Greenpeace Switzerland Magazin 2/2012 DE

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— Konferenz Ri0+20: Viel Worte, wenig Wirkung  S. 11 g reen peace MEMBER 20 12, Nr. 2

Schwerpunkt: ERDgipfel  S. 11–37 Interview T.C. Boyle  S. 28 Foto-Essay Fukushima  S. 45 Klima-Reportage Afrika  S. 59


Editorial — Plus zwanzig. Zwanzig Jahre. Die Zeit fliegt, wenn man seinen Spass hat. Aber ist es wirklich schon so lange her seit dem «Erdgipfel» von Rio, der Konferenz der Ver­ einten Nationen über Umwelt und Entwicklung? Oder erst so lange? Wie man es dreht und wendet: Seit 1992 sind wir eine Generation grüner geworden. «Spass haben» klingt nach Zynismus. Wenn wir aber auf all das blicken, was entstanden ist, seit Umweltschutz zum ersten Mal ganz oben stand auf der Agenda der Weltpolitik, dann ist ein Wow! schon angebracht. Da ist viel Positives passiert, und wenn wir bedenken, dass wir mit vielen ökologischen Errungenschaften erst am Anfang stehen ... Doch ­warum fühlen wir uns angesichts der Umweltzerstörung doch immer wieder so ohnmächtig? Vielleicht, weil die endlose Reihe der Umweltkon­ ferenzen, die im Juni in Rio+20 münden wird, nahelegt, dass die «grosse» Politik versagt hat. Wir blicken dem nächsten Erdgipfel deshalb skeptisch entgegen. Umso mehr interessiert uns die Epoche von Rio: Epochen sind geschichtliche ­Abschnitte, in denen wesentliche Bereiche einer Gesellschaft von einem neuen Bewusstsein erfasst werden. Es ist eine Epoche voller Widersprüche. Wir Erdenbürger vermuten Wandel und Verzicht am Horizont, aber von der Spassgesellschaft mögen wir uns nicht lösen. Freilich, wir wollen mehr Nachhaltigkeit, aber vor allem wollen wir noch immer: mehr. Anerkennen wir diese Widersprüche. Das bedeutet nicht, dass wir uns eine Blankovollmacht in Sachen ökologischer Fussabdruck ausstellen. Widersprüche erkennen heisst vielmehr, die eigenen Entscheidungen bewusst zu fällen. Wer das tut, wird auf seinem Weg zwangsläufig weniger tiefe Fussabdrücke hinterlassen – weil er oder sie «leichtfüssiger» durchs Leben geht.

C over: © Gre enpe ace / Da ni el B elt rá

Die Redaktion


In Aktion

Greenpeace-Aktivisten trotzen Multis und Regierungen

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Vier Stimmen

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Interview-Schwerpunkt

der Generation Rio+20

Rosmarie Bär: ernüchtert, nicht hoffnunslos Simon zadek: Begrüner der ­ Wirtschaft Elaine huang: Kluges Computer-Design fördert Nachhaltigkeit T.C. BoYle: Sehnsucht nach der Wildnis Afrika trifft der klimawandel besonders hart

Inhalt

Reportage

Abstimmungen

Zwei Initiativen für eine ökologische steuerreform

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Engagement

Ein Solartr ainer lehrt jungen interes­ sierten den umgang mit Solartechnik

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Foto-Essay

Fukushima – ein augenschein drei monate 45 nach dem desaster zwei betroffene auf vortr agsreise 51 durch die schweiz

Waldkampagne

Im korrupten Kongo ist nachhaltigkeit gefährlich

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Landwirtschaftskampagne

Düstere Szenarien um den Fleisch- und Milchkonsum im Jahr 2050

Chefsache Die Karte Kampagnen-News In Kürze Testamente: Tipps des Experten Öko-Rätsel Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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Impressum Greenpeace Member 2/2012 Herausgeberin/Redaktionsadresse Greenpeace Schweiz, Heinrichstrasse 147, Postfach, 8031 Zürich Telefon 044 447 41 41, Fax 044 447 41 99 redaktion@greenpeace.ch, www.greenpeace.ch Adressänderungen unter: suse.ch@greenpeace.org Redaktionsteam: Tanja Keller (Leitung), Matthias Wyssmann, ­Hina Struever, ­Roland Falk Autoren: Urs Fitze, Matthias Wyssmann, ­ Hannes Grassegger, Bruno Heinzer, Thomas Niederberger, Verena Ahne, Samuel Schlaefli, Muriel Bonnardin ­Fotografen: Thomas Schuppisser, David Guttenfelder, Samuel Schlaefli Gestaltung: Hubertus Design Druck: Swissprinters, St. Gallen Papier Umschlag und Inhalt: 100% Recycling ­Schriften: Lyon Text, Suisse BP Int’l Druckauflage: d 116 000, f 21 500 Erscheinungsweise: viermal jährlich Das Magazin Greenpeace geht an alle ­Mitglieder ­( Jahresbeitrag ab Fr. 72.–). Es kann Meinungen ­ent­halten, die nicht mit offiziellen Greenpeace-­Positionen ­übereinstimmen. Der Lesbarkeit zuliebe wird davon abgesehen, konsequent die männliche und weibliche Form zu verwenden. Die männliche Form bezieht daher die weibliche Form mit ein, sowie auch umgekehrt. Spenden: Postkonto 80-6222-8 Online-Spenden: www.greenpeace.ch/spenden SMS-Spenden: Keyword GP und B ­ etrag in Franken an 488 (Beispiel für Fr. 10.—: GP 10 an 488)


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Menschenfisch Greenpeace-Aktivisten und 400 Schulkinder machen bei «My Voice, My Future» auf die Überfischung der Küsten durch ausländische Fangflotten aufmerksam. Dakar/Senegal, 19. Januar 2012

Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012 © Cléme n t Ta r di f / G r een p eac e

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Forderung statt Förderung «Necas, Stop!» heisst die Greenpeace-Aufforderung an den tschechischen Premier, im nordböhmischen Kohlegebiet die Vernichtung von Lebensraum ein­zu­dämmen. Tschechische Republik, 28. November 2011

Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012 © Ibra Ib ra hi m ov i c

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Hochseilakt gegen EU-Entscheid An den Tauen des Trawlers «Jan Maria» demonstriert eine Greenpeace-Aktivistin dagegen, dass die EU mit Steuergeldern meereszerstörende Fangschiffe subventioniert. Bremerhaven, 2. Januar 2012

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Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012 © Marc u s M ey er / G r een p eac e

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Klare Worte Am Gipfel der COP 17 verlangen GreenpeaceDirektor Kumi Naidoo und zahlreiche Aktivisten von der Politik verbindliche Klimaziele. Durban S端dafrika, 9. Dezember 2011


© Shayne Ro b i n s o n / G r een p eac e


«Neues schaffen heisst Widerstand ­leisten» Im Juni dieses Jahres werden sich die Leader dieser Welt in Brasilien zur Umweltkonferenz «Rio+20» treffen. Schon jetzt überwiegen die pessimis­tischen Stimmen, welche dieser Konferenz kaum eine Erfolgschance geben. Dabei hatte es so hoffnungsvoll begonnen, 1992, als sich in Rio de ­Janeiro unter der Schirmherrschaft der UNO die Mächtigen trafen und die Agenda «Rio 21» verabschiedeten. Sie wollten gemeinsame Wege suchen, wie der globale Wohlstand mit dem Schutz unseres Planeten zu vereinbaren sei. Nun, 20 Jahre und einige gescheiterte Umweltkonferenzen später, wagt kaum jemand mehr daran zu glauben. Damals wollten die Poli­ tiker die Führung übernehmen, und das Wort «Nachhaltigkeit» galt als das Zaubermittel der Zukunft. Heute sieht die Politik ratlos zu, wie eine Krise der nächsten folgt, und zu den Umweltproblemen, die schon vor 20 Jahren erkannt worden waren, sind neue, bedroh­ lichere hinzugekommen. «Nachhaltigkeit» ist zur Worthülse verkommen, die multinationalen Konzernen hilft, wenn sie ein grünes Feigenblatt brauchen. Die globalen Wirtschaftsvertreter haben das Sagen, und sie werden auch in «Rio+20» ganz vorne sitzen. Nur: Wieso sollten jene, deren Reichtum auf ungebremstem Wachstum beruht, plötzlich auf neue Lösungsmodelle setzen? In stärkerem Masse als vor 20 Jahren bleibt die Zivilgesellschaft die letzte Hoffnung: Die Nichtregierungs­organisationen (NGOs) und vor allem die bewegten Menschen, die sich zum Teil unter grossen Gefahren und mit bescheidenen Mitteln gegen Unge­rechtigkeit und Umweltzerstörung zur Wehr setzen. Mit den alten Denkmustern lassen sich die Probleme von morgen nicht verstehen, geschweige denn lösen. Dies gilt für die Politik und für die Wirtschaft, trotz aller Inno­ vation, die in Unternehmen entsteht. Umso mehr sind wir in der Zivilgesellschaft ge­ fordert, neue Wege zu suchen! Greenpeace ist von einer Handvoll unentwegter und idea­ Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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listischer AktivistInnen gegründet worden und hat sich erst später zu einer professio­ nellen Umweltorgani­sation entwickelt, ohne jedoch ihre Wurzeln zu verleugnen. Genau darin liegt unsere Stärke: im Spannungsfeld von Organisation und Bewegung, von ­Institutionellem und Unberechenbarem. Die heutige Zeit ist von Verunsicherung und Hoffnungslosigkeit geprägt, birgt aber auch die Chance für Veränderung, wie es neue Bewegungen wie der Arabische Frühling oder Occupy Wallstreet gezeigt haben. Um «Rio+20» und anderen globalen Initiativen für eine gerechtere und achtsamere Welt zum Durchbruch zu verhelfen, müssen es noch viel mehr ­bewegte Menschen wagen, die Zukunft zu denken und Neues auszupro­ bieren. Greenpeace braucht Menschen, die diese Welt verändern wollen – oder wie es der 93-jährige Widerstandskämpfer und Schriftsteller Stéphane Hessel ausdrückt: «Den Männern und Frauen, die das 21. Jahrhundert gestalten werden, rufe ich aus ­ganzem Herzen und voller Überzeugung zu: Neues schaffen heisst Widerstand leisten, Widerstand leisten heisst Neues schaffen.» Markus Allemann und Verena Mühlberger, Co-Geschäftsleitung © G re en peace / Chr i s t i an G ru nd

Rio+20, 20. bis 22. Juni 2012


Welt ­Konferenz Rio+20 Sind wir jetzt alle grün? Und wenn ja, ­warum nicht? Weil wir Rio+20 mit zwiespältigen Gefühlen gegenüberstehen, haben wir mit vier Vertretern der «Generation Rio» Gespräche geführt: Für die ­ IT-Wissenschafterin Elaine Huang ist Nach­haltigkeit ein selbstverständlicher Wert. Für den Wirtschaftsberater Simon Z ­ adek eine Business Opportunity. Für die Politikerin Rosmarie Bär hartes R ­ ingen. Für den Schriftsteller T.C. Boyle schliesslich ist Umweltschutz ein fast exotisches Universum.

Politik: Rosmarie Bär «20 Jahre Rio heisst 20 Jahre k ­ ollektives Versagen der ­Politik. Niemand war willens, den ­Paradigmenwechsel einzuleiten.» Wirtschaft: Simon Zadek «Die erste Rio-Konferenz hatte noch gar keine ­Vorstellung von Business. Den Begriff Green Growth gab es noch nicht.» Wissen+Technik: Elaine Huang «Es geht darum, den Fortschritt zu nutzen, um weniger schädlichen Fortschritt zu erzielen.» Kultur: T.C. Boyle «Einer meiner Figuren sagt: ‹Um ein Freund der Erde zu sein, muss man ein Feind des Menschen sein.›» Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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«Wir müssen mit ­einer Stimme ­sprechen» Rosmarie Bär hat seit dem Erdgipfel von Rio 1992 an allen internationalen Folgekonferenzen als Vertreterin der Umwelt- und Entwicklungsorganisationen in der offiziellen Schweizer Delegation teilgenommen. Nach 20 Jahren zieht sie ein ernüchterndes Fazit – ohne aber die Hoffnung a ­ ufzugeben. Von Urs Fitze, P ­ ressebüro Seegrund

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r © Keyst one / Jürg Mülle

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Greenpeace: «The future we want» lautet der Titel des Entwurfs für das Abschlussdokument der UNO-Konferenz Rio+20, die im kommenden Juni, 20 Jahre nach dem Erdgipfel, über die Bühne gehen soll. Was halten Sie von dem Papier? Rosmarie Bär: Es ist ein klarer Rückschritt, gemessen an den Beschlüssen des Erdgipfels und an dem, was im wahrsten Sinne des Wortes notwendig wäre. Man bleibt im Unverbindlichen. Es gibt keine konkreten Lösungsvorschläge, nur vage Absichtserklärungen und Appelle. Menschenrechte und soziale Fragen sind nur noch am Rande vermerkt. Das «unverträgliche Konsum- und Produktionsverhalten, vor allem der Industriestaaten», wie es in der Agenda 21 hiess, wird nicht in Frage gestellt. Dabei sollte es ja um die Leitlinien für eine grüne, nachhaltige Wirtschaft gehen.

Rio+20

Und vor 20 Jahren? Da herrschte eine grosse Aufbruchstimmung. Einmütig wurde die Agenda 21 verabschiedet, das wegweisende Pflichtenheft aller Staaten für das 21. Jahrhundert. Man war sich damals einig, dass Umwelt und Entwicklung zwei Seiten derselben Medaille sind: «Der einzige Weg, der uns eine sichere und blühende Zukunft bescheren kann, besteht darin, Umwelt- und Entwicklungsfragen gleichermassen und miteinander anzugehen. Wir müssen menschliche Grundbedürfnisse befriedigen, den Lebensstandard aller Menschen verbessern und die Ökosysteme wirkungsvoll schützen und verwalten.» Das unterschreibe ich auch heute noch. Aber wir brauchen mehr denn je verpflichtende Massnahmen und keine Schönrederei. Fragt man heute junge Leute nach der Agenda 21, dann ­wissen nur die wenigsten etwas damit anzufangen. Wie kann ein so wegweisendes Papier so in Vergessenheit geraten? Es stimmt. Die Agenda 21 ist zum schubladisierten Papiertiger geworden. Dabei stehen darin konkrete, detaillierte Handlungsanweisungen – etwa, dass jede Gemeinde mit einer lokalen Agenda 21 die Ziele von Rio auf lokaler Ebene umsetzen und jeder Staat einen Rat für Nachhaltigkeit einsetzen soll, der die Politik und die Verwaltung mit Fachwissen unterstützt und Handlungsempfehlungen ausarbeitet. Zahlreiche Länder haben dies auch getan. Globale Verpflichtungen sind nämlich nationale Hausaufgaben. In der Schweiz hingegen verpuffte die Aufbruchstimmung des Jahres 1992 fast so schnell, wie sie aufgekommen war. Sie war ein laues Lüftchen, leider. Woran lags? 20 Jahre Rio heisst 20 Jahre kollektives Versagen der Politik. Niemand war willens, den versprochenen Paradigmenwechsel einzuleiten. Der Bundesrat hat die nachhaltige Entwicklung nie zur Chefsache gemacht. Er übernahm keine Führungsarbeit und stellte keine entscheidenden Weichen, nicht einmal, als der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung in die Bundesverfassung aufgenommen wurde. An vielen Orten wurden Aktivitäten entfaltet, aber eine in sich kohärente nationale Nachhaltigkeitsstrategie haben wir bis heute nicht. Ein Beispiel: Ich war Mitglied des 1998 einberufenen Nachhaltigkeitsrats. Wir hatten kein konkretes Mandat, keine Infrastruktur und schon gar keine finanziellen Mittel. Zwei Jahre später erreichte mich mitten in der Nacht ein Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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Fax: Man danke für den Einsatz, die Aufgaben des Nachhaltigkeitsrats würden künftig in ­einer Kommission für Raumentwicklung wahrgenommen. Das wars.

«Eine nachhaltige Wirtschaft darf nicht weiter wachsen, sie muss in einzelnen Segmenten sogar schrumpfen» Rio 1992 darf auch als Premiere der Umwelt- und Ent­ wicklungsorganisationen gelten, die erstmals mit an den ­Verhandlungstischen sassen. Sie waren seit 1992 an allen einschlägigen Konferenzen dabei. Was hat das Engagement der Nichtregierungsorganisationen gebracht? Meine Bilanz ist überwiegend positiv. Die VertreterInnen der Zivilgesellschaft sind von der internationalen Bühne nicht mehr wegzudenken. Sie haben mit fundiertem Sachwissen wichtige Impulse gesetzt und hartnäckig ihre Positionen vertreten. Die Agenda 21 anerkennt etwa erstmals die überragende Rolle der Frauen. Das wäre ohne die hartnäckige Arbeit der Frauenorganisationen sicher nicht passiert. Und wenn wir von der Schweiz reden: An den Umwelt- und Entwicklungsorganisationen liegt es nicht, dass die Agenda 21 so wenig ernst genommen wurde. Wir waren es, die in den letzten 20 Jahren die Fahne der nachhaltigen Entwicklung hochgehalten haben. Haben die Organisationen auch selbst profitiert? Sie sind professioneller geworden und haben sich international stärker vernetzt, auch zwischen Süd und Nord. Das war ein wichtiger Schritt, um mehr Einfluss zu gewinnen. Dass damit die latente Gefahr besteht, den Kontakt zur eigenen Basis zu Hause zu verlieren, liegt in der Natur der Sache. Es ist deshalb unabdingbar, stets mit beiden Füssen auch auf dem Boden der Basis zu bleiben. Das gilt für alle Funktionsebenen der Umwelt- und Entwicklungsorganisationen. Es braucht heute beide: die Profis mit ihrer Dossier- und Sachkenntnis und die Engagierten, die AktivistInnen, die Ehrenamtlichen, die jede Nichtregierungsorganisation erst glaubwürdig zur Vertreterin der Zivilgesellschaft ­machen. In der Schweiz wird diese Legitimität immer wieder ­ ngezweifelt, jüngst mit den Kampagnen gegen das Verbandsa beschwerderecht. Da bin ich gelassen. Die Erfolgsbilanz der eingereichten Beschwerden zeigt, wie verantwortungsvoll die NGOs mit dem Instrument umgehen. Umgekehrt suchen manche Nichtregierungsorganisationen die Nähe zu Wirtschaft und Politik, runde Tische werden Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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gegründet, um kleine Verbesserungen in einzelnen Sachfragen zu erreichen. Das könnte man durchaus als sinnvolle Fortsetzung des Engagements bei internationalen Konferenzen interpretieren. Was halten Sie davon? Ich bin nicht begeistert – schon gar nicht, wenn mit einzelnen Unternehmen kooperiert wird. Die Gefahr, zum «Gütesiegel» von Greenwashing zu werden, ist zu gross. Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit, unser wichtigstes Kapital, stehen auf dem Spiel. Wie will man einen Konzern, mit dem man eben noch gemeinsame Sache gemacht hat, glaubwürdig kritisieren, wenn es darauf ankommt? Dasselbe liesse sich doch auch hinsichtlich der Teilnahme an grossen Konferenzen sagen. Nein. Da haben die Nichtregierungsorganisationen ja Beobachterstatus. Sie machen Lobby- und Überzeugungsarbeit und präsentieren eigene Positionen. Sie reden mit, sie können aber nicht mitentscheiden. Das bewahrt ihnen jede Freiheit zur Kritik, die absolut unabdingbar ist und bleibt, gerade angesichts der aktuellen Entwicklung.

Rio+20

Sie ziehen 20 Jahre nach Rio eine ernüchternde Bilanz: Die damaligen Ziele sind nicht nur deutlich verfehlt worden, ­sondern stehen teilweise gar nicht mehr im Fokus. Wie sollen sich Nichtregierungsorganisationen künftig an internatio­ nalen Konferenzen verhalten? Das Wichtigste ist, mit einer Stimme zu sprechen. Die Wirtschaftslobby hat längst Position bezogen zu Rio+20, um den Privatsektor schon im Vorfeld ins grüne Licht zu rücken. Hier braucht es eine Gegenstimme, die sich deutlich und mit klaren Zielsetzungen zu Wort meldet. Das schaffen die Umwelt- und Entwicklungsorganisationen nur, wenn sie geschlossen auftreten. Und inhaltlich? Der vorliegende Textentwurf ist in dieser Form indiskutabel. Für solche Allgemeinplätze braucht es keine neue Konferenz. Die Nicht­ regierungsorganisationen sollten in Rio der Staatengemeinschaft und ihren Regierungen zu Hause einen Gegenentwurf vorlegen, der die Lebens­grundlagen schützt und die Basis für eine gemeinsame Zukunft der Menschheit bildet. Selbst dann: Wird das genug sein? Nein. So wie heute über grüne Wirtschaft geredet wird, muss zwangsläufig der Eindruck entstehen, man könne mit neuen Technologien und mehr Effizienz nicht nur unsere Probleme lösen, sondern auch noch stattliche Wachstumsraten erzielen. Das ist schlicht nicht möglich. Es gibt eine einfache Wahrheit, die auch mit dem Adjektiv «grün» nicht umzustossen ist: In einer begrenzten Welt ist unbegrenztes Wachstum nicht möglich. Unsere Erde ist ein begrenzter Raum. Der Boden und die nicht erneuerbaren Ressourcen wachsen nicht nach. Die Biosphäre kann nicht endlos Schadstoffe aufnehmen. Wir müssen also Klartext reden, auch wenn das niemand hören will: Eine nachhaltige, die Lebensgrundlagen sichernde Wirtschaft darf nicht weiter wachsen, sie muss in einzelnen Segmenten sogar schrumpfen. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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chr i st o ph Ban G ert / lai f

Das heisst, die Grenzen des Wachstums sind erreicht? am eingang des apollo-tempels in delphi steht: «von nichts zu viel.» das ist wohl die erste bekannte definition von suffizienz. diesen begriff fürchten die politik und leider auch viele umwelt- und entwicklungsorganisationen wie der teufel das weihwasser. sie haben angst, als verzichtsmuffel und gürtel-enger-schnallen-apostel abgestempelt zu werden. aber suffizienz heisst nicht verzicht. es ist eine «ökonomie des genug». ein bedenkenswerter vorschlag kommt aus sri lanka von mohan munasinghe, dem vizepräsidenten des weltklimarats. er empfiehlt, sich auf die 1,4 milliarden menschen zu konzentrieren, die das reichste fünftel der weltbevölkerung ausmachen. sie verbrauchen vier fünftel der produkte – das sechzigfache dessen, was das ärmste fünftel der menschheit zur verfügung hat. das heisst: bei uns machen schon kleine einsparungen einen grossen unterschied. es geht um gerechtigkeit jenseits von wachstum. bedingungen und möglichkeiten einer wirtschaft nach dem wachstum sind jetzt auszuloten. das ist die grosse herausforderung des 21. jahrhunderts.

Klimagipfel in Kopenhagen (7. Dezember 2009) Das klingt angesichts der vorherrschenden Meinung wenig hoffnungsvoll. hoffnung, schrieb vaclav havel, sei die fähigkeit, für das gelingen einer sache zu arbeiten in der gewissheit, dass etwas einen guten sinn hat, egal wie es am ende ausgeht. diese hoffnung allein sei es, die uns die kraft gebe, zu leben und neues zu wagen, selbst unter bedingungen, die uns vollkommen hoffnungslos erscheinen. das gilt für alle menschen, auch für mich, die ich jetzt im ruhegang bin. Zur Person: Rosmarie Bär, Jahrgang 1947, war von 1996 bis 2010 Koordinatorin für Entwicklungspolitik bei alliance Sud und verantwortlich für das Dossier Nachhaltige Entwicklung. Von 1987 bis 1995 sass sie für die Grünen im Nationalrat.

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© Alan Keo han e

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Globalisierung als ethische ­Herausforderung Mit Rio 92 wurde Nachhaltigkeit für die Wirtschaft unumgänglich. Immer mehr Unternehmen haben die Ökologie als ­Geschäftsfeld entdeckt. Die meisten versuchen, nachhaltiger zu werden. Bei zu vielen bleibt es beim Greenwashing. Verbergen sich hinter der grünen Fassade schmutzige Wahrheiten? Simon Zadek weiss es. Von Hannes Grassegger Er ist der Aktivist hinter den Konzernkulissen. Nur wenige wissen mehr darüber, wie es hinter den Fassaden aussieht, als Simon Zadek (54). Die Begrünung der Wirtschaft ist seine Lebensaufgabe. Als sich auf der ersten Rio-Konferenz die Diplomaten trafen, entwarf der frisch promovierte Ökonom in einem schäbigen Gemeinschaftsbüro in London Sozialstandards: Regeln, um Unternehmen in die Nachhaltigkeit zu führen. Es war die richtige Zeit. Schon bald rannten ihm Konzernvertreter die Tür ein. Shell, Nestlé, Nike, BP – Zadek arbeitete mit allen roten Tüchern der Umweltschutzbewegung. Heute erklärt er der chinesischen Regierung Green Growth und arbeitet mit chinesischen Behörden sowie Unternehmen an den Regeln für ein sozialeres und ökologischeres Wirtschaften. Jedes Jahr ist der Engländer als Berater am World Economic Forum (WEF) in Davos. Am dritten Tag des WEF packen ihn immer Selbstmordgedanken: Zu unüberwindbar scheinen die Probleme. «Irgendein Freund kratzt mich dann aus dem Schnee, gibt mir ein paar Drinks, und dann mach ich weiter. Ich habe eine Tochter. Die Zukunft ist mir wichtig», meint Zadek am Ende eines langen Gesprächs mit Greenpeace. Greenpeace: Was hatte die Wirtschaft mit Rio 92 am Hut? Simon Zadek: Die erste Rio-Konferenz hatte noch gar keine Vorstellung von Business. Den Begriff Green Growth gab es noch nicht. Aber: Hier ­begann die Wirtschaft, sich des Themas Nachhaltigkeit anzunehmen. Währenddessen sassen Sie in einem kleinen Hinterhofbüro in London und wollten Unternehmensberater werden? Bei der New Economic Foundation (NEF) versuchten wir damals, zum Nachhaltigkeitsauditor für Unternehmen zu werden. Ökosoziale Prüfung war ein neuer Ansatz. Die Ersten, die zu uns kamen, waren Ben & Jerry’s und Bodyshop – ethische Unternehmen der 1990er-Jahre. Zusammen versuchten wir herauszufinden, wie man mit Standards die Transparenz in Unternehmen erhöht und soziale Effekte misst. Kurz darauf, 1995, gründeten Sie den weltweit ersten runden Tisch von Regierung, Unternehmen und Zivilgesellschaft zur «Moralisierung» des Wirtschaftens – die Ethical Trading Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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Initiative. Wie kam es zu diesem rasanten Aufstieg Ihrer ­alternativen Ideen? Das war, als die Globalisierung anfing zu reifen. Mitte der 1990erJahre hatten AktivistInnen gelernt, wie man unter smartem Einsatz der Medien Kritik an Brands wie Nike üben konnte. Gleichzeitig war England Sitz vieler solcher Unternehmen – und ihrer Gegner, der NGOs. Das kleine England wurde zum Labor. Weil das NEF und ich bereits mit kleinen Brands gearbeitet hatten, kontaktierten uns grössere Unternehmen, die damals vor der Herausforderung standen, ihren Ruf zu wahren.

«Jedesmal wenn bekannt wird, dass die Chinesen etwas falsch gemacht haben, folgt der Aufschrei: Die sind böse!» Welches waren die ersten grossen Kunden? BP kam wegen Casanare, Shell wegen Brent Spar. Und auch British Telecom kam, damals das böse Unternehmen in England. 1998 wurden sie die drei ersten Unternehmen, die die Menschenrechte in ihre Richtlinien aufnahmen.

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Wie kam der Kontakt zustande? Wir sassen einfach da – und die Firmenvertreter kamen zu uns. Es war der Beginn einer Ära, in der die Markennamen von Firmen höher bewertet werden als ihre restlichen Besitztümer. Doch ebendieser Markenwert war damals bedroht. Das war neu, und die Unternehmen hatten keine Ahnung, was für Instrumente ihnen helfen konnten. Mit was für Menschen hatten Sie da zu tun? Beispielsweise mit John Browne, damals CEO von BP. Als bei ihm im kolumbianischen Casanare die Dinge schiefliefen, konnte er es erst gar nicht glauben. Es war unfassbar: Seine Firma war eine Komplizin bei Menschenrechtsverletzungen! Als er sah, dass es wirklich stimmte, dass sein Unternehmen in Morde verwickelt war, öffnete er sich total. Nicht einfach um sein Unternehmen zu schützen. Er war aufgerüttelt. Moralisch. Genauso Shell-Vorstand Mark Moody-Stuart oder Phil Knight von Nike. Das waren sehr moralische Menschen. Die sahen mehr als nur ihr Unternehmen. Phil Knight ein moralischer Mensch? Nike war damals ein ganz junges Unternehmen, 25 Jahre alt. Keine einzige Führungskraft hatte je einen Gewerkschaftsvertreter ausserhalb der USA getroffen. Die hatten gar keine Ahnung. Sie behaupten, Nike sei naiv gewesen? Für einen jungen Aktivisten würde das lächerlich klingen. Aber es stimmt. Nike wollte erfolgreich sein – aber keine Menschen schädigen. Die Konstellation aus Unternehmen und Kritikern erinnert daran, wie heute chinesische Unternehmen im Westen wahrgenommen werden. Die wollen auch Gewinne machen in anderen Ländern, von denen sie wenig Ahnung haben. Jedesmal wenn bekannt wird, dass die Chinesen etwas falsch gemacht haben, folgt der Aufschrei: Die sind böse, die kümmern sich nicht darum, wie es den Menschen geht. Wenn die Chinesen in Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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afrika produzieren und rohstoffe abbauen, dann stehen auch sie, wie nike damals, vor ganz neuen, unbekannten situationen. Und dann kommt Herr Zadek und erzählt den chinesischen Unternehmern von Menschenrechten! die meiste Zeit in china rede ich mit der regierung. ich habe ein jahr lang mit dem «rat für internationale Zusammenarbeit in der umweltentwicklung» des wirtschaftsministeriums geprüft, wie die regierung richtlinien erlassen kann, um das soziale und ökologische verhalten chinesischer unternehmen im ausland zu verbessern.

lu G uan G / G r een peace

Warum kümmern sich die Chinesen überhaupt um Nachhaltigkeit? ich sehe mehrere gründe: in den nächsten fünf bis acht jahren will china als staat im ausland 1000 milliarden dollar in unternehmen investieren. das hat premier wen 2011 in davos verkündet. um komplikationsfrei firmen kaufen zu können, muss china als marke funktionieren.

Kinderarbeit in einem textilbetrieb im chinesischen Gurao. Und warum noch? geopolitik. jede supermacht muss macht auf drei ebenen entfalten: militärisch, wirtschaftlich und moralisch. die chinesen werden die erste supermacht sein, die nachhaltigkeit ins Zentrum stellt. nicht weil sie priester sind. sie brauchen eine moralische story, um zur supermacht zu werden. Hat China keine wirkliche Moral? es ist nicht hilfreich, zu fragen, ob man aus moral oder aus pragmatismus handelt. hilfreich ist, zu fragen: hat es einen effekt? verändert es die kultur des unternehmens? Ein Beispiel? seit john browne weg ist, wurde klar, dass er es nicht geschafft hat, seine sozialen und ökologischen konzepte bei bp zu verankern, während mark moody-stuart sie bei shell bis in die dna des unternehmens hineintrug. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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Nestlé hat während der Beratung durch Sie Umwelt­ aktivistInnen bespitzeln lassen. Schmerzt das? Nein. Ist es gut? Nein. Überrascht es mich? Nein. Die interessantesten Unternehmen sind die, die zugleich in der Vergangenheit und in der Zukunft leben. Sie sind komplett schizophren. Die Unternehmen mit den interessantesten Projekten stehen mit den Füssen im Dreck und haben den Kopf in den Wolken. Da hilft nur Führungsstärke. Als grosses Unternehmen will man gewisse Dinge, die man lieber nicht tun sollte.

«Die Spannungen wegen sozialer Ungleichheit wachsen, auch in Europa. Vor 60 Jahren wären wir in den Krieg gezogen.»

Wie wissen Sie eigentlich, ob Sie überhaupt etwas erreicht haben? Es ist völlig unklar in dieser Welt, welche Handlungen was auslösen.

Rio+20

Sie als Spezialist für Standards müssen doch wissen, wie man Wirkung misst! In den letzten 15 Jahren sind Umweltschutz und Nachhaltigkeit Mainstream geworden. Vieles, was wir propagiert haben, ist heute Bestandteil von Geschäftspraktiken, Gesetzen oder der öffentlichen Diskussion geworden: Sozialstandards in Unternehmen, Ethik bei medizinischen Versuchen, Privatsphäre im Netz, Hunderte solche Themen. In der westlichen Welt. Nicht nur. Noch vor drei Jahren wäre es unmöglich gewesen, in Peking eine Konferenz zum Thema Naturzerstörung in Afrika zu veranstalten. Letztes Jahr haben wir genau das getan. Fortschritt zu belegen, ist einfach. Das wahre Problem ist: Der Fortschritt ist oft so klein im Verhältnis zum Problem, dass er selber zum Teil des Problems wird. Das verstehe ich nicht. Wenn die kleinen positiven Veränderungen von Unternehmen oder Regierungen nur als Beleg genutzt werden, dass man ja «etwas tut», dann wird der kleine Fortschritt zum Teil des Problems. Sie meinen Greenwashing? Das Vereinnahmungsproblem von jedem, der Veränderung will und «der mit Macht» arbeitet, lautet: Wie kann ich verhindern, dass die ­Sachen, die ich tue, Teil des Problems werden? Führen kleine Schritte zum echten Wandel – oder ins grosse Problem? Sie befürchten, dass uns grosse Probleme bevorstehen? Es ist eine sehr dunkle Zeit. Alles steht auf der Kippe. Die Spannungen wegen sozialer Ungleichheit wachsen, auch in Europa. Vor 60 Jahren wären wir in dieser Situation in den Krieg gezogen. Andererseits ist nun alles offen. Darum sind das Occupy Movement und der «Arabische Frühling so wichtig. Heute erkennt die Mittelklasse, dass die Zukunft schlecht aussieht. Das ist gut. Das gibt uns politischen Raum. Jetzt ist Wandel möglich. Es gab noch nie so einen grossartigen Moment in meinem Berufsleben. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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Design für die ­Nachhaltigkeit Unser Alltag ist immer mehr von Computern geprägt. Ständig interagieren wir mit intelligenteren Geräten. Das erzeugt zunehmend Umweltbelastungen. Die junge ­Professorin Elaine Huang in Zürich will die Probleme durch Design lösen. Von Hannes Grassegger Elaine Huang, 35, ist wohl die einzige Forscherin der Schweiz, die sich wissenschaftlich vor allem um die Frage kümmert, wie man die Interaktion zwischen Mensch und Computer ökologisch und sozial nachhaltiger gestalten kann. Seit September 2010 ist die gebürtige Amerikanerin Assistenzprofessorin am Institut für Informatik der Uni Zürich. Inspiriert ist sie vom «Cradle to Cradle»-Konzept («von der Wiege bis zur Wiege») des Chemikers und Mitgründers von Greenpeace Deutschland Michael Braungart. Bevor die promovierte Informatikerin nach Zürich kam, um sich mit Nachhaltigkeitsfragen zu beschäftigen, hatte sie für einen grossen US-amerikanischen Mobiltelefonhersteller in der Entwicklung gearbeitet. Greenpeace: Frau Huang, Sie erforschen das ­Interaktions­design. Worum geht es da? Elaine Huang: Im weitesten Sinn darum, wie Umgebungen das Nutzerempfinden beeinflussen. Im engsten Sinne: Wie gestalten wir das Empfinden, das ein Mensch hat, wenn er eine bestimmte Technologie nutzt? Ich bin genau genommen Forscherin im Bereich Human-Computer Interaction (HCI), erforsche also die Beziehung zwischen Mensch und Computer. Wir machen Studien zu dieser Wechselwirkung. Das ist ein interdisziplinäres Feld mit Methoden der Anthropologie, der Psychologie, der Ingenieurwissenschaften und der IT. Warum ist das punkto Nachhaltigkeit ein wichtiges Thema? Um uns herum wird es immer mehr Computertechnologie geben. Das wird tiefer in unser Leben eindringen, als wir vor zehn Jahren dachten. Und es bringt immer mehr Umweltprobleme mit sich. Man kann sich gegen diese Flut stemmen, aber der Ansatz von nachhaltiger HCI ist, Technologie nicht als Problem zu sehen, sondern sie zum Teil der Lösung zu machen. Es geht darum, den Fortschritt zu nutzen, um weniger schädlichen Fortschritt zu erzielen. Nennen Sie mir ein Beispiel für Interaktionsdesign, das positiv zu ökologischem Verhalten beiträgt? Wichtig ist die Visualisierung von Informationen. Es begann in Hybridautos. Wenn Leuten beispielsweise in Echtzeit ihr Benzinverbrauch angezeigt wird, hat das sehr positive Effekte. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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Was wäre negativ? Der kurze Lebenszyklus von Geräten: In Europa schmeisst man alle 18 bis 20 Monate das Handy weg. Das sind Geräte, die leistungsstärker sind als Heimcomputer vor ein paar Jahren. Wir entsorgen riesige Mengen Technologie.

«Nachhaltigkeit soll im ­Interaktionsdesign eines der Kernkriterien werden: Was ­passiert nach der Nutzung mit dem Gerät?»

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Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Behebung solcher ­Missstände. Sie wollen «nachhaltiges Interaktionsdesign» entwickeln, englisch «Sustainable Interaction Design» (SID). Wie definiert sich das? Nachhaltigkeit soll im Interaktionsdesign eins der Kernkriterien werden: Was passiert nach der Nutzung mit dem Gerät? Designer sollten den Lebenszyklus des Produkts bereits im Entwurf einplanen. Das wäre nachhaltiges Interaktionsdesign. Oder: Ein Grenzbereich des SID wäre die Software-Optimierung, um den Speicherverbrauch von Rechnern und damit die Strom- und Material­verschwendung zu ­senken. Recycling von Geräten ist keine neue Idee. Wir fragen uns nicht nur, ob Produkte biologisch abbaubar sind, sondern: Gibt es eine Wiederverwendung von Bauteilen? Oder des ganzen Produkts? Manche nutzen alte Handys als Wecker oder Notiz­ bücher weiter. Kann aus meinem alten iPhone ein Kinderspielzeug fürs Wartezimmer werden? Aus einem Tablet ein Fotoalbum? Und SID stellt die Frage: Wie muss ein Produkt designt werden, damit Menschen es so einfach wie möglich umnutzen können? Da kommt dann die Psychologie ins Spiel? Die Menschen empfinden viele der heutigen Technologieprodukte schnell als wertlos. Wie kann man erreichen, dass Handys wie ein gutes Paar Jeans mit der Zeit cooler werden? Das Ergebnis des Forschungsprojekts einer Studentin war zum Beispiel ein Laptop, bei dem die Hülle aus Leder war. Durch die Gebrauchsspuren, die zwangsläufig entstehen, sollte sich ein persönlicher Bezug entwickeln. Der persönliche Wert steigt mit der Zeit. Im Rahmen dieses Projekts entwickelte ein anderer Designer einen MP3-Player, der den persönlichen Geschmack erlernte – und so immer besser wurde.

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THomas Schuppisser

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© C hlo e Fan

Luftmessung der Carnegie-Mellon-Universität (USA): Bei schlechter Luftqualität ändert sich die Farbe der ­Ballone

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Es gibt Nachhaltigkeit im Design, darüber haben wir ­gesprochen, aber es gibt auch den Begriff «Nachhaltigkeit durch Design». Was ist das? Dabei sollen Menschen durch Design ermutigt werden, sich nachhaltiger zu verhalten. Ein Beispiel dafür ist ein kürzlich entwickelter Smartphone-Hintergrund, der sein Design ändert – je nachdem, wie grün man sich fortbewegt hat. Was sind für Sie die faszinierendsten Entwicklungen der ­letzten Zeit? Forscher der Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh (USA) haben kleine Luftqualitätsmessungs-Sets entworfen – kleine, tragbare Ballone mit LED-Leuchten zum Selberbauen. Wenn die Luftqualität schlecht ist, leuchten die LEDs in anderen Farben. Die Leute konnten so herausfinden, wie die Luftqualität auf dem Spielplatz ist. Oder wie sie sich beim Kochen verändert. Zudem bemerkten andere Menschen die Ballone. Das ganze hatte auch einen kommunikativen Aspekt. Gibt es auch SID-Forscher, die stromsparende Such­ algorithmen für Google entwickeln? Das wäre hinter der Benutzeroberfläche. SID konzentriert sich eher darauf, wie Google dem User seinen Stromverbrauch zeigen könnte. In Zukunft werden wir unsere natürliche Umwelt wohl h ­ äufig durch Computer vermittelt bekommen. Ich denke an ­Augmented Reality – die computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung. Was tut sich diesbezüglich in Ihrem Forschungsfeld? Sehr viel! Es gibt beispielsweise eine App namens GreenHat, mit der man in die Wälder gehen kann und auf dem Smartphone Clips mit Experteninformation zur natürlichen Umgebung erhält. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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Ist Nachhaltigkeit überhaupt im Interesse der Hersteller? Derzeit sehe ich da Widersprüche mit kommerziellen Interessen. Aber man sieht ja, wie man Geräte allein durch Software-Updates von innen erneuern kann. Und was wir auch in allen Studien sehen: Die Menschen sind sich der Umweltproblematik bewusst. Sie wollen nicht ständig Dinge wegwerfen. Wer will sich schon an ein neues Gerät gewöhnen? Eine Studentin unseres Instituts führte kürzlich eine Untersuchung des persönlichen Inventars von Menschen durch. Ihre Frage: Welche Bezüge entwickeln Schweizer zu ihren Gegenständen? Eine ­befragte Person erwähnte ihren Geldbeutel, den sie über Jahre nutzen gelernt hatte. Als die Person einen neuen Geldbeutel geschenkt bekam, verwendete sie den alten dennoch weiter. Er war nützlicher für sie. Wichtig ist also beispielsweise, wie viel Zeit Menschen mit einem Objekt verbracht haben. Es gibt eine Nachfrage nach nachhaltigen Lösungen. Kürzlich habe ich bei der amerikanischen Modekette Urban Outfitters Schuhe mit austauschbarer Sohle gesehen. Sehr ökologisch. Will aber niemand. Manche Sachen brauchen Zeit. Tablet-Computer gab es schon vor zehn Jahren. Jetzt plötzlich sieht man überall iPads. Was mich optimistisch stimmt, ist genau diese Geschichte. Apple hat sich vorgenommen, ein Smartphone zu designen – das war ein Erfolg, der eine ganze Generation von Mobilgeräten geprägt hat. Genauso bei den Tablets. Ich glaube daher, wenn ein Unternehmen wie Apple sich entscheiden würde, Handys zu designen, die nachhaltiger wären, könnte sich das genauso durchsetzen. Alle würden mitziehen. Sie haben ein MacBook Air auf Ihrem Schreibtisch, bei dem nicht mal die Batterie austauschbar ist. Davor hatte ich ein MacBook Pro. Als ich das kaufte, wollte ich ­eigentlich das MacBook Air. Aber weil ich dachte, beim Pro könne man die Batterie auswechseln, kaufte ich das. Und erst zuhause merkte ich, dass man beim neuen MacBook Pro die Batterie ebenfalls nicht austauschen konnte. Das war frustrierend. Aber beim Design gibt es immer Kompromisse zwischen den Kriterien. Für mich ist das Gewicht des Rechners wichtig, weil ich viel reise – wichtiger als der ökologische Vorteil, die Batterie austauschen zu können. Menschen haben unterschiedliche Ansprüche und ­ ebensweisen. Geht es beim nachhaltigen Interaktionsdesign L nicht auch darum, weniger den User und dafür mehr den Menschen hinter der Maschine zu erkennen? Wenn man an den User denkt, geht es um Effizienz und Geschwindigkeit. Wer an den Menschen denkt, berücksichtigt auch emotionale Seiten, die Beziehung zum Produkt. Das ist wichtig. Beweis dafür ist der Aufstieg von Computermarken, die auf emotionalisiertes Design setzen. Der Designfokus eröffnet Möglichkeiten, um Nachhaltigkeitsideen in die Entwürfe einzubringen. Andererseits: Wer immer das neue Design will, schmeisst auch das alte schneller weg. Einen Dell-Computer wechselt man nicht aus, weil der neue so hübsch ist.

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Wildes Kind An wen werden wir einmal denken, wenn nach einem Schriftsteller der grünen Revolution gefragt wird? Der Name Thomas Coraghessan Boyle wird ganz oben stehen. Seit den 70er-Jahren und nicht erst seit Rio 92 verleiht der US-Autor der Ökologie eine künstlerische Sprache. Greenpeace hat ihn in seiner eigenartigen Welt zwischen Zivilisation und Wildnis getroffen. Von Matthias Wyssmann

Kaum ein moderner Exponent der Weltliteratur beschreibt die Natur eindringlicher und hingebungsvoller als T.C. Boyle. Sein Gott ist die Wildnis, seine Helden träumen davon, ­dorthin zurückzukehren. Und doch: Der Klimawandel mag längst überhand genommen haben, die Erdoberfläche mag nur vom Regen gepeitschter Morast oder Staubwüste sein (wie in Boyles literarischem Meilenstein «Ein Freund der Erde»): Letztlich bleibt nur die Zivilisation – Haus, Auto, Bar – als ­rettender Anker, wenn die Dinge ausser Kontrolle geraten. Und das tun sie in Boyles Büchern, Teufel, das tun sie. In seinem neuesten Buch geht gleich zu Beginn im schmalen Streifen Ozean, der die Channel Islands von der kalifornischen Küste trennt, ein junges Paar mit ihrem Boot unter. Nur die Frau überlebt, aber in der Tiefe lauern hungrige Haie und ein kalter Tod. Die Rettung erfolgt dank einer zivilisatorischen Errungenschaft: einer Kühlbox. Darauf paddelt die junge Frau zu einer der Inseln... «Wenn das Schlachten vorbei ist» spielt quasi vor Boyles Türe. Von seinem Haus im para­die­sischen Montecito aus sieht man in der Ferne jene Inseln. Davor schimmert friedlich der Pazifik.

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Greenpeace: Mr Boyle, ist dieser Streifen Ozean da vor uns wirklich so voll von Horror? T.C. Boyle: Entscheiden Sie selbst: Am Tag, als ich in dieses Haus zog, wollte ich mir den Strand ansehen. Ich nahm also Schnorchel, Brille und Flossen mit. Es wimmelte von Menschen, die schwammen und plantschten. Was nur ich sah: Unter Wasser bedeckten zahllose Rochen wie Teppiche den ganzen Meeresboden. Aber die Menschen wussten es nicht, hatten ihren Spass, und niemand wurde gestochen. Da ist also reale Gefahr. Aber gleichzeitig ist die Natur das, was wir uns darunter vorstellen? Nun, wir sind sterblich. Und es gibt so viele Dinge da draussen, die uns erwischen könnten. In «Ein Freund der Erde» wird jemand in seiner Küche von einem winzigen Meteor getötet. Es ist unwahrscheinlich, aber es kommt vor. In meiner Heimatstadt zum Beispiel. Ein Mann sass vor einem Pizza-Shop. Sein Wagen machte einen Hüpfer und der Mann sah, dass etwas ein Loch durch den Kofferraum und in den Asphalt darunter gebohrt hatte. Ein Meteor. Stellen Sie sich das vor. Daran habe ich bisher nie gedacht. Eine Angst mehr. Na, ­danke bestens. Es ist ein Wunder, dass irgendjemand von uns noch am Leben ist. Ha!

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Sind Sie z ­ ugleich angezogen und beunruhigt, wenn Sie in den Wald gehen? Nein, ich fühle mich im Wald nie bedroht. Ausser zwei Mal. Als ich Berglöwen begegnete. Es war ungemein aufregend, denn diese Tiere können Sie umbringen. Und doch ist es wunderbar zu wissen, das es diese Tiere da draussen gibt. Davon gibt es in der Schweiz wohl nicht viele... Doch, da war ein Braunbär, nicht? Er wurde abgeschossen. Richtig, ich las darüber. Was ich sehr bedauerte. Ich stehe auf der Seite der Bären. Es wäre nett, wenn es Platz für diese Geschöpfe gäbe. Ich wuchs bei New York auf. Die Wälder da waren ziemlich leer. Nicht mal Koyoten. Sehr zahm das Ganze. Als ich aber hier in den Westen zog, änderte sich das. Ich verbringe viel Zeit in meinem Ferienhaus im Sequoia National Forest. Dort trete ich vor die Tür und stehe in der Wildnis. Und sie sind da, all diese wilden Tiere: Bären, Berglöwen, Wildkatzen. Ich sehe sie kaum. Aber sie sind da. Und das macht Ihnen keine Angst? Überhaupt nicht. –

«Im Wald fühle ich mich nie bedroht. Ausser zwei Mal, als ich Berglöwen begegnete.» Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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Aber wenn ich ein Bein bräche, was dann? Die erste Geschichte, die ich nach «Wenn das Schlachten vorbei ist» schrieb, heisst «My pain is worse than your pain.» Es ist eine lustige Geschichte: Ein Typ zieht los und bricht sein Bein. Und dann picken die Raben ihm die Augen aus, und das ist dann sein Ende. (lacht) – Also schaffte meine Frau dieses Ding an, ein GPS-Peilgerät. Und falls ich einmal in Not sein sollte, funktioniert es vielleicht.

«Die Natur ist in unserer ­verweltlichten Gesellschaft eine Art Gott geworden.»

Es fällt nicht leicht, sich T. C. Boyle allein draussen in der Wildnis vorzustellen. Er trägt schwarze Klamotten, umgekehrte Baseballmützen, ist trotz sommerlicher Temperaturen eingepackt wegen einer Erkältung. In der Öffentlichkeit trägt der 63-Jährige schrille Sakkos und TShirts. Ausserdem ist er lang und irgendwie steif auf den Beinen. Zum Glück hat er das Peilgerät, wenn er in den Felsen der Sierra Nevada unterwegs ist. Aber Boyle braucht die Natur. Jeden Nachmittag geht er hinaus. Er könne in seinem Garten wunderbar Löcher graben und sie wieder zuschütten. In der wilden Natur gebe es für ihn nur Staunen. Er könne immer wieder an denselben Ort gehen, der sei jedesmal anders. Boyle ist süchtig nach Natur. So wie er süchtig ist nach Schreiben. Ob er seine frühere Heroinsucht gegen eine andere vertauscht habe, wurde er schon gefragt. Boyle bestätigte das. Sein Haus bei Santa Barbara ist eines der berühmten Prairie Houses von Star-Architekt Frank Lloyd Wright. Es ist prächtig, aber eher ­eigenartig, dunkel. In dieser Höhle versetzt sich der Schriftsteller allmorgendlich in einen rauschhaften Zustand, der es ihm erlaubt, unaufhörlich und mit einer faszinierenden sinnlichen Fantasie Roman um Roman, Erzählung um Erzählung zu schreiben. Das Haus ist dicht umwachsen: Da wird gepflanzt, aber nicht gefällt. Boyle hat einen Teich angelegt. «Um den Tieren einen Zufluchtsort zu schaffen», sagt er. Boyle ist quasi Vegetarier, auf seiner Terrasse steht ein Grill, aber darin nistet eine Ratte. Die Nager hatten auch die Wände des alten Hauses bevölkert. Und was haben Sie dagegen unternommen? Tja, ich will leben und leben lassen. Aber wenn ich nichts tue, übernehmen sie den Laden. Als meine Kinder klein waren, hatten sie eine gezähmte Ratte. Ein weisses, putziges Tier, das in einem Käfig lebte. Einen halben Meter davon entfernt, hinter diesen Wänden, hausten ihre wilden Cousins, die von uns nicht dazu auserwählt worden waren, gefüttert und geliebt, sondern ausgerottet zu werden. Auch Ihr neues Buch beginnt mit Ratten. Mit dem Menschen sind sie auf eine der Channel Islands gekommen und Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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­ erstören das natürliche Gleichgewicht. Eine naturliebenz de Biologin bereitet die Massenvergiftung vor. Ein radikaler Tierschützer steht dagegen auf. Für einmal bekämpfen sich Umweltschützer gegenseitig. Das Buch ist voller Ironie. Dave, der männliche Held, ist eine Art Ökoradikaler. Er hat ein Prinzip: Du sollst nicht töten. Und dabei gibt es keine Abstriche. Sie erinnern sich vielleicht an seine Reaktion, als er spazieren geht und am Gift krepierende Ratten im Strassengraben liegen sieht. Das ist unmenschlich, das ist grauenvoll. Ihm steht Alma gegenüber, die genau gleich empfindet. Als sie ein Eichhörnchen überfährt, bricht ihr das das Herz. Aber sie argumentiert, dass zugunsten ursprünglicher Arten Eindringlinge eliminiert werden müssen. Die Ironie liegt darin, dass Alma und Dave dieselben Werte teilen: Sie sind beide Vegetarier und könnten ein tolles Bündnis eingehen. Nur in einer Frage nicht. Sie wird zu Beginn des Buches mit dem Zitat aus der Genesis gestellt: Hat der Mensch die Herrschaft über alle Tiere? Dürfen wir auswählen, welche Arten «wertvoll» sind und welche nicht?

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Nach den Ratten knöpft sich Alma die verwilderten Schweine vor. Sind sie eine Metapher auf den Menschen? Selbstverständlich. In «Ein Freund der Erde» sagt die Hauptfigur: «Um ein Freund der Erde sein zu können, muss man ein Feind des Menschen sein.» Schauen Sie mich an: Ich habe mich fortgepflanzt, ich lebe in einem grossen Haus – alles, was ich tue, ist kriminell. Dann geht es in «Wenn das Schlachten vorbei ist» jenseits aller Umweltpolitik – eigentlich um den Selbsthass des Menschen? Es geht um die Menschen, nicht um Politik. Dave ist einer jener Kerle, die immer wütend sind. Zu viel Testosteron. Am Anfang regt er sich über die Obdachlosen in der Stadt auf. Er hat kein Mitleid mit ihnen. Gleichzeitig riskiert er Gefängnis und Leben, um auf den Inseln Ratten und Schweine zu retten.

«Um einen Zufluchtsort für die Tiere zu schaffen, habe ich einen Teich angelegt.» Was also ist der Platz des Menschen in der Natur? Steht er in ihrem Zentrum oder eben nicht? (Denkt lange nach) Ich liebe die Tiefenökologie. Ich liebe die Vorstellung, dass sogar ein Stein seinen Wert hat, von belebten Wesen ganz zu schweigen. Dass nicht alles auf Erden einfach eine «Ressource» ist, mit dem wir unsere Gier füttern und den Kapitalismus am Laufen halten können, damit wir jeden Abend Fleisch auf dem Tisch haben. Wir sind eine Tierart und werden uns nehmen, was wir wollen. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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mit seinem Hund Dardar in

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der Sierra Nevada.

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Sobald es der Wirtschaft schlecht geht, werden die Umweltgesetze in Frage gestellt. Weil es jemanden den Millionenbonus kosten könnte. Aber das Problem wird sich leider von selbst lösen, und zwar in einer sehr negativen Weise durch die rasante Überbevölkerung.

«Um ein Freund der Erde zu sein, muss man ein Feind des ­Menschen sein.»

Seit Sie mit Schreiben angefangen haben, hat sich die ­Weltbevölkerung verdoppelt. Und die Entwicklungsländer werden immer mehr Ressourcen brauchen. Die Chinesen zwingen ihre Leute, nur noch ein Kind zu haben. Wir Amerikaner mögen solche Kontrolle nicht. Aber vielleicht ist es der einzige Weg.

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Jemand, der immer wieder bei Ihnen vorkommt, ist Henry David Thoreau, der Wegbereiter von Umweltschutz und z ­ ivilem Ungehorsam. Was verbindet Sie mit ihm? Er bleibt eines meiner Idole. Ich habe sein Buch «Walden» viele Male gelesen, erst neulich wieder. Ich liebe seine genaue Naturbeobachtung und seine wunderschöne Prosa und wie er fähig war, in die Tiefe zu denken. Und ich liebe es, wie er eine Sehnsucht beschreibt, die alle von uns, ausser Hardcore-Städter vielleicht, hegen: sich von allem wegstehlen und selbstversorgend an einem wunderschönen Natursee leben. Mir gefällt aber auch, dass er vom Städtchen gar nicht so weit entfernt war und jeden Tag ins Kaffeehaus kam und debattierte. ­Grossartig! Wie einer Ihrer Helden brannte er einen Wald nieder, ­allerdings versehentlich. Ich mag diese Parallele. Aber ich dachte beim Schreiben eher an die Ökoradikalen der Achtziger, die mit allen Mitteln gegen die Forstindustrie antraten. Früher wurden sogar in meinem geliebten Sequoia National Forest besonders wertvolle Redwoods gefällt. Tja, die Leute brauchen Holz. Um Häuser zu bauen. Wie dieses hier. Es besteht gänzlich aus Redwood. Es wurde 1909 gebaut. Damals gab es reichlich davon, heute gibt es keines mehr. Damals herrschte so etwas wie Unschuld, was n ­ atürliche ­Ressourcen angeht. Sie sind 1948 geboren und h ­ aben die U ­ mweltbewegung von Beginn weg erlebt. Wenn Sie an Rio+20 denken, was hat sich seit 1992 oder seit 1968 ­verändert? Das Bewusstsein. Ich habe gelesen, dass die grösste Sorge der Amerikaner, noch vor Jobs und Wohnungsnot, der Umweltschutz ist. Leider wird wenig dafür unternommen, denn die Politiker werden von den Lobbyisten der Konzerne gekauft. Wenn es nach mir ginge, wäre jedes Lobbying verboten. Ich würde alle Lobbyisten in Öl kochen, denn sie korrumpieren die Demokratie. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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Ja, die Leute haben ein neues Bewusstsein. Nehmen wir zum Beispiel effizientere Autos. Wenn ein Gesetz in fünf Jahren nur noch solche Autos auf amerikanischen Strassen zuliesse, fände die Industrie rasch eine Lösung. Leider kontrolliert Big Money die Politik. Die letzten beiden Rezessionen entstanden durch die Gier kapitalistischer Banker. Diese Menschen scheren sich einen Dreck. Sie vergewaltigen alles, um alles zu kriegen. Zurück zu Thoreau, der ja auch wichtig war für jenen zivilen Ungehorsam, den auch Greenpeace anwendet. Gibt es dafür noch einen Platz? Natürlich. Ich liebe, was Greenpeace macht. Noch mehr als direkte Aktionen liebe ich die Art, wie Dinge angeprangert werden. Bei meinen Buchrecherchen war ich unfähig, ein Schlachthaus zu besuchen. Aber PETA machte einen Film und stellte ihn ins Internet. Ich konnte keine Minute zuschauen, aber das war alles, was ich brauchte für die Erkenntnis, was wirklich los war.

«Ich liebe Henry David Thoreaus genaue Naturbeobachtungen und seine Fähigkeit, in die Tiefe zu denken.» Könnte es sein, dass der Begriff der Natur zum Leitprinzip unserer Gesellschaft wird, statt Vernunft und Rationalität? Ich weiss nicht genau, was Sie damit meinen. Ich denke, dass die Natur in unserer verweltlichten Gesellschaft eine Art Gott geworden ist. Andererseits ist Naturverehrung harmlos, oder? Wenn ich wandern gehe, bin ich an Geländewagen und rauchenden Motorschlitten nicht interessiert. Ich will nur der Erde nahe sein, auf einem Felsen in der Sonne sitzen, ein Buch lesen oder dem Wasser zuhören. Ich will mich als Teil von etwas Grösserem fühlen, zusammen mit der ganzen Schöpfung, allen Tieren und allem anderen. Dann ist die Vernunft ausgeschaltet. Ich kenne zwar die Namen der Tiere und Pflanzen und ich verstehe die Probleme, sehe die Holzschneisen, die Borkenkäfer dank meiner Vernunft. Aber da draussen bin ich, weil ich sie ausschalten will. Um wie ein Kind zu leben, wie ein kleiner Junge, wie Thoreau. Viele Menschen erkennen den Wert von wilder Natur nicht.

Der Mensch ist ein Wilder mit Erfahrung, sagte Thoreau. Sie sagen, Naturverehrung sei harmlos. Vielleicht sollte die Natur in unserer weltlichen Gesellschaft die Religion ersetzen. Das ist harmlos. Wir würden keine religiösen Gesetze machen und den Leuten sagen, was sie zu tun hätten und was nicht. Wir würden den Leuten einfach sagen: Geht hinaus und verehrt, was da draussen ist. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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Aber auf einer politischen Ebene würde das vielleicht ­heissen, nur ein Kind haben zu dürfen. Das ist nicht harmlos. Tatsächlich, das ist nur in einer diktatorischen Gesellschaft möglich. Tausende von Schweinen abschlachten wie in ihrem Buch ist nicht harmlos. Natürlich nicht. Die Natur umarmen ist harmlos. Nationalparks anlegen und die verbleibenden Tiere beobachten oder sogar mit ihnen in Kontakt treten, das ist harmlos. Aber nochmals: Was lassen wir am Leben und was nicht?

«Geht hinaus in die Wildnis und verehrt, was da draussen ist.» Darauf gibt es keine Antwort. Das muss jeder für sich individuell entscheiden. Aber wir müssen kollektiv handeln. Es muss eine Autorität geben. Ich lanciere nur die Debatte. Ich bin nicht die Autorität.

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Ich zitiere Sie: «Ich bin ein Bilderstürmer und Punk, der nie wirklich erwachsen wurde. Ich ertrage den Gedanken an eine Autorität nicht.» Wir leben in einer Demokratie. Wir haben heute Umweltgesetze, die dreissig Jahre früher nicht existierten. Da ist ein Bewusstsein. Meine Werke. Das Gespräch, das wir hier führen. Der Artikel, den Sie schreiben werden. Meine Auftritte im Fernsehen. All die Fragen und Antworten. Das macht Leute bewusst und lässt sie nachdenken. Aber ich bin nicht die Autorität, die ihnen sagt, was sie zu tun haben. Daran glaube ich nicht. Dafür habe ich die Zeit nicht! Aber Sie haben der Wildnis eine Sprache gegeben. Eines meiner letzten Bücher war «Wild Child». Es spielt im Frankreich des 18. Jahrhunderts und basiert auf der wahren Geschichte eines Wolfsjungen. Er ist frei von jeder Kultur und lernt nie das Sprechen. Er lebte als Tier in der Natur, wie es ursprünglich auch uns zugedacht war, so, wie wir angefangen hatten. Und ich schrieb die Geschichte, um herauszufinden, was das heisst. Sind Sie dieses Kind? Möchten Sie ganz zur Natur zurück­ kehren? Wir alle haben diese mystischen Vorstellungen von einer Vergangenheit und einer Natur, die niemals existierten. Wir werden angezogen von einem Leben, das wir selbst kontrollieren, statt von der Massengesellschaft ausgequetscht zu werden.

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Zur Person: Seit seinem ersten Buch ­Descent of Man (1979) ist die Natur in T.C. Boyles Werk ­omnipräsent, sei es in «Wassermusik» oder ­«América», in «Grün ist die Hoffnung» oder in «Drop C ­ ity». Selbst in BioFictions über Corn-Flakes-Erfinder Kellogg, Architekt Frank Lloyd Wright und «Dr. Sex» Alfred Kinsey geht es letztlich um unseren animalischen Anteil, den keine Zivilisation restlos beseitigen kann. Neben 15 Romanen — der letzte heisst «San Miguel» und wird im nächsten Sommer erscheinen — hat Boyle ­(ge­boren 1948 bei New York) unzählige ­Erzählungen ­geschrieben. Seit vielen Jahren geniesst der Autor vor allem auch in Europa ­Kultstatus. Diesen pflegt er genüsslich in seinen Interviews und Auftritten. Gleichzeitig bleibt er ein mani­scher, disziplinierter Schreiber, der seit seiner Ausbildung bei Lehrern wie John Irving und Raymond Carver täglich an seinen ­unglaublichen Charakteren und fantastischen Handlungen schreibt. Er arbeitet immer nur an einer Sache. Er lässt die Geschichten sich ­organisch entwickeln und überrascht wohl dabei nicht nur uns, sondern auch sich selber. So bissig, schonungslos und düster seine Bücher sein mögen, ­Boyle bewahrt sich immer den liebevollen Blick auf den Menschen, selbst wenn er ihn oft widersprüchlich und unberechenbar darstellt.

© Car l Han se r Ve rl ag

Buchtipp

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Jeder Bau

DIE KaRtE

Wälder spielen eine zentrale Rolle bei der Regulierun regeln den Wasserhaushalt Die weltweite Urwaldfläche ist jedoch auf einen F

WÄlDER VOR 8000 JahREN

Kahlschläge und Rodungen vernichten weltweit alle zwei Sekunden ein Waldgebiet so gross wie ein Fussballfeld. Indonesien und Brasilien sind aufgrund ihrer hohen Entwaldungsraten der dritt- und der viertgrösste CO2-Produzent nach China und den USa. Während die tropischen Wälder im Mittelpunkt der Diskussion über Klima und Wald stehen, wird die wichtige Rolle der nordischen, borealen Wälder oft übersehen.

Kanada und Russland binden zusammen als weltweit grösster Kohlenstoffspeicher an land weit über 50 Prozent des Kohlenstoffs. Das entspricht etwa dem globalen CO2-ausstoss der vergangenen sechs Jahre. Der afrikanische Regenwald — nach dem amazonas — das zweitgrösste noch existente Gebiet tropischen Urwalds — bildete einst einen ununterbrochenen Gürtel vom westafrikanischen Senegal

bis ins ostafrikanische Uganda. heute sind die Wälder Westafrikas (in liberia, Ghana und der Elfenbeinküste) abgeholzt oder stark fragmentiert. Nur im zentralafrikanischen Kongobecken findet man noch grosse, intakte Urwälder, welche für Menschen und einer Vielfalt von tieren und Pflanzen heimat sind. aber auch dieses Gebiet gerät unter den Druck der internationalen holzindustrie.


uM zählt

Die Zerstörung der letzten Urwälder muss gestoppt werden. Waldreservate und Nutzungspläne können retten, was noch zu retten ist. Greenpeace deckt illegale Waldzerstörung auf, fordert die Regierungen zum Verbot industrieller Nutzung in schützenswerten Urwäldern auf und setzt sich für weltweite Schutzgebiete ein.

Greenpeace mit Kampagnen und aktionen für bedrohte Wälder vor Ort aktiv Greenpeace-länderbüros mit nationalen Waldkampagnen. Für den internationalen Schutz arbeiten weltweit alle Büros. Noch intakter Waldbestand, Urwälder Intakte Wälder unter 500 km2 Zerstörte Wälder und Forste unter 500 km2

© Greenpeace, stand oktoBer 2010

ng des globalen Klimas. Sie binden viel Kohlenstoff, und produzieren Sauerstoff. Fünftel ihrer einstigen ausdehnung geschrumpft.


172 Millionen Hektar umfasst der afrikanische Urwald, der grösste Teil liegt in der Demokratischen Re­ publik Kongo. Industrieller Holzschlag bedroht den zweitgrössten Urwald der Welt. Die Holzkonzerne profitieren von einer durch lange Bürgerkriege ausgehöhlten staat­ lichen Struktur. Die Bewohner­ Innen werden für ihre Landrechte mit Salz und Bier abgespeist. ­Kongo-Hölzer werden zu einem wesentlichen Teil in die EU exportiert. Greenpeace setzt sich vor Ort und ­international gegen die unso­ziale Ausbeutung der Wälder ein. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

In Kanada gibt es noch grosse ­Urwaldgebiete: den borealen Wald und den Westküstenregenwald. ­Industrieller Kahlschlag, hauptsächlich für die Papierindustrie, setzt den letzten intakten borealen Urwäldern zu. Sie müssen dringend ­besser geschützt werden. Im Rahmen eines kanadischen Waldabkommens zwischen Umwelt­or­gani­ sationen und Industrie stimmten die Forstunternehmen 2010 einem Einschlagstopp auf 28 Millionen Hektar Wald zu (siebenmal die ­Fläche der Schweiz). Dieses Moratorium ist jedoch nur drei Jahre ­gültig. Darum arbeitet Greenpeace zusammen mit anderen NGOs an einer Lösung, die den kanadischen Provinz- wie auch den First-NationsRegierungen und den Forst­ unternehmen dargelegt werden soll. Russland G r een p eac e / Ig o r P o d g o r n y

Kongo G r een peace / Kat e Davi so n

Die Karte

Der Amazonas-Wald ist so gross wie die USA. 78 Millionen Hektar (mehr als zweimal die Fläche Deutschlands) wurden bereits zerstört — grösstenteils, um Weideland für 63 Millionen Rinder zu schaffen und um Soja ­anzubauen. 20 Mil­ lionen Menschen, viele ­davon Indigene, sind durch die Urwaldzer­ störung in ihrer Existenz bedroht. Greenpeace kämpft seit vielen Jahren für den Amazonas-Wald — mit wichtigen Etappensiegen. Die vier grössten brasilianischen Rinder­ firmen haben sich verpflichtet, dem Amazonas-Wald kein zusätz­li­ches Weideland mehr abzuringen. Die Rodungen für den Sojaanbau konnten ebenfalls vermindert werden.

Russland verfügt über rund einen Fünftel der weltweit noch intakten Urwaldfläche. Trotz extremen ­Bedingungen gedeihen in den borealen Urwäldern unzählige Pilz-, Farn-, Flechten- und Moosarten. Doch die Gebiete sind stark bedroht. Seit der fatalen Reform des russischen Forstgesetzes im Jahr 2007 verschlechtert sich die Situation jährlich: Weitflächige Waldbrände, fehlende Kontrolle und ­industrieller Kahlschlag für Sägeholz und Papier in besonders

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schützenswerten Urwäldern sind die Folge. Greenpeace setzt sich für den Schutz der verbleibenden ­intakten Urwaldgebiete ein, deckt ­illegalen Holzschlag auf, betreibt ein Waldbrandmonitoring, trainiert freiwillige Waldbrandlöschgruppen und pflanzt mit einem Netzwerk von hunderten Schulen und Freiwilligen Bäume auf zerstörten Waldflächen an. Indonesien

© Greenpeace / Natalie Behring

J ir i R ezac / G r eenpeace

Kanada

© Da niel B el trá / G r eenpeace

Amazonas

Mit 51 Quadratkilometern pro Tag — so schnell wie nirgendwo sonst — wird der Urwald in Indonesien vernichtet, zumeist für Palmöl- oder Zellstoffplantagen. Palmöl wird als pflanzliches Fett zu Lebensmitteln, Kosmetika, Hygieneprodukten oder Agrotreibstoff verarbeitet. Zellstoff gelangt in Wegwerfprodukte wie Verpackungsmaterial, Haushalt- und Toilettenpapier. Der Lebensraum indigener Gemeinschaften wie auch vieler gefährdeter Tierarten, etwa des Orang-Utans, gerät zuneh­mend in Bedrängnis. Zudem ist im Torfboden des indonesischen Regenwaldes zehnmal mehr Kohlenstoff gespeichert als in anderen Urwäldern. Greenpeace hat bis heute eine Reihe internationaler Konzerne wie Nestlé, Unilever oder Burger King dazu gebracht, ihre Verträge mit dem grössten indonesischen Regenwaldvernichter ­Sinar Mas zu kündigen und ist daran, die indo­ nesische Regierung zur Ankündigung eines Entwaldungsmora­ toriums zu bewegen.


Ökologische Steuer? okay. Aber welche?

wertsteuer» der Grünliberalen Partei will eine Steuer auf nicht erneuerbare Energie einführen und dafür die Mehrwertsteuer abschaffen. Der Vorschlag ist einfach: Die Einfuhr von Energieträgern wie Öl, Gas, Uran und Kohle wird bereits besteuert. Der Steuersatz soll nun so erhöht werden, dass die Einnahmen 3,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts entsprechen und somit gleich viel abwerfen wie die Mehrwertsteuer. Von Thomas Niederberger Die Steuereinnahmen und die Steuerbelastungen von Unternehmen und Privaten bleiben ins­ gesamt gleich, dafür fällt der bürokratische Aufwand weg, den die Abrechnung der Mehrwertsteuer den über 300 000 kleinen und mittleren Unternehmen verursacht. «Mit unserer Initiative würden Investitionen in erneuerbare Energien und in Energieeffizienz automatisch marktwirtschaftlich interessant, und dies würde automatisch Klimaschutz und den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie ermöglichen», sagt der grünliberale Nationalrat Martin Bäumle. Die Abhängigkeit von impor­tiertem Erdöl und Gas würde ab­ nehmen, der ­Abfluss von Geld an Regimes, die mit den Rohstoffeinnahmen ihre eigene Bevölkerung unterdrücken, könnte gebremst werden. Die Initiative würde den Bund ermächtigen, Unser Energie- und Ressourcenverbrauch ist zu Massnahmen zu erlassen, um Wettbewerbsverzerrungen mit abgestuften Steuersätzen für hoch, weil wir damit zu billig wegkommen. Dadurch verursachte Umweltschäden haben keinen verschiedene Energieträger auszugleichen. Preis, obwohl für die Gesellschaft hohe Kosten Gemäss Bäumle könnte Importstrom aus AKWs entstehen. Nun soll ein Teil dieser Kosten mit und Kohlekraftwerken über Herkunftszerti­ Steuern auf den Verbrauch (auch Lenkungsabga- fikate an der Grenze besteuert werden. Die zweite Volksinitiative heisst «Für eine ben genannt) gedeckt und an die Gesellschaft zurückverteilt werden – und zwar so, dass SparGrüne Wirtschaft». Die Grüne Partei verfolgt same belohnt und Verschwender bestraft werdamit einen Ansatz, bei dem die ökologische den. Im Ökonomendeutsch heisst das: Die bisher Steuerreform nur ein Element ist, um das Ziel einer umweltfreundlichen und gerechten externalisierten (auf die Gesellschaft abgewälzten) Kosten werden internalisiert beziehungswei- ­Kreislaufwirtschaft zu erreichen. «Wir müssen se in die Preiskalkulation von Gütern einbe­ schleunigst weg von der Wegwerfwirtschaft zogen. Privater Profit ist weiterhin möglich, doch und hin zu einer grünen Wirtschaft, die wie die wer dafür viel Energie braucht, hat einen WettNatur in Kreisläufen funktioniert. Nur so können wir unseren Planeten retten», meint Bastien bewerbsnachteil gegenüber Sparsamen. Alle diskutierten Vorschläge sind mehr oder weniger Girod, Nationalrat und Mitinitiant. Bis ins Jahr 2050 soll der ökologische Fussabdruck der staats- und fiskalquotenneutral, was ­be­deutet, Schweiz von hochgerechnet drei Welten auf eine dass Steuererträge und -belastungen anders verteilt, aber insgesamt gleich hoch sind. Welt reduziert werden. Dieser Indikator umfasst die gesamte Umweltbelastung, also auch Die Initiativen importierte graue Energie. Der offen gehaltene Zurzeit laufen die Unterschriftensamm­ Initiativtext ermöglicht es dem Bund, nach lungen für zwei Ansätze einer ökologischen Steu- ­Bedarf verschiedene Massnahmen zu ergreifen, erreform. Die Initiative «Energie- statt Mehrwie die Förderung von Forschung und Inno­

Abstimmungen

Seit Fukushima ist die ökologische Steuerreform wieder in der Debatte. Die Grünliberalen und die Grünen haben je eine ­Initiative am Start und der Bundesrat prüft Optionen. Ein Überblick.

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Abstimmungen

vation, den Erlass von Vorschriften für bestimmte Produkte und für Aufträge der öffentlichen Hand oder die Einführung von Lenkungsab­ gaben auf nicht erneuerbare Ressourcen (also eine ökologische Steuerreform). Die beiden Initiativen ergänzen sich bestens: Während die Grünen ein klares Ziel in der Verfassung verankern wollen, die Umsetzung aber offenlassen, setzen die Grünliberalen beim Mittel der Steuerreform an, ohne eine genaue Zielvorgabe zu machen. Wer noch nicht unterschrieben hat, sollte das jetzt tun (siehe Tabelle). Wann die Abstimmungen vors Volk kommen, ist offen und hängt davon ab, ob das Parlament Gegenvorschläge ausarbeiten wird.

tement, zusammen mit dem Umwelt- und Energiedepartement, beauftragte, bis Mitte 2012 Optionen für eine solche Reform zu prüfen. An einer Pressekonferenz Anfang vergangenen Dezember machten die verantwortlichen ­Bundesrätinnen Eveline Widmer-Schlumpf und Doris Leuthard aber einen zögerlichen Eindruck. Leuthard möchte warten bis 2020 und erst dann über Lenkungsabgaben entscheiden, wenn sich zeige, dass Fördermassnahmen wie die kostendeckende Einspeisevergütung auf erneuerbare Energien nicht ausreichen würden. Martin Bäumle freut es, dass sich der ­Bundesrat ernsthaft mit der Frage einer ökolo­ gischen Steuerreform auseinandersetzt. Für ihn ist jedoch klar, dass nur mit einer ökologischen Steuerreform mit deutlichem Marktsignal der Der Bund prüft Nach der Katastrophe in Fukushima hat das Energieumbau schnell und ohne zu viel VorParlament beschlossen, keine neuen AKWs mehr schriften umgesetzt werden kann. Auch dank solchen Argumenten scheint die «grüne Wirtzu bauen und schrittweise aus der Atomenergie schaft» politisch zunehmend an Boden zu gewinauszusteigen. Damit ist die Notwendigkeit zum Energiesparen konkreter denn je. Der Bundesrat nen. Sogar der Wirtschaftsverband Economiesuisse hat Sympathien für die Volksinitiative für hat die «Energiestrategie 2050» aufgegleist, eine grüne Wirtschaft geäussert – ein Zeichen, um den Atomausstieg umzusetzen, ohne die dass mehrheitsfähige Allianzen für eine ökologiVersorgungssicherheit zu gefährden. Ein Mittel sche Reform denkbar werden. dazu könne laut Bund auch eine ökologische Greenpeace unterstützt beide Initiativen! Steuerreform sein, weshalb er das Finanzdepar-

Überblick über eine ökologische Steuerreform Was

Ziel

Mittel

Wann

Anreiz für Energiesparen Grünliberale Partei: Volksinitiative Energie- (2000-Watt-Gesellschaft). statt Mehrwertsteuer Impuls für Cleantech-­ Sektor. Weniger Abhängigkeit von Energieimport.

Ersatz der Mehrwertsteuer Sammelfrist läuft. durch Energiesteuer: ­Abstimmungsdatum ­Energieverbrauch und Benzin noch offen. werden teurer, ­Güter und Dienstleistungen mit wenig Energieverbrauch günstiger.

Grüne Partei: Volksinitiative für eine Grüne Wirtschaft

Von der Wegwerf- zur Kreislaufwirtschaft. ­Reduktion des ökologischen Fussabdrucks der Schweiz auf eine Welt bis 2050.

Die konkrete Umsetzung ist Sammelfrist läuft. dem Bund überlassen, der Abstimmungsdatum Zwischenziele festlegen und noch offen. Massnahmen ergreifen muss. Vorgeschlagen sind: Forschungsförderung, Vorschriften für Produkte, Synergien zwischen wirtschaftlichen Aktivitäten fördern, Kriterien für öffentliche Aufträge, ­Lenkungsabgabe auf nicht erneuerbaren Ressourcen.

Bundesrat: Energiestrategie 2050

Sicherung der Energieversorgung nach ­Abschaltung der AKWs ab 2020.

Massnahmen bei Energie­ef­fi­ Bericht über Ökozienz, erneuerbare Energien, steuer bis Mitte 2012. fossile Kraftwerke, ­Netze und Forschung. Prüfung verschiedener Optionen für eine ­ökologische Steuerreform.

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Brasiliens ­Jugendliche im ­Solarfieber

Greenpeace: Michael, du bist gerade in Brasilien engagiert. Was tust du dort? Michael Götz: In Porto Alegre, wo 2014 Spiele der Fussball-WM ausgetragen werden, führte ich im Januar für Greenpeace ein Solartraining durch. Und am Weltsozialforum 2012, das eine Woche danach begann und als Gegenanlass zum WEF 30 000 Besucher begeisterte, half ich bei diversen Aktivitäten mit. Unter anderem an den «Tagen der offenen Tür» des Solarcamps. Was konntest du den Besuchern des ­Solartrainings vermitteln? Der Anlass dauerte eine Woche. Dabei ­waren 15 Freiwillige von Lokalgruppen aus acht Städten Brasiliens. Ich bildete sie in elemen­ taren Belangen der Solarenergie aus, so dass sie

danach über die Erzeugung von Strom Bescheid wussten und mit Hilfe der Sonne einfache ­Gerichte kochen konnten. Ausserdem brachte ich der Gruppe bei, wie man einfache Solargeräte selber herstellen kann. Beispielsweise wissen die Leute jetzt, wie man eine taugliche Taschen­ lampe, eine Garkiste oder einen Solarkocher baut. Das ist keine Hexerei. Das Wissen werden sie zuhause ihren Lokalgruppen weitergeben. Das Solarcamp erstellte die Gruppe ebenfalls selber? Genau. Wir waren energiemässig völlig autonom und verfügten über Fotovoltaikan­ lagen, eine Solardusche, ein Kompostklo und vieles mehr . Alle haben über diese Einrichtungen viel erfahren, was ihnen in der späteren Arbeit als Mulitplikatoren nützt. Wie schwierig ist das Konstruieren der Solargeräte? Nicht allzu sehr – es gibt im Internet Hunderte von gut begreiflichen Bauplänen. Wichtig ist dabei, dass man die richtigen auswählt; ­solche, die auch wirklich funktionieren und

Solartrainer Michael Götz zeigt jungen Brasilianern, wie man mit einfachen Mitteln die Sonnenenergie nutzt. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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© Rafael Medina

Engagement

Michael Götz ist von ­Greenpeace als freier Solartrainer für das YSC (Youth Support Center) engagiert worden. Das von Greenpeace initiierte Umwelt­projekt will der ­Jugend in ­armen Ländern Zugang zu nachhaltigem Wissen ­ver­schaffen.


Engagement

«Nebst Solartechnik steht in meinen Kursen immer auch Soziales im Vordergrund.»

den Einsatz von möglichst viel Recyclingmaterial zulassen. Einen der Solarkocher und eine Solarlampe habe ich entwickelt. In meinen Kursen verwende ich sehr viel didaktisches Mate­rial, das ich selber erarbeitet habe. Bisher hat es noch jeder meiner Kursteilnehmer begriffen. (lacht) Elektriker muss man also nicht zwingend sein. Keineswegs. Ich lote zu Beginn meiner Kurse jeweils aus, was als Basis bereits vorhanden ist, und baue dann sachte darauf auf. Zudem bin ich fähig, mitten im Programm alles auf den Kopf zu stellen, so viel Flexibilität muss sein. Ein Kurs für Menschen in Südafrika ist schliesslich anders als einer in Nicaragua, obwohl der Stoff derselbe ist – die unterschiedliche Mentalität macht meine Arbeit spannend. Wie kommt man an die Teile für die Geräte? Wir suchten alles Verfügbare zusammen: ausgemusterte und wiederverwendbare Ware. Arg ist, dass in Brasilien vieles aus PVC her­ gestellt wird, was wir nicht komplett vermeiden konnten. Solarpanels und die dazu passende Elektronik mussten wir einkaufen, so komplexe Dinge liegen nicht einfach herum. Mittlerweile Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

ist es aber fast weltweit möglich, sie zu erstehen. Mühsam ist, dass die Solarenergie praktisch gratis ist, wenn man alles installiert hat, dass aber alle Investitionskosten auf einmal anfallen – und das ist ein Handicap in Ländern, die weitgehend von Verlierern des Kapitalismus bevölkert sind. Wem hilfst du solartechnisch auf die ­Sprünge? Jungen Leuten, Freiwilligen der lokalen Gruppen, Leuten, die meist noch studieren und ziemlich gute Kenntnisse in Biologie oder Umweltthemen haben. Ich staune immer wieder, wie viel sie bereits wissen über alternative Energie. Schafft die Solarenergie Perspektiven für deine KursbesucherInnen? Die Greenpeace-Freiwilligen lernen vor allem Details, die für ihren Job an wichtigen Grossanlässen wie etwa einer Klimakonferenz erforderlich sind. Und ein sicheres, kompetentes Auftreten, wenn es darum geht, für eine ökologische ­Zukunft zu argumentieren. Jemanden in einer Woche zum Solartechniker zu machen, kann nicht das Ziel sein. Ich habe aber immer einen Koffer voll Technik dabei, damit meine Schüler im wahrsten Sinn etwas begreifen können. Was motiviert dich zu Auslandeinsätzen? Ich bin ein Weltbürger, neugierig, reisefreudig und spontan. Und es stellt mich auf, in jedem Land immer wieder neue Kniffe und Methoden kennen zu lernen. Ich verstehe mich nicht als einer mit Helfersyndrom, sondern als Praktiker, der im Austausch mit Interessierten aller Sprachgruppen und Kontinente zur Verbreitung des Solarwissens beiträgt. Ich war schon in Kamerun für Greenpeace, in Mexiko, Südafrika und in der Schweiz. Und überall steht nicht nur Solartechnisches, sondern auch Soziales im Vor­ dergrund. Man singt, tanzt und kocht zusammen und lernt diverse Alltagsprobleme kennen. Im Juni findet die 20. Rio-Konferenz statt. Wie wirst du mit deinen Trainingskollegen dort präsent sein? Greenpeace hat beschlossen, das Solarcamp von Porto Alegre für Rio zu kopieren: eine tolle Sache. Installiert wird es auch in Recife und Salva­ dor de Bahia, den Städten, vor denen die Rainbow Warrior III vor der Konferenz anlegt. Unsere Solartechnik wird am Gipfel, in den Camps und den Häfen zum Einsatz kommen. Und ich freue mich auf all die Workshops, die wir den Besucher­ Innen in den Solarcamps anbieten.

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1

Nach der Hölle das Elend Vor einem Jahr zerstörte ein Tsunami das AKW im japanischen Fukushima und löste eine nukleare Katastrophe aus. Drei Monate später entstandene Fotos belegen die Aus­wirkungen, welche die Bevölkerung bis heute ­beeinträchtigen. Fotos von David Guttenfelder


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Der Amerikaner David Guttenfelder arbeitet seit 1994 als Fotograf für Associated Press. Er lebte in Kenia, der Elfenbeinküste, in Indien und zurzeit in Japan. Im Auftrag des National Geographic Magazine konnte er in die Sperrzone rund um Fukushima reisen. Mit seinen eindrücklichen Bildern kam er ins Finale für die Auszeichnung «Picture of the Year International» in der Kategorie «Global Vision Award» und gewann den zweiten Preis. Guttenfelder hat schon vorher zahlreiche internationale Preise mit seinen Bildern gewonnen. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter.

3 Vorerst Schwein gehabt: Das Grunztier in ­einem zerstörten und verlassenen Laden von Namie findet zwar Futter in Hülle und Fülle, aber die Ware ist wie die ganze Gegend verstrahlt und wird ihm den Tod bringen. 4 Weitum gähnende Leere: Die meiste Ware in den Läden von Itate ist kontaminiert und muss entsorgt werden. Im nordwestlich von Fukushima gelegenen Ort wird eine der höchsten Strah­ lungen gemessen. 5 Hilfe für Streuner: Tierschützer braten Fleisch im verseuchten Okuma und locken Haushunde an, die von ihren Besitzern zurückgelassen wurden und allmählich verwildern. 6 Alltag im Kartonhaus: Der kleine Verschlag in einem Auffangzentrum von Koriyama ist die­ ­einzige private Rückzugsmöglichkeit, die der 1 Drei Monate nach dem Desaster: Erstmals ­74-Jährigen geblieben ist. werden aus Fukushima Evakuierte für kurze Zeit 7 Schicksalsgemeinschaft in Weiss: In einer zu ihren Häusern gefahren. Nach dem von Turnhalle warten Einwohner des verstrahlten ­Beamten begleiteten Besuch werden die Bus­Hirono auf lebenswichtige Informationen, die es passagiere auf Strahlung untersucht. 2 Dokument des Schreckens: Die ­Fischer­boote beim Besuch ihrer Häuser zu beachten gilt. bei Namie wurden vom Tsunami wie ­Spielzeug Hunderte von Metern weit aufs Land gespült. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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Ein Jahr nach Fukushima Sie sind gekommen, um zu berichten. Ein knappes Jahr nachdem die drei­fache Katastrophe von Erdbeben, Tsunami und Atomunfall ihre Heimat ­Fukushima erschütterte. Stimmen von zwei Betroffenen aus Fukushima zu ­Besuch in der Schweiz. Satoshi Nemoto: «Ich weiss nicht, welche Folgen die Strahlung für mich persönlich in Zukunft haben wird, aber ich ­habe gelernt, dass es keine Zukunft mit Atomkraft geben kann.»

Yuko Nishiyama: «Als ­be­troffene Mutter fühle ich mich verpflichtet, meine Stimme für den Atom­ ausstieg zu erheben — weltweit!»

Yuko ist Englischlehrerin aus Fukushima und eine der «freiwillig Evakuierten». Wie viele andere Mütter ist sie im vergangenen Sommer mit ihrer drei­ jährigen Tochter nach Kyoto umgesiedelt — ohne Ehemann. Die Sorge um die Gesundheit der Kinder, die Angst vor verstrahlten Lebensmitteln und das Misstrauen gegenüber den behördlichen Strahlenmessungen bewegten sie zu diesem Schritt. Sie will nie wieder zurück nach Fukushima.

© Ni c ol as Fo jt u

Fukushima: Betroffene

Satoshi ist Bauer und lebt im Distrikt Fukushima. Er ist Präsident des lokalen Bauernverbands Nomiren Fukushima. Er führt Messungen der Böden und Ernten durch und setzt sich für die Entschädigung der Landwirte ein. Im Dialog mit den Behörden vertritt er die Anliegen der Bauern.

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© Nic olas Chauveau / Greenpeace

Waldkampagne

Kongo: heisses Pflaster für nachhaltiges Holz Von Bruno Heinzer

Faustrecht, Korruption und Vetternwirtschaft machen den Schutz der grössten noch zusammenhängenden Urwälder Afrikas zu einem gefährlichen Abenteuer.

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Trotz nachstehender Kritik gilt, dass es zum Label des Forest Stewardship Council (FSC) keine echte Alternative gibt. Es ist das einzige unabhängige Etikett für nachhaltige Holz­ produkte. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass der FSC – wie alle Ökolabels, die an der Schnittstelle von Umweltschutz und Wirtschaftsinteressen operieren – regelmässig dazu neigt, bei eigenen Standards Abstriche zu machen, nicht zuletzt wegen dem Druck der wachsenden Nachfrage für nach­ haltige Produkte. So gibt es immer wieder FSC-Holz, das ­dieser Auszeichnung unwürdig ist. Besonders kritisch ist die Lage im Kongobecken, der ­Region Afrikas mit den grössten noch intakten und zusammenhängenden Regenwäldern, die eine riesige Biodiversität mit bedrohten Arten wie Bonobos und Gorillas beherbergen und nicht zuletzt die Lebensgrundlage vieler Menschen sind. Leider ist es auch eine Gegend, in der instabile, unverlässliche Regierungen an der Macht sind und wo Vetternwirtschaft, Korrup­ tion und Faustrecht herrschen. Genau in diesem Teil Afrikas habe man 5,2 Millionen Hektar Wald zertifiziert, rühmte sich das FSC Ende 2011, und bis in zwei Jahren würden es sogar 10 Millionen Hektar sein. Dabei hat gerade das FSC diese Gegend als «Hoch­ risikozone» eingestuft. Es möchte natürlich in Regionen wie dem Kongobecken expandieren. Denn es geht davon aus, dass es dort Verbes­ serungen erreichen kann, und gerade in Afrika ist das FSC bis heute im Unterschied zu ­anderen Weltregionen noch sehr wenig präsent. Der ­Pferdefuss daran ist, dass bei der Vergabe eines ­Ökolabels in einem so hoch sensiblen Re­ gen­­wald­gebiet die Qualität und nicht die Quantität des zertifizierten Holzes den Ausschlag geben muss. Im Kongobecken und ganz besonders in der Demokratischen Republik Kongo (DRK), dem grössten und waldreichsten Land Afrikas, fehlen aber die fundamentalsten Grundvoraussetzungen für eine transparente und glaubwürdige Zertifizierung. Gemäss Irene Wabiwa, der Greenpeace-Waldcampaignerin in der DRK, gibt es «keine funktionierende Regierung, alle und alles sind käuflich, es herrscht das Recht des Stärkeren. Und es sind noch nicht einmal Minimalvoraussetzungen für die Beteiligung der lokalen Bevölkerung sowie für den Schutz von

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Umwelt und Menschenrechten gegeben. In mehreren Walddörfern wurden die Frauen vergewaltigt, die Häuser niedergebrannt und ­Männer getötet, nur weil sie ihre Rechte gegenüber den Holzfirmen eingefordert hatten.» Dazu kommt, dass es gerade im Kongo noch riesige Flächen intakter Urwälder gibt. In diesen gesunden Regenwäldern sind schon in erheblichem Mass Konzessionen für Holzeinschlag vergeben worden. Industrieller Holzeinschlag und seine Transportwege richten unwider­ rufliche Schäden an und führen zu so­zialen Konflikten mit der lokalen Bevölkerung. Terrain für kommerzielle Wilderer So hat Greenpeace in ihrer Rolle als Mitglied der FSC-Umweltkammer im Mai 2011 eine Beschwerde gegen FSC-Zertifikate der Firma Sodefor in der DRK eingereicht. Sodefor gehört zu der in Liechtenstein registrierten Nordsüdtimber-Gruppe, an der die Schweizer Firma Precious Woods eine Minderheitsbeteiligung besitzt. Sodefor zerstückelt nicht nur grosse, zusammenhängende Flächen von Wäldern mit einmaliger Biodiversität, sondern ist auch berüchtigt für Menschenrechtsverletzungen und Konflikte mit der ansässigen Bevölkerung. Sodefor ist kein Einzelfall. Auch die Vergaben des FSC-Umweltzertifikats an die Congo­ laise Industrielle des Bois in der Republik Kongo und an Siforco, die zweitgrösste Konzessionshalterin in der DRK und Tochterfirma der Schweizer Danzer-Gruppe, sind nicht zu rechtfertigen, da beide Unternehmen in Waldre­ gionen von hohem Schutzwert eindringen, die bisher vom Holzschlag unberührt geblieben sind. Dabei reissen sie grosse, zusammenhängende Flächen auseinander und fungieren so auch als Türöffner für kommerzielle Wilderer und weitere Nachzügler. Wegen massiver Menschenrechtsver­ letzungen im Siforco-Konzessionsgebiet Bumba hat Greenpeace im November 2011 eine weitere Beschwerde beim FSC eingereicht – diesmal gegen die Danzer-Gruppe. Beide Beschwerden sind noch hängig. Sowohl Siforco wie auch Sodefor gelten im regionalen Vergleich als fortschrittliche Firmen – was bezeichnend ist für die Situation der industriellen Holznutzung im Kongo­ becken. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

Orientierung bietet das FSC-Label An der letzten FSC-Generalversammlung im Juli 2011 hat Greenpeace diese Themen ­angesprochen und den Schutz intakter Urwälder sowie das Problem der Zertifizierung in Risi­ kogebieten mit hoher Korruption und ohne Beteiligung von Zivilgesellschaft und Urbevölkerung aufs Tapet gebracht. Es fehlen aber noch konkrete Beschlüsse und ihre Umsetzung, was ­garantieren würde, dass die FSC-Waldzertifizierung ökologisch und sozial glaubwürdig bleibt. Bis diese Verbesserungen wirksam werden, fordert Greenpeace zusammen mit einer Reihe von Organisationen aus der Region ein Mora­ torium für die FSC-Zertifizierung von industriellem Holzschlag im Kongobecken. Solange es kein anderes Ökolabel gibt, das den Namen halbwegs verdient (das immer öfter anzutreffende PEFC-Label ist reines Green­ washing der Holzwirtschaft), bleibt Konsument­ Innen als Groborientierung nach wie vor nur das FSC-Label. Zusätzliche Informationen bietet der Greenpeace-Holzführer, wo die verschiedenen Holzarten und ihre Herkunft erläutert sind. Zudem sollte ab 1. Januar 2012 die im Herbst 2010 erlassene Schweizer Deklarationsverordnung für Holzprodukte zu greifen beginnen. Dann müsste es dank einem Hinweis zum Ursprung des Holzes auf dem Produkt ohne Nachfragen möglich sein, Holz aus dem Kongo (auch FSCzertifiziertes) zu vermeiden. Am besten fährt aber weiterhin, wer ganz auf Tropenholz verzichtet und einheimisches oder FSC-Holz aus ­gemässigten Zonen kauft. Tropenholzgefahr besteht vor allem bei Bodenbelägen, Parkett, Gartenterrassen und Gartenmöbeln. Das FSC zertifiziert Holz nach vorgegebenen Standards, die durch ein Dreikammersystem (ökonomische, soziale und ökologische Kammer) erarbeitet und durch alle Mitglieder überprüft werden. Diese stammen aus Umweltorganisa­ tionen, Firmen, Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Vertretungen indigener ­Völker. Auch Greenpeace ist ein Gründungsmitglied der Umweltkammer und versucht weiterhin, die Qualität der vergebenen Zertifikate sowie der Standards und Abläufe hochzuhalten.

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Das Umweltbewusstsein der Elektronikriesen Welcher Konzern wird als erster tiefgrün sein?

-2

IM •R

1.

2.

3.

hP 5,9/10

hP, um 3 Plätze nach vorne gerückt, ist die Firma mit der besten Bewertung. Sie ist am stärksten bei nachhaltigen arbeitsabläufen und Energiekriterien, kann sich aber mit grüneren Produkten noch verbessern. Dell 5,1/10

Dell, gleich 8 Plätze gestiegen, hat die beste Bewertung bei den Energiekriterien dank dem engagierten Ziel, die Emissionen bis 2015 um 40% zu reduzieren. andererseits schneidet Dell bei grünen Produkten schlecht ab. Nokia 4,9/10

Um 2 Plätze gefallen, verliert Nokia seine Führungsposition an hP und Dell im Bereich der Energiekriterien. aber Nokia punktet nach wie vor stark bei grünen Produkten und nachMagazin Greenpeace haltigen arbeitsabläufen. Nr. 2 — 2012

6 •hP

7 8

9

10

•PhIlIPS •D Ell ERICSSON N O •S Y 3 RP N G • N O K Ia U S a •SaM •Sh ER •aPPlE •aC E O V a O •lEN ONIC •lG ShIB Na S a •tO P • NY •SO

0

1

RatGEBER: GRÜNE ElEKtRONIK

+

5 4

4.

5.

6.

↘ Sony Ericsson 4,2/10

apple 4,6/10

apple, um 5 Plätze verbessert, ist nun auch eine der führenden Firmen für grüne Produkte und ebenso ziemlich stark bei nachhaltigen arbeitsabläufen, punktet aber kaum bei den Energiekriterien. Philips 4,5/10

Philips bekommt gemeinsam mit Sony eine höhere Punkteanzahl wegen der Unterstützung progressiver Energierichtlinien und der allgemeinen Energiekriterien. Dennoch fällt der Konzern im Vergleich 2 Plätze zurück.

Sony Ericsson erhält geteilte topwerte für grüne Produkte und gute nachhaltige arbeitsabläufe, ist aber sehr schwach bei den Energiekriterien. Verschlechterung um 4 Plätze.

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7. ↘

Samsung 4,1/10

Obwohl der Konzern um 2 Plätze ­zurückfällt, punktet Samsung top bei den nachhaltigen Arbeitsabläufen. Verbesserungen sind vor allem nötig bei den Energiekriterien, im Spe­ ziellen durch Verwendung erneuerbarer Energie.

Acer punktet generell schlecht im Vergleich zu allen wichtigen Wet­t­­be­ werb­ern und lediglich gut beim ­allmählichen Reduzieren von giftigen Inhaltsstoffen. Schlecht ist der Konzern bei den Energiekriterien und bleibt so auf dem 12 Platz.

8. ↗

Lenovo 3,8/10

13. ↗ LG Electronics 2,8/10

Um 6 Plätze gestiegen, punktet Lenovo am höchsten bei den nachhal­ tigen Arbeitsabläufen, muss sich aber ehrgeizige Ziele setzen, um die CO2-Emissionen zu verringern und erneuerbare Energien einzusetzen.

9.

↘ Panasonic 3,6/10

Um 3 Plätze gefallen, bekommt ­Panasonic eine der höchsten Bewertungen bei grünen Produkten, aber nur wenige Punkte bei Energiekrite­ rien. Auch muss der Konzern einen klaren Plan entwickeln, wie er Emissionen reduzieren und erneuerbare Energien verwenden kann.

10.↘

Sony 3,6/10

Um 4 Plätze gefallen, da Sony ­einen Strafpunkt wegen Lobbyarbeit gegen strengere Energieeffizienz-Richt­ linien in Kalifornien bekommt. Allerdings gibt es gleichzeitig viele Punkte für die Unterstützung ehrgeiziger Klimaziele in Europa.

11. =

Sharp 3,0/10

Sharp unterstützt ein neues Gesetz für erneuerbare Energien in Japan, punktet aber nur schlecht bei allen nachhaltigen Arbeitsabläufen. Der Konzern bleibt somit auf dem 11 Platz.Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

12.=

Acer 2,9/10

Um 1 Platz gestiegen, hat LGE dennoch schwache Ziele zur Emissionsreduktion und muss verstärkt den Einsatz erneuerbarer Energien forcieren.

14. ↗

Toshiba 2,8/10

Um 3 Plätze gestiegen, hat Toshiba einige Fortschritte beim Reduzieren von giftigen Inhaltsstoffen erreicht, muss aber bei den Energikriterien noch zulegen.

15. new

RIM 1,6/10

Ist neu im Ratgeber und muss noch verbesserte Transparenz bei den Umweltleistungen garantieren, vor allem im Vergleich zu anderen ­Mobiltelefonherstellern.

Dieser Greenpeace-Ratgeber bewertet führende Hersteller von Mobiltelefonen, TV- und PC-Geräten aufgrund folgender Richtlinien und Praktiken: Engagement, Auswirkungen auf das Klima zu reduzieren; Produktion grünerer Produkte; Optimierung für nach­haltigere Arbeitsprozesse Kriterien: • Die Messung und Reduktion von Emissionen durch Energie­ effizienz, erneuerbare Energien und den Einsatz für EnergieRichtlinien • Das Herstellen von grüneren, effizienteren und langlebigeren Produkten, die frei von giftigen Substanzen sind • Die Reduktion von negativen Umweltauswirkungen durch Firmentätigkeiten, von Materialien und Energien, die für das Erstellen von Produkten verwendet werden, bis hin zu globalen Rücknahmeprogrammen für alten Produkte

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Fleisch? «Nein!» statt «hau rein»

Landwirtschaftskampagne

Von Verena Ahne

Ein überlegter Konsum von Fleisch und Milchprodukten trägt mehr zum Wohl der Welt bei als viele andere pro­pagierte ­Klimaaktivitäten. Und er ist gut für die per­sönliche ­Gesundheit.

Schon wieder die Forderung nach Fleischverzicht? Leider können wir nicht lockerlassen, denn die globale Situation ist alarmierend: Wenn wir weiterhin so viel Tierisches verspeisen wie bisher – und mit uns jeder der bald acht Milliarden Menschen auf unserem Planeten –, dann … Fakten in einem neuen Greenpeace-Report belegen: So viel Konsum wäre unmöglich. Im Jahr 2050 – mein Sohn wird dann so alt sein wie ich jetzt und die Ressourcen mit neun Milliarden Mitmenschen teilen müssen –, in dieser nicht so fernen Zukunft also wird die Erde nur noch ein lebenswerter Ort sein, wenn wir alle ab sofort weniger Fleisch essen. Im vergangenen Jahr hatte jeder Schweizer und jede Schweizerin im Durchschnitt pro ­Woche ein Kilo Fleisch auf dem Teller. Werden Haut und Knochen den üblichen Angaben ­entsprechend nicht abgezogen, sind das etwa 90 Kilo pro Jahr. Das ist exakt der westeuro­ päische Durchschnitt. In einzelnen Ländern wird mehr gegessen, etwa in den USA, in Spanien und in Neuseeland. In weiten Teilen der Welt bescheidet man sich noch mit wenigen Kilo (­ Indien, grosse Teile Afrikas), in anderen aber Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

holt man rasant auf. Brasilien und China etwa haben mit über 80 bzw. 50 Kilo pro Person und Jahr den Weltdurchschnitt von 40 Kilo bereits übertroffen – Tendenz stark steigend. Dazu kommen – mit grossen regionalen Unterschieden – weltweit durchschnittlich 80 Kilo Milch pro Person und Jahr. In Europa und Nordamerika sind es rund 5 Kilo – pro ­Woche! 2050 – und alle essen wie wir? Dazu bräuchte es fast dreieinhalbmal so viele Kühe, Schweine, Hühner, Schafe und anderes essbares Getier. Also auch gewaltig mehr Flächen als Weide- und Ackerland für Viehfutter, gewaltig mehr Che­ mikalien und Dünger auf den Feldern. Von allem wäre viel, viel mehr erforderlich. Theoretisch. Praktisch würden die Erdkapazitäten aber nicht ausreichen. Stickstoff belastet das Grundwasser Einiges ist schon jetzt am Limit. Besonders bedenklich ist der enorme Verlust an Biodiver­ sität, der zum Grossteil auf das Konto der Nutztierproduktion geht. Vor allem durch die massiv voran­getriebene Umwandlung ökologisch ­in­takter Ge­biete wie (Ur-)Wälder oder Feuchtgebiete in Weiden und Ackerland gehen jährlich Hunderte Arten für immer verloren. Aber auch in Kul­turlandschaften führt die industriali­ sierte Landwirtschaft zum Artenverlust. Bedenklicherweise werden 75 Prozent aller Agrarflächen der Erde zur Tierzucht verwendet, als Weideflächen oder für den Anbau von Mastfutter. Fast 60 Prozent von allem Angebauten – kostbare Nahrungsmittel wie Mais, Soja und Weizen – werden Rindern, Schweinen und Geflügel verfüttert. In der grünen Schweiz wächst auf fast der Hälfte der Ackerflächen Tierfutter, was aber noch immer nicht genügend ist für unseren Fleisch- und Milchhunger. Getreide von noch einmal der ganzen Schweizer Ackerfläche im Ausland, darunter rund 300 000 Tonnen Soja, werden jährlich importiert. Das zweite grosse Problemfeld ist der natürliche Phosphor- und Stickstoffkreislauf. Seit Jahrzehnten wird er künstlich mit Dünger überfrachtet. Als Folge davon belastet der aus Erdöl hergestellte Stickstoff Grundwasser, Böden, Luft und die Biodiversität in intensiv bewirtschafteten Anbaugebieten. Mit Phosphor gedüngte Seen und Meere ersticken unter Algen. Die Abbau­ produkte der Düngung, etwa Lachgas, wirken

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zudem als hochpotente Treibhausgase – sie sind hunderte Male schädlicher als CO2. Vier Fünftel der Emissionen aus der Landwirtschaft, die bis knapp ein Drittel der weltweiten Treib­ hausgas-Emissionen ausmachen, entstehen durch Viehzucht. Der Stickstoffeinsatz, forderten Wissenschaftler 2009 in einem «Nature»-Artikel, müsste umgehend auf ein Viertel des derzei­ tigen Wertes reduziert werden, um die Trag­ fähigkeit der Erde nicht mehr zu überreizen. Und Phosphor müsste man nicht zuletzt deshalb sparsamer einsetzen, weil die natürlichen Vorkommen bald erschöpft seien. Fleischverzicht nach dem Motto «shrink and share» – weniger konsumieren, gerechter ver­­ teilen – ist demnach wirksamer Umwelt- und Klimaschutz. Doch wie viel weniger ist «weniger»? Halbieren wir unseren Konsum bei Fleisch und dritteln wir ihn bei Milchprodukten, entspräche das dem für 2050 prognostizierten Weltdurchschnitt von 44 Kilogramm Fleisch und 78 Kilogramm Milch pro Jahr. Doch bei fairer Verteilung reicht das nicht: Noch immer müsste die Produktion stark steigen. Es gäbe mehr Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

© H i n a S t r üv er

© Dan i el Belt ra

Abgeholzte Ödlandschaft in Brasilien, idyllische Alp­weide in der Schweiz: Exzessive, auf Nutztierproduktion ­aus­gerichtete Landwirtschaft ist in Südamerika einer der Gründe, dass täglich riesige Waldflächen abgeholzt ­werden. Aber auch in der Schweiz schafft sie Probleme.

statt weniger Landumnutzung, Düngemittel, Emissionen und Artenverlust. Wir könnten aber auch unserer Gesundheit Gutes tun und den Ernährungstipps zur Vor­ beugung gegen Krebs folgen – und schon wäre die Ernährung nachhaltiger. Im Westen konsumieren wir deutlich zu viel tierisches Eiweiss. In Kombination mit Bewegungsmangel führt das zu massiven gesundheitlichen Problemen: Fettleibigkeit grassiert selbst in armen Ländern, wo es heute mehr Übergewichtige gibt als Hungernde. Damit verbunden sind Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und erhöhte Krebsraten. Als besonders problematisch gilt rotes Fleisch (Rind, Schwein, Schaf ), vor allem in verarbeiteter Form wie Wurst. Auch Milchprodukte, gemeinhin als gesund angesehen, sind im Übermass schädlich. Krebsvorbeugend ist eine gesunde, möglichst frisch gekochte Mischkost, zur Hälfte aus Gemüse und Obst, kombiniert mit Hülsen­ früchten, (Vollkorn-)Getreide in seinen verschiedenen Formen, Reis, al dente gekochten Teig­ waren und gedämpften Kartoffeln. Dazu Nüsse, magere Milchprodukte und gesunde Öle.

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Landwirtschaftskampagne

Fleisch muss nicht völlig weggelassen werden: Wird die Menge, die man üblicherweise als Hauptgericht für eine Person berechnet, dünn geschnitten und mit viel Gemüse gebraten, hat die ganze Familie ein feines Mahl – und isst bei einem Drittel oder gar nur einem Viertel des heutigen Fleischverbrauchs nachhaltig und gesund. Gras und Heu verfüttern statt Soja Der grösste Schritt aber wäre eine Rückkehr zu natürlicher Tierhaltung, vor allem bei der Rinderzucht. Geben wir Grasfressern statt ­Getreide und Soja wieder ausschliesslich Gras und Heu, das wir selbst nicht verwerten können, werden sie von antibiotikaabhängigen direkten Futterkonkurrenten und Klimasündern wieder zu einem unentbehrlichen Bestandteil einer nachhaltigen Landwirtschaft. Werden sie auf ausreichend grossen Flächen in Wechselweide gehalten, gibt es keine Überweidung oder ­Erosion – ein grosses Problem in den Trockenzonen der Erde –, sondern natürliche Düngung,

die den Boden anreichert. Die Tiere wären glücklicher und weniger krank. Fleisch und Milch bestünden wieder aus wertvolleren Inhalts­ stoffen. So auch in der Schweiz konsequent umgesetzt, entspräche dies endlich dem verfassungsmässigen Auftrag der Schweizer Landwirtschaft für eine nachhaltige Produktion, welche die Bevölkerung sicher versorgt. Aber es ist wie in vielen Belangen: Das Wissen für ein Umdenken wäre vorhanden, aber statt etwas zu tun, lässt man lieber Gras über die Miss­ stände wachsen.

Verschiedene Szenarien des Fleisch- und Milchkonsums im Jahr 2050 und ihre geschätzten Auswirkungen auf die Umwelt (Bevölkerungszunahme auf 9 Mia. eingerechnet) Ernährungsgewohnheiten

Konsum 2050 Umwelteffekt und globale Auswirkungen Kopf / Jahr (kg) Fleisch Milch

Westlicher Konsum heute

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Deutlich mehr als Verdreifachung der 270 ­Nutztierproduktion. Massive Umweltschäden, vielerorts Zerstörung der Lebensgrundlagen.

Gegenwärtige Trends, fortgeschrieben bis 2050 und gerecht verteilt

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Verdoppelung der derzeitigen Nutztiermenge. Stickstoffbelastung doppelt so hoch wie nach­ haltig möglich, sehr hohe Treibhausgasbelastung.

Prognostizierter Konsum im Jahr 2050 der Länder des Südens, auf alle hochgerechnet

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Starke Ausweitung der Nutztierproduktion im Vergleich zum Jahr 2000, ergibt nur eine 15%-­ Reduktion der Nutztierproduktion gegenüber heute.

Effizienzsteigerung bei Fleischpro­ duktion um 35% und Konsumreduktion um 35%

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Deutlich weniger Tierproduktion im Vergleich zu gegenwärtigen Trends. 19% weniger Treibhausgase, w ­ eniger Biodiversitätsverlust, 21% ­weniger Stickstoffüberschuss.

Einhaltung der Ernährungsempfeh­ lungen zur Vorbeugung gegen Krebs (nach World Cancer Research Fund, ohne Geflügel und Eier)

30

Deutlich weniger Tierproduktion im Vergleich zu gegenwärtigen Trends. Einfluss auf die w ­ eltweiten Ökosysteme in verträglichem Rahmen.

Nutztierproduktion des Jahres 2000, gerecht verteilt im Jahr 2050

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Um die Hälfte weniger Treibhausgase im ­Vergleich zu gegenwärtigen Trends.

Fazit: Globale Nutztierprodukte so, dass sie nicht in Konkurrenz zur menschlichen Ernährung steht. ­Reduktion des westlichen Fleischund Milchkonsums um 60 bis 70%.

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Weniger Nutztiere als 2000. Keine Kon­ kurrenz um Ackerland für menschliche ­Ernährung. Nachhaltige Nutzung von Grasland und Abfällen.

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Im Kampf mit den Wettergöttern ­von KwaZulu-Natal

© Sa muel Sch la efl i

Reportage

Fotos und Text von Samuel Schlaefli

Ein verbindlicher Weltklimavertrag blieb auch an der 17. Klimakonferenz in Durban ­Wunschdenken. Wenige hundert Kilometer von den Verhandlungstischen entfernt leiden ­südafrikanische Bauern bereits an den von Wissenschaftlern prognostizierten Wetterextremen. Eine Reportage aus der Provinz KwaZulu-Natal, wo der Klimawandel erste ­Opfer fordert. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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Reportage

Dukuza ist ein Bauerndorf in der südafrika­ nischen Provinz KwaZulu-Natal und die Heimat von Mbogeni Maklobo. Sein ganzes Leben hat er hier verbracht, und man könnte ihn dafür beneiden: Vom Dorf aus hat man einen atemberaubenden Blick auf die Hochplateaus der ­Drakensberge, ein UNESCO-Weltnaturerbe und Touristenmagnet. Doch das Leben hier verlangt den Bauern viel ab. Maklobos siebenköpfige Familie lebt in drei Lehmhütten, die mit Stroh und Wellblech gedeckt sind. Seit wenigen Monaten erst hat er zumindest einen Stromanschluss. Wasser zum Kochen, Waschen und Trinken holt seine Frau täglich vom nahen Brunnen. Mbogeni Maklobo steht jede Nacht um zwei Uhr auf und bringt das Vieh zum Grasen, einige Kilometer vom Haus entfernt. So bleibt den Tieren genügend Zeit, um sich vor Tagesanbruch satt zu fressen, und er ist zurück, bevor die Temperatur unerträglich wird. An diesem Samstagvormittag ist das kurz vor neun Uhr. Der 61-Jährige setzt sich in die Hütte seines Ältesten und dreht sich mit einem Streifen Zeitungspapier und etwas Tabak eine Zigarette. Er zieht genüsslich daran, hustet laut und wird nachdenklich. Er vermisse die alten Tage, erzählt er. Als junger Mann hatte er 40 Kühe und Ochsen. Grasland gab es im Überfluss und die Tiere weideten im Umkreis seiner ­Hütte. Heute hat er noch 26 Tiere. Wo früher wenige Haushalte ausreichend Agrar- und Weideland hatten, leben heute geschätzte 200 Familien. Und jede beansprucht eine Parzelle, um Mais und Soja für den Eigenbedarf zu pflanzen. Maklobo hat neben den 50 Quadratmetern vor seinem Haus noch zwei grössere Felder im Umland. Das Land reichte früher aus, um seine Familie zu ernähren. Oft habe er sogar Maisüberschüsse auf dem Markt verkauft, erzählt er. Damit ver­diente er Geld, das er für den Einkauf von Öl, Seife und neuem Saatgut brauchte. Doch die Welt sei durcheinandergeraten, sagt Maklobo. «Letztes Jahr reichte die Ernte nicht mal, um die Familie zu versorgen.» Er musste einen Ochsen verkaufen, um sich Mais und andere Grundnahrungsmittel zuzukaufen. Wahrscheinlich wird er auch dieses Jahr wieder ein Tier hergeben müssen, denn seine Maisstauden reichen dem ­Bauern erst knapp bis zu den Knien. Eigentlich sollten sie zu dieser Jahreszeit brusthoch sein. Früher habe es im Frühling, der in Südafrika von September bis November dauert, alle zwei Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

Forscher wissen, dass Afrika am stärksten vom durch Menschen verursachten Klimawandel betroffen sein wird.

­Tage zumindest kurz geregnet. Trockenperioden hätten höchstens eine Woche gedauert. Die Ernten seien gut gewesen. «Letztes Jahr fiel der erste Regen erst im Dezember. Wir haben gesät und danach zwei Monate auf Regen gewartet», klagt Maklobo. Der Monat bis zur traditionellen Ernte Ende Februar wird kaum reichen, um die Kolben ausreifen zu lassen. Kollegen von Maklobo haben aufgegeben. Sie führen nun das Vieh auf ihre Maisfelder. So dienen die Pflänzchen wenigstens als Tierfutter. Schlechte Ernten und kranke Ziegen Zondile Hlatshwayo kennt Maklobos Sorgen bestens. Er vertritt den Distrikt KwaZulu-Natal in der National African Farmers Union (NAFU). Diese hilft Kleinbauern in Südafrika, Hilfeleistungen der Regierung einzufordern und Kooperativen zu gründen – oft die Voraussetzung, ­damit die Regierung Kleinbauern in Notlagen unterstützt. Im November nahm Hlatshwayo an der 17. Klimakonferenz in Durban teil. Zusammen mit Vertretern aus anderen Regionen ­Südafrikas berichtete er den politischen Vertretern in den Kommissionen von den Wetter­

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veränderungen, die er und die Mitglieder seiner Organisation erfahren. «Das Wetter ist un­­­ vorhersehbar geworden», beklagt Hlatshwayo. «Wir wissen nicht mehr, wann der Regen kommt und wann wir unser Getreide ansäen sollen.» Er hatte letztes Jahr zum ersten Mal 35 Hektar Land statt nur 10 bestellt. 113 000 Rand (rund 13 500 Schweizer Franken) hat er für ­Soja-Saatgut und Dünger investiert und dafür einen Kredit aufgenommen. Doch wegen der heftigen Niederschläge im vergangenen Winter verlor er 13 Hektar seiner Ernte. Was übrig blieb, reichte nicht einmal für den Eigenbedarf, geschweige denn für den Verkauf auf dem Markt, um den Kredit zurückzahlen zu können. Und nur weil ihm sein Bruder Geld lieh, konnte er seine Felder im Sommer wieder bepflanzen. Nebst Regen und Schnee machten dem Bauern die tiefen Temperaturen zu schaffen. Zlatshwayo hat neun Ziegen verloren. Insgesamt starben letzten Winter allein bei den 796 Mitgliedern der NAFU in der Region Bergville um die 1000 Tiere. Die teilweise über 3000 Meter hohen Drakensberge im Westen seien im Winter zwar immer schneebedeckt gewesen, sagt Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

© Sam uel S c hlaef li

Regen bleibt aus, die Weiden werden knapp: Mbogeni Maklobo wird vermutlich wieder ein Tier verkaufen müssen, um seine Familie weiter ernähren zu können.

Hlatshwayo, aber Schnee in der Ebene, das habe er erstmals vor 15 Jahren erlebt. Die Ärmsten verlieren am meisten Für Klimaforscher sind die Beobachtungen von Hlatshwayo und Maklobo keine Über­ raschung. Ihre Simulationen zeigten schon vor Jahren, dass Afrika sehr wahrscheinlich am stärksten von dem durch Menschen verursachten Klimawandel betroffen sein und der ­Tem­peraturanstieg das globale Mittel übertreffen wird. Die Durchschnittstemperaturen in Südafrika stiegen zwischen 1960 und 2006 um 0,6 °C an, gleichzeitig nahmen die Extreme zu. Der Trend ist eindeutig und wird sich fort­ setzen: Im vierten Sachstandsbericht des Inter­ governmental Panel on Climate Change ­(IPCC) von 2007 prognostizierten die Forscher für Südafrika Temperaturzunahmen zwischen 1,1 und 2,4 °C bis 2060 sowie zwischen 1,6 und 4,3 °C bis ins Jahr 2100. Heisse Tage werden den Simulationen zufolge häufiger, vor allem zwischen Dezember und Februar. Stärkere lokale Regenschauer bei gleichzeitigem Rückgang des gesamtjährlichen Regenfalls sowie Hitzewel-

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Reportage

len und Schneestürme sind wahrscheinlich. Viele der klimatischen Veränderungen, die die Forscher für Afrika prognostiziert haben, ­scheinen in KwaZulu-Natal bereits Realität zu sein. Zwar darf man Wetter und Klima nicht gleichsetzen. Trotzdem erachten viele Wissenschaftler die vermehrten Wetterextreme als erste lokale Auswirkungen der nachweislich steigenden Temperaturen. Da die meisten Afrikaner von der Landwirtschaft abhängen und die Adaption an veränderte Klimabedingungen schwer möglich ist, wird ein weiterer Tempe­ raturanstieg katastrophale Folgen haben. Wetterbedingte Schicksale hätten in seiner Gemeinde stark zugenommen, sagt Louis ­Ngwenya, einer von 24 Regierungsratsmitgliedern des Distrikts Okhahlamba in KwaZuluNatal. «Egal ob Hitze, Kälte, Regen oder Dürre, wir erleben andauernd Wetterextreme.» Der enthusiastische Lokalpolitiker ist für die Verwaltung der Gemeinde Emoyeni zuständig. An ­diesem Samstagnachmittag besucht er ein altes Ehepaar, das vor wenigen Wochen sein Zuhause verloren hat. In Emoyeni wütete ein Sturm, der den beiden das Wellblechdach und Teile der Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

© Sam uel S c hlaef li

Ein Sturm hat die Hütte von Esther Mhlonga und Steven Hlalukane zerstört — die Reparatur zahlt niemand.

Grundmauern zerstörte. Ngwenya erkundigt sich, wie er Esther Mhlonga und Steven Hlalukane beim Wiederaufbau helfen kann. Die Wetterextreme würden die Gemeindebewohner verängstigen, erzählt er, denn diese sähen ihre Lebensgrundlagen immer stärker bedroht. «Für viele lohnt sich die Landwirtschaft wegen der mickrigen Ernten nicht mehr», weiss Ngwenya. Versicherungen für Ernteausfälle, wie sie kommerzielle Höfe abschliessen, können sich Kleinbauern nicht leisten. Und Alternativen zur Landwirtschaft gibt es in Emoyeni nicht. Weniger als 20 Prozent der Bevölkerung in Okhahlamba sind Angestellte, ein Drittel der Bevölkerung besteht aus Analphabeten, und die touristische Infrastruktur rund um die Drakensberge ist in den Händen von Zugezogenen. Die Bauern in KwaZulu-Natal sind deshalb auf die Ernten und das Vieh angewiesen. Wer nicht mehr erntet, verkauft die Tiere oder schlachtet sie, um etwas zu essen zu haben. Viele Junge hätten den ­Glauben an die Landwirtschaft verloren, stellt Ngwenya fest. Sie flöhen in die Städte, ins ­ 60 Kilometer entfernte Ladysmith oder nach Johannesburg. Dort würden sie in Townships

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landen, wo sie sich mit Gelegenheitsjobs meist schlecht über Wasser halten können. Viele würden wieder aufs Land zurückkehren – oft mit verän­dertem Verhalten, erzählt Ngwenya. «Die Krimina­lität in unserer Gemeinde hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Wir erleben hier derzeit gleich auf mehreren Ebenen eine Krise.»

Greenpeace Südafrika: Kampagnen für ein besseres Klima

Südafrika ist der Hauptverursacher von CO2Emis­sionen in Afrika. Die hohen Emissionen gehen auf die Verbrennung von Kohle zurück, aus der 90 Prozent des Stroms stammten. Derzeit werden zwei neue Kohlekraftwerke gebaut. Medupi und Kusile gehören mit je 4800 MegaGlobaler Bettag gegen den Klimawandel watt Leistung zu den weltweit grössten. Kusile wird jährlich zusätzlich 37 Millionen CO2 ausstoÜber solche Krisen, die Ursachen und die Auswirkungen des Klimawandels haben Politiker ssen. Greenpeace Südafrika hat bei der Univer­ sität Pre­toria einen Bericht in Auftrag gegeben, aus aller Welt vor Monaten an der 17. Klima­ konferenz in Durban diskutiert. Doch ein Welt- der festhält, dass die Kosten für den Strom aus dem Kraftwerk Kusile höher ausfallen werden, klimavertrag mit verbindlichen Zusagen über Emissionsreduktionen kam in der grössten Stadt als der staat­liche Energieproduzent Eskom pro­ gnostiziert hat. Die externen Kosten von Kusile der Provinz KwaZulu-­Natal auch nach dem 13. Verhandlungstag nicht zustande. Maklobo, der könnten bis zu 60,6 Milliarden Rand (rund Kleinbauer aus Dukuza, 255 Kilometer von 7,2 Milliarden Franken) jährlich betragen. Der Hauptteil fällt wegen der Wassermenge an, die ­Durban entfernt, hatte übers Radio vom Gipfel gehört. Er und seine Freunde, die Dorf­ältesten, für die Pro­duktion verbraucht wird. «Der Bericht glauben nicht an wissenschaftliche Erklärungen zeigt, dass Investitionen in Kohle unser Klima für die Wetterkapriolen. Vielmehr sei das zusätzlich belasten und zu weiteren Wassereng­Wetter wegen der Jungen durcheinandergeraten, pässen führen ­werden», sagt Melita Steele, ververmuten sie, weil diese die Traditionen nicht antwortlich für die Klimakampagnen in Afrika. mehr respektieren würden. «Die Jungen bestelIm März 2011 hat der Energieminister sechs len ihre Felder selbst an Tagen, an denen neue AKWs angekündigt. Ein Bericht, den ­Gemeindemitglieder beerdigt werden», empört Greenpeace Südafrika im Sommer 2011 ver­öf­ fent­lichte, zeigt, was der Atomstrom das Land sich Maklobo. Das erbose Gott wie auch die bislang gekostet hat, und widerlegt die Mär von Ahnen. Für eine Besserung sieht er nur eine der günstigen Energie. Derzeit bereitet sich Lösung: Die Menschheit müsse zu Gott beten und die Rituale für die Ahnen wieder auf­ Greenpeace Südafrika darauf vor, das Environnehmen. Zondile Hlatshwayo, der Vertreter der mental Impact Assessment der Internationalen NAFU, folgte lange derselben Erklärung. Er Energieagentur (IEA) zu den geplanten Krafthabe aber beobachtet, dass die extremen Wetter­ werken zu kommentieren und die Regierung ereignisse zeitlich oft nicht mit den Sünden davon zu überzeugen, auf zusätzliche Kraftwer­gegen die Traditionen übereinstimmen würden. ke zu verzichten. «Südafrika hat es verpasst, die Chancen der erneuerbaren Energien und der Und sein Besuch am Klimagipfel in Durban habe ihn gelehrt, dass das Wetter wieder besser grünen Wirtschaft zu erkennen», sagt Steele. werden könne, sobald die Menschen weniger Weniger als ein Prozent des Stroms komme aus Kohle, Benzin und Diesel verbrennen. Besorgt erneuerbaren Quellen. Dabei böten dezentrale habe ihn jedoch, dass insbesondere die rei­Solar- oder Windkraftwerke Möglichkeiten, die chen Länder – er nennt etwa die USA – anschei- 2,5 Millionen südafrikanischen Haushalte ohne Strom ans Netz anzubinden und die Versornend nicht bereit seien, gegen den Klima­ wandel ­vorzugehen. Südafrika allein könne die gungssicherheit zu steigern. Um die Bevölkerung von erneuerbaren Energien zu überzeugen, Situa­tion in KwaZulu-Natal nicht verbessern. hat Greenpeace Südafrika die Kampagne «Der Klimawandel liegt nicht in einzelnen «Use Me More» (www.greenpeace.org/africa/ Händen. Er erfordert weitreichende Entscheide und globales Handeln.» Vielen Regierungs- en/Use-Me-More) ­lanciert. Jeder und jede kann die Regierung auffordern, statt in Kohle- und chefs dürften Maklobos Aberglaube und die ­Atomstrom in erneuerbare Energien zu invesForderung nach einem inter­nationalen Bettag tieren. genehmer sein. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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Kampagnen-News

Seit zehn Jahren diskutiert das brasilianische Abgeordnetenhaus über Änderungen im nationalen Forstgesetz. Die Folgen für den Amazonas wären verheerend: Unter anderem sollen illegale Abholzungen fünf Jahre lang straffrei bleiben und die Schutzgebiete verkleinert werden. Im Dezember 2011 sollte das zugunsten der Agrolobby verwässerte neue Waldgesetz an Präsidentin Dilma Rousseff zur Unterzeichnung weitergereicht werden. In der Zwischenzeit haben aber weltweit über 50 000 empörte Menschen und Greenpeace-Mitglieder die Präsidentin per E-Mail gebeten, ihren Einspruch geltend zu machen und den Amazonas zu schützen. In Brasilien selbst haben 1,5 Millionen Menschen zum Schutz des Amazonas und zum Protest gegen das neue Waldgesetz aufgerufen. Der brasilianische Kongress reagierte, indem er die Abstimmung bis auf weiteres verschob. Bis ­dahin werden wir mit aller Kraft weiter versuchen, die Präsidentin davon zu überzeugen, das Richtige zu tun: den Amazonas zu schützen.

© G r eenpeace

Nicht locker lassen: Der Urwald im Amazonas muss überleben!

Erfolgreicher Match um Gift in Textilien

Was wir bei Puma, Nike und Adidas geschafft haben, wird jetzt auch bei C&A und der chinesischen Sportfirma Li-Ning wahr: Die Textilfirmen planen bis 2020 eine neue Firmenpolitik umzusetzen, die eine Verwendung von gefährlichen Substanzen in der gesamten Liefer- und Produktionskette ausschliesst. Im Frühjahr 2011 haben zwei Untersuchungen den Beweis erbracht, dass Bekleidungsmultis wie H&M oder Nike Flüsse in der Umgebung der Produktionsstätten mit schadstoffhaltigen Abwässern wie dem hormonell wirksamen Gift Nonylphenol belasten. Das Gift tragen wir nicht nur auf der Haut, es reichert sich auch in der Nahrungskette der Wasserlebewesen an. Greenpeace fordert ein noch strengeres Vorgehen im Hinblick auf die Wasserverschmutzung und kurzfristigere, konkretere Zeitpläne für den Über 80 Prozent der kommerziell genutzten eu- Ausschluss der gefährlichsten Chemikalien. Der ropäischen Bestände sind überfischt. Trotzdem neue Kurs der Textilgiganten bezeugt trotzdem: oder gerade deswegen haben die Fischtrawler Der Trend der Schmutzwäsche ist vorbei! der EU-Flotte eine Leistungsstärke, die zwei- bis dreimal höher ist, als eine nachhaltige Fischwirtschaft erlaubt. Das Konzept geht nicht auf: Zu viele Fischer jagen zu wenige Fische, und die EU weicht immer mehr in andere Gewässer aus, wie jene an der Küste Westafrikas, und macht sich des Ressourcenraubs an ärmeren Ländern schuldig. Obwohl die Situation sich zuspitzt, ignoriert die EU auch die Empfehlungen der Wissenschaft zu den Fangmengen 2012. So wurde für den Kabeljau im Kattegat und in der Irischen See ein Fangstopp gefordert — doch die EU beschloss lediglich, die Quote um 30 Prozent zu senken. Für den Nordseehering erstritt sie sich eine Erhöhung um 68 Prozent — empfohlen hatten die Biologen gerade mal 19 Prozent. Greenpeace fordert darum einen Reformprozess mit einem Abbau der Überkapazitäten der EU-Fischereiflotte. Nur so ist eine nachhaltige Fischerei in Europa möglich.

Leere Meere — volle Kassen

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Die Stunde der ­energiepolitischen Wahrheit

In diesem Frühling muss Bundesrätin Leuthard Flagge zeigen. Sie, die vor einem Jahr den Atomausstieg mutig einläutete und charmant durch das Parlament trommelte, hat nun aufzuzeigen, wie die Energiezukunft konkret aussehen soll. Das Bundesamt für Energie hat darüber in vielen Arbeitsgruppen den ganzen Winter lang gebrütet. Greenpeace war mit dabei und diskutierte die Energiezukunft mit Wirtschaftsvertretern. Sind wir uns untreu geworden? Nicht im Geringsten. Wir kämpfen für eine echte Energiewende «made in Switzerland», die auf drei Säulen steht. 1. Eine dezentrale Energieversorgung. Dies erreicht die Schweiz über eine unlimitierte kostendeckende Einspeisevergütung für Gross- und Kleinanlagen. Hinzu kommen Gebietsausscheidungen für Wasser- und Windkraftwerke, um möglichst wenig Umweltkonflikte zu erzeugen, und effiziente Bewilligungsverfahren, damit Sie Ihre künftige Dachsolaranlage vor Baubeginn nur noch anmelden müssen.

2. Eine gründliche Effizienzpolitik, die über eine wirksame Energielenkungsabgabe entsteht, die auch die graue Energie in den Importprodukten erfasst und in eine Steuerreform gepackt sein soll. Diese Politik hat jene zu belohnen, die tatsächlich Energie sparen. 3. Eine Bildungsoffensive, die vorab im Bauund Installationsgewerbe stattfinden soll. Dadurch entstehen viele neue Arbeitsplätze in energieau­ tarken Randregionen, die ihre Stromüberschüsse in die Zentren liefern. Diese echte Energiewende bringen wir ganz neu direkt vor Ihre Haustüre: Unser Mobil-e, die fahrbare Ausstellung zur Energiezukunft, passt auch auf Ihren Dorfplatz oder an Ihre regionale Gewerbeausstellung. Nehmen Sie mit uns Kontakt auf: www.mobile.greenpeace.ch. Wir sind gespannt, ob wir auch Sie für eine handfeste, hausgemachte Energiezukunft begeistern können. Und ob wir Frau Leuthard für oder gegen uns haben werden. Denn Äusserungen der vergangenen Monate lassen vermuten, dass sie an ihrer früheren Liebe zu Grosskraftwerken festhält und zur Promotorin von Gaskraftwerken wird. Für uns wie auch für den Klimaschutz ist das keine Option.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen ­Strom­verbrauch und Lebens­qualität ?

Mit dieser und weiteren ­spannenden ­ Fragen rund um das Thema Stromzukunft Schweiz setzt sich die neue Informati­onsbox «mobil-e» auf innovative und spielerische Art und Weise auseinander. «mobil-e» ist die nächsten drei Jahre in der ganzen Schweiz auf ­Plätzen und ­Messen unterwegs und kann gemietet ­werden.

Informationen und Tourneeplan: http://mobile.greenpeace.ch Powered by


© G r eenpeace / C hr is tia n Å s l u nd

der zweitgrösste Minenkonzern weltweit. Menschenrechtsverstösse und rücksichtslose Ausbeutung der Natur sind mit der Unternehmensgeschichte verflochten. Ein aktuelles Projekt ist der Belo-Monte-Staudamm im Amazonasbecken. 40 000 Zwangsumsiedlungen sind die Folge, und die Betroffenen haben weder Mitsprache noch ein Recht auf Entschädigung. Ein Lebensraum für Menschen und Tiere, so gross wie der Bodensee, soll unter Wasser gesetzt werden. An der Abstimmung beteiligten sich 88 766 Menschen. Noch nie haben so viele Menschen online über die Vergabe «Es fehlt in weiten Teilen Europas immer noch des Public Eye People’s Award abgestimmt. «Wir die entsprechende Akzeptanz bei der Mehrheit sind eine Stimme, die keine Ruhe geben wird», so der Verbraucher, Landwirte und Politiker. Daher Greenpeace-Chef Kumi Naidoo. ist es nicht sinnvoll, weiter zu investieren», liest man derzeit auf der Website des Gentech- und Chemiekonzerns BASF. Der Beweis, dass die europäischen Proteste gegen die Kartoffel Amflora und den Mais MON810 Eine brisante Gerichtsakte wurde Greenpeace erfolgreich waren, kommt vom Gegner selbst. Auch Schweiz anfang des Jahres von russischen Umals der französische Gerichtshof Ende November weltorganisationen zugespielt. Das Dokument 2011 gegen den Regierungsentscheid das Anbau- von 2006 belegt, wie der ehemalige Direktor der verbot für MON810 aufhob, verkündete die fran- maroden Atomanlage im sibirischen Majak zwizösische Regierung, dies zu ignorieren und sich schen 2001 und 2004 vorsätzlich Umweltrecht weiterhin gegen den Anbau von Gentech-Mais verletzte und Menschen gefährlicher radioakzu stellen. Darauf zog sich der Gentech-Konzern tiver Belastung aussetzte. Damals bezogen die Monsanto zurück, denn nach eigenen Einschät- Schweizer Stromkonzerne Axpo und Alpiq bereits zungen seien die politischen Bedingungen «un- Brennmaterial aus Majak. Somit ist die bisherige vorteilhaft». Es ist zu hoffen, dass die Regierung Schutzbehauptung von Axpo, die Verseuchung in Frankreichs noch vor der diesjährigen Maisaus- der Region sei auf die Sowjetzeit zurück zu führen, saat ein Moratorium für den Anbau von GMO-Mais wiederlegt. Greenpeace hat darauf hin brieflich ausspricht. das Gespräch zu den Schweizer Stromkonzernen und ihren Aktionären gesucht. Diese müssen endlich einen Schlussstrich unter sämtliche Geschäftsbeziehungen mit der russischen Atombehörde Rosatom ziehen, zur Mitverantwortung Jedes Jahr kommen die Erfolgreichen und Mäch- für die radioaktive Verseuchung um Majak stehen tigen in Davos zum Weltwirtschaftsforum (WEF) und die betroffene Bevölkerung mit direkten Wiezusammen — eine Gelegenheit, die Verursacher dergutmachungs-Beiträgen unterstützen. Eine besonders krasser Menschenrechtsverstösse substantielle Antwort steht bis heute aus. und Umweltsünden anzuprangern und zu brandmarken. Die Fachjury verlieh der britischen Grossbank Barclays den Public Eye Global Award. Die Spekulantin treibt mit skrupellosen Methoden die Preise von Grundnahrungsmitteln in die Höhe — auf Kosten der Ärmsten. Allein im zweiten Halbjahr 2010 drängte die Lebensmittelspekulation weltweit 44 Millionen Menschen in extreme Armut. Das Publikum entschied online über die Verg­abe des Public Eye People’s Award. Schmutziger Sieger ist Vale, der grösste Eisenerzhersteller und

Gentech-Konzern BASF zieht Leine

Kampagnen-News

Axpo muss Rosatom den Schuh geben

«Eine Stimme, die keine Ruhe geben wird»

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In Kürze

Umstrittener ­ Solargigant Das Projekt ist Ambitiös: Am ­Walensee wird, angeregt von der Gemeinde Quinten, derzeit der Bau der grössten Schweizer Foto­ voltaikanlage in Erwägung gezogen. Stehen würde sie künftig auf dem Areal des 80 000 Quadratmeter grossen Steinbruchs Schnür, der im vergangenen Jahr geschlossen wurde. Und mit den 9 Megawatt sauberem Strom, die pro Jahr prognostiziert werden, könnte sie rund 1400 Haushalte versorgen. Gegenwärtig klären die Elektrizitätswerke der Stadt Zürich (EKZ) ab, ob die ­Realisierung sinnvoll ist. Ein Hindernis besteht: Der Steinbruch gehört zu den Landschaften von nationaler Bedeutung und ist geschützt. Es müsste also erst ein höher zu wertendes Interesse geltend gemacht werden. Zudem gibt es von Umweltschutzver­ bänden einigen Widerstand gegen solare Freiflächenanlagen. Die EKZ argumentieren dagegen, dass beim Bau des Werks viel eheMagazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

maliges Waldgebiet renaturiert würde. Die St. Galler Regierung mochte sich bisher nicht hinter das ­Projekt stellen. Filme für die Erde

Gratisfilme für ­Umdenker

«Filme für die Erde» ist eine von der UNESCO ausgezeichnete, politisch und religiös neutrale Umweltinitiative. Ihr Ziel ist es, zum Erhalt der Ökosysteme beizutragen. Die Verantwortlichen w ­ ollen auch die Wertschätzung der Natur fördern. Sie laden Interessierte zu Gratis-Filmabenden ein und im Anschluss erhält jeder Besucher eine DVD des gezeigten Films. Diese soll weitergegeben werden, um das Wissen zu verbreiten. Bisher haben die Veranstalter 17 000 DVDs verschenkt und so etwa 300 000 Menschen erreicht. Daneben organisiert «Filme für die Erde» Schulaktionen, in denen sie Oberstufenklassen gratis

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DVDs zur Verfügung stellt. Über unser Mitgliedernetzwerk gelangen zusätzlich DVDs in Umlauf. Die Website www.filmefuerdieerde.org ist das grösste deutschsprachige Portal zum Thema Film und Nachhaltigkeit mit monatlich gegen 5000 Besuchern aus dem deutschsprachigen Raum. Festival 2012: Zum diesjährigen UNO-­Welt­um­welt­­tag findet am 5. Juni an diversen Schweizer Orten zum zweiten mal das Festival ­«Filme für die Erde statt. Es umfasst kostenlose Angebote für Schulen, einen Kurzfilmwettbewerb, Aus­ stellungen und eine Filmvorführung für Erwachsene mit Gästen zum Thema Nachhaltigkeit. www.filmefuerdieerde.ch/ueber-uns Tipp für Lehrer

© f echn er M ed i a G mbH

© EKZ Z ür i c h

Solarenergie

Die 4. Revolution

«Filme für die Erde» und «Schulbesuch by Greenpeace» möchten gemeinsam die Vision einer ­nachhaltigen Zukunft in die Klassenzimmer bringen. Deshalb ­verschenken wir DVDs «Die 4. Revolution – Energy Auto­nomy» (im Wert von je CHF 28.–). Gleichzeitig bietet Greenpeace Workshops an. «Die 4. Revolution — Energy Autonomy» von Carl-A. Fechner zeigt visionär eine Weltgemeinschaft, deren Energieversorgung total aus erneuerbaren Quellen ­gespeist ist. Bestellen unter: www.filmefuerdieerde.ch/schulen/ die-4te-revolution


Solarvignette

Buchtipp

Fukushima lässt grüssen – die Folgen eines Super-GAUs

Ein Jahr ­lang Strom aus Jugendsolar-Anlagen

In Kürze

Mit dem Kauf einer Solarvignette Die Solarvignette auf Ihrem geben Sie uns den Auftrag, für Sie ­Laptop, Ihrem E-Bike oder Ihrem «Wenn ich ehrlich bin», sagt Solarstrom zu produzieren und Handy signalisiert, dass Sie Ihr Gerät mit Solarstrom betreiben. Sie ­Susan Boos, «habe ich es selber nie ins Netz zu speisen. Ihre Energie wirkt als Werbung – so unterstütgeglaubt. Und es ist schrecklich, können Sie während eines Jahres recht zu bekommen, wo man nie zen Sie das Projekt gleich doppelt. von jeder Steckdose beziehen. Der produzierte Solarstrom entrecht haben wollte.» spricht dem durchschnittlichen Jetzt hat sie ein Buch über das Die Vignette Plus ­Undenkbare geschrieben, über eine Jahresbedarf Ihres Handys (5 kWh) Sie erhalten eine reguläre Solarvignette und engagieren sich zu­ Katastrophe mit einem klar fixieroder Ihres Laptops bzw. Ihres baren Ausgangspunkt – aber ohne E-Bikes (je 45 kWh). sätzlich mit einem Spendenbetrag absehbares Ende. Die mediale Ihres Ermessens. Der Erlös der Aufregung um den Super-GAU in Vorteile der Solarvignette Solarvignette Plus fliesst in JugendFukushima hat sich gelegt, doch projekte zur Förderung von SolarIhr Solarstrom wird von Jugend­ die Ungewissheit über die Folgen solar-Anlagen und nicht von einem energie in Afrika, zum Beispiel zur überzieht den Alltag der japaniEnergieriesen geliefert. Mit dem Subventionierung von Solarschen Gesellschaft wie ein GrauErlös aus dem Solarvignetten-Ver- Workshops für Jugendliche. Diese schleier. kauf werden also unsere Solar­ Projekte werden vom Verein Susan Boos ist in die verseuchten anlagen kontinuierlich erweitert. ­Solafrica.ch durchgeführt. SolafriGebiete gereist, sprach mit Be­ Sie wissen mit Sicherheit, woher ca.ch hat die Solarvignette 2011 hörden, Evakuierten, und ExpoIhre Energie stammt. Pro verkauf- von Jugendsolar und Legair übernenten der japanischen Anti-AKW- te Solarvignette kaufen wir bei nommen. Weitere Informationen unserem Partner Legair 45 kWh zu den Tätigkeiten von Solafrica.ch Bewegung. Boos schlägt den finden Sie im Internet unter Bogen zur Schweiz und fragt: Was (Laptop/E-Bike) respektive 5 kWh (Handy) Solarstrom. Legair www.solafrica.ch. wäre, wenn ein solches Unglück Möchten Sie beim Bau einer bezieht den Solarstrom aus bei uns geschähe? ­Jugendsolar-Anlage selbst Hand Was die Stärke des Buchs ausmacht ­Jugendsolar-Anlagen und stellt und warum es absolut lesenswert sicher, dass nicht mehr Solarstrom anlegen? Die Informationen über einen möglichen Einsatz erhalten ist: Es handelt sich nicht um eine verkauft wird, als tatsächlich Sie unter www.jugendsolar.ch. Aufzählung von Schrecklich­ ­produziert wurde. keiten, von Zahlen und Daten. Vielmehr lernen wir die japanische Gesellschaft und ihre Geschichte besser kennen. Wir begegnen Betroffenen und sehen ihre Versuche, in der steten Ungewissheit zu leben: Ist es hier ungefährlich? Solarkraftwerk Solarstrom im Cudrefin Netz Kann ich diesen Fisch kaufen und essen? Und wir wissen nach der 12 Lektüre mit ­Sicherheit: Es gibt ein solarv ignette. höheres Gut als die kostengünsch tigste Form der Stromversorgung. Susan Boos: Fukushima lässt Notebook, Handy und Elektrovelo ­grüssen — die Folgen eines Supermit Solarvignette GAUs, Rotpunktverlag. Ab März in den Buch­handlungen. 1 Jahr

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Solarstro m für 8.–

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Freiwillige

Tipp: Kunos Blog

C hr is tophe C ha mm a rtin/ r ezo.ch

Mehr schmunzel, weniger Runzel

Von Kuno Roth — «Umweltengagement ist ehrenvoll», sagt Kuno. «Und wichtig. Zweifellos.» Doch meint ­Kuno, immerhin seit ein paar Jährchen dabei, hier und dort ein blindes Fleckchen, ein Mü Übereifer und ­etwas Rechthaberei zu bemerken. «Engagement kann blind, sich stets im eigenen Saft drehen, immun ­machen. Auch virtuell: Mehr Planet dank Internet? Apps against the collaps? Warum wachsen die Mitgliederzahlen und Online-Investitionen der ­Umweltverbände schneller als die Umweltresultate?» Diese und andere Gretchenfragen stellt sich Kuno – eine Hirnwindung quer denken, ein paar Tröpfchen Nimms-nicht-so-Streng, eine Prise Satire. Mehr Schmunzel, weniger Runzel. Das jedenfalls ist seine Absicht. Zu finden unter: www.greenpeace.ch/Kuno.

Petition zum Schutz der Bienen

Die Regionalgruppe Waadt ­lanciert eine Petition für ein Moratorium für den Einsatz von Pes­ tiziden, die für Bienen giftig sind. Das Schutzprojekt entstand nach über einem Jahr der Beobachtung von Bienen eines im Botanischen Garten von Lausanne installierten Bienenstocks sowie nach meh­ reren Monaten der Ursachenforschung über das Verschwinden der Bienen. Seit mehreren Jahren bedrohen das Bienensterben direkt die menschliche Nahrungskette und die Biodiversität in der Schweiz. Eine Ursache für das Bienen­ sterben sind die in Pflanzenschutzmitteln häufig verwendeten Neo­ nicotinoide – Nervengifte, deren Einsatz in der Schweiz noch immer erlaubt ist. Sie werden in der konventio­nellen Landwirtschaft eingesetzt und gelten als hochwirksame, systemische Insektizide, die auf das Nervensystem der Insekten wirken – sowohl als Kontakt- als auch als Frassgift. Auch für ­Säugetiere sind sie giftig. Ihre Toxizität ist 5000- bis 7000-Mal grösser als jene von DDT. Im ­Interesse einer nachhaltigen, bienenfreundlichen und naturnahen Landwirtschaft und mit der ­Unterstützung des Vereins Kokopelli fordert Greenpeace: dass der Bund gemäss Vor­ sorgeprinzip ein zehnjähriges Mo-

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Übrigens: Kuno ist Kuno Roth, seit 1986 Freiwilliger und seit 1990 Angestellter bei Greenpeace Schweiz, wo er die Jugendprogramme entwickelte und nun darunter ächzt, sie zu ­inte­rnationalisieren. Er ist promovierter Chemiker, wechselte zu ­Umweltpädagogik und Humanökologie — und zum Schreiben kurzer Formen, wie z.B. von Gedichten. Oder eben von Glossen, d.h. ­satirischen Kurzessays. Viel Spass beim Lesen! ratorium für Insektenvertilgungsmittel erlässt, vor allem für Fipronil und Neonicotinoide (Clothianidin, Thiamethoxam, Imidacloprid und Thiacloprid), deren Toxizität und Risiken für die Bienen erwiesen sind. Die internationale Aktualität zeigt, dass solche Verbote möglich sind: Neonicotinoide sind in Italien verboten, Clothianidin ist in Deutschland nicht zugelassen und Thiamethoxam ist in Deutschland und Slowenien untersagt; dass Bewilligungsverfahren transparenter werden und dass der Bund unabhängige Gremien mit der Prüfung der Langzeitwirkungen von Pestiziden auf die Bio­ diversität in der Landwirtschaft beauftragt. Die Unterschriftensammlung läuft bis Ende Dezember 2012.

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Greenpeace ruft zu einer Mobilisierung der Bevölkerung für die Rettung der Bienen auf, die eine wichtige Bedeutung für die Landwirtschaft und die Artenvielfalt haben. Unterschreiben Sie die Petition ­unter www.greenpeace.ch/bienen.


© G i n a D o n Zé

Testamente

«Selbst Testamente auf Bierdeckel sind ­rechtsgültig»

Christian Neuenschwander arbeitet als Notar bei Schwarz & Neuenschwander in Bern. Seine Beratungsschwerpunkte sind erbund güterrechtliche Fragen. Dass Hilfswerke in Testamenten nicht vergessen gehen, ist ihm ein Anliegen.

Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

Greenpeace: Herr Neuenschwander, Sie befassen sich in Ihrem Arbeitsalltag mehrheitlich mit Erbschaftsberatung. Was begeistert Sie daran? Christian Neuenschwander: Es ist in erster Linie die Begegnung mit den Menschen. Bestärkend in meinem Beruf ist aber auch, die Erleichterung der Klienten mitzuerleben, wenn nach langem Planen und Zögern das Testament endlich geschrieben ist. Viele bedanken sich mit den Worten: «jetzt fällt mir ein Stein vom Herzen.» Nur ein Viertel der Schweizer schreibt ein Testament. Warum so wenige? Einerseits haben wir eine Rechtsordnung, das Güter- oder auch das Erbrecht, die bereits eine gute Lösung vorsieht. Eine normale ­Familie, ein Ehepaar mit zwei Kindern, hat somit nicht wirklich Druck, etwas zu regeln. Ander­ erseits gibt es viele Berührungsängste – sei es die Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben, die Abneigung vor der Jurisprudenz, die mit «Krawatte, teuer und kompliziert» gleichgesetzt wird, oder die Angst, etwas Gültiges schriftlich festzu­legen. Aber mehr als alles geht es um ­fehlendes Wissen. Vielen Menschen ist beispielsweise ­unbekannt, dass ein handschriftliches Testament rechtsgültig ist und dass man dafür keinen ­Notar braucht. Sie erwähnen, dass Personen mit Pflicht­ erben wie Ehepartner, Kindern oder Eltern oft keinen Grund sehen, ein Testament zu schreiben, da ja die Erbfolge ohnehin gesetzlich geregelt ist. Stimmt dieser Gedanke? Ja. Aber ohne Testament besteht auch keine Möglichkeit, Legate auszurichten, zum Beispiel an Institutionen oder Personen, die nicht erbberechtigt sind, sei es die Freundin oder der Göttibueb. Ein Testament zu haben, heisst auch, v ­ orausschauend Erbstreitigkeiten zu vermeiden. Streit in der Familie entzündet sich meist an ­materiell unbedeutenden Gegenständen, die aber emotionalen Wert haben. Deshalb kann es für den Familienfrieden wichtig sein, festzulegen, dass das Bild in der Küche an die Tochter und das in der Stube an den Sohn geht. Was tun Sie, wenn Klienten ihr Testament angehen wollen, aber noch zögern? Dazu habe ich eine schöne Geschichte. Ein langjähriger Klient sagte seit Jahren, er wolle sein Testament schreiben. Der Mann, heute Witwer, lebt allein und hat keine Pflichterben. ­Somit bleiben familiär gesehen entfernte Erben,

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«Wo weint jemand vor dem Fernsehgerät? Bei be­ drohten Orang-Utans? Bei Dürre­katastro­­phen? Wenn ich das Interesse heraus­ finde, ü ­ ber­lege ich mit den Klienten, welche Orga­ nisationen p ­ assend sind.»

Ich versuche herauszufinden, was sie persönlich bewegt. Wo weint jemand vor dem Fernsehgerät? Bei bedrohten Orang-Utans, bei einer Dürrekatastrophe oder bei Kindern in Not? Interessiert ihn lokale oder internationale Arbeit? Wenn ich das Interesse herausfinden kann, überlegen wir gemeinsam, welche Organisationen passen. Ich gebe dann eine Empfehlung ab. Welche Informationen brauchen Sie über ein Hilfswerk, um es mit gutem Gefühl empfehlen zu können? Ich befasse mich intensiv mit der Orga­ nisation, mache mir ein persönliches Bild und finde heraus, welche Themen ihr wichtig sind. Greenpeace empfehle ich gerne, weil die Organisation eher polarisiert im Vergleich zu ande­ren Hilfswerken. Aber am Schluss entscheidet der Klient. Was ist das Originellste, das Sie bei einer Erbschaftsberatung erlebt haben? Die meisten Anekdoten stehen in Zusammenhang mit Verfügungen, wenn die Person bereits verstorben ist und dann Überraschungen auftauchen. Bei den Erbschaftsberatungen steht das Praktische im Vordergrund. Am Interessantesten war wohl das Testament, das ein Klient in einer Bar auf einen Bierdeckel geschrieCousinen und Cousins, die er nicht kennt. ben hatte. Selbst das war rechtsgültig. Gleichzeitig gab es ein Hilfswerk, das ihm am Das Interview führte Muriel Bonnardin, Herzen lag. Als ich ihn kürzlich besuchte, ­Verantwortliche für Testamente und Legate ­ergriff ich die Initiative und gab ihm kurzerhand bei Greenpeace Schweiz, Tel. 044 447 41 64 Papier und Bleistift. Auf dem Blatt steht nun oder muriel.bonnardin@greenpeace.org. ein einziger Satz, mit dem er sein LieblingshilfsFalls Sie Interesse am kostenlosen Testamentwerk zu seinem alleinigen Erben macht. Der Text ist zwar krumm und von handgeschrieben, ratgeber haben, senden Sie uns bitte die Antwortkarte in der Mitte des Magazins zurück. aber mit Ort, Datum und Unterschrift ver­ sehen und ­somit gültig. Und er war in 30 Sekunden geschrieben. Was halten Sie von der Idee, Hilfswerke im Testament zu berücksichtigen? Ich unterstütze sie, vor allem bei Personen ohne Pflichterben. Schliesslich gibt es Hilfs­ werke oder nicht verwandte Personen, die einem näher stehen und die das Erbe mög­licherweise sinnvoller einsetzen können. Bei Personen, d ­ ie Pflichterben haben, besteht ebenfalls die Möglichkeit, Hilfswerke zu bedenken, indem sie Legate in der freien Quote ausrichten. Diese sind zunehmend wichtig für die Hilfswerke. Was raten Sie Klientinnen und Klienten, die ein Hilfswerk bedenken möchten, aber nicht wissen, wie? Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2012

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© G r eenpeace / Rom a n K ezier e

Zu gewinnen: 5 englische Greenpeace-Bücher «Warriors of the Rainbow»

Die Chronik der Bewegung von 1971 bis 1979, eine Ausgabe zum 40-Jahr-Jubiläum von Greenpeace. Senden Sie das Lösungswort bis 31. Mai 2012 per E-Mail an redaktion@greenpeace.ch oder per Post an Greenpeace Schweiz, Redaktion Magazin, Stichwort Ökorätsel, Postfach, 8031 Zürich. Das Datum des Poststempels resp. des E-Mails ist massgebend. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Über die Verlosung wird keine Korrespondenz geführt.

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Der 채lteste Reaktor der Welt steht in der Schweiz.


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