazu zählt, dass eroder einen neuen Style entwickelt zu haben, kennbar sein muss, dass der ‚Fehler‘, also sieht man gleiches oder ähnliches vielleicht die Unproportion, der Bruch, die Irritation, mit 16_GRAFFITI MAGAZINE
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Absicht verwendet wurde. Die Absicht beweist eine gewisse Attitüde und dies ist wichtiger Bestandteil eines gelungenen Bildes. Es gibt dem Bild eine weitere Ebene, eine Sphäre, es transportiert zusätzlich mittels dieser Ästhetik Inhalte und Emotionen. Vergleichen kann man das in etwa mit der Musik, dort spielt Filigranität oder musikalisches Können auch nicht immer die Hauptrolle. Ein gutes Lied funktioniert auch ohne Streicher und saubere Harmonie. Es muss einfach rocken. Natürlich spielen auch Zitate eine große Rolle. Zitate beweisen, dass man sich auskennt in seiner Materie. Auch wenn ein Bild schlecht und lieblos gemalt erscheint, kann ein bewusst gesetztes Zitat deutlich machen, dass dies Absicht ist. Dadurch können Zitate das eigene Bild erhöhen, sie können aber auch den Zitierten persiflieren. Ein weiterer Faktor der durch die strengen graphischen Regeln im Graffiti irgendwann vollkommen ausgeblendet worden ist: Expressivität. Expressivität hat man lange nur in Toypieces mit verzockten Charaktern gesehen, aber bewusst eingesetzt wurde sie fast nie. Mit Expressivität meine ich nicht puber-
täre Kiffskizzen, sondern den naiven Impact von Einfachheit, den Charme von Fehlern, eine fühlbare Geste. Und genau in dieser Expressivität sehe ich die Leidenschaft, die User scheinbar vermisst. Graffiti ist für uns immer noch Ausdruck von Lebensfreude oder manchmal doch auch von „Lebenesleiden“. Ich denke vor allem in der Frage der Leidenschaft liegt User falsch, und tut vielen neuen, jungen Writern unrecht. Vor allem wenn er das Argument Zeit einbringt, denn dieser Faktor hat sich mit Abstand am meisten verändert. Es gibt heutzutage immer noch Leute, die sechs Stunden an einem Bild malen – aber fast ausschließlich im legalen Bereich – und gerade da fehlt mir oft doch der Schwung. Heutzutage entdeckt man die Leidenschaft im fehlenden Perfektionismus und in der Improvisation, mit wenig Zeit ein Bild entstehen zu lassen. Meistens sieht man gerade bei Sachen, die unter Druck entstehen, ob einer sein System beherrscht oder ob einer nach 2 Minuten nicht mehr weiß wo sein Bild anfängt oder aufhört. Dass diese Entwicklung nun stattfindet, ist eigentlich ein logischer Prozess einer Emanzipation einer jüngeren Generation, die sich schon lange abgezeichnet hat. Logischer Prozess deshalb, da die Geschichte unserer großen Schwester, der Tafelbild-Malerei, es uns vorgemacht hat. Auch dort mussten Leute mit der Tradition brechen und sich als Wilde beschimpfen lassen, um das
Verkrustete aufzubrechen und Wege frei zu machen für neues. Lange abgezeichnet hat es sich, nach meinem Empfinden, eher im europäischen Ausland als in Deutschland. Skandinavisches Graffiti gilt weithin als Wegbereiter, was sicherlich auch stimmt, allerdings nicht nur. Früher haben Leute wie Ribe, Nug, Egs und Co. sicher einige Münder und Türen geöffnet, doch auch Barcelona Graffiti, speziell Pie und später der Rest der ganzen Hippies war fast noch wichtiger. Frühe Honet, Pum, Goat und Orne Pieces ebenso. Holland Graffiti von Mellie und Wdka auch. Um mal ein paar Namen zu nennen, da könnte man Abende mit füllen. Xplicit Grafx Nr. 7. war eine Offenbarung. Obwohl das alles nicht wirklich PseudoToy ( ist mir lieber und ist eigentlich auch treffender als IllStyle ) ist, aber dennoch empfinde ich diese als Wegbereiter, da sie weggegangen sind von Proportion, dem NewYork Vorbild und dem ganzen verkrampften Style-Gefasel und es hingeführt haben zu einer anderen Art von Style. Na ja, und die Belgier haben den Bann dann endgültig gebrochen. Durch diese ganzen Aspekte kann ich auch den Begriff IllStyle für mich nicht wirklich geltend machen. Allein die Unterschiede zwischen Banos und Apollo sind schon zu groß, um diese unter einem Begriff zu packen.
Trotzdem, User, ich denke Neuerungen kommen, unter anderen Umständen als damals, vielleicht auch sehr langsam. Aber ich und viele andere geben uns auf jeden Fall größte Mühe. Und auch diese Bewegung wird irgendwann abgelöst werden. Eine Stylekonsolidierung ist doch längst schon wieder festzustellen. Ich find´s total spannend.
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Die unendliche Stylegeschichte
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Stagnation, Veränderung und Fortschritt hinsichtlich des Stilbegriffes zu befragen. Style beschreibt zusammen mit dem Begriff der Fame für einen Grossteil der Writer den Kern des Graffiti. Somit wird Style häufig zum Gegenstand der Diskussion, wenn mehrere Sprühfanatiker aufeinandertreffen. Es werden dann die unterschiedlichen, jeweils eigenen Standpunkte verglichen, ein Kern gesucht und dabei häufig vergessen, dass die eigene Einstellung nur für einen selber die Richtlinie ist und, wenn überhaupt, nur begrenzt auf andere angewendet werden sollte. Wie bereits in unserem einführenden Grundsatzartikel erwähnt nahmen wir, die Herausgeber des GM, die Diskussionen zum Anlass für dieses Themenheft, sie sind unsere Ausgangsposition. Diese unendlich anmutenden Gesprächsrunden wurden nur endlich, weil ihre Sinnlosigkeit zu augenscheinlich war und die aufgeworfenen Fragen, die oben nur zum Teil erwähnt wurden, In Bezug zu unserem Überthema kommt unbeantwortet blieben würden. man im Graffiti-Writing nicht drum herum, Nichtsdestotrotz versuchen wir eine Annä-
Welcher Style ist der beste, der aktuellste, der schwierigste? Wieso malt dieser oder jener Typ immer das gleiche? Ist es bei so vielen Writern weltweit überhaupt noch möglich etwas wirklich eigenes stylemäßiges zu entwickeln? Muß etwas eigenes überhaupt sein? Ist die Suche in der Vergangenheit der große Schritt in die Zukunft? Wie anstregend ist es, immer wieder neue schöne Buchstaben innerhalb einer weltweiten Konkurrenz zu finden? Wie belastend für den Geist kann diese Suche sein? Haben solche Menschen keine anderen Probleme? Wie prickelnd ist es, noch hässlichere als hässliche Buchstaben zu malen? Ist es wirklich so erregend, immer wieder schöne Buchstaben zu sprayen und wieso überhaupt Styles? Was ist eigentlich „schön“ und was eigentlich „hässlich“, wenn man Styles betrachtet?
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herung. Wir spannen einen weiten Bogen. Während von außen Graffiti häufig als Gegenkultur betrachtet wird, stellt sich für denjenigen, der sich in diese Szene hineinbegibt oder sich mit ihr ernsthaft und kritisch auseinandersetzt, diese häufig nicht wirklich anders als die normale Gesellschaft dar. Als eine Parallele kann man die Fülle von Gesetzen(im Fall von Graffiti ungeschriebene Gesetze und viele davon auch fragwürdig) sehen. Eine weitere Parallele ist auch das System, wie die normale Gesellschaft und die Szene der Writer funktioniert. Das „höher, schneller, weiter“, das durch diese Worte zugespitzt beschriebene kapitalistische System unserer gesellschaftlichen Umwelt, der damit zusammenhängende Wettbewerb wird auf spezifische Weise von den Graffiti-Writern umgesetzt. Ein besonders großes Bild, ein Piece an einer ungewöhnlichen oder gefährlichen Stelle angebracht, besonders viele schöne und gute Tags oder Throw-ups oder Bilder oder von allem ganz viel, ist die graffitiartige Entsprechung leistungsorientierter Handlungsweisen. Dieser Aktionismus wird von den anderen Anhängern des Graffiti-Writings mit offener Bewunderung und Anerkennung oder mit Wertschätzung durch Neid oder Missgunst bedacht. Egal wie bewertet, es kommt dem Ziel des Fame für den ausführenden Writer nahe. Nun aber konkreter im Bezug auf Style. Die positive Aufmerksamkeit eines großen Teils der Szene wird den Leuten zuteil, die 1_Was auch immer „schön“ 2_Was auch immer „hässlich“
bedeuten mag. bedeuten mag.
dem Kapitalismus entsprechenden szeneimmanenten Wettkampf des „schönsten“1 Styles für sich entscheiden können. Die Rivalität um den am besten geformten Buchstaben, den am dynamischten geschwungenem Namen, die effektivste Farbkombination ist groß und der Erfindungsreichtum des einzelnen Praktizierenden innerhalb eines gewissen mathematisch berechenbaren und buchstabengesetzlichen Rahmens ist gefragt. Auch hier zählt das kapitalistische Leistungsprinzip, im Zusammenhang mit einem künstlerischen Gespür, Feingefühl und Talent. Ein anderer, weiterer großer Teil der Szene hat sich etwas verschrieben, ohne das die kapitalistische Gesellschaft neben dem „höher,schneller,weiter“ auch nicht funktionieren würde: dem Erfindungsreichtum. Die moderne Gesellschaft braucht Neuerungen, andauernd, sonst droht Absatzstagnation oder gar ein Rückgang des Absatzes. Die Entsprechung dieser Handlungsweise der kapitalistischen Gesellschaft innerhalb des Graffiti-Writings sind die Illstyles. Es wird immer neues, ruhig auch abstruses, aber auf jeden fall Aufmerksamkeit erregendes gefordert. Diese Stile machen vor nichts halt, somit auch nicht vor dem „Hässlichen“2 und im Endeffekt ist bei den Anhängern dieser Stylevariante alles möglich. Visuell wirken Illstyles frei jeglicher Norm, teilweise muten sie so spontan inspirationsgeleitet an, wie es von der Außenwelt dem Graffiti häufig nachgesagt wird. Eine weitere Methode, der Stagnation zu
entkommen, ist der Retrostyle. Dies gilt für die uns umgebende Gesellschaft als auch für einige Teile der Graffiti-Writer. Während uns von der Modeindustrie altes in neuen Varianten nahegelegt wird, die 80er Jahre plötzlich wieder Hip sind(kurze Zeit später schon wieder nicht mehr), wird derselbe Weg auch von einigen Writern zur Bereicherung ihres Schaffens genutzt. Jetzt kommt die andere Seite: Stagnation. Ein Wort, dass die Wirtschaft, die mit ihr zusammenhängende Politik, das ganze System insgesamt nicht so wahnsinnig gerne hört. Während Wachstum und Fortschritt die Zauberwörter sind, ist das Wort Stagnation gleichbedeutend mit einem Fluch. Was bedeutet Stagnation hinsichtlich des Graffiti-Writings? Auch hier wird der Begriff häufig, vielleicht fälschlicherweise, negativ verwendet. Stylemäßige Stagnation eines Writers wird in der Szene sofort bemerkt und führt zumeist zu direkter Abwertung in der Punktevergabe und der damit zusammenhängenden Rangliste. Sprayer, die in mehreren Jahren gar nicht oder wenig ihren Style verändert oder weiterentwickelt haben, haben äußerst selten eine schar Groupies um sich herum. Diese Writer werden toleriert, ignoriert, seltenst bewundert, höchstens für ihren Starrsinn. Dabei sind diese Sprüher die einzigen, die sich durch ihre Fortschritts-/Entwicklungsverweigerung wirklich dem gesellschaftlichen Wettbewerb entzogen haben. Im Grunde sind diese Writer die einzigen, die sich wirk-
lich in eine Gegenkultur begeben haben. Aber ist dies die Lösung? Ist in unserer bildüberfluteten und bildbestimmten Welt dies die letztendliche Schlussfolgerung, dass wenn man sich der kapitalistischen Gesellschaft entziehen will, einfach immer dasselbe malt? Ist das eher negativ beladene Wort Monotonie der Schlüssel zu einem zufriedenerem, weil anderem Leben? Noch mehr Fragen, noch weniger Antworten.
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Die Styles sprechen f端r sich und zu euch. Die Auswahl der abgebildeten Pieces erfolgte relativ willk端rlich. Die Hauptkriterien waren einheitlicher Name, gute Photos in unseren Archiven und eine weitgehendst l端ckenlose Darstellung eines weit auseinanderliegenden Zeitraumes vom 辰ltesten bis zum neuesten Bild. Wir entziehen uns jedweden Kommentars und jedweder Wertung.
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1992
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Wandgeschichten
Text_P.Michalski
Wände und Mauern haben von sich aus nicht viel mit Veränderung zu tun. Normalerweise stehen sie statisch irgendwo in der Gegend rum und das einzige, was sich auf ihnen tut, ist Bewuchs, oder die Unbillen der Witterung zehren an ihrer baulichen Substanz. Sie haben nur die Aufgabe, etwas zu stützen oder das Innere eines Raumes gegen die Aussenwelt abzugrenzen oder zu schützen. Dann kommt Graffiti. Die Sonne geht auf. Eine Rolle voller Wandfarbe zieht über die Mauer hinweg und bringt die erste Schicht Veränderung in die leblose und zumeist auch unbunte Angelegenheit Wand. Dann wird Sprühlack auf die vorgestrichene Mauer aufgetragen. Ein Sprayer malt ein Piece auf den gegebenen Malgrund, vorzugsweise sein Synonym. Der Writer gestaltet die Wand, sie wird nicht nur visuell anders, sondern erlebt
durch die Neugestaltung auch einen Wechsel im Sinngehalt. Die Mauer wird durch das Aufbringen eines Styles, eines Characters oder eines Spruches zum Bedeutungsträger. Sie trägt die Werbung oder die irgendwie geartete Botschaft einer soweit unbekannten Person, die auf sich aufmerksam machen oder etwas mitteilen will. Der Empfänger für dieses oder jenes ist zum Grossteil, aber nicht zwangsläufig ausschließlich, die Anhängerschaft des Graffiti-Writings. Das „Ich war hier“ und schau, was ich geschaffen habe, die damit zusammenhängende Anerkennung der anderen Szenemitglieder, ist der Auslöser für solche Handlungen. Die Wand bleibt davon unbeeindruckt, doch sie beginnt zu leben, oder genauer gesagt, begründet ungewollt Leben um sich herum. Sie wird zur Spielwiese einer Szene. Ist die Mauer etwas größer, kommen eventu-
ell oder eher sehr wahrscheinlich die Namen anderer Graffiti-Writer hinzu, daneben oder oben drüber, egal. Genau darauf kann, muss aber nicht ein Problem sein. Das mögliche Problem ist der Unterschied der Übermalung eines Bildes auf einer Wand, wofür es eine Erlaubnis gibt, oder einer Wand, die nicht zur Gestaltung durch Sprüher freigegeben ist. Bei einer Legalfläche ist das Überlackieren eines bereits vorhandenen Pieces zumeist kein Grund zur Diskussion der Writer untereinander. Durch das Ungleichgewicht, dass es in einer Stadt zumeist viele Sprayer gibt und nur wenig legale Wände, ist es häufig zulässig, ein Piece dort zu übermalen. Die meisten Sprühenthusiasten tolerieren das mehr oder weniger stillschweigend, gerade bei den Wänden, die wegen Übergröße nicht mit einem Gesamtkonzept gestaltet werden können. Bei der Übermalung eines Bildes ist auch die Qualität der Pieces nicht unbedingt ausschlaggebend. Legale Flächen stellen sich nicht nur von der Substanz, sondern als Ort gesehen, insgesamt als sehr lebendig dar. Nicht nur zeugt das stetige Übermalen von Bildern davon, die Präsenz der Writer, das Zusammenkommen, der Austausch untereinander, die schon in unserer letzten Ausgabe unter „Bochum ist anders“ erwähnte Kommunikation zeigt, dass eine Mauer Leben erzeugt. GRAFFITI MAGAZINE_31
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Die ganze Situation ändert sich bei illegalen Wänden. Im Gegensatz zu legalen Maluntergründen verändern sich diese in den meisten Städten NRWs nur langsam, zeugen somit von wenig Lebendigkeit. Das hat zu einem großen Teil den simplen Grund, dass es eine ganze Menge von ihnen gibt. Schier unbegrenzt scheint die Quadratmeterzahl zu sein. Massiv begrenzt wird diese Menge nur durch die Gefährlichkeit. Eine Hauswand ohne Genehmigung des Eigentümers an einer belebten Strasse zu streichen und dann langwierig zu besprühen, wird mit einer Anzeige enden. Das Gleiche an einer Wand entlang der Gleise wird selten dieselben gerichtlichen Folgen haben. Zwangsläufig gibt es weniger Bilder in den Strassen als neben den Gleiskörpern. Deswegen liegt auch auf den Maluntergründen entlang der Zuglinien ein Druck durch Sprayer, denn ihre Quadratmeteranzahl ist zwar groß, aber doch begrenzt. Gerade die Wände, die bequem zu erreichen und zu bemalen sind, sind rar gesät, deswegen sehr begehrt und meistens auch schon gestaltet. Hier wird im Gegensatz zu den legalen Wänden das Übermalen eines Pieces auch nicht unbedingt toleriert. Die Übertünchung eines illegalen Bildes wird häufig vom Urheber desselbigen negativ als Auslöschung seines Selbst oder als Missachtung seiner Leistung gesehen. Seltener wird dieser Akt als das Weiterdrehen der Lebensspirale einer Mauer gewertet oder der Stilentwicklung des Graffiti-Writings insgesamt. 32_GRAFFITI MAGAZINE
Erwähnenswert ist hier Dortmund. Viele Wände dort, gerade diejenigen, die sofort bei Einbruch der Dunkelheit bemalt werden können, sind eigentlich für alle ernsthafteren Sprayfreaks da. So erklärt sich, warum die bekannteste bemalte Wand in NRW, die Bahnhofsmauer an der Einfahrt zum Dortmunder Hauptbahnhof(Abbildung S.34/35), seit mehr als 20 Jahren mehrere tausend Bilder erlebt hat, ohne das es in Mord und Totschlag geendet ist. Dort und an vielen anderen Stellen in Dortmund verhält es sich so, dass auch mal ein schlechteres Piece über ein besseres gemalt werden kann und auch mal ein chromgefülltes über ein buntes und auch mal ein Bild innerhalb einer relativ kurzen Lebenszeit übermalt wird. Neue Bilder ermutigen andere Writer, auch neue Bilder zu sprayen und auf diesem Wege regeneriert sich dort die lokale Szene. Um wieder zum Übermalen von illegal angebrachten Bildern im Allgemeinen zurückzukommen: die Gegenüberstellung der beiden Extrempositionen, auf der einen Seite eine Stadt, in der nie Pieces übersprayt werden, auf der anderen Seite eine Stadt, in der Bilder übermalen toleriert wird, führt zu merkwürdigen Gedankengebilden, mit keiner realen Stadt vergleichbar. In der ersten Stadt wäre es so, dass man alle alten Bilder noch sehen könnte, somit würde die lokale Graffitigeschichte sichtbar bleiben und zwar mit allem Guten und Schlechten, was dort jemals gemalt wurde. Die Pieces würden sich übereinandersta-
peln, sofern die Writer sich die Mühe machen würden auf Leitern zu steigen. Konsequent weitergedacht wären aber alle Mauern irgendwann vollgemalt und Ende, kein weiteres Graffiti mehr möglich. Bei der zweiten Stadt wären wenige der alten Pieces zu sehen, was aber nicht zwangsläufig als Nachteil gesehen werden muss. Wegen der Zugänglichkeit der Wände und der Übermalduldung würde viel neues Graffiti entstehen und, wie bereits oben erwähnt, neue Bilder spornen auch immer wieder andere Spritzfarbflaschenbenutzer an. Die Spirale würde sich weiterdrehen, immer und immer weiter. „The idea is to let you know that graffiti is rocking and it´s on the go” , Futura 2000, The Escapades of Futura 2000,1983.
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Alle Abbildungen auf dieser Doppelseite zeigen die U-Bahnhaltestelle Rombergpark in Dortmund.
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Backjumps unLtd.
Text_P.Michalski
Manches im Graffiti-Writing bleibt gleich, anderes verändert sich stetig. Etwas, dass sich seit Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts stark verändert hat, ist die Bedeutung von Backjumps. Das mehr oder weniger kurze Bemalen von Zügen, Straßen- und U-Bahnen in Wendeanlagen, an Endstellen, an roten Signalen oder an Haltestellen gab es schon in den frühen Anfängen des europäischen Vandalistentums, doch ist dessen Einfluß seit dem Ende des letzten Jahrtausends immens gestiegen. Gerade für das Rheinruhrgebiet sind Backjumps unvergleichlich wichtig. Wo auch immer in diesem Gebiet ein schienengebundenes Verkehrsmittel regelmäßig für mehr als zwei Minuten hält, finden sich früher oder später Sprayfreaks mit schädlichen Neigungen ein.
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Das Phänomen Backjumps kann dabei von mehreren Seiten beleuchtet werden. Zum einen sind sie nötig geworden, da die Reinigungsstrategien der Bahn Zugmalen in bestimmten Abstellanlagen vor bestimmten Uhrzeiten unsinnig macht. Zwar kann man in diesen Depots den bösen Buben geben, doch wird die geschaffenen Pieces, außer dem Urheber und die Putzer, niemand anderes jemals zu Gesicht bekommen.1 Sie werden im Normalfall gebufft, bevor der Zug in den Verkehr geht. Auf der anderen Seite ist Malen in teilweise sehr weit entfernten und eventuell gut bewachten Abstellanlagen sinnlos geworden. Backjumps sind meist im Bereich der Großstädte angesiedelt, somit mit wenig Aufwand schnell zu erreichen. Also wieso weit zu einem Yard fahren, dabei Zeit und Geld verbrauchen, wenn das Gute doch so nah liegt? Auch die Industrie hat ihren Teil zum Erfolg der Backjumps beigetragen, ob nun gewollt oder nicht. Der spraydosentechnische Fortschritt hat effektives Malen in kürzester Zeit ermöglicht. Dem heutigen Writer steht nicht nur eine große Marken- und riesige Farbauswahl zur Verfügung, die Sprühdosen sind auch sehr verbraucherorientiert. Es gibt Spritzfarbflaschen mit einer sehr hohen Ausstoßrate, dem entsprechenden Druck und Lackinhalten, die man als superschnelltrocknend bezeichnen kann. Dazu gibt es Sprühköpfe in allen möglichen Breiten. Eine weitere Neuerung, die sich in den letzten Jahren in die Backjumps, aber auch 38_GRAFFITI MAGAZINE
ins normale Writing eingeschlichen hat, ist der Gebrauch von Streichrollen. Damit kann noch breiter, somit zeitsparender, zumindest im großflächigen Bereich, gearbeitet werden. Durch Streichen einer Fläche mit einer breiten Rolle kann äußerst effizient gemalt werden und bei Whole-Cars bleibt durch Anbringen einer Verlängerung an die Rolle das lästige Besteigen einer Leiter dem Vandalen auch erspart. Bei der Betrachtung von Style hinsichtlich eines Backjumps gilt es, etwas wichtiges zu beachten. Häufig verändert er sich. Dies tut er zwangsläufig. Kommt ein Writer, der, wie die meisten Sprayer, seine Karriere auf einer Wand begonnen hat, zu einem Backjump, wird er sich der Tatsache klar werden müssen, dass der Zug irgendwann wegfährt. Dies tut der Zug zumeist nach kurzer Zeit und dieser enge Zeitrahmen zwingt den Writer, seinen Style zu verändern. Ein aufwendiges 30-Minuten-Piece bleibt an einem 10-Minuten-Backjump schlichtweg unfertig. Somit muss der Style überdacht und dem Zeitdruck angepasst werden, was dazu führt, dass Detailreichtum und teilweise auch Sauberkeit in der technischen Ausführung auf der Strecke bleiben. Dies sind aber Nebensächlichkeiten, bedenkt man, welch teilweise aufwendige Pieces oder Whole-Cars Backjumps entstammen. Viele Writer, die sich dem Druck des schnellen und kurzen Malen angepasst haben, entwickelten eine Meisterschaft in dieser Disziplin, die vor einem Jahrzehnt noch nicht für möglich gehalten wurde.
Bestimmte Backjumps aus NRW haben sich über die Zeit hinweg nicht nur zu Treffpunkten, sondern zu Kultstätten entwickelt. Scheinbar magisch angezogen treffen sich an den bekannten Spots Sprayer aus ganz Deutschland, die hier oder da mal gemalt haben wollen. Es geht dabei auch zum Teil weit darüber hinaus. Es ist nicht so ungewöhnlich, daß die Antwort „Yes, sure.“ ist, wenn ein Franzose einen Australier nach seinem Deutschlandbesuch fragt: „You went to this spot in xxx, didn´t you?“.
1_Wer
klug, macht Nachtphotos und schickt sie GM.
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Graffiti- Wandel einer Jugendbewegung
Text_©Barbara „Udu“ Uduwerella
Graffiti als Schriften oder Symbole, die plakativ, nicht immer dekorativ an Wände geschrieben wurden, gab es schon immer. Sie waren für die Eigentümer immer ein Ärgernis, für die „Wandschreiber“ jedoch ein Forum, eigene Meinungen, Infos oder Provokationen öffentlich zu machen. In den 80er Jahren wurden Jugendliche hier durch die Filme BEAT STREET und STYLE WARS auf eine Graffitibewegung aufmerksam, die sich deutlich von den Graffiti der APO1- Bewegung unterschied. Statt das Umfeld mit einfachen Spontisprüchen zu provozieren, wählte man sich einen ausgefallenen Namen („tag“), den man möglichst bunt, groß und im persönlichen Style verbrei46_GRAFFITI MAGAZINE
tete, um sich als Unikat aus der Anonymität abzuheben. Die Eroberung des öffentlichen Raumes begann. Sie spiegelten der Mediengesellschaft eine neue kreative Form der Provokation, machten Werbung für sich selbst, die jede Werbeagentur vor Neid erblassen ließ und haben schnell begriffen, dass man sich einerseits der Kontrolle der Eltern entziehen und sich andererseits an der Ordnungsmacht reiben kann. Das Katz und Maus- Spiel mit Erwachsenen begann. Die Beigeisterung für Graffiti machte auch die Strafverfolger mobiler. Sie verfolgten Sprayer. Unbeteiligte Erwachsene wunderten sich über die bunten Zeichen und über das Outfit der Jugendlichen. Polizisten achteten mehr auf die eigentümlichen Klappergeräusche, die aus deren Rucksäcken & Jacken
kamen, oder verräterische, bunte Finger. Die Zahl der Jugendlichen nahm zu, während die Anzahl der Sprühaufsätze in den Läden abnahm. Es dauerte nicht lange, dann hatten beide Mannschaften des „Spiels“ die „Spielregeln der HIP HOP Bewegung“ begriffen. Die Züge wurden mit wachsender Begeisterung in nächtlichem Akkord umlackiert, sehr zum Ärger der DB. Die Strafverfolgung wurde intensiviert. Einige Sprayer verlegten sich auf das legale Writing, andere fühlten sich durch die Strafverfolgung ermutigt und verstärkten ihr Tun. Im Fahrwasser der Strafverfolger wuchs die Szene erst recht. Die anfänglichen „Spielchen“ zwischen Soko & Jugendlichen wünscht sich mancher Strafverfolger sicher zurück; war doch die Verfolgung und Verurteilung der Sprayer einfach. Sie schleppten meistens alle Beweismittel mit sich herum und dokumentierten diese noch akribisch im Black- Book. Nach kurzer Zeit wurden die „Spielregeln“ geändert. Das Graffiti- Lexikon von Prof. Kreutzer, veröffentlicht 1986, wurde Anfang der 90er Jahre zur Gebrauchsanleitung für die Soko, aber es half nicht bei der Festnahme, jedoch erkannte sich jede Seite vom weitem und daran scheiterte so manche Festnahme. Je krasser die Verfolgung des Sprayers, desto höher stieg der Wert seiner Mutprobe und die Bewunderung der Freunde. Sein Geltungsbedürfnis wurde abgesättigt, aber der Hunger nach weiterer Bestätigung blieb. Der „tag“ wurde inzwischen auch als strategische Maßnahme eingesetzt, um die Polizei zu verwirren. Hatte sie den Falschen erwischt, hielt der Richtige die Finger still, war der Richtige festgenommen, waren oft Freunde am Start, die mit seinem „tag“ weitersprühten, um zu signalisieren „Ihr habt den Falschen!“ Es gab Hausdurchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl. Aus den Misserfolgen der Polizei bekamen Jugendliche ihre Stärke. Immer dann, wenn man seitens der Strafverfolger glaubte, man hätte eine Möglichkeit des Beweises gefunden, wurde diese durch Maßnahmen einer Anzahl Sprayer wieder außer Kraft gesetzt. Ihre Kreativität schien unerschöpflich, bis…. durch die Arbeit der Strafverfolger eine Verurteilung erfolgte, dann wurde es für die Sprayer sehr teuer, denn sie hatten dann in der Regel bereits viele Straftaten begangen. Sie hatten oft gar nicht begriffen, dass die Ableistung von Arbeitsauflagen nicht für die Beseitigung der Schäden geleistet wurde, sondern als Strafe für den Gesetzesverstoß. Je mehr Druck durch die Strafverfolgung entstand, desto schärfer wurde das Match auf beiden Seiten. Ab 1995 wurden Sokos bei der Landespolizei eingerichtet. Auch deren Erfolge hielten sich in Grenzen. Sie bekamen Szenekenntnisse aus 2. Hand. Die nachrückenden Aerosol- Youngster lebten ebenfalls von ungeschriebenen Gesetzen. 1_Außerparlamentarische
Opposition.
Sie machten sich eigene. Sie brachten damit die Aerosol- Oldies der Szene gegen sich auf und steigerten den Verfolgungseifer der Soko. Der „tag“ war längst kein Unikat, was durch zeitgleiche Anklagen beweisbar wurde. Es wurde auch nachgewiesen, dass ein Vergleich von Farbe an der Kleidung mit der am Zug nicht möglich war. DNA- Vergleiche als einzige Beweismöglichkeit wurden oft von Richtern verworfen, da es Sprayer gab, die nachweislich nicht am Tatort waren, wohl aber deren Handschuhe. Die Behauptung der Soko, dass legale Flächen der Einstieg in die Illegalität seien, wurde in vielen Städten widerlegt(s. Bochum, Münster, Kassel oder Hamburg). Jede Dose, die legal vermalt wurde, war für illegales Malen verbraucht. Zitat der SOKO nach dem Schließen der legalen Flächen in Würzburg: „Die Quantität der illegalen Graffiti hat enorm zugenommen und die Qualität der Graffiti radikal abgenommen.“ In anderen Städten, wo legale Wände verschwanden, war es ähnlich. Den Dortmundern fehlt der Bunker. Auch die Helikoptereinsätze gegen Sprayer waren teuer, wenig effektiv für die Überwachung und zur Strafverfolgung ungeeignet. Es gab magere Erfolgsmeldungen, deren Kosten die Reinigungskosten aber erheblich überstiegen. Für 2 Flugstunden würde ein Pädagoge mehr als einen Monat lang arbeiten oder jede Menge 1 Euro- Jobber könnten Lichterketten ums Yard machen. Der Bundesgerichtshof (BGH) definierte Sachbeschädigung sinngemäß so: Sachbeschädigung liegt dann vor, wenn die Substanz einer Sache erheblich verletzt oder die technische Brauchbarkeit eingeschränkt ist, oder wenn bei fach- u. sachgerechter Reinigung der Ursprungszustand nicht wieder herstellbar ist. Diesen Artikel faxte ich Anwälten, die sich mit Graffitistrafsachen beschäftigten und folgerte daraus, dass nicht nur die Urheberschaft des Graffitos geklärt werden müsse, sondern auch, ob der Straftatbestand erfüllt ist. Die Soko wusste das nicht. Ich machte jedoch seit Anfang der 90er außergerichtliche Schadensregulierungen mit Sprayern und konnte den Anwälten mitteilen, welche Untergründe zu reinigen sind. Es war verständlich, dass Richter sich absicherten und zur Unterstützung einen Gutachter bestellten. Unverständlich ist jedoch, weshalb man für einen „erheblichen Sachschaden“ ein Elektronenmikroskop braucht. Man sollte den Schaden schon mit bloßem Auge erkennen können. Da Graffitibeseitigung für die Gebäudereiniger zur Goldgrube wurde, gab es inzwischen Mittel, mit denen man sehr schnell den Ursprungszustand herstellen konnte, folglich gab es viele Freisprüche und viel Frust bei Geschädigten und der Soko. Ein Freispruch vom Straftatbestand war jedoch kein Freibrief, denn die zivilrechtlichen Folgen, die
Reinigung, musste der Sprayer trotzdem bezahlen. Das war ein Punkt, der nicht nur Geschädigte und Eltern verunsicherte, sondern manch Sprayer falsch verstanden hatte. Nach mehreren Anläufen haben Politiker zum 8.9.05 die Änderung der §§ 303 & 304 StGB (Sachbeschädigung/gemeinschädliche Sachbeschädigung) folgendermaßen ergänzt „.. werden jeweils die Wörter „beschädigt oder zerstört“ durch „zerstört, beschädigt oder das Erscheinungsbild einer Sache gegen den Willen des Eigentümers oder sonstigen Berechtigten nicht nur unerheblich verändert“ ersetzt,“ um alle Sprayer nun bestrafen zu können und um die Kosten der Verhandlung zu senken. Die Gerichtsverfahren bleiben aufwendig, denn zuerst muss man den Sprayer haben und daran hapert es oft noch. Was nützt dem Geschädigten, wenn der erwischte Sprayer nun eine Geldstrafe zu zahlen hat oder in Haft kommt? Er darf dadurch nur noch länger auf Schadenersatz warten und weiter hoffen. Nach der Verschärfung der Gesetzeslage muss ein Geschädigter nämlich weiterhin seine Schadensersatzansprüche vor Verjährung schützen, indem er zu klagen hat, um einen Schuldtitel zu erwirken. Hierzu muss er in Vorleistung treten, die Gerichts- u. Anwaltskosten vorstrecken, da sonst die Ansprüche nach 3 Jahren verjährt sind. Er bleibt somit weiterhin auf dem Risiko sitzen, ob der Täter jemals zahlungsfähig wird. Die Staatskasse gewinnt. Wenn ein Jugendlicher erst im Erwachsenenalter die Folgen seiner Tat spürt, so ist die Strafe nahezu wirkungslos, weil er die Konsequenzen nach seiner Volljährigkeit spürt, sie aber nicht mehr ändern kann. Würde man jedoch zuerst mit den positiven Aspekten dieser Jugendkultur arbeiten und diesen Jugendlichen Möglichkeiten einräumen, sich an der Gestaltung ihres eigenen Lebensraumes zu beteiligen, wären sie sinnvoll für die Gesellschaft statt ein Kostenfaktor. Eine sinnvolle Förderung der Kinder- u. Jugendfreizeiteinrichtungen ist deutlich preiswerter als Gerichtsverhandlungen oder Gefängnisaufenthalte im Jugendgefängnis.
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Never Mind Graffiti-Art – Here`s Art-Graffiti “ArtInConsequence“, ein Film über altenative Wege im Graffiti
Text_J.Steinhaldt
„Lebendig und authentisch dokumentieren lässt sich Graffiti allemal, aber nicht als traditionelle, von der Wand hängende Kunstausstellung, sondern nur multimedial, in ihren komplexen Gestaltungszusammenhängen, ihren Netzwerken, ihren Kulten, ihrer Interaktivität und ihrer Vergänglichkeit. (...) zukunftsweisender scheint mir dagegen, neben dem städtischen Raum als Originalschauplatz – die Kommunikation von Graffiti auf filmischem (...) Weg.“ So schreibt es Nils Jockel in seinem Vorwort zum Katalog der Ausstellung(!) “Urban Discipline 2002”.1 Ich war doch etwas erstaunt, in diesem Text vorweggenommen zu sehen, woran ich seit einigen Jahren arbeite: ein Film als ‚Ausstellungsort’ für neue Wege einer Kunstform namens Graffiti. Seit den Jahren um die Jahrtausendwende ist für mich unübersehbar, dass sich innerhalb dieser Kunst ein Umbruch ankündigt. Graffiti - was seinen Anfang vor Jahrzehnten in genialer Spontaneität nahm, ist schon lange zu einem Kanon von Imitationen und Limitationen geronnen. Während ein Grossteil der Szene solche Einschränkungen gerne annimmt - entlasten diese doch angenehmerweise von den Anstrengungen der Origi1_G.
Peters, M. Reisser, H. Zahlmann(Hg.): Urban Discipline, Ausstellungskat., Hamburg, 2002.
nalität und Grenzüberschreitung - sieht man mehr und mehr Künstler von dieser Fahne desertieren. Muss ich diese These noch beweisen? Machte nicht genau aus diesem Bedürfnis heraus so etwas wie eine ‚Street-Art-Welle’ von sich reden? Und ist dabei nicht wie im Reagenzglas und im Zeitraffer das gleiche Phänomen von Verkrustung und Standardisierung eingetreten? Und – zu welcher Art von Einsicht führen solche Fragestellungen? Die nach wie vor provokativste Eigenschaft von Graffiti steht hier bezeichnenderweise gar nicht erst zur Debatte: das Übertreten von Gesetzen beim Anbringen von Kunst im öffentlichen Raum. Man braucht sich nicht einmal groß den Kopf zu zerbrechen, warum das so ist. Es liegt auf der Hand, dass künstlerische Relevanz unter den Umständen des Marktprinzips gar nicht anders erreicht werden kann. Ist diese Notwendigkeit einmal erkannt, stellt sich nur noch die Frage, womit soll der Rahmen dieser Methode gefüllt werden? Einige von vielen möglichen künstlerischen Antworten darauf, geben die Werke und Werkgruppen der Künstler, denen sich mein Film „ArtInConsequence“ widmet. Sie ziehen ihre Inspiration sowohl aus der Innen- wie der Aussenperspektive von klassischem Graf-
fiti, Fragmenten oder Abstraktionen, gesellschaftlichen Bezügen genau wie bewusstem Subjektivismus, gleichzeitig todernst und voller Humor. Sie ziehen auf ihre ganz eigene Art und Weise die Konsequenz aus all den beschriebenen Widersprüchen. In der Hoffnung, in dieser interessanten Zeit um einen solchen Wendepunkt herum, eine Ahnung davon einzufangen und zugänglich zu machen, habe ich mir von der ‚Front’ das entsprechende Videomaterial ‚zuspielen’ lassen. Daraus entstand mit Hilfe einiger Freunde dieser Film. Wenn ich alles richtig gemacht habe, können Menschen sowohl von innerhalb wie von ausserhalb der Graffitiszene ihren Zugang dazu finden. Manche unmittelbar intuitiv, andere eher intellektuell, ideal wäre beides. Um einer eigenständigen Beschäftigung mit dem dargestellten Gegenstand nicht im Wege zu stehen, ist das Ergebnis unserer Bemühungen weniger eine herkömmliche Dokumentation als vielmehr ein - Dokument. So könnte man einen Spruch hinzuziehen, der von Leni Riefenstahl stammen soll: „Die Abbildung der Realität interessiert mich nicht - was mich interessiert ist die Illustration einer Idee.“ In diesem Sinne, wenn auch natürlich ohne den zweifelhaften politischen Hintergrund, begleitet „ArtInConsequence“ Vorreiter neuer Formen auf ihrem Gebiet. Eine Werkschau für Kunst, die Graffiti sein muss, um sich nicht dem Markt zu beugen. Und für Graffiti, das Kunst sein muss, um sich von den Dogmen einer Nischenkultur zu befreien. „ArtInConsequence“ wird voraussichtlich gegen Ende 2006 in einer kleinen Reihe von Kinoabenden präsentiert und etwa gleichzeitig als DVD zu kaufen sein. GRAFFITI MAGAZINE_49
Ich bin fresh und will ins Mag!
Veranstaltungskalendar
1.Mal etwas Schönes und tu das mit Liebe. 2.Mach eine hochwertige Aufnahme davon. 3.Schicke eine Datei in den Formaten JPEG oder TIFF mit einer Auflösung von 300 dpi an flix@graffiti-magazine.net. Alternativ kannst du einen 10x15cm Abzug in Hochglanz an folgende Adressen schicken oder dort einreichen: Dedicated Hood-Company Maastrichter Str. 49 Hüttenstr. 156 50672 Köln 40227 Düsseldorf
Ausstellung in der Hood-Company, Hüttenstr. 156, 40227 Düsseldorf: „Bartotainment“, Eröffnung um 20 Uhr am 1.09.2006. Ausstellung läuft bis einschl. 3.09.2006 zu den gegebenen Öffnungszeiten. Ausstellungen im Dedicated, Maastrichter Str.49, 50672 Köln: One Man Society – Open Eyes, 12.08.2006 – 09.09.2006 Humanifree – Béla Jansen, 16.09.2006 – 14.10.2006 Silvio – Mensch, 21.10.2006 – 18.11.2006 1Richtung – Ohne Titel, 25.11.2006 – 23.12.2006 Alle Umschläge bitte ohne Absender, fest verschliessen und mit Alle Ausstellungen zu den gegebenen Öffnungszeiten. dem Zusatz „GM“ versehen. Das eingesandte Material wird aus- Nähere Informationen unter: http://www.dedicated-store.de/dedischließlich für das GM verwendet und es erfolgt keine Rückgabe. Es cated_galerie.html werden nur Photos aus den Jahren 2005 und 2006 berücksichtigt. Real Jam, 12.08.2006, Kulturbunker Köln in K-Mühlheim, Berliner Straße. Neue Hall of Fame! Die Wambeler Rennbahnmauer in Dortmund ist ab dem 03.09.2006 legal zu besprühen. Am S-Bhf. Knappschaftskrankenhaus / S4. © Graffiti Magazine issue 3_summer 2006 Weitere Infos unter: www.graffiti-verein.de All rights reserved www.graffiti-magazine.net
Herausgeber: © Michalski, Soltani GbR Redaktion: P.Michalski, M.Schmieling & B.Soltani Layout: M.Schmieling Kontakt: www.graffiti-magazine.net Texte & Fotos: flix@graffiti-magazine.net Vertrieb: distribution@graffiti-magazine.net Anzeigen: ads@graffiti-magazine.net Flog: www.fotolog.com/graffitimagazine Danke: Ebbe+Dior, Fax‘r, Loof, Udu, B.Johan, Ulrich, Paul, Prof. Uwe, Adrian, Special T, Krixl, Martin, Coconut, Shep, Atom, Fos, Leeds, Bor, Now, Bösr, Magic. Wir werden netterweise unterstützt von Eight Miles High, Hood Company, Hang Out, Molotow, Montana, Stylefile & Dedicated. 50_GRAFFITI MAGAZINE
Fehlerteufel + Gesuch In der letzten Ausgabe hat sich im Artikel „Bochum ist anders“ der Fehlerteufel eingeschlichen. Dort steht geschrieben: „Dann kommen die Aktionsflächen, bei denen auch das Material zur Verfügung gestellt wird.“ Dies ist so nicht korrekt, denn es werden bei den Flächen beispielweise Kosten für die Absperrung oder die Grundierung gestellt, nicht aber für die Sprühdosen. Letztere werden, genauso wie Honorare, nur bei den Projektflächen gezahlt, die dann an klare motivische Vorgaben gebunden sind. Außerdem werden noch Sprüher für eine größere Aktion gesucht. Näheres könnt ihr unter 0234/90442187 bei Jürgen Kotbusch erfragen.
... BL ACK IS SILENT GRAFFITI MAGAZINE_51
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