Greenpeace Switzerland Magazin 2/2015 DE

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— Suffizienz — ­Umdenken fördert neue Horizonte g reen peace MEMBER 20 15, Nr. 2

Dossier Suffizienz 8 Wahres Leben, frei von Ware 10 Portrait [  APP ] * Eine Minimalistin befreit sich 21 Streitgespräch Beschränkung oder ­Wachstum — wie sieht die Wirtschaft der ­Zukunft aus? 24 Ökonomie [  APP ] Abkehr vom Überfluss 31 Hintergrund Divestment — Kapitalrückzug aus der [  APP ] 35 fossilen Energiewirtschaft Konsum [  APP ] Zahlen und Fakten 38 Tipps Wege aus dem Konsumrausch 40 Interview Können Industriedesigner [  APP ] 46 Produkte verhindern? Essay [  APP ] Werbung — Märchen über Unnötiges 50 Buchtipps [  APP ] Zum Thema 56 Essay Pflanzen sind Meister der Vernetzung 65 Interview Amazonas — Indigene bieten Holz[  APP ] 69 fällermafia die Stirn Fotostory Illegale Rodungen im Kongo z­erstören wichtigen Lebensraum [ APP ] 72 Einleitung

Reportage

Impressum Editorial In Aktion Kampagnen-News Öko-Rätsel

* Die App kann ab sofort kostenlos unter dem Namen «Greenpeace Magazin Schweiz» im App Store für iOS und bei Google Play für Android heruntergeladen werden.

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Impressum Greenpeace Member 2/2015 Herausgeberin/ Redaktionsadresse: Greenpeace Schweiz Badenerstrasse 171, Postfach 9320 8036 Zürich Telefon 044 447 41 41 Fax 044 447 41 99 redaktion@greenpeace.ch www.greenpeace.ch Adressänderungen unter: suse.ch@greenpeace.org Redaktionsteam: Tanja Keller (Leitung), ­ Hina Struever, B ­ arbara Lukesch, Samuel Schlaefli, Roland Falk Autoren: Esther Banz, Oliver Classen, Hannes Grassegger, Christian Hänggi, Florianne Koechlin, Inga Laas, Thomas Niederberger, Mathias Plüss, Samuel Schlaefli Fotografen: Anne Gabriel-Jürgens, Clément Tardif / Greenpeace Illustrationen: Julie Petter Gestaltung: Hubertus Design Druck: Stämpfli Publikationen AG, Bern Papier, Umschlag und Inhalt: 100% Recycling Druckauflage: d 98 500, f 21 000 Erscheinungsweise: viermal jährlich Das Magazin Greenpeace geht an alle ­M itglieder ­( Jahresbeitrag ab Fr. 72.–). Es kann Meinungen ­ent­h alten, die nicht mit offiziellen Greenpeace-­Positionen ­übereinstimmen. Der Lesbarkeit zuliebe sehen wir davon ab, konsequent die männliche und die weibliche Form zu ver­ wenden. Die männliche Form bezieht daher die weibliche Form mit ­e in – und umgekehrt. Spenden: Postkonto 80-6222-8 Online-Spenden: www.greenpeace.ch/spenden SMS-Spenden: Keyword GP und B ­ etrag in ­F ranken an 488 (Beispiel für Fr. 10.–: «GP 10» an 488)


Editorial

Suffizienz ist machbar

«Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier», sagte Gandhi. Genau das meinen wir, wenn wir heute von «Suffizienz» sprechen. Gandhis Aussage würde wohl niemand bestreiten, dennoch löst der Begriff Suffizienz negative Gefühle aus: Angst vor Verzicht, vor Rückschritt oder Freiheitsverlust. Ein wenig mulmig war uns bei Greenpeace Schweiz auch zumute, als wir letzten Sommer in die neuen Büroräume der Genossenschaft Kalkbreite zogen. Natürlich unterstützten wir alle das Vorhaben, mit viel weniger Energie, Raum, Papier und ohne feste Arbeitsplätze auszukommen, doch wie würde das in der Praxis gehen? Jetzt, nach einem halben Jahr, wissen wir es: Es funk­ tioniert bestens! Wir geniessen nicht nur die modernen, gemütlichen und überschaubaren Büros, sondern wir freuen uns auch darüber, dass wir jeden Tag andere TischnachbarInnen haben. Noch ist die Zürcher Kalkbreite eine Nische. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine wirksame Einschränkung unseres Ressourcen­ verbrauchs sind bei weitem nicht gegeben. Hier setzt Greenpeace an: Von den Unternehmen fordern wir, dass sie auf schädliche Produktionsweisen verzichten, von den Regierungen, dass sie regulatorische Massnahmen zur Reduktion von Schadstoffemissionen durchsetzen. Auch im Privaten könnten wir viel bewirken, wenn uns die Perspektive eines genügsamen Lebens attrak­ tiv und erreichbar erschiene. Doch Gegenargumente sind rasch zur Hand: Ein bisschen weniger Fleisch essen, ein bisschen weniger einkaufen oder ein bisschen weniger fliegen, das alles genügt ohnehin nicht. Und wir lassen uns vom neolibe­ralen Glaubenssatz der Ökonomen «Ohne Wachstum kein Glück» immer noch leicht verunsichern. Der Suffizienz-Ansatz stellt vieles in Frage, was unser gewohntes Leben ausmacht: Vollbeschäftigung, Komfort, individuelle Freiheit, Ernährung, Reisen usw. Das beunruhigt uns, denn wir können uns eine Welt mit anderen Werten kaum vorstellen. Gegenentwürfe gibt es aber, und zwar schon in unserer Nähe. Auf der Online-Plattform der Stadt Zürich etwa findet sich unter dem Titel «Suffi­ zienzmassnahmen» ein erstaunliches Dokument zur Umsetzung der «2000-Watt-Gesellschaft». Darin wird eine zukunftsfähige und lebensfrohe Stadt skizziert, in der mit ökologischen Steuern ein dichtes Netz von Velowegen finanziert wird, wo Menschen auf weniger Quadratmetern wohnen, in Ge­ meinschaftsgärten eigenes Gemüse ziehen, sich an Tauschbörsen und in Repa­ raturwerkstätten treffen, Autos oder andere Gegenstände des gelegentlichen Gebrauchs miteinander teilen und mit «Buy Nothing Days» (Tagen ohne Konsum) wetteifern. Auch wenn die meisten dieser Massnahmen nicht ohne harte politische Kämpfe zu erreichen sein werden – sie sind machbar! In diesem Magazin werden Sie einige gelungene Geschichten eines suffizienten Lebens kennenlernen. Deren Erfolg basiert auf dem genügsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen, auf der Aufwertung des Lokalen, auf Solidarität und sozialer Gerechtigkeit. Die Menschen, die diesen Schritt gewagt und sich von Konsumzwang befreit haben, wirken selbstbestimmt und zufrieden. Darin liegt die Kraft der Suffizienz. Verena Mühlberger Co-Geschäftsleiterin Greenpeace Schweiz

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Die harte Tour Mitglieder der spanischen Marine gehen auf ツュKollisionskurs mit einem Gummiboot von GreenpeaceAktivisten, die gegen テ僕bohrungen des Multis Repsol vor den Kanarischen Inseln demonstrieren. Bei diesen Ramm-Manテカvern gab es zwei Verletzte. Kanarische Inseln, 15. November 2014


© Greenp eac e



Dreckwasser Greenpeace-Aktivisten haben bei einem Tagbau-­ Kohlebergwerk bei Wuhai in der Inneren Mongolei ein riesiges Banner ausgelegt, mit dem die Verschmutzung des Gelben Flusses angeprangert wird. Dutzende energie-intensive Industrieanlagen säumen ihn auf ­Hunderten von Kilometern Länge. Wuhai, China, 12. Dezember 2014

© Zhu Ji e  /  G r een p eac e


Protest in luftiger Höhe In Mersin, Türkei, entrollen Greenpeace-Aktivisten an einem 117 Meter hohen Gebäude ein Banner. Sie protestieren gegen das erste türkische Atomkraftwerk, das in der Nähe der Stadt geplant ist. Greenpeace Türkei hat vor Gericht gegen die fehlerhafte Umwelt­ verträglichkeitsprüfung des AKW geklagt und fordert die Regierung auf, auf erneuerbare Energie statt Atomkraft zu setzen. Türkei, Mersin, 24. März 2015


© D oruk S a n   /  Y i g i t Beki rov i ç   /  G r e e np e ac e


Suffizienz – Mehr als nur weniger

Unter Suffizienz versteht man in der Ökologie das Bestreben, möglichst wenig Rohstoffe und Energie zu verbrauchen, es geht also konkret um das richtige Mass. Suffi­zienz auf der individuellen Ebene ist aber auch ein Wort des schlechten Gewissens und ein moralbehafteter Begriff. Bei den Vorbereitungen für das Schwerpunktthema dieser Ausgabe hat sich bei uns in der Redaktion überraschen­ derweise ein Glücksgefühl eingestellt: Die Zugänge entpupp­ ten sich als unglaublich vielseitig und lustvoll, auch wimmelte es von interessanten Start-up-Geschäftsideen, privaten Tauschbörsen und individuell-suffizienten Lebensent­würfen, über die es sich zu berichten lohnte. Im Namen der Suffizienz planten wir ein nur halb so umfangreiches Magazin wie üblich. Wir wollten am eigenen Leib erfahren, ob weniger tat­ sächlich gleich viel oder sogar mehr sein kann. Das Heft kommt also kleiner, aber – wie wir hoffen – inhaltlich umso feiner daher. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2015

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In unserem Fall liess sich dieses Ziel mittels Diversifika­ tion auf andere Vertriebskanäle erreichen. Wir nutzen die redimensionierte Magazin-Ausgabe, um auf unsere neu lancierte Magazin-App aufmerksam zu machen. Die nicht gedruckten, aber gleichwohl produzierten Artikel können Sie auf Ihrem Smartphone oder Tablet in iOS oder Android oder auf unserer Website lesen. Dort erfahren Sie unter ande­ rem, wie Suffi­zienz im modernen Industriedesign Einzug hält und was Werbung in unserer Konsumgesellschaft auslöst. Dass Suffizienz nicht auf Zwang aufbauen muss, sondern freiwillig und überdies lustvoll gelebt werden kann, zeigt unsere grosse Reportage über Minimalisten in Berlin. Sie ent­ sprechen nicht dem landläufigen Klischee der Aussteiger, die ihr Glück auf entlegenen Bauernhöfen suchen. Es handelt sich vielmehr um Menschen in einem urbanen Umfeld mit individuellen minimalistischen, höchst erfolgreichen Lebens­ strategien. So hat die gebürtige Appenzellerin Sara mit einer Kollegin im September das erste Berliner Geschäft für müllfreies Einkaufen eröffnet. Mit ihrem Label «Original Unverpackt» haben die beiden einen Nerv der Zeit getroffen. Wenn sich Gegner und Befürworter beim Thema Wachstum in die Haare geraten, geht es letztlich immer um die Frage, wie Suffizienz in einer Wirtschaft funktionieren soll, die auf Wachstum und zunehmenden Wohlstand ausge­ richtet ist, denn davon möchten die Wenigsten abrücken. In diesem Heft streiten sich Deutschlands führender Wachs­ tumskritiker Niko Paech und sein Landsmann Wolf Lotter, beken­nender Wachstumspapst und einflussreicher Leitartik­ ler des deutschen Wirtschaftsmagazins «brand eins». Lassen Sie sich vom Inhaltsverzeichnis auf unserem Cover inspirieren und entdecken Sie die Vielfalt der Suffizienz auf Papier und digital. Viel Spass bei der Lektüre! Die Redaktion

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Reportage

Ich minimiere, also bin ich

Ist ein suffizientes Leben in der Stadt mög­ lich? Eine wachsende Gemeinde versucht sich mit viel Experimentierfreude und Krea­ tivität am guten Leben ohne Wohlstands­ ballast. Ihr Credo: Weniger ist mehr – mehr Freiheit, mehr Erfüllung und mehr Leben im Einklang mit der Natur. Zu Besuch bei drei Minimalisten in Berlin.

zusammen, gründen eine Familie – und bei jedem Schritt kommen noch mehr Stehrumsel hinzu. Manchmal füllen wir unsere Einfamili­ enhäuser, unsere Neubauwohnungen und die gemütlichen Altbauten dermassen mit Steh­ rumseln, dass wir darin fast ersticken. Schät­ zungen zufolge nennt der Durchschnittseuro­ päer 10 000 Gegenstände sein Eigen. Ich habe bei mir zuhause nachgezählt: Allein in der Küche komme ich auf über 500. Die wenigsten Text Samuel Schlaefli Menschen finden das gut, denn sie merken: Fotos Anne Gabriel-Jürgens Es gibt Wörter, die sagen so viel über un­sere Besitz macht immobil, bequem und hält einen Zeit, wie es sonst nur Romane oder Filme ver­ davon ab, zu tun, was man schon immer wollte. mögen. «Stehrumsel» ist so ein Wort. Wer Vielleicht haben deshalb Geschichten vom kennt sie nicht, die Stehrumsel, die unnützen Loslassen, von Askese, von einem aufs Wesent­ liche reduzierten Leben derzeit Hochkon­ Geschenke, die lieb gemeint, aber nie gewollt waren; die Freizeitgeräte, bei deren Kauf viel junktur von Finnland bis in die USA. Sie füllen guter Wille im Spiel war, die jedoch unbenutzt Auditorien und liefern Stoff für eine Reihe neuer Bücher und Filme. liegen blieben; die elektronischen Gadgets, die von einer neuen Generation abgelöst wur­ In «My Stuff», dem kürzlich angelaufenen den; das Spielzeug, das die Kleinen kurz be­ Erstling des jungen finnischen Filmemachers geisterte, ehe sie es liegen liessen. Wir ziehen Petri Luukkainen, der auch die Hauptrolle fort aus dem Elternhaus, richten unsere erste spielt, steht dieser in der Eingangsszene nackt Wohnung ein, legen die Habseligkeiten mit in einer leergeräumten Wohnung. Mit einer denjenigen unserer Partnerin oder des Partners Zeitung aus einem Container bedeckt er seine

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Joachim Klöckner, 65: Der Berliner Stadtwanderer hat nur zwei Paar Hosen und lehnt materielle Geschenke seit 30 Jahren konsequent ab.

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Scham und rennt durchs verschneite nächtliche Helsinki. Sein Ziel: Ein Lagerhaus, aus dem er sich einen Mantel holt, um sich vor der Kälte zu schützen und ihn als Schlafsack auf dem Par­ kett der Wohnung zu benutzen. Luukkainen hat sich von seinem Besitz getrennt und alles in besagtem Lager eingestellt. Sein Film handelt davon, wie er sich während eines Jahres täglich einen Gegenstand zurückholt. Es ist, als würde er sein Leben auf «Start» zurückstellen und in einem immateriellen Zustand wiedergeboren. Warum schwören junge Menschen – dar­ unter Filmemacher, Autoren und Hunderte von Bloggern – gerade jetzt ihren Stehrumseln ab? Wie kommt es, dass zwei junge amerikanische Pioniere der Minimalismus-Bewegung auf ihrem Blog theminimalists.com jährlich zwei Millio­ nen Klicks verzeichnen, mit einer Roadshow durch die USA touren und über TedX-Konferen­ zen Zuschauerinnen und Nachahmer auf der ganzen Welt finden? All das mit einer einfachen Botschaft: Löse dich von deinem Besitz und du wirst frei und glücklich sein. Umziehen mit Handgepäck Wir fahren nach Berlin. Wo sonst in Europa geben sich mehr junge Menschen dem «Sichselbst-Ausprobieren» hin? Doch bevor wir Lisa besuchen, eine 26-jährige Minimalismus-Blog­ gerin und Verpackungsverweigerin, wollen wir Joachim Klöckner treffen. Er ist 65 Jahre alt und so etwas wie der Urvater der MinimalismusBewegung im deutschsprachigen Raum – nur dass er diesen Titel nie für sich beanspruchen würde. Er hat uns nach Berlin-Friedenau gelotst, in eine aufgeräumte, gutbürgerliche Ecke der Grossstadt. Ich solle bei «Atelier» klingeln, hat er mir in einem Mail mitgeteilt, das als Signa­­tur den Satz trug: «Alter ist die Zunahme der Din­ge, über die ich lachen kann.» Er begrüsst uns fröhlich und mit festem Händedruck. Falten unterlegen seine neugierigen grauen Augen – Augen, wie man sie bei Menschen findet, die am Leben gelitten haben und am Leid gewachsen sind. Mit seinen weissen Leinenhosen, dem weissen Pulli und dem blassgelben Foulard hat er etwas von einem Yogi. Seine Kluft ist jedoch nicht spiritueller, sondern praktischer Natur: Wenn man nicht mehr als zwei Hosen, fünf Hemden, einige Shirts, etwas Unterwäsche und eine Jacke gegen den Regen sowie eine gegen

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die Kälte besitzt, fällt die Kombination mit Weiss einfach leichter. Joachim wohnt seit vergangenem August im Malatelier eines Freundes. Der schöne Parkett­ boden in der grosszügigen Altbauwohnung ist überstellt mit Arbeitsmaterial: Leinwände, Leim, Farben, Birkenstämme, getrocknete Baumblät­ ter und Rosen. Der lange Gang mündet in ein helles Zimmer von etwas mehr als zehn Quadrat­ metern Fläche – Joachims Reich. Möbel hat er keine. In der Ecke gegenüber der Balkontür hängt eine weisse Hängematte, in der Joachim sinniert, surft und schläft. Ein Körbchen mit Nussmischung, Müsli, zwei Bananen, Orangen und zwei Flaschen Wasser sowie ein gelber Rucksack mit einem nicht mehr als 20 Zentime­ ter hohen Kleiderstapel vervollständigen die Einrichtung. Viel mehr braucht der Minimalist nicht zum Leben. Seit 15 Jahren zieht Joachim nur noch mit Handgepäck um. Er hat kein Telefon, kein Auto, macht viel zu Fuss, ist mit dem Velo oder mit der U-Bahn unterwegs. Interkontinentalflüge sind passé, deshalb hat er seinen Reisepass demonst­ rativ zerschnitten; bei innereuropäischen Flü­ gen ist er sich noch nicht sicher. Aufgewachsen ist er in einem 200-Seelen-Dorf in Nordhessen, wo er mit seinem Vater eine Maschinenbau­ firma leitete und anschliessend als Energiebera­ ter arbeitete. Zieht es die meisten Menschen im Alter aufs Land, so entschied Joachim, seinen Ruhestand in der Stadt zu verbringen. «Den Geschmack von europäischen Grossstädten kos­ ten», das interessiert ihn zurzeit. Er sucht das Neue, das Inspirierende, den Austausch – wo könnte er mehr davon finden als in einer Stadt wie Berlin? Seit seiner Pensionierung ist er Stadtwanderer, schaut sich neue Viertel an, lernt in Kaffees Autorinnen kennen, deren Bücher er bespricht, trifft sich mit jungen, kreativen Köpfen und besucht «Vision Talks», wo neue Unternehmensideen präsentiert werden. Leben mit 400 Euro Es gab Zeiten, da besass Klöckner einen Porsche und mehrere Motorräder. Er fuhr bei Rallyes mit und lebte mit Frau und Kind im eigenen Haus. «Zeug gehortet» habe er aber nie, erzählt er, «schon als Kind bin ich genügsam gewesen.» Seit 30 Jahren nimmt Joachim keine Geschenke mehr an. «Wenn mir jemand Gutes

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«Warum schwören junge Menschen – ­darunter Filme­ macher, Autoren und Hunderte von Bloggern – ­gerade jetzt ihren Stehrumseln ab?»

ein gutes Mittel gegen die Abstiegsängste der Mittelschicht. Auswüchse davon zeigen just während unseres Treffens die fremdenfeindli­ chen Demonstrationen der Patriotischen Euro­ päer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) in Dresden. «Die Armutsgrenze in Deutschland liegt bei rund 1500 Euro. Im Schnitt war ich demnach die letzten 35 Jahre arm – und dabei ging’s mir blendend.» Aktuell lebt Joachim mit einer Rente von etwas über 400 Euro. Das reiche für sein Müsli am Morgen, um am Mittag oder am Abend irgendwo etwas Kleines zu essen und um seinem Freund eine bescheidene Miete zu zahlen. «Armut ist bei uns vor allem eine Vorstellung, ein Konzept im Kopf. Wer we­ niger hat, hat auch weniger Angst.» Etwas gibt es trotzdem, auf das Joachim nicht verzichten möchte: sein iPad. Es ist sein Arbeitsgerät und sein Tor zur Welt. Hunderte von Büchern und über tausend Songs hat er darauf stets zur Hand. Er nutzt es zum Fotogra­ fieren und zum Scannen – als Schlüssel zum papierlosen Leben. Er liest täglich ausgedehnt «Die Zeit» und den «Spiegel». Über Mails, Face­book und Twitter vernetzt er sich und hält Kontakt zu Gleichgesinnten. Auf meine Frage, tun will, soll er mich zum Essen einladen oder ob das Tablet und das Internet die Grundlage mir eine Massage schenken.» Vor 15 Jahren hat er für seinen Lebensstil seien, zögert er: «Schwierig seinen Besitz auf Rucksackvolumen minimiert. zu sagen. Das Tablet ist sicher ein Teil dieses Wie reagierte sein Umfeld? Joachim antwortet Lebensstils. Wenn ich es mir wegdenke, wird mit der Geschichte eines Freundes: «Der fuhr mir ein wenig mulmig.» zu Ikea zum Einkaufen. Dort füllte er zwei Ein­ kaufswagen mit Zeug. Plötzlich musste er an Wie Gandhi und Siddhartha mich denken und fragte sich: Was würde Joachim Konsumsoziologen weisen darauf hin, sagen? Schliesslich liess er die beiden prall ge­ dass Phänomene wie der aktuelle Minimalismus füllten Wagen vor der Kasse stehen.» Die meis­ nicht neu sind. Geschichten vom Loslassen und von einem asketischen Leben haben seit je ten Menschen hätten das Bedürfnis nach Klar­ gros­se Anziehungskraft. Man denke nur an heit und Leichtigkeit, ist Joachim überzeugt. «Doch sie wissen nicht, wo beginnen. Wenn sie Mahatma Gandhi, den Weisen, der stets in weis­ ses Leinen gehüllt die Versöhnung proklamierte. dann versuchen, ihren Ballast loszuwerden, Auch erinnere ich mich gut an «Siddhartha» merken sie, wie anstrengend das ist.» Es sei nämlich so, dass jedes Stehrumsel seinem Besit­ von Hermann Hesse. Als 21-Jähriger verschlang zer gleich drei Mal Energie abverlange: Beim ich das Buch während meiner ersten Reise Anschaffen, bei der Wartung und Pflege und durch Indien. Dabei hatte ich mich ein wenig schliesslich beim Loswerden. wie der junge Brahmane Siddhartha gefühlt, Für Joachim ist Minimalismus aber mehr Hesses Suchender, der aus der Stadt flieht, dem als nur Entrümpeln: Er sieht darin auch einen Ort von Hochmut, Pomp und Dekadenz, und zu einem anspruchslosen Leben am Fluss findet. Weg zu mehr Autonomie. «Ich gehe gerne in Designläden und schaue mir schöne Möbel und Mein Pomp war die Schweiz gewesen, mein Fluss ein Rucksack, in den ich alles eingepackt Kleider an. Aber ich brauche sie nicht – das ist hatte, was ich während der nächsten Monate für mich wahre Freiheit.» Zudem sieht er darin

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Lisa, 26: Als Zeichen gegen die Wegwerfgesellschaft verzichtet die Studentin auf Plastikverpackungen.

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«Moderne ­Minimalisten koppeln sich nicht ab – sie sind über soziale Medien hervor­ ragend vernetzt.»

ter. Zu persönlichen Treffen sind jedoch die meisten nicht bereit – «zu viele Projekte am Lau­ fen», «erst gerade ein Unternehmen gegründet» oder «bin leider viel im Ausland in nächster Zeit», heisst es in den Absagen. Nach einem zu­rückgezogenen Leben in der Blockhütte hört sich das nicht an.

33 Teile im Schrank Lisa gehört zu dieser neuen Generation von Minimalistinnen. Sie wacht morgens mit dem Licht ihres Smartphones auf, liest noch im Bett ihre Mails und Posts. Tagsüber ist sie fürs Studium in Medieninformatik dauernd online und am Abend schreibt sie zuhause Beiträge für ihren Mini­ malismus-Blog whitespaceandchips.tumblr.com. Inzwischen wird es aber auch Lisa zu viel. Ihr Internetabo läuft aus; sie hat es nicht erneuert und sagt: «Ich experimentiere gern und probiere Dinge einfach mal aus.» Wir besuchen Lisa in Berlin-Wedding, einem ruhigen Viertel. Lisas Einzimmerwohnung ist hell, aufgeräumt und wirkt ein wenig wie aus einem dieser Möbelka­ taloge, wo nichts rumliegt, was die Ruhe des Ensembles stören könnte. Und still ist es: Kein Radio, keine Musik. Im Wohnzimmer steht brauchen würde – also fast nichts. Befreiend ein weisser Tisch mit Stuhl, darauf ein Laptop. hatte es sich angefühlt, erhaben und sehr ro­ In einer Ecke stapeln sich fünf Kartonkisten. mantisch. «Ich bin immer noch am Reduzieren», erklärt Ein halbes Jahrhundert nach Hesses Lisa. Das Zeug in den Kisten – Pullis, Bettwäsche, Welt­roman betraten die Hippies und die 68erMagazine und Frischhaltefolie – brauche sie Bewegung die gesellschaftliche Bühne. Sie nicht mehr. Sie stellt es einzeln oder als Paket auf gründeten Kommunen auf Hügeln und brachen Ebay, meist kostenlos. Hauptsache, jemand eine Lanze für die Selbstversorgung. Alles holt das Zeug ab. schon mal da gewesen? Ja und nein. Denn es gibt Die 26-Jährige begann vor drei Jahren beim einen bedeutenden Unterschied zwischen Umzug in diese Wohnung, ihren Gerümpel den Minimalisten des 21. Jahrhunderts und ihren auszumisten. Inspiriert durch erste Minimalis­ Vorgängern: Sie ziehen sich nicht mehr zurück, mus-Blogs in den USA, stellte sie sich die Frage: koppeln sich nicht mehr ab und geben sich Was brauche ich wirklich zum Leben und was nicht mehr der Illusion eines erfüllten Lebens als schleppe ich nur mit mir rum? «Ich hatte früher Selbstversorger hin. Sie leben meist in der zwei Schränke voll Klamotten», erzählt Lisa Stadt, nehmen am Stadtleben teil und sind über und öffnet ihren Spiegelschrank: Heute hat alles in zwei Schubladen und auf einer Kleiderstan­ die sozialen Medien hervorragend vernetzt. ge Platz. 33 Teile – ohne Sportkleidung und Von den meisten Minimalismus-Bloggern in Unterwäsche – hat sie kürzlich gezählt. Seither Deutschland und der Schweiz, die ich für diese Reportage per E-Mail anschrieb, habe ich in­ brauche sie am Morgen viel weniger Zeit, um nert Stunden Antwort bekommen – auch am sich anzuziehen. «Dieser Lebensstil gibt mir Sonntag. Sie sind kommunikativ, erzählen bereit­ sehr viel Ruhe», sagt sie. Das sei vor allem in der willig von ihrem Leben als Minimalisten und Grossstadt wichtig, wo man ständig abgelenkt ihren Blog-Aktivitäten. Einige sind im IT-Bereich werde. Minimalismus bedeute für sie nicht, tätig, Webdesigner oder Second-Level-Suppor­ nichts mehr zu besitzen. Sondern? «Dass man

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sich besser aufs Wesentliche konzentrieren kann.» Die Zeit, die Lisa früher mit Shoppen verbrachte, nutzt sie heute bewusst fürs Bloggen, zum Stricken oder fürs Studium. Und weil sie ausser Lebensmitteln praktisch nichts mehr einkauft, hat auch der finanzielle Druck ab­ genommen. Ein halbes Jahr lang hat sie neben dem Studium überhaupt nicht mehr gejobbt, weil das Ersparte länger reichte. Anfang Jahr hat sich Lisa einem neuen Experiment verschrieben: Sie will ein müllfreies Leben führen. «Minimalismus heisst für mich auch, weniger Müll zu produzieren.» Zweimal pro Woche bloggt sie über ihre Erfahrungen bei der Suche nach Alternativen zu abgepackten Nüssen, Wegwerfzahnbürsten und Shampoos in Plastikflaschen. Der Gang durch Drogerien und Bioläden, wo noch der letzte Lippenbalsam in eine Hülle aus Plastik eingeschweisst ist, habe sie deprimiert, erzählt Lisa. Sie führt uns in ihre Küche. Auf einem Wandbrett aus Holz liegen Bananen, Kiwis, dazu Erd- und Baum­ nüsse in Einmachgläsern. Neben dem Herd sind drei grosse Zwiebeln aufgereiht, daneben Voll­ kornnudeln und Pilze in einem Stoffbeutel, den sie selbst genäht hat. Lisa holt unter dem Spül­ becken einen Korb mit Gläsern hervor. Eines ist mit Waschsoda gefüllt – eine Alternative zu Waschmitteln in Kunststoffgebinden. Zum Put­ zen benutzt sie Natron und Zitronensäure, beides lässt sich offen kaufen. Aber was ist mit dem Essen? Wie verpflegt man sich, ohne Abfall zu produzieren – vor allem wenn man so viel unterwegs ist wie viele aus Lisas Generation? Ich denke an den Zug um 7 Uhr morgens von Basel nach Zürich, wo man die Pendler ohne «Coffee to go» an einer Hand abzählen kann, an die Abfallkübel, die sich innert Minuten mit Kartonbechern füllen. Lisa trinkt ihren Kaffee am Morgen zuhause und sonst nur aus Tassen. Fürs Mittagessen füllt sie Bratkartoffeln vom Vorabend in ihren gläsernen Thermopot oder nimmt ein Stück selbstgeba­ ckenes Brot mit. An der Uni holt sie sich für we­ niger als einen Euro Salat dazu. Sie war schon als Kind Vegetarierin, seit drei Jahren isst sie «zu 95 Prozent vegan, das macht es bedeutend einfacher, keinen Müll zu produzieren». Doch ist das nicht alles wahnsinnig anstrengend, spassbremsig und genussfeindlich? «Nein», ist Lisa überzeugt. Auf Make-up zum Beispiel

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will sie nicht verzichten. Sie zehrt von ihren al­ ten Beständen, eine unverpackte Alternative hat sie noch nicht gefunden. Doch sie ist guter Din­ ge; ihre Blogleser versorgen sie mit wertvollen Tipps. Sie sagt: «Ich will den Leuten zeigen, dass man nicht wie ein Hippie rumlaufen muss, nur weil man keinen Müll mehr produzieren will.» Lisa ist nicht allein mit ihrem Müll-Minima­ lismus. Unter dem Motto «Zero Waste» for­ miert sich eine Bewegung, die nach Alternativen zum Wegwerfkonsum sucht. Berichte über den Great Pacific Garbage Patch, eine Müllhalde im Nordpazifik, von manchen auf die doppelte Fläche der USA geschätzt, und Bilder von ver­ elendeten Albatrossen und Riesenschildkröten mit fingergrossen Plastiksplittern im Bauch haben vielen die Augen geöffnet für die negati­ ven Auswirkungen unseres materialintensiven Lebens. Am produzierten Abfall wird der ökologische Wahnsinn unseres Konsumismus besonders gut greifbar. Unverpackt im Hipster-Viertel Sara wurde alles irgendwann zu viel. Die kleine Frau mit der Ponyfrisur strahlt keckes Selbstbewusstsein und Unternehmergeist aus. Im Appenzellischen aufgewachsen, kam sie vor vier Jahren zum Studium nach Berlin und eröff­ nete vergangenen September mit ihrer Freundin Milena «Original Unverpackt». Das erste Ber­ liner Geschäft für müllfreies Einkaufen hat sich in einer ehemaligen Metzgerei eingenistet, die zwischen Bars und schicken Kleiderläden im Hipster-Viertel Kreuzberg liegt. Nichts erinnert hier an muffige Reformhäuser, die ihr Ange­bot präsentieren, als wollten sie den Kunden das Einkaufen um jeden Preis verleiden. Hier leuch­ ten im hellen Eingangsbereich mediterrane Terrakotta-Kacheln, an der Decke hängt ein Man­ dala aus Stuck und im Hintergrund läuft de­ zente Singer-Songwriter-Musik. Das Angebot von Original Unverpackt umfasst alles, was vege­ tarische und vegane Mägen begehren: Nüsse, Raspeln, Flocken, Trockenfrüchte, Gewürze, Tee, Kräuter, Essig, Öl, Wodka aus dem Kanister – und natürlich Gemüse und Früchte. Alles bio, versteht sich. 400 Produkte sind es inzwischen. Die Idee für Original Unverpackt heckte Sara mit ihrer Kollegin an einem weinseligen Abend während ihres Studiums der internatio­ nalen Beziehungen aus. Wieder nüchtern,

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Sara Wolf, 31: Die Appenzellerin ist eine der Geschäftsführerinnen im Bioladen «Original Unverpackt», der in Berlin-Kreuzberg 400 Produkte lose anbietet.

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Das erste Berliner Geschäft für müllfreies Einkau­ fen bietet alles, was Vegetarier und Veganer begehren.

Spaghetti kosten 0,75 Euro, also so viel wie an­ dernorts ein Pack mit 500 Gramm. Für ein grosses Weckglas mit Müslimischung muss man 9 Euro springen lassen. «Arm, aber sexy», wie Berlin gepriesen wird, ist das nicht. Auf meine Frage, wie viel Müll ihr Angebot vermeiden helfe, meint Sara: So genau habe sie das noch nie aus­ gerechnet, «doch wenn wir unsere Ware in ei­ nem 25-Kilo-Sack einkaufen, ersetzt das hundert 250-Gramm-Plastikbeutel». Das Konzept hat auf jeden Fall eingeschlagen. Nebst vielen Medi­ enanfragen, selbst solchen aus Japan und Süd­ korea, liegen mittlerweile auch Anträge von Franchising-Interessenten auf Saras Pult. «Ori­ ginal Unverpackt» scheint einen Nerv der Zeit getroffen zu haben.

Geldlos glücklich Konsum ist heute weit mehr als Notwendig­ keit und Befriedigung: Er wird immer mehr zur politischen Plattform. Man denke nur an ethisch aufgeladene Labels wie Bio, Fairtrade, Gen­ techfrei und Vegan. «Wir beobachten seit rund 20 Jahren eine stärkere Politisierung des Kon­ sums», bestätigt Jörn Lamla, Professor für soziologische Theorie mit Schwerpunkt Konsum­ konzipierten sie einen Businessplan, der von der gesellschaft an der Universität Kassel. Er be­ schäftigt sich unter anderem mit der Frage, ob Stadt gefördert wurde und in die Ladeneröff­ nung mündete. Die Handvoll Kunden an diesem sich mit dem Portemonnaie und unseren Kauf­ entscheiden tatsächlich Politik machen lässt. späten Donnerstagnachmittag sind gut geklei­ dete und schön anzusehende Berliner zwischen Lamla ist skeptisch: «Das Problem der Ver­ 25 und 40. Die meisten bringen eigene Behälter braucherdemokratie liegt darin, dass sie uns sug­ geriert, sozioökonomische und ökologische mit, zum Beispiel Tupperware, die sie aus ho­ hen Plexiglasrohren mit Flockigem, Kernigem Probleme seien in den Kategorien der Konsum­ und Raspeligem befüllen. Manchmal komme gesellschaft selbst lösbar.» Lamla glaubt je­doch einer mit leeren Whiskyflaschen, um sein Müsli nicht, dass Minimalismus und Konsumverwei­ zu holen – «Unverpackt macht kreativ», schmun­ gerung längerfristig die Kraft für soziale Umbrü­ zelt Sara. Die Szenerie ist erfrischend, hier wird che haben. Was er beobachtet, ist vielmehr eine das Einkaufen durch eigenes Zutun zum Event. Art von «Lebensstil-Politik» – Subkulturen, Irgendwie ist das Ganze aber auch skurril: So die ihre individuellen Bedürfnisse nach aussen müssen einst unsere Grossmütter in der Zwi­ tragen und als politisches Handeln empfinden. schenkriegszeit eingekauft haben, denke ich mir. «Verstehen Sie mich nicht falsch, diese Initiati­ Sind sie unsere Vorbilder für einen zeitgenös­ ven sind mir durchaus sympathisch und das sischen, zukunftsfähigen Konsum? Ich erinnere Experimentieren mit neuen politischen Mitteln mich an Joachim Klöckner, der vom anfäng­ ist nötig», sagt er. «Aber solche Strömungen lichen Unverständnis seiner Mutter gegen­über laufen Gefahr, den eigenen Weg zu überhöhen. seinem Lebensstil erzählt hatte: «Sie mussten, Sie denken die komplexen Zusammenhänge wir dürfen – darin liegt der grosse Unterschied.» und Paradoxe nicht mit.» Lamla gibt ein Bei­ Ganz billig ist «Slow Shopping» nicht, spiel für eine unbeantwortete Frage: «Was pas­ wie das bewusste, zeitintensive Einkaufen von siert mit meinem Geld, das ich zwar infolge manchen genannt wird: 100 Gramm offene meines Minimalismus nicht mehr selber ausge­

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be, das jedoch nach wie vor auf einer Bank liegt und anderen Menschen zum Konsumieren oder für Investitionen zur Verfügung gestellt wird?» Raphael Fellmer gehört zu jenen, die versu­ chen, den Minimalismus radikal zu Ende zu denken. Deshalb befindet er sich seit fünf Jah­ ren im selbst erklärten «Geldstreik». Wir treffen ihn im Café Milch & Honig, einem weiss la­ sierten, mit hellblauen und rosa Kissen auf Ge­ mütlichkeit getrimmten Café, eine halbe Stunde vom Zentrum entfernt. Raphael begrüsst uns mit einer Umarmung, was zu etwas verkorksten Situationen führt, wenn man nicht darauf vor­ bereitet ist. Er hat eine mit Leitungswasser ge­ füllte Glasflasche mitgebracht, die Einladung zu einem Kaffee lehnt er dankend ab. Die Betreiber kennen ihn und scheinen ihn zu schätzen – auch wenn er nichts konsumiert. Diese Bedin­ gungslosigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch Raphaels Leben. Der 31-Jährige lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in einer Wohnung, die ihm «von lieben Menschen», die er bis vor kurzem nicht einmal kannte, zur Verfügung gestellt wird – einfach weil sie seine Mission un­ terstützenswert finden. Er trägt SecondhandKlamotten, den Laptop hat ihm ein Freund aus der Schweiz geschenkt. Esswaren, Körper­ pflegeprodukte und alles andere, was er und seine Familie zum Leben brauchen, «rettet» er aus Mülltonnen von Biomärkten. Das reiche sogar, um zusätzlich Freunde und Bedürftige mit Lebensmitteln zu beschenken, erzählt Raphael. Kein Wunder: In Europa landen Schätzungen zufolge jedes Jahr 100 Millionen Tonnen Nah­ rungsmittel auf dem Müll. In der Schweiz werden zwei von drei Kartoffeln nicht gegessen, son­ dern weggeschmissen. Seinen Geldstreik will Raphael als politi­ sches Statement verstanden wissen, «als Wider­ stand gegen die Überflussgesellschaft, gegen die Verschwendung von Ressourcen und gegen die Ungerechtigkeit». Er ist überzeugt, dass sich unsere Umweltprobleme in einer geldlosen Gesellschaft von allein lösen würden – schlicht weil zerstörerisches Verhalten keinen ökonomi­ schen Sinn mehr hätte. «Jeder Kauf oder Nicht­ kauf führt zu einer Veränderung», sagt er, «jede Mahlzeit ist ein Statement. Ich will mit meinem Beispiel die Menschen dazu bringen, selber wieder mehr Verantwortung für die Lage in der Welt zu übernehmen.»

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Raphael Fellmer, 31: Der Autor des Buchs «Glücklich ohne Geld!» möchte in Spanien ein ­autarkes Dorf ohne Materialismus und Hier­ archien aufbauen.

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Begonnen hat er den Geldstreik auf einer Tramperreise von Holland nach Mexiko. Er ass und schlief bei fremden Leuten, in der Tasche hatte er einzig einen Notgroschen für die Visa bei Grenzübergängen. «Die bedingungslose Liebe, die uns zuteil wurde, war unglaublich.» Er tauscht nicht, ihm wird gegeben. Im Gegenzug referiert er an Schulen über Umweltthemen und darüber, dass die Verwirklichung von Träu­ men nicht von materiellen Werten und Geld abhänge, sondern vielmehr von der Einstellung. Kürzlich hat Raphael das Buch «Glücklich ohne Geld!» veröffentlicht, einen Teil der Ausgabe kostenlos verteilt und es über seine Website zum Download freigegeben. Mit Gleichgesinnten betreibt er die Plattform foodsharing.de, auf der sich mittlerweile 4000 Mitglieder zwecks Ver­ teilung von aus dem Müll geretteten Lebensmit­ teln treffen. «Normalerweise brauchst du ja für all das Geld. Wir haben gezeigt, dass es auch ohne geht und erst noch mehr Spass macht, weil alle aus intrinsischer Motivation mitmachen.» Den Vorwurf des Schmarotzertums hat Raphael schon so oft gehört, dass er sich darauf eine Standardantwort zurechtgelegt hat: «Ja, ich bin auch ein Schmarotzer – ich gehöre zu dieser schmarotzenden, parasitären Gesellschaft, die momentan die Erde zerstört. Aber ich sehe mei­ ne Verantwortung und versuche, etwas daran zu ändern. Geld verdienen ist ja keine Kunst. Viel wichtiger ist doch die Frage: Was können wir für unsere Gesellschaft tun?» Er ist zuversichtlich: Gemeinschaftliche Phänomene wie Couchsur­ fing, Booksharing, die Internet-Enzyklopädie Wikipedia und die Foodsharing-Plattform sind für ihn Beispiele, dass sich das bedingungslose Geben und Nehmen sukzessive verbreitet. Er ist überzeugt, dass die Geldökonomie, wie wir sie heute kennen, nicht überleben wird. Raphaels Zuversicht ist bewundernswert, sein Menschen­ bild dasjenige des Waldorf-Schülers, der er einst war. Die eigene Zukunft sieht er nicht in Berlin; die Abgase, die grauen Wände, das alles will er nicht mehr. Deshalb sucht er derzeit in Spani­ en und Frankreich nach einem Stück Land, um «Eotopia» aufzubauen, ein autarkes Dorf ohne Geld, ohne Hierarchien, ohne Schule, ohne Tausch, ohne Erwartungen und komplett vegan. Also doch die alte 68er-Utopie? «Ja, irgendwie schon», räumt er ein, «nur mit Internet und sehr viel Ideenaustausch und Kontakten nach aussen.»

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Inspirieren, nicht missionieren «Sei der Wandel, den du auf Erden sehen willst.» – Das Zitat von Mahatma Gandhi ziert nicht nur die Einstiegsseite von Raphaels Web­ auftritt, sondern auch zahlreiche Minimalis­ mus-Blogs auf der ganzen Welt. Die neuen «di­ gitalen Minimalisten», wie sich manche explizit nennen, suchen die gesellschaftliche Verände­ rung nicht durch klassische politische Basisar­ beit, durch Demonstration oder Streik. Ihr Pro­ test ist ein stiller, individueller, übers Internet geteilter. Einer, der «nicht missionieren, sondern lediglich inspirieren will», wie Lisa sagte. Es ist der Protest einer Generation, die sich von der Parteipolitik mit ihrem Gedöns zunehmend nicht mehr repräsentiert fühlt. Wo andere nach zehn Stunden Interkontinentalflug in Fünf­ sternehotels über die dringliche Reduktion von CO2-Emissionen schwafeln, nehmen die Mini­ malisten das Heft selber in die Hand und begin­ nen den Wandel dort, wo er Erfolg verspricht: bei sich selbst. Vielleicht beobachten wir gerade das, was der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer «soziale Gymnastik» nennt, um im Kleinen die grosse gesellschaftliche Veränderung einzu­ üben. Vielleicht erleben wir aber auch nur die Suche nach einer neuen Ästhetik des Alltags, dem jegliche Kraft fehlt, an bestehenden Macht­ verhältnissen zu rütteln. Denn in Zeiten des Hyperkonsumismus wird das Reduzieren viel­ leicht zum letzten wahren Distinktionsmerk­ mal. Wer zeigt, dass er sich’s leisten kann, nichts zu besitzen, markiert zugleich, dass er mit dem nötigen sozialen und kulturellen Kapital dazu gesegnet ist. Wenn eine «Zero Waste»-Bloggerin sich über die Verpackung von Essen und Wär­ medecke auf ihrem Langstreckenflug enerviert, ohne ihr eigenes Mobilitätsverhalten zu hinter­ fragen, wenn sich Ausrümpelnde von ihren Büchern trennen, um auf Amazon eine riesige E-Library zu erstellen, oder wenn ein schweiz­ weit bekannter Minimalist einen Versandhandel für Lingerie und Sexspielzeuge auf die Beine stellt, so kratzt dies zumindest an der Überzeu­ gungskraft des neuen Minimalismus. Denn ein Dildo, mag er anfänglich auch Freude berei­ ten, gehört früher oder später wohl doch eher zu den Stehrumseln.

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© An n e Gabr i el-Jürgen s

Portrait

Sarah reicht’s Sarah Frei will dem Hamsterrad des Kon­ sums entfliehen. Dafür hat sie ihre Gewohn­ heiten auf den Kopf gestellt und praktisch ihr ganzes Hab und Gut verkauft. Sie gehört zu einer wachsenden Gemeinde von Mini­ malistinnen, die ihren Wohlstandsballast gegen neue Freiheiten eintauschen. Text Samuel Schlaefli In der Zürcher Agglomerationsgemeinde Dietikon wird gebaut, was das Zeug hält. Nahe beim Bahnhof entsteht «Wohneigentum mit Weitsicht», so zumindest steht es auf den Ban­ nern am Zaun des entstehenden Hochhauses. Darauf werben Visualisierungen für riesige Wohnzimmer mit dunklem Parkett, viel Platz für lange Naturholztische und mehrteilige

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Couchs, für elegant geschwungene Badewannen vor riesigen Fensterfronten mit Blick auf die Stadt: Stereotype des zeitgenössischen urbanen Wohnens, wie sie von Tausenden gut ausgebil­ deten und gut verdienenden jungen Menschen in Städten wie Zürich, Genf oder Basel ange­ strebt werden. Sarah Frei wohnt gegenüber der Baustelle in einer Vierer-WG. Sie ist 28, hat Tourismus studiert und auf einer Bank gearbei­ tet – sie könnte zur Zielgruppe gehören, für die «Wohneigentum mit Weitsicht» gebaut wird. Doch Sarah will nicht. Sie will keine hundert Quadratmeter grosse Wohnung voller Design­ möbel mit einer Autogarage im UG. Sie will keinen übergrossen Flachbildschirm und auch keine Küche mit Hightech-Steamer. Sarah will keinen zusätzlichen Wohlstandsballast mehr,

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«Wo sich früher fünfundzwanzig Paar Schuhe stapelten, sind es heute noch fünf.»

te Fenster in Richtung Baustelle. «Eigentlich habe ich noch immer sehr viel», sagt sie in Aar­ gauer Dialekt, und schaut auf vier rosafarbene Kissen auf ihrem weiss bezogenen Bett. Neben der Türe steht ein Karton, in den sie Kleider gepackt hat, die sie einer Freundin schenken will. Wo sich früher fünfundzwanzig Paar Schuhe stapelten, sind es heute noch fünf; wo früher vierzig Taschen hingen, sind es noch drei. «Ich konnte früher an keiner Tasche vorbeigehen, ohne sie zu kaufen», erinnert sich Sarah. Ihre Kleider und Accessoires sind mittlerweile auf 37 Teile zusammengeschrumpft – ohne Unter­ wäsche. Das alles hat in drei grossen Schubladen in einer weissen Kommode neben dem Bett Platz. Aus derselben Kommode kramt sie eine violette Plastikmappe mit Verträgen, Zeugnis­ sen, Ausweisen für die Steuererklärung und Cou­ verts. «Das ist mein Büro. Früher nahm es ein ganzes Regal in Beschlag.» Die ganzen Blöcke, Schreibstifte und Couverts in seltsamen Forma­ ten, die sie nie brauchte – alles verschenkt.

Vom «nachhaltigen Konsumismus» zum Minimalismus Am Anfang von Sarahs Lebenswandel wie der Postwachstumsökonom Niko Paech all stand die Krankheit ihres Vaters. Der Koch frönte gerne den kulinarischen Genüssen und liebte das unnötige Zeugs nennt, das uns eigentlich glücklich machen sollte und da sein Versprechen gutes, deftiges Essen. In der Rehabilitationskli­ doch nie einlöst. nik stellte er seine Ernährung komplett auf die Bedürfnisse seines Körpers um. Dies brachte Sarah zum Nachdenken. Sie begann ihre Le­ Befreites Leben mit 37 Teilen bensmittel zu hinterfragen, googelte Inhaltsstof­ Sarah ist eine lebhafte Frau, die ausgiebig von sich erzählt, viel dazu gestikuliert und gerne fe, verteufelte eine Zeitlang dies und jenes und lacht. Sie strahlt Selbstvertrauen aus und scheint führte hitzige ernährungsphilosophische Dis­ sich ihrer Möglichkeiten bewusst. Doch wäh­ kussionen mit ihren Kolleginnen. Darauf stürzte rend viele smarte Altersgenossinnen die Karrie­ sie sich ins Thema Naturkosmetik. «Ich kaufte releiter hochkraxeln und ihr Salär in Autos, Klei­ nun zwar nachhaltig produzierte und körperver­ trägliche Produkte, an meinem Konsumzwang der und teure Ferien investieren, begann Sarah änderte das aber nichts.» Sie bestellte Cremes, im September damit, ihr Hab und Gut, das sie in den letzten 28 Jahren angehäuft hatte, konse­ Lippenstifte und Make-up, bis sich die Fläsch­ quent zu reduzieren. Sie organisierte Kleider­ chen und Tuben im Bad stapelten. Über eine tauschbörsen mit Kolleginnen, sie veranstal­Bloggerin, die sich in Kurzfilmen mit Naturkos­ tete WG-Flohmis und annoncierte schliesslich metik auseinandersetzte, stiess sie erstmals auf ronorp.ch und tutti.ch, dass alle an einem auf das Thema Minimalismus. Sie las Erzählun­ bestimmten Samstag eingeladen seien, ihre gen vom befreienden Entrümpeln und klickte Wohnung leerzuräumen. 60 Leute standen vor sich durch Selfies in leergeräumten Zimmern. der Tür und bis auf ein paar Tischbeine kam «Zu Beginn dachte ich, das ist schon recht krass. alles weg. Heute passt Sarahs gesamter Besitz in Wer will denn so leben?» Doch dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: «Ich realisierte ihr WG-Zimmer: drei auf drei Meter helles Par­ kett, die Wände weiss und ohne Bilder, das brei­ plötzlich, dass ich ständig das Gefühl hatte, ich

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müsse noch mehr Zeug kaufen, um glücklich zu sein.» Sie vertiefte sich in Bücher mit Titeln wie «Miss Minimalist» oder «Declutter your life» – Bücher, die sich weltweit zum Teil schon über 100 000 Mal verkauft hatten. Darauf nahm sie ihren gesamten Besitz unter die Lupe und be­ gann das Meiste zu verschenken oder zu verkau­ fen. Sarah beschreibt diesen Prozess als eine Art Rausch, der sich bei jedem losgelassenen Ding ein wenig verstärkte. «Ich merkte, es fühlt sich einfach besser an, nur noch zwei Nagellacke zu besitzen, die mir wirklich gefallen, statt fünf­ zehn, von denen ich die meisten gar nie benutze.» Freunden und Familie fiel es zu Beginn schwer, Sarahs Wandel nachzuvollziehen. Ihre Mutter machte sich Sorgen und werweisste, ob sich ihre Tochter nun ins Kloster verabschie­ den oder als Aussteigerin aus der Gesellschaft zurückziehen würde. Erst als sie einen neuen Job antrat, war die Mutter wieder beruhigt. Zu Beginn war Sarah enttäuscht, dass ihr Umfeld nicht mitzog; dass alle munter weitershoppten und ihre Kleiderschränke und Wohnungen mit unnötigem Zeug füllten. Anfängliche Missi­ onierungsversuche gab sie schnell wieder auf. Dass sie sich trotz ihrem Sololauf nicht einsam und unverstanden fühlte, liegt am Internet. Während sie ihren Besitz herunterfuhr, schrieb sie ihre Erfahrungen regelmässig in einem Blog nieder – ähnlich wie es Hunderte Minima­ listen auf der ganzen Welt tun. «Für mich war es wichtig, diesen Prozess in irgendeiner Art zu dokumentieren.» Gleichzeitig eröffnete ihr das Internet eine Welt von Gleichgesinnten. «Über die Blogs und Facebook habe ich plötzlich ge­ merkt: ‹Hey, ich bin ja gar nicht allein, sondern Teil von etwas Grösserem.› Das war ein wenig wie eine Offenbarung.» Zu neuen Freundschaf­ ten führte die Internetcommunity aber trotz­ dem nicht. Zwar gibt es auch in der Schweiz eine Handvoll Minimalismus-Blogger. Doch anders als in Deutschland und den USA sind diese nicht wirklich untereinander vernetzt. Sarah kennt bis heute weder einen Minimalisten noch eine Minimalistin persönlich. Weniger Geld, weniger Stress, mehr Zeit Mittlerweile ist Sarahs Blog verwaist. Sie reduziert derzeit auch ihre Zeit im Netz. «Ich habe nun das Mass an Minimalismus gefunden,

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das mir entspricht», sagt sie. Und was hat das Entrümpeln und Ausmisten mit ihr gemacht? «Ich glaube nicht, dass ich mich als Person ver­ ändert habe. Aber ich organisiere mich anders, tue Dinge bewusster und lasse ihnen mehr Zeit.» Früher habe sie sich oft an einem Tag gleich mit mehreren Freunden und Freundinnen ver­ abredet. Heute beschränke sie sich auf einen Termin. Seit drei Jahren arbeitet Sarah Teilzeit: zu Beginn 60 Prozent, aktuell sind es noch 50 Prozent. Statistisch liegt sie damit nahe an der Armutsgrenze. Trotzdem legt sie jeden Monat nach Fixkosten, Essen und Akontozah­ lungen für die Steuern noch 150 Franken auf die Seite. «Früher dachte ich oft daran, meine Stellenprozente etwas aufzustocken – denn etwas mehr Geld wäre halt schon geil. Doch weil meine Lebenskosten heute viel niedriger sind, stellt sich diese Frage gar nicht mehr.» Anstatt im Restaurant zu essen, lädt sie nun öfter Freun­ de zu sich nach Hause ein – Zeit zum Kochen hat sie ja. Und bevor sie einen Becher Kaffee bei Starbucks holt, fragt sie sich: «Bringt mir dieser Kauf wirklich einen Mehrwert in meinem Le­ ben?» «Was ich früher für Kaffee, Muffins und Red Bull bis zur Znünipause ausgegeben habe, reicht heute für den ganzen Tag.» «Du kannst dir das halt leisten», bekommt Sarah oft zu hören, wenn sie von ihrem Teil­ zeitpensum erzählt. «Du könntest dir das auch leisten, wenn du bereit wärst, deinen Lebens­ standard etwas herunterzufahren», entgegnet sie dann. Sarah nennt es «Beschaffungsstress», in dem viele gefangen sind: mehr Konsum, mehr Geld, mehr Arbeit, mehr Stress. Sie ist froh, dass sie diesem Hamsterrad entflohen ist. «Ich bin ruhiger und ausgeglichener geworden.» Heute nehme sie sich manchmal drei Stunden Zeit zum Duschen und Morgenessen. Dafür sei sie während der zweieinhalb Tage Arbeit um­ so motivierter. Ihren Job als Kreditkartenspe­ zialistin bei der Bank hat sie übrigens an den Nagel gehängt. Heute arbeitet sie als Sachbear­ beiterin beim Kanton Aargau und ist glücklich damit – auch wenn das Salär nur noch halb so hoch ist.

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Streitgespräch

Mehr oder weniger – das ist die Frage Niko Paech, Deutschlands führender Wachstumskritiker, kreuzt die Klingen mit Wolf Lotter, bekannt als Deutschlands Wachstumspapst. Der eine sieht in der materiellen Beschränkung den einzigen Weg in die Zukunft, der andere im Wirtschaftswachstum. Lotter stört sich daran, dass der reiche Westen die aufstrebenden Länder zum Verzicht anhalten will, für Paech sind selbst Sharing Websites wie Airbnb ökologisch heikel, weil sie das Wachstum beschleunigen.

© ZVG

© S arah- Esth e r Paulus

Das Interview führte Hannes Grassegger

Niko Paech (1960) gilt als Deutschlands bekanntester Wachstums­ kritiker. Der Volkswirtschafter und Professor an der Universität Oldenburg ist mit seinem Buch «Befreiung vom Überfluss» bekannt geworden. Paech lebt, was er selber fordert. Er sagt, er sei erst einmal in einem Flugzeug gesessen und tausche selber Dinge auf dem Oldenburger Verschenkmarkt, den er als Beauftragter der Stadt mit initiiert hat.

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Wolf Lotter (1962) war ursprünglich Buchhändler und Historiker. Als Journalist gehörte er zu den Mitbegründern des Wirtschaftsmagazins «brand eins», für das er nach wie vor Essays verfasst. Zu seinen Kernthemen gehört der Übergang von der Industrie- zur Wissens­ gesellschaft. Sein Buch «Verschwendung – Wirtschaft braucht Überfluss» befasst sich mit «den guten Seiten» des Verschwendens.

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Greenpeace: Herr Paech, ich habe gehört, Sie seien noch nie in New York gewesen. Was haben Sie gegen diese Stadt? Paech:   Also, ich habe ja schon viel gelesen über New York. Ich glaube, das ist eine interessante Stadt. Ich mag Jazz, auch Urban Gardening interessiert mich sehr. Ich war halt bloss noch nie dort. Sie verzichten zugunsten Ihrer Idee der Suffizienz und der Postwachstumsökonomie. Worum geht es denn da? P:

Die Postwachstumsökonomik ist die Wissenschaft einer Welt nach dem Wachstum. Dabei geht es erstens um die Analyse von Wachstumsgrenzen, zweitens um die Identifikation relevanter Wachs­ tumszwänge und drittens um die Entwicklung von Bedingungen, unter denen eine Wirtschaft ohne Wachstum, also eine Postwachstumsökonomie, gestaltet werden kann.

Geben Sie mir einen Eindruck davon? P:

Es geht um den Rückbau der entgrenzten industri­ alisierten Fremdversorgung sowie um den Aufbau regionaler Wirtschaftsstrukturen und einer urba­ nen Subsistenz, letztlich also um Versorgungsmus­ ter, die ohne Geld, Markt und Staat funktionieren. Und dann gibt es noch ein viertes Element: Suffizi­ enz, die Kultur der Genügsamkeit.

Warum ist Wachstum denn schlecht? P:

Schon die thermodynamische Betrachtung zeigt, dass es unmöglich ist, im Rahmen industriell-ar­ beitsteiliger Produktion etwas zu erschaffen, ohne einen ökologischen Preis dafür zu zahlen. Konzep­ te rund um die Nachhaltigkeit oder grünes Wachs­ tum, die in den letzten vierzig Jahren versucht ha­ ben, diese Zwangsläufigkeit zu umgehen, sind nicht nur gescheitert, sondern haben oft auch noch zusätzliche Schäden angerichtet. Und es gibt auch psychische Wachstumsgrenzen – vom BurnoutSyndrom bis zur Zunahme von Depressionen.

Kurz gesagt bedeutet Wirtschaftswachstum also, dass die Natur und die Menschen leiden ... P:

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Genau.

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Herr Lotter, warum muss unsere Wirtschaft wachsen? Lotter: Weil es noch nie so viele Menschen gegeben hat, denen es so gut geht. Weil wir länger leben als vor dem Industriekapitalismus. Weil dieses System so viel Wohlstand geschaffen hat, dass breite Massen daran teilhaben. Menschen in Schwellenländern führen heute ein besseres Leben. Bei allen Prob­ lemen, die Herr Paech teils richtigerweise nennt – es geht um eine andere Frage … Und zwar? L:

Um die Frage: Was ist genug – und für wen? Das müsste man fragen, statt das Ende des Wachstums zu fordern. Ich habe oft das Gefühl, dass die Frage, wie wir eine weniger vergeuderische postindustri­ elle Gesellschaft aufbauen könnten, von einer kleinen Minderheit in den reichen Ländern dazu benutzt wird, um anderen Grenzen zu diktieren. Wo satte, ältere, weisse, reiche Herren jungen, hungrigen Menschen in Entwicklungsländern sagen: «Kinder, ihr braucht nicht so viel – ich hab ja schon alles.» Und was kann man dagegen tun?

L:

Die Frage ist doch, wie wir einer digitalisierten, entwickelten Gesellschaft die soziale Dividende gezielt einsetzen: zur Entwicklung der persönli­ chen Talente. Verzicht hat historisch in jedem System immer Zwang zum Verzicht bedeutet. Das hat etwas Totalitäres. Herr Paech lebt das ganz zwanglos. Er verzichtet beispielsweise auf ein Mobiltelefon. Fast wäre es nicht zu diesem Gespräch gekommen, weil ich ihn kaum erreichen konnte. Finden Sie, er schadet dadurch seiner eigenen Idee?

L:

Ich glaube nicht. Mehr von etwas bedeutet nicht zwangsläufig besser. Die jüngere Generation ver­ zichtet ja auch auf Autos und setzt auf Carsharing oder ÖV. Was wiederum ein gutes Beispiel für meine These ist: So eine ressourcenschonende Infrastruktur aufzubauen, ist ohne Wachstum undenkbar. Sie sind ja ziemlich erfolgreich mit dem Wirtschaftsmagazin «brand eins», Herr Lotter. Stimmt es Sie nicht traurig, dass Herr Paech nicht einmal ein Handy braucht, um noch erfolgreicher zu sein? Mittlerweile wird überall zugunsten sozialer oder ökologischer Ziele auf Wachstum verzichtet. Im Westen haben wir mehr oder minder ein Nullwachstum. Wir leben in einer Nullzinswelt, ganz wie Herr Paech sich das

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erträumt hat. Allerorten spricht man von Sharing Economy und sogar Axe wirbt für seine Deos mit dem Slogan «Weniger ist mehr». L:

Das ist doch nichts als ein Modegag. Weniger ist eben nicht mehr. Das ist ein leeres Schlagwort geworden – um mehr abzusetzen. Die meisten Menschen wollen mehr, nicht weniger. Man muss doch mal schauen, für wen der Kapitalismus his­ torisch in die Bresche gesprungen ist: für die Masse. Massenproduktion dient der Masse jener, die weniger Geld haben. Reiche kaufen nichts vom Fliessband. Herr Paech, diese Sharing Economy, Webseiten wie Airbnb, die Leuten helfen, ihre Wohnung kurzfristig unterzuvermieten – ist das Ihr gelebter Traum? Da wird Vor­ handenes doch besser genutzt. P:

Das ist ziemlicher Quatsch. Airbnb-Reisende haben vielleicht den historisch grössten ökologi­ schen Rucksack überhaupt. Weil sie noch mehr reisen können. Es ist ja billiger geworden. Sharing kann sogar zu einer Beschleunigung des Wachs­ tums führen. Auch Carsharing ist keine Erfolgs­ story, zumal es den motorisierten Individualver­ kehr geradezu verherrlicht und ihm jetzt auch noch das Mäntelchen der Ökologieverträglichkeit überstreift. Das führt doch immer mehr Leute ans Auto heran! Nur innerhalb einer nicht wachsen­ den Wirtschaft könnten Sharing-Konzepte dazu beitragen, so etwas wie eine Dematerialisierung unserer Daseinsform zu ermöglichen.

Herr Lotter, diese Grenzen des Wachstums, auf die sich Herr Paechs Modell stützt, gibt es die? Ich bin seit meiner Kindheit traumatisiert vom baldigen Weltuntergang, den der Club of Rome vorhergesagt hat. L:

Grenzen des Wachstums, wie sie der Club of Rome und sein Statthalter Dennis Meadows 1972 definiert haben, gibt es nicht. Da wurde in einer Konsumgesellschaft, die wegen ihres Erfolgs Zukunftsängste entwickelte, die Idee von Über­ bevölkerung und der kommenden Apokalypse weitergesponnen, die schon 200 Jahre zuvor der englische Pfarrer und Ökonom Thomas Malthus formuliert hatte. Meadows Prognosen haben sich nicht bewahrheitet – die Welt ist nicht unter­ gegangen. Aber es gibt Grenzen des Wachstums und zwar der politischen Utopien, solange es de­ mokratisch zu und her geht.    Ihre Sharing Economy der Zukunft, Herr Paech, ist doch nur mit einer harten Elite durch­

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zusetzen. Das wäre nahe am «real existierenden Sozialismus»: eine Instanz, die in der Lage wäre, Gemeingut so zu verteilen, dass immer noch alles funktioniert. Daran glaube ich nicht mehr. Das würde sehr, sehr schnell in eine totalitäre Vertei­ lung kippen, bei der Ressourcen aus ideologi­ schen Gründen zugeteilt würden. P: Schauen Sie sich doch mal die historische Erfah­ rung an, wie marktwirtschaftliche Systeme im­ mer wieder Gewalt hervorgebracht haben, eben weil sie real und monetär an Grenzen stossen ... L:

«… Gewalttätig, schmutzig und kurz war das Le­ ben vor der Marktwirtschaft», wenn ich Thomas Hobbes zitieren darf … Wir können vielerorts beobachten, wie gut auto­ P: nome Tauschstrukturen in kleinen, überschauba­ ren Netzwerken funktionieren. Dies hat mit Zwang, den ich genau wie Sie ablehne, nichts zu tun. Womit Malthus aber Recht behält, ist die Zu­ nahme von Verteilungskrisen. Zu sagen, Malthus lag total daneben, erinnert mich an jemanden, der von einem 80-stöckigen Hochhaus springt und nach 40 Stockwerken sagt: «Bis jetzt ist alles gut­ gegangen. Die Erfahrung lehrt: Es gibt keinen Aufprall.» Meadows und Malthus als widerlegt zu betrachten, ist leichtfertig. Herr Paech, hat Ihre Idee der Wachstumsbeschränkung immer die Folgen, die Sie sich wünschen? Ist es beispielsweise nicht so, dass Sie die Erdölwirtschaft sogar noch stützen, wenn Sie einen gemässigten Verbrauch dieser Ressource fordern – und so verhindern, dass Erdöl schon bald so knapp und teuer ist, dass wir uns einen Ersatz suchen müssen? P: Diese angebliche Geschichte des Fortschritts durch Ersatzmittel ist nichts als eine Umvertei­ lung jeweiliger Chancen und Risiken. Die Proble­ me werden einfach in die Zukunft verschoben. Deswegen glaube ich nicht, dass wir durch Preise irgendetwas lösen können. Deshalb müssen wir den Verbrauch dieser Ressource durch Sparsam­ keit strecken. Herr Lotter, ist das, was Herr Paech da fordert, überhaupt noch vereinbar mit der Marktwirtschaft? Am Anfang habe ich noch gedacht, dass seine Vorstellungen gut mit Ihrem Zivilkapitalismus des verantwortungsvoll konsumierendem Kapitalis­ ten vereinbar seien, aber jetzt kommen mir Zweifel …

L:

Mir auch. Und er bedient sich in seiner Verteidi­ gung von Malthus eines falschen Konzepts. Als ob alles in der Summe immer gleich bliebe wie ein Kuchen, den man aufzuteilen habe. Dabei ver­

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danken wir fast alle Fortschritte dem menschli­ chen Geist – und unserer Fähigkeit, zu automati­ sieren, aus wenig mehr zu machen. Das sind keine Spielchen. Da geht es um Gesundheit und so weiter. Ich halte es für falsch, zu behaupten, alles, was uns die Moderne gebracht habe, sei falsch. Kein Sozialstaat könnte ohne Dividende aus Fortschritt und Automation leben. 1910 konnte ein Bauer 10 Personen versorgen. 1990 waren es 144! 1990 haben 18,7 Prozent der Menschheit ge­ hungert, 2014 waren es nur noch 12 Prozent. Das hat uns die Marktwirtschaft in Indien und China gebracht. P: Der Klimawandel und die Erschöpfung vieler Ressourcen, die uns diese ganze Entwicklung gebracht haben, sind eben auch kein Spiel. Zu sa­ gen, das stimme nicht, das beruhe auf einer alter­ tümlichen physikalischen Haltung, heisst, dass man sich einer Religiosität hingibt. Dem Glauben an die Machbarkeit, an die Erringung einer neuen Physik. Was Herr Lotter befürwortet, kann in eine Eskalation führen, die letztendlich Totalitaris­ mus, Bürgerkriege und Verteilkämpfe mit sich bringt. Wir sollten jetzt schon einüben, welche Praktiken Post-Wachstums- oder sogar Post-Kol­ laps-tauglich sind. Das hat etwas mit dem Prinzip der Verantwortung zu tun. Suffizienz ist meines Erachtens keine Frage der Begrenzung, sondern eine Frage der Aufklärung. L:

Ich möchte, dass wir mit Optimismus statt Alar­ mismus in die Zukunft gehen. Mit Freude, nicht mit Drohungen und apokalyptischen Szenarien. Können wir nicht eine Weiterentwicklung dessen anstreben, was wir haben? Mit einem Denken in weiteren Zügen? Herr Paech, was sagen Sie den Indern und Chinesen, die sich gerade aus der Armut schuften? P: Asien braucht gute Vorbilder, etwa eine fröhliche, demokratische und freie Postwachstumsökono­ mie in Europa, die man übernehmen kann – aber nicht muss. Ich sag’s noch mal: Das sogenannte Erfolgsmodell Asien wird ins Chaos führen. Die Chinesen sind schon jetzt nicht mehr in der Lage, ihr Wirtschaftsmodell aufrechtzuerhalten, ohne Afrika zu plündern. Herr Paech, Sie haben vorhin Herrn Lotter Religiosität vorgeworfen. Wenn man sich die Rednerlisten von Postwachstumskonferenzen anschaut, vermisst man die Kriti­ ker. Zuletzt in Leipzig trat kein einziger auf. Ist das nicht eine Postwachstumssekte?

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P:

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L:

Nein. Unter den Postwachstumstheoretikern gibt es ein Hauen und Stechen. Beispielsweise zwi­ schen den eher marxistischen Denkern und den eher konservativen, zu denen ich mich zähle. Bis auf ein paar Freaks aus dem Bereich der Tiefen­ ökologie oder dem Dragon Dreaming geht es beim Postwachstum um eine Gegentheorie zur religiösen Wachstumsverklärung. Bei der Suffizi­ enz geht es um Befreiung vom Wachstumszwang.    Und wenn es stimmt, dass auch menschliche Ressourcen verschleissen, wenn uns also die Fortschritte, die Herr Lotter preist, letztlich fertig machen, weil wir nicht mehr können vor Reiz­ überflutung und Stress, dann geht es doch bei der Suffizienz um die Rückkehr zur Überschaubar­ keit, zu einem besseren und verträglicheren Le­ ben. Wir haben einen Punkt erreicht, bei dem das vormals Rückschrittliche, Einfachere das revolu­ tionär Fortschrittlichere ist. Das halte ich für eine religiöse Verklärung der ei­ genen Gesinnung. Mit weniger Wohlstand werden wir es nicht schaffen, mehr Menschen versorgen zu können. Und zu den Umweltproblemen: Es gibt mittlerweile Hardliner wie Chandran Nair, den einflussreichen indisch-chinesischen Umweltlob­ byisten, die sagen, China könne seine Umweltpro­ bleme nur mit einer Verschärfung der Diktatur lösen. So was macht mir Sorgen. P: Herr Lotter, jetzt widersprechen Sie sich. Die Chinesen haben sich doch genau wegen der von Ihnen befürworteten Entwicklungen in diese Sackgasse befördert! Wer sagt Ihnen denn, dass beispielsweise die Parteiführung in China genau Ihre Argumente nicht einfach nutzt, um die eigene Macht zu ver­ grössern? Sie liefern ja die besten Argumente da­ für … P: Es ist doch lächerlich, wenn man aus purer Angst vor Regulierung jetzt einen Laissez-faire-Kapita­ lismus fordert. Jedes Kind versteht, dass auf ei­ nem endlichen Planeten nicht immer noch mehr möglich ist. Und eine Bemerkung zu Ihren le­ bensverlängernden Entwicklungen durch den Fortschritt in der Landwirtschaft: Gesundheit kann mit besserem Essen und mehr Bewegung effektiver hergestellt werden als durch ständig höhere Produktivität. Ich sage ja nicht, dass Wachstum problemfrei sei, aber wir brauchen mehr. Mehr Wissen, wie man Bedürfnisse befriedigen kann, ohne an die physi­ schen Grenzen zu geraten.

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cr edi t  / ack n ow ledgem en t o f © S k ur k t ur , w w w.s k u r k tu r .c om

Alternative Wirtschaftsmodelle

Gegenentwürfe zum ökonomischen Einheitsbrei Dass es eine kulturelle und eine biologische Vielfalt gibt, ist unbestritten. Nur die Öko­ nomen halten permanentes Wirtschafts­ wachstum nach wie vor für den Königsweg, obwohl kaum mehr jemand versteht, war­ um die Wirtschaft so verrücktspielt: Wie war das noch mit dem Franken-Euro-Kurs? Irgendwie schlecht für unseren Produkti­ onsstandort, heisst es. Dafür gibt’s die italie­ nische Salami und die Ferien in Griechen­ land jetzt noch günstiger. Text Thomas Niederberger Irgendwann hat sich die Idee verbreitet, Ökonomie sei eine exakte Wissenschaft, die mit ihren computergestützten Modellen jede Situa­ tion erfassen, berechnen und steuern kann. Ihre

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Vertreter benutzen Schlagwörter wie «Gewinn­ maximierung», «Kosten-Nutzen-Analyse» oder «Reformdruck». Kritiker wie der deutsche Volks­ wirtschaftsprofessor Niko Paech sprechen von der «Diktatur des Wachstums» (siehe Streitge­ spräch auf Seite 24). Das öffentliche Unbe­hagen äussert sich in Sprüchen, die sich vorzugsweise mit der Unzuverlässigkeit der Protagonisten be­ fassen: «Ein Ökonom ist jemand, der reich wird, indem er anderen erklärt, wieso sie arm sind.» Oder: «Für den Ökonomen ist das wirk­liche Leben ein Spezialfall.» Die dominierende Mono­ ökonomie steckt in einer Krise wie die land­ wirtschaftliche Monokultur und schmeckt ähn­ lich fade. Es ist Zeit, dass ökonomische Vielfalt die Einfalt ablöst. Wer sich mit der Materie befasst, entdeckt interessante Ansätze.

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Plurale Ökonomie

Solidarische und GemeinwohlÖkonomie

Die VertreterInnen der pluralen Ökonomie verfolgen ein klares Ziel: Sie wollen die Vielfalt in den Wirtschaftswissenschaften sichtbar ma­ chen und die Dominanz der herrschenden Mei­ nung an den Wirtschaftsfakultäten brechen. Als Pioniere gelten Studierende, die im Jahr 2000 in Paris die Bewegung für eine «post-autistische Ökonomie» starteten. In Deutschland lau­fen die Fäden beim Netzwerk Plurale Ökonomik zu­sammen, welches die Kampagnenseite pluralowatch.de betreibt; demnächst soll ein Ranking zur Vielfalt der Lehre an verschiedenen Wirtschaftsfakultäten präsentiert werden. Weltweit haben sich Pluralos aus über 30 Län­ dern in der International Student Initiative for Pluralism in Economics (ISIPE) zusammen­ geschlossen, die erreichen will, dass sich die Ökonomie wieder vermehrt in den Dienst der Gesellschaft stellt. In einem Manifest heisst es: «Wir massen uns nicht an, die endgültige Richtung zu kennen, sind uns aber sicher, dass es für Studierende der Ökonomie wichtig ist, sich mit unterschiedlichen Perspektiven und Ideen auseinanderzusetzen.»

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Nachhaltige Wirtschaftsformen gab es schon lange vor dem Siegeszug der gewinnori­ entierten Marktwirtschaft. Bei der Nutzung von Gemeingütern (Commons) ging und geht es weniger um Profitmaximierung, im Vorder­ grund steht die Förderung des Gemeinwohls. Beispiele dafür gibt es in der Schweiz zuhauf, etwa in Form von landwirtschaftlichen Allmen­ den. Nebst Migros und Coop ist auch die Nagra, die ein Endlager für Atommüll suchen soll, als Genossenschaft organisiert. Die solidarische Ökonomie ist eher eine soziale Bewegung. Der Fairtrade-Bereich gehört dazu wie Vertrags­ landwirtschafts-Kooperativen, selbstverwaltete Beizen und Tauschkreise. Gefördert werden flache Hierarchien, die Demokratisierung der Entscheidungen über Produktion und Vertei­ lung, Kooperation statt Konkurrenz, Solidarität zwischen Betrieben, politisches Engagement für eine gerechtere Gesellschaft und ökologische Nachhaltigkeit. Verwandte Ziele verfolgt auch die Allianz der Gemeinwohlökonomie mit ihrer Plattform ecogood.org. Hier steht die Gemein­ wohl-Bilanz im Fokus, mit der Betriebe sich in einem partizipativen Verfahren nach den ge­ nannten Kriterien einschätzen und verbessern können. Bis jetzt sind über 1700 Unternehmen dabei. Mittelfristig sollen sich auch Gemeinden und Regionen beteiligen, indem sie etwa zer­ tifizierte Firmen bei Auftragsvergaben bevor­ zugen. Leider haftet der solidarischen Ökono­ mie das Stigma von Hippiekommunen und Dauervollversammlungen an. Zu Unrecht: Ihr Kernprinzip, die Gemeingüterwirtschaft, ist als «Creative Commons» aus der Softwareent­ wicklung nicht mehr wegzudenken. Sie könnte bald auch die physische Produktion auf den Kopf stellen.

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Peer-to-Peer und Sharing Economy

Glücksökonomie und das gute Leben

Was mit Musikdateien, Mitfahrgelegenhei­ ten und Couchsurfen angefangen hat, entwickelt sich zum Milliardengeschäft. Der Branchenpri­ mus Airbnb bedrängt das Hotelgewerbe, Car­ sharing wird in Städten zur Norm. Gemäss dem Wirtschaftsmagazin Forbes sollen die Umsätze der Share Economy 2015 um über 25 Prozent wachsen, was sie für die etablierte Wirtschaft zu einer «zersetzenden Kraft» mache. Tatsächlich klingt das Peer-to-Peer-Geschäftsmodell wie eine antikapitalistische Utopie: Wieso nach ex­ klusivem Eigentum streben, wenn man teilen kann? Peers sind Gleichgestellte und KollegIn­ nen, die Hierarchie ist flach. Mit einem Inter­ netzugang und einer Plattform können lokale Ressourcen, Gegenstände, Maschinen, Produk­ tionsanleitungen und Fähigkeiten effizient getauscht und genutzt werden. Konsum und Produktion werden damit kollaborativ, die Ab­ hängigkeit von Grosskonzernen reduziert sich drastisch. Sobald Geld fliesst, lässt sich aus dem Vermittlungsdienst allerdings auch ein Geschäft machen, und es zeichnet sich ab, dass in solchen Fällen eher das Teilen kommerziali­ siert als der Kapitalismus abgeschafft wird. Die Entwicklung hat aber das Potenzial, den Konsumwahn zu dämpfen und zur Lokalisierung der Wirtschaftskreisläufe beizutragen. Das Anhäufen von Dingen, für deren Nutzung man zu wenig Zeit hat, wirkt uncool. Entscheidend ist der unkomplizierte Zugang genau dann, wenn man etwas braucht. Suffizienz ist in der Share Economy nicht zwingend enthalten, sollte aber angestrebt werden.

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Glück und Zufriedenheit sind höchst sub­ jektiv und lassen sich nicht so einfach berechnen wie das Bruttosozialprodukt. Die beiden Fak­ toren deshalb zu ignorieren, hilft aber nicht weiter. Schliesslich sind Menschen keine Ma­ schinen; Emotionen, soziale Sicherheit und Be­ stätigung sind den meisten wichtiger als maxi­ maler Profit. Inzwischen gilt in der BurnoutGesellschaft die Freiheit, über die eigene Zeit zu verfügen und auch einmal abschalten zu kön­ nen, als begehrtes Luxusgut. Die Glücksökono­ mie erforscht solche Zusammenhänge und wird zunehmend beachtet, zum Beispiel von CocaCola: Der weltgrösste Verkäufer von ungesunden Süssgetränken finanziert ein wissenschaftli­ ches Happiness-Institut samt Studien und Kon­ gressen, bei denen GlücksforscherInnen wie Spitzensportler vor dem Markenlogo posieren. Wie wäre es, wenn sich auch die Politik ver­ mehrt um den Glücksfaktor kümmern würde? Als Paradebeispiel gilt der Himalayastaat Bhutan, wo das «Bruttosozialglück» erhoben wird. Die BewohnerInnen dieser buddhistischen Monarchie scheinen gemäss Umfragen im internationalen Vergleich überaus glücklich zu sein. Allerdings haben sie kaum politische Mit­ spracherechte und die hinduistische Minderheit wird diskriminiert, weshalb Bhutan nicht als Vorbild taugt. Derweil ist das südamerikanische «buen vivir» (das gute Leben) zum Export­ schlager geworden. Ecuador und Bolivien haben das ursprünglich von den indigenen Andenvöl­ kern verwendete Konzept als anzustrebendes Ziel in die Verfassung aufgenommen. Im Gegen­ satz zum hedonistischen Glücksverständnis Europas gehört dazu auch eine harmonische Beziehung zur Natur, ohne die es kein gutes Leben geben kann.

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Grüne Wirtschaft: Nachhaltiges Wachstum oder fröhliches Schrumpfen?

Und wie passt das alles zusammen?

Die «grüne Wirtschaft» ist ein Überbegriff für verschiedene Ansätze, Ökologie und Öko­ nomie mit dem Ziel der Nachhaltigkeit zu verei­ nen. VertreterInnen der Umweltökonomie möchten Firmen zwingen, die externalisierten Kosten für Verschmutzung und Umweltzerstö­ rung selber zu bezahlen, etwa über den Handel mit CO2-Emissionszertifikaten. Die Global Commission on the Economy and Climate sieht im Klimawandel zwar ein gravierendes Prob­ lem, aber auch eine Chance für einen energieef­ fizienten Umbau der Wirtschaft, Innovationen und langfristiges Wachstum. Im Gegensatz dazu halten Kritiker wie Niko Paech ein nachhaltiges oder grünes Wachstum für einen Widerspruch in sich, weil Wachstum immer den zusätzlichen Verbrauch von Ressourcen beinhalte. Die Ver­ treterInnen der ökologischen Ökonomie verwei­ sen auf die beschränkten Ressourcen unseres Planeten: US-Professor Herman Daly hatte be­ reits 1977 in seinem Buch «Steady-State Econo­ mics» gefordert, die Wirtschaft müsse auf einem langfristig tragbaren Niveau stabilisiert werden. Die AnhängerInnen der «Wachstums­ rücknahme» (décroissance oder degrowth) gehen noch einen Schritt weiter: Sie fordern, die Wirtschaft in den reichen Nationen müsse erst einmal kontrolliert schrumpfen, da der Westen weit über seine Verhältnisse lebe. Weil das abschreckend tönt, heben sie den damit einher­ gehenden Gewinn an Lebensqualität hervor, etwa durch ein verstärktes Gemeinschaftsgefühl in vernetzten Kleinstadt- und Quartierinitiati­ ven. Auch in der Schweiz gibt es für diese Idee Ansprechpartner, unter anderem das Netz der Wachstumsverweigerer (Réseau Objection de Croissance) mit dem Magazin «Moins» (www.achetezmoins.ch) in der Romandie oder die Gruppen Décroissance Bern, Vision 2035 in Biel und Neustart Schweiz in Zürich und Basel.

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Ein Strassenwitz aus Moskau: «Alles, was die Kommunisten uns über den Kommunismus erzählt haben, war eine grosse Lüge. Aber leider hat sich alles, was uns die Kommunisten über den Kapitalismus erzählt haben, als wahr erwiesen.» Die Zeit der Systemkämpfe scheint vorbei. Jede Form von alternativer Ökonomie muss zuerst beweisen, dass sie im real existieren­ den Kapitalismus überleben kann. Es gibt viele Sachzwänge, aber wenig Raum, um neue Re­ zepte in grösserem Stil auszuprobieren. Darum sind Küchen und Gärten wichtige Experimen­ tierfelder. Die österreichische Ethnologin und Soziologin Veronika Bennholdt-Thomsen er­ zählt in einem Interview, wie der Besuch einer mexikanischen Marktköchin namens Anna in der Küche der Uni-Mensa in Bielefeld zum Schlüsselmoment für die Entwicklung der Bie­ lefelder Subsistenzperspektive wurde – als eine andere Sichtweise auf die Wirtschaft im Kleinen, welche die unmittelbare Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ins Zentrum stellt. Dieser feministische Ansatz hat bereits Mitte der 1970er Jahre vieles vorweggenommen, was in diesem Artikel beschrieben wird. Ökono­mie kommt schliesslich von «oikos», dem Haushalt. Wer könnte darüber besser Bescheid wissen als Menschen wie Anna, die Köchin vom Isthmus von Tehuantepec?

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Hintergrund

© foss il -free. ch

Divestment-Kampagne: Eine Zukunft ohne Öl, Kohle und Gas!

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Weil die Klimapolitik versagt, haben US-Aktivistengruppen eine globale «Divestment»-Kampagne lanciert. Ihr Ziel: Investoren sollen ihr Geld aus Öl-, Gasund Kohle­konzernen abziehen. Auch in der Schweiz sind Aktionen geplant.

Gazprom, Shell & Co, weshalb ein politisches Nutzungsverbot den Börsenwert solcher Firmen über Nacht kollabieren lassen würde. Kurz: Zum ökologischen hat sich ein ökonomisches Killerargument gesellt. Kein Wunder, hält der deutsche Klimafor­ scher und langjährige Merkel-Berater Hans Text Oliver Classen Joachim Schellnhuber diese Kampagne für «die Wird Bill McKibben zum Nelson Mandela wichtigste Aktion, die je gegen den Klimawan­ der Umweltbewegung? Der charismatische Ini­ del stattgefunden hat». Dabei liegt die strate­ gische Wirkungsweise der Desinvestition irgend­ tiant von «350.org» sitzt für seine Ideen zwar nicht in Einzelhaft, könnte als Protestikone und wo zwischen traditionellem Kaufboykott und politischer Sanktion. Historisch gibt es für die «Game Changer» aber dennoch in die Ge­ schichte eingehen. Mit der aktuellen Kampagne Etablierung ethischer Ausschlusskriterien bei Geldanlagen viele Vorbilder: Strenggläubige zum Abzug von Investitionen aus Öl-, Gas- und Puritaner beidseits des Atlantiks betrachteten Kohlekonzernen hat seine internetbasierte jegliche finanzielle Beteiligung an Brauereien, Klima-Allianz jedenfalls einen Coup gelandet: Brennereien oder Bordellen als Todsünde. Nach dem von 350.org koordinierten «Global Bei den pazifistischen Quäkern waren Anteile Divestment Day» von Mitte Februar haben an Rüstungsfirmen ein absolutes Tabu. Die weltweit mehr als 850 Institutionen dem Big wichtigste Erfolgsgeschichte war aber wohl der Business mit klimaschädlichen Energieträgern – von Boykottaufrufen und Wirtschaftssanktio­ den Rücken gekehrt. Grund für den Überra­ nen flankierte – umfassende Abzug von USschungserfolg: Die richtigen Argumente errei­ Kapital aus Südafrika. Erzbischof und Mandelachen die richtigen Adressaten. Und das zum goldrichtigen Zeitpunkt, denn immer mehr Men­ Gefährte Desmond Tutu sieht uns heute vor schen haben genug von scheiternden Klima­ einer analogen Aufgabe: «Es ist schlicht wider­ konferenzen und halbherziger Umweltpolitik. sinnig, in Unternehmen zu investieren, deren Jetzt muss die Wirtschaft ran. Geschäftsmodell unser aller Zukunft unter­ gräbt.» Wichtigste Aktion gegen Klimawandel Philipp Aeby, Klimatologe und CEO von Im Fadenkreuz stehen wie schon so häufig RepRisk, fragt sich ebenfalls, ob es Parallelen die uneinsichtigen Verursacherfirmen – dieses gibt zwischen der aktuellen «Fossil-Free-Bewe­ Mal aber indirekt via ihre Finanzquellen. McKib­ gung» und der Menschenrechtskampagne ge­ bens Appell an Investoren wie Pensionsfonds, gen das Apartheidregime, die in den 1980er Anlagestiftungen oder Hochschulen benennt – Jahren kulminierte und viele heutige Richtlinien nein: beschwört – deren doppelte Verantwor­ inspiriert hat. «Jede Massenbewegung fusst tung: für unseren überhitzten Planeten und seine auf einer überzeugenden Idee, die wirtschaftli­ Bewohner, aber auch gegenüber den Geldge­ chen Druck erzeugen und das Thema auf die bern dieser Grossinvestoren. Und das sind letzt­ politische Agenda setzen kann», meint der Chef lich Versicherte und Kleinanleger wie Sie und der Zürcher Firma, die global ethisch-relevante ich. Die auch in der Schweiz aktive Divestment- Informationen zu rund 50 000 Unternehmen Bewegung warnt diese Institutionen vor den sammelt und auswertet. Und fügt hinzu: konkreten Konsequenzen der sogenannten «Anders als in Europa, wo staatliche Institutio­ «Carbon Bubble». Die jüngste Blasenbildung nen führend sind, braucht es dafür in den USA, im Finanzmarkt basiert auf der Tatsache, dass der Heimat der Divestment-Strategie, Privat­ zur Erreichung der internationalen Klima­ initiativen von Stiftungen und Wirtschaftskapi­ schutzziele (max. Temperaturanstieg von 2 Grad tänen.» Tatsächlich hat ein gewisser Stephen Celsius bis 2050) etwa vier Fünftel aller mo­ Heintz der Bewegung zu ihrem (bisherigen) mentan bekannten Reserven an fossilen Brenn­ Höhepunkt verholfen, als er kürzlich ankündigte, dass die gut 860 Millionen Dollar schwere Ro­ stoffen im Boden bleiben müssten. Diese Res­ ckefeller–Stiftung all ihre Investitionen in fossile sourcen bilden aber das Geschäftskapital von

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Brennstoffe abstossen wird. Besondere Symbol­ kraft hat dieser überraschende Entscheid nicht aufgrund seines Volumens, sondern weil das Vermögen der legendären Dynastie im schwar­ zen Gold gründet: Rockefeller betrieb mit Stan­ dard Oil den Branchenpionier, aus dem die heutigen Ölkonzerne ExxonMobil und Chevron hervorgegangen sind.

Kampagne soll die Schweizer Kirchen zur aktiven Abkehr von der Fossilwirtschaft bewegen. Wie gross deren finanzielles Engagement in diesem enkeluntauglichen Sektor ist, weiss Marchand zwar nicht. Dafür aber, dass in den USA schon an die 60 religiöse Organisationen mitmachen. Danach will man sich die Pensionskassen der um ein gutes Umweltimage bemühten Bergbah­ nen vornehmen. Reputationsexperte Aeby hält den fehlenden Fokus der Kampagne für ihre Abschied von der CO2-Wirtschaft Doch auch in der Alten Welt gibt es Vor­ grösste Schwäche. «Ein ganzer Sektor lässt sich reiter der sich ankündigenden Zeitenwende. viel weniger bewegen als etwa nur die Kohleför­ Anlässlich des Global Divestment Day beschloss derer oder gar ein einzelnes Unternehmen – beispielsweise die westfälische Stadt Münster zumal dann, wenn es sich um einen so grossen den Verkauf aller «kohlenstoffhaltigen» Aktien, und systemrelevanten Sektor wie die Energie­ um Druck für mehr Klimaschutz zu machen. branche handelt.» Zwar geht es nur um 10 bis 12 Millionen Euro aus der städtischen Pensionskasse, die umgeschich­ Oliver Classen, Mediensprecher der Erklärung von Bern (EvB) und Co-Autor des Buchs «Rohstoff – das gefähr­ tet werden sollen. Aber hier weiss man, dass die Desinvestition primär den Atom- und Kohle­ lichste Geschäft der Schweiz». riesen RWE trifft, der sonst schon genug Proble­ me mit der Energiewende hat. Aktionen für den Kapitalabzug gibt es laut der deutschen «FossilFree»-Koordinatorin Tine Langkamp mittler­ weile in acht Städten, darunter Aachen, Bochum und Köln. Ihren finanziellen Abschied von der CO2-Wirtschaft haben kürzlich auch die schwe­ dische Kommune Örebro und das progressive Oxford beschlossen. Gewichtigster europäischer «Divester» ist und bleibt indes Norwegens staat­ licher Pensionsfonds, der sagenhafte 800 Milli­ arden Dollar verwaltet. 2014 hat er Fakten geschaffen und seine Anteile an 22 Kohle- und Ölsand-Firmen verkauft. Schweizer Kirchen im Visier Und was tut sich in der Schweiz? «Bei uns kommt langsam auch Zug in den Kamin», sagt Oliver Marchand, der den letzten September gegründeten Verein fossil-free.ch präsidiert. Den Global Divestment Day verbrachte der Zürcher Finanzexperte mit einem runden Dutzend Ver­ einskollegen auf dem Paradeplatz, schwarze Kohleblasen schwenkend und einen Smartmob koordinierend. «Switzerland is key. Go ahead and good luck», antwortete ihm McKibben letzten Sommer auf eine Mailanfrage, ob er sei­ ne Idee und Institution in der Schweiz vertreten dürfe. Seitdem haben die Vereinsmitglieder Geld gesucht und kürzlich auch gefunden. Im Frühling wollen sie nun durchstarten. Die erste

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Konsum – Zahlen und Fakten zusammengestellt von Mathias Plüss

3 Ein durchschnittlicher euro­päischer Haushalt verfügt über 18 elektronische Geräte. 4 2014 wurden in der Schweiz 28 Prozent mehr Luxusautos verkauft als im Vorjahr. 5 Pro Person produzieren wir heute 100 000 Mal so viel Licht wie vor 300 Jahren.

6 Der weltweite Fischkon­ sum pro Person hat sich in den 1 letzten fünfzig Jahren mehr als Auf der Welt gibt es verdoppelt: Von 9 auf 19 Kilo etwa gleich viele Handy-Abos pro Jahr. Auch der Fleischkon­ wie Menschen. sum nahm rasant zu, von durchschnittlich 23 auf 42 Kilo. 2 In Ostasien hat er sich sogar mehr als verzehnfacht In der Schweiz werden pro Person und Jahr 11,5 Ton­ – von 5 auf 56 Kilo pro Kopf und nen Material verbraucht – den Jahr. In Westeuropa hat der Löwenanteil machen Baustof­ Fleischverbrauch zuletzt etwas fe, Lebensmittel, Treib- und abgenommen, liegt aber im­ Brennstoffe aus. Dazu kommt mer noch höher als in Ostasien. mindestens dieselbe Menge, die im Ausland für die Herstel­ 7 lung und den Transport unse­ Das Nachtleben boomt: rer Import­güter benötigt wird. Noch Mitte der 1990er Jahre gab es in Zürich weniger als Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2015

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hundert Lokale, die bis in die frühen Morgenstunden offenbleiben durften – heute sind es mehr als 600. 8 In nur zwölf Jahren, nämlich von 1995 bis 2007, stieg der Anteil der chine­ sischen Stadtfamilien mit Kühlschrank von 7 auf 95 Prozent. 9 Ist Ihnen auch schon auf­gefallen, dass man heute kaum noch Töfflis sieht? Tat­ sächlich hat ihre Zahl dra­ matisch abgenommen. Aber die potenziellen Töffli-Fahrer sind nicht etwa aufs Velo umgestiegen, sondern auf grössere Töffs: Heute fahren etwa 700 000 Motorräder auf Schweizer Strassen. Das sind fast achtmal so viele wie vor 40 Jahren und mehr, als es jemals Töfflis gab.

11 Die Schweizer Detailhan­ delsumsätze im Elektronik­ bereich haben sich zwischen 2003 und 2014 verdreifacht. 12 Künftige Geologen wer­ den unser Zeitalter «Plasto­ zän» nennen: Von den jährlich produzierten 300 Millionen Tonnen Plastik wird ein Drit­ tel kurz nach Gebrauch wegge­ worfen. Ein nicht geringer Teil davon landet in den Ge­ wässern. Allein die Donau spült jeden Tag 4 Tonnen Plas­ tik ins Schwarze Meer. Ein Kubikmeter Donau­wasser ent­ hält mehr Plastikteilchen als Fischlarven. 13 Der Schweizer Einkaufs­ tourismus in Deutschland hat sich, gemessen an den vom deutschen Zoll ausgestellten Ausfuhrbescheinigungen, in den letzten fünf Jahren mehr als verdoppelt.

10 14 Ein durchschnittlicher Schweizer Vierpersonenhaus­ Ein Europäer kauft im halt gibt pro Jahr 2000 Fran­ Jahr durchschnittlich 65 bis 70 ken für Lebensmittel aus, die neue Kleidungsstücke. er später wegschmeisst. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2015

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So viel wie nötig, so wenig wie möglich Ein Hauptwort für Selbstbeschränker in Sachen Konsum heisst Suffizienz. Wir haben die spannendsten Tipps und Möglichkeiten, mit denen sich diese lustvoll steigern lässt, rausgesucht. Resteküche GemüseKiste

regional

Zero Waste

Ünique

saisonal

Freeganismus /  Dumpster Diving

Veganer

Bio-Food

Kollektives Gärtnern

Home Office Genossenschaft Carsharing

Bikesharing Sharing

Mitfahrgelegenheit

Local Sharing

Bürogemeinschaft Schlafplätze

Buy Nothing Day

Wohn­ gemeinschaft Baugruppen

Vegetarier

Precycling

Tiny House Movement 2000-Watt Gesellschaft

Digitaler Nomade Plastikstreiker

Mobilität Fussläufer

Geldstreiker Minimalisten

Reisen

Cradle to Cradle Upcycling

Weltenwanderer

Repair Cafés

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Tauschen


Die Ringbahn. Von hier gelangt man nicht nur von A nach B, sondern auch zu allen Formen der Suffizienz. Um es auf diesem Weg zu sagen: Du bist was Du isst. Ein Weg mit vielen Abzweigungen und Variationen: Teilen. Unmittelbar und direkt – der Konsum(verzicht). Nichts geht über den Mehrweg. Haucht so manchen Dingen ein ganz neues Leben ein. Reisen verbindet. Auf allen Stufen. Die Umlaufbahn unseres Lebens: Wohnen und Arbeiten.

Text Inga Laas

Erzeugnisse. Und weil diesbezüglich auch die Bio-Tierhaltung nichts bringt, ziehst du die letzte Konsequenz: Keinerlei tierische Produkte mehr. Keine tierischen Fette in der Seife, keine Gänsedaunen mehr im Bett und Leder schon gar nicht. Der Veganer fragt nicht, was wir wirklich brauchen. Er fragt, ob wir auch ohne können. Und ja, es geht: Vegan sein war noch nie so einfach. Parallel zur Popularität Du konsumierst überwiegend oder sogar ausschliesslich Bio. wächst die Vielfalt an FleischerBei dir zählen die inneren Werte. satzprodukten. Aber wie suffi­ zient ist vegan wirklich, wenn Dumpingpreise und Massen­ Sojawürstchen und Tofugeware lassen dich kalt. Lieber schnetzeltes mehr Flugmeilen weniger, dafür bewusster und gesünder kaufen, ist dein Motto. sammeln als ein Nichtveganer in seinem ganzen Leben? Das ist wunderbar: Natur und Umwelt werden es dir danken. Trotzdem genügt Bio allein dem Gedanken der Suffizienz nicht. Auf der richtigen Spur bist du erst dann, wenn (Bio-)Erdbeeren im Winter bei dir genauso wenig zu suchen haben wie der Zugegeben, Freeganismus, Schnee im Sommer. Chabis, Dumpster Diving, Mülltauchen Röslichöl und Federkohl setzen oder Containern ist eine gewöhnungsbedürftige Stufe der deiner Kreativität keine GrenSuffizienz. Dafür aber umso wirzen und auf neuseeländische kungsvoller – schliesslich verÄpfel kannst du verzichten – auch wenn sie ungespritzt sind. sucht der Freeganer ganz aufs Kaufen zu verzichten. Die AlterEin guter Anfang zur Nah­ rungssuffizienz ist die regionale native heisst nicht, kriminell zu werden, sondern sich die AbGemüsekiste. Die saisonalen Erzeugnisse und die Nähe zum fallcontainer der Supermärkte vorzuknöpfen. Darin lagert so Produzenten schärfen den ziemlich alles, was die übliche Blick fürs Wesentliche. Dafür Kundschaft nicht mehr will. muss es nicht immer Bio sein. Empfehlenswert ist das besonders bei Temperaturen um null Grad. Da bleiben Obst, Gemüse und Joghurt besonders lange frisch. Achtung! Das Betreten Du bist Veganer und beschreitest den Weg der Suffizienz mit umzäunter Gelände und das Aufbrechen von Containern gelerhobenem Haupt. Du bist, wie du isst: moralisch gefestigt. ten als Hausfriedensbruch und sind nicht zu empfehlen. Lieber Was dich bezüglich Motivation frei stehende und offene Tonnen vom kleinen Bruder Vegetarier unterscheidet, ist der Ärger über suchen – davon gibt’s genug. den immensen CO2-Verbrauch Ach ja: Gummihandschuhe nicht vergessen. bei der Produktion tierischer

Bio-Food

Freeganismus / Dumpster Diving

Veganer

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Tiny House Movement Bau- und Wohnwagen haben ausgedient, jetzt kommt das Tiny House! Frei nach dem Motto «Kleiner geht’s immer» stellt sich die Bewegung der Her­ ausforderung, den Wohnraum auf das minimal Nötigste zu reduzieren. Daraus entstanden erstmals in den USA niedliche Miniaturausgaben moderner Einfamilienhäuser. Komplett ausgestattet sind die Häuschen mit Kuschelfaktor nicht nur schrecklich gemütlich, sondern auch noch mobil, weil oft mit Rädern versehen. Wir hoffen, dass der Trend bald nach Europa herüberschwappt.

Plastikstreiker

Entfeuchter nicht länger allein benutzen möchte, kann beides auf der Schweizer Plattform Sharely anbieten. Hier dreht sich Geldstreiker schlagen jeden noch so hippen Minimalisten um alles um das Vermieten und Längen. Geld ist ja auch nur Pa- Mieten von Alltagsgegenständen pier. Bringt ausserdem Proble– gegen eine meist minimale me, entfacht Kriege und schürt Gebühr. Gier und Neid. Höchste Zeit, da mal aufzuräumen. Der Geldstreiker ist keineswegs faul, im Gegenteil: Er ist immer auf der Suche nach neuen Möglich­ Als Vegetarier erklimmst du die keiten, sich etwas dazuzuverdie- erste Stufe der Suffizienz, du nen. Verdienen? Genau! Der betrittst sozusagen die Bühne Geldstreiker verdient sich den der Ernährungssuffizienzler. Als Lebensunterhalt mit Tausch­ Laktovegetarier (Milchprodukte geschäften. Einmal im Monat sind erlaubt), Lakto-Ovo-Ve­ Rasenmähen fürs Warmwasser. getarier (auch Eier sind nicht Einmal Lieferdienst gegen verboten) und / oder Pescetarier Frischmilch macht satt für den (Fisch darf auch mal sein) verRest der Woche. Einmal Nachzichtest du auf Fleisch. Was dich hilfe in Mathe gibt fünf Kilo motiviert, ist die Liebe zum Dinkelmehl. Fest steht: Wer ohne Tier, die Sorge ums Klima oder schlicht der Wunsch nach einer Geld lebt, braucht ein dichtes Netz an Freunden und Bekann- gesünderen Ernährung (obwohl Letzteres nicht abschliessend ten – und Freunde wiederum bewiesen ist) – oder alles zumachen glücklich. Überhaupt hat der Geldstreiker viel Zeit, in sammen. Die Gründe, Vegetarier zu sein, sind vielschichtig. Dein der er sich nicht nur Gedanken darüber machen kann, was bewusster Verzicht führt dich zwangsläufig zur ersten Frage ihn wirklich glücklich macht, der Suffizienz: Was ist nötig, was sondern auch darüber, wie er brauchen wir wirklich? Fleisch das Gedachte umsetzen kann. gehört anscheinend nicht dazu.

Geldstreiker

Vegetarier

Der Plastikstreiker versteht sich gut mit der «Zero Waste / Tante Emma reloaded»-Bewegung und ist von der Suffizienz her interessant, weil sich sein plastikloser Haushalt mengenmässig automatisch um etwa zwei Drittel reduziert. Kleider, Tupper­ ware, Waschmaschine, das Babyphone, die Spülmittelflasche und, und, und ... fällt alles weg. Sehr anstrengend. Vermutlich aber auch sehr gesund. Sharing (Teilen) ist das geheime Zauberwort der Suffizienz. Nutzen statt besitzen. Was ich nicht für mich persönlich brauche (meine Zahnbürste oder den Um es im Stil dieser Bewegung Rechner) und nur selten benutze zu halten: So viel wie nötig – so (das Auto oder eine DVD, die ihren Kinoauftritt schon hinter wenig wie möglich. sich hat), kann ich genauso gut teilen. Dann nehmen die Dinge auch keinen Platz weg. Teilen macht Schule, etwa bei Autos, Velos, Filmen, Büchern oder gar herrenlosen Obstbäumen. Wer sein Fondueset oder den

Sharing

Minimalisten

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Ünique Die Suffizienz beschäftigt sich mit der Frage nach dem Wesentlichen. Bei Ünique sind es schlicht die inneren Werte, die zählen. Deswegen dürfen Karot-


te, Gurke und Kartoffel des jungen Coop-Labels (seit 2013) auch schief und krumm gewachsen sein. Sie finden trotz ihrer beschränkten äusserlichen Attraktivität den Weg über die Ladentheke in unsere Tasche – zum Vorzugspreis. Erhältlich in allen grösseren Coop-Filialen.

Zero Waste / Tante Emma reloaded Egal ob bio, vegetarisch oder vegan: Nahrungsmittel produzieren jede Menge Verpackungsmüll. Den können wir vielleicht nicht auf dem Transport reduzieren, dafür aber im Laden: Zero Waste (oder Tante Emma reloaded) heisst der neue Trend zum suffizienten Einkaufen mit mitgebrachten Behältern, aber ohne Verpackung. Selber bestimmen, wie viel man wirklich braucht, und vor allem: kein mühsames Auspacken mehr. Die eingeschweisste Zahnbürste bleibt im Regal. Noch viel wichtiger: kein Müll mehr. In London (Unpackaged) oder Berlin (Original Unverpackt) florieren bereits die ersten verpackungsfreien Supermärkte. Bei uns bieten einige Bioläden das Abfüllen der Ware in mitgebrachte Gefässe, Beutel oder Taschen an. Nachfragen lohnt sich auf jeden Fall.

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Reste? Von wegen! In diesen Gaststätten gibt es keine Reste. Rüstabfälle werden getrocknet und zu Kräutersalz verarbeitet, das Brot von gestern kommt frisch auf den Tisch und das Menü erfindet sich jeden Tag neu: Äss-Bar in Zürich und Bern, Buffet-Dreieck in Zürich und Mein Küchenchef in Bern.

Precycling

gutgeschriebenen Zeit kann sie bei jemand anderem eine Leistung kaufen, die denselben Zeitaufwand erfordert.

Cradle to Cradle Das «Von der Wiege zur Wiege»Prinzip meint das pure Gegenteil unserer «Von der Wiege bis zur Bahre»-Wegwerfwirtschaft. Material soll gebraucht und nicht verbraucht werden. Vor allem sollen alle Rohstoffe vollständig wiederverwendet werden. Ein simples Beispiel ist die Kompost-Toilette, die mit dem «Human Output» den Boden düngt und so einen natürlichen Kreislauf schliesst.

Repair Cafés

Das Wort «aufgeben» hat hier nix zu suchen. Wer hierherkommt, tut wirklich was für die Beziehung. Ob dein Smartphone zickt oder dein Toaster nur noch verbrannte Scheiben ausspuckt: Ehrenamtlich-geniale Tüftler und Bastler, Reparaturexperten eben, helfen dir, dem ewigen Neukaufen, Konsumieren und Wegwerfen einen Riegel zu schieben. Das Konzept ist simpel: Den kaputten Stuhl beim nächsten Repair Café vorbeiLeihen und Tauschen ist umständlich? Das war gestern. Das bringen, mit einem Experten das Internet als Vermittlungsinstanz gebrochene Bein leimen und dabei Kaffee und Kuchen gezwischen den Tauschpartnern vereinfacht die Kommunikation, niessen. Bravo! ist schnell und erlaubt erst noch einen internationalen Austausch. In Zukunft wird es hoffentlich noch einfacher, nicht nur Kleider, Musik, Bücher und sogar Urlaubsorte zu tauschen, sondern auch Zeit. Das geht so: Die eine Person füllt der andern die Steuererklärung aus, geht für sie einkaufen oder liest vor. Mit der Recycling ist wichtig und gut. Das Upcycling, bei dem alte Produkte einen höheren Wert er­ halten, ist wunderbar und voller Überraschungen. Precycling hingegen ist das oberste Gebot: Fang – mit – dem – Müll – erst – gar – nicht – an.

Tauschen

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beit und ökologischer Landwirtschaft fällt auch hierzulande auf fruchtbaren Boden. Im Gegensatz zum parzellenscharf aufgeteilten Schrebergarten entwickelt sich eine neue und berührende Stadtästhetik. Die Gärten sind oft zwischen Strassen und Gebäuden auf alten oder neuen Brachen angesiedelt. Die Einöde verwandelt sich Immer am letzten Samstag im November findet europaweit der in eine grüne Oase inmitten Buy Nothing Day statt. Konsum- der Stadt und bietet auch Lekritiker fordern eine Atempause bensraum und Nahrung für Wildvom ewigen Kaufen und Konsu- bienen und andere Insekten. mieren. Lasst die Ruhe einkehren – nicht nur im Geldbeutel. Kurz bevor der Weihnachtsrummel losgeht und wir vor lauter Kaufen vergessen, dass wir dieses Jahr ja eigentlich mal nichts Teilen unter Nachbarn gehört schenken wollten, kommt jedes zum A und O eines guten QuarJahr die kurzweilige Suffizienz tiers. Weniger monetär, offline für einen Tag. Denkanstoss ga- und vor allem lokal kommt der rantiert, Potenzial zur FortsetVerein Pumpipumpe daher. zung. Vielleicht der erste Schritt Nachbarn können Dinge, die sie zu einem Weniger. nicht so oft brauchen, einfach gemeinsam nutzen. Wer etwas zum Verleihen hat, kommuniziert das über toll illustrierte Sticker. Als Pinnwand dient der Briefkasten.

Buy Nothing Day

Local Sharing

suffizient: So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Wenn da nur nicht die unzähligen Flugmeilen und der riesige CO2-Fussabdruck wären. Wie gut, dass es auch Digital Natives gibt, die in der Heimat bleiben und im Home Office arbeiten. Selbständig.

Baugruppen

Wenn Brachen und Freiräume von Investmentgesellschaften erobert werden, steigen Wohnungspreise und Mieten in unmenschliche Höhen. Wer eine andere Vorstellung von Stadtentwicklung hat – und das haben zum Glück viele – schliesst sich mit Gleichgesinnten zu einer Baugruppe zusammen und investiert. Erst einmal Geld, aber auch Zeit und Energie in die Planung und Umsetzung von Wohnprojekten nach den eigenen Vorstellungen. GemeinDer Name hat’s in sich. Dein Zu- schaftlich, ökologischer, selbstbestimmt und vor allem hause ist da, wo dein Rechner ins Internet kommt. Du arbeitest günstiger haben die Wohnprojekte der Baugruppen das ortsunabhängig und brauchst nicht nur keinen festen Arbeits- Potenzial, die Wohnungskrise platz, du willst auch keinen. Als zumindest teilweise zu entmoderner Wanderarbeiter fängt schärfen. die Arbeit für dich da an, wo anDer Wunsch nach Selbstver­ sorgung ist in die Städte einge­ dere Urlaub machen. Indonesien oder Las Vegas, Djakarta oder zogen und wieder hip. Eine ökologisch angehauchte Alter- Mumbai, das spielt keine Rolle. nativbewegung versammelt sich Dein Credo ist, sich überall auf der Welt zu Hause zu fühlen. Zusammen ist man weniger unter klangvollen Namen wie Urban Gardener, KoGä (Kollekti- Das klingt toll! Wer sein Büro allein. Leider? Zum Glück? Das ves Gärtnern) oder Local Food auf einen Rechner packt und sein entscheidet jeder und jede zum gemeinschaftlichen Gärtübriges Leben in einem Koffer für sich. Fakt ist: Wer zusammennern. Die Idee sozialer Gartenar- mit sich trägt, wirkt ganz schön lebt, teilt mehr und braucht

Digitaler Nomade

Kollektives Gärtnern

Wohngemeinschaft

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weniger. Küchengeräte, Möbel, Telefon, Fernseher und manchmal sogar das Haustier sind nur ein paar Beispiele.

2000-WattGesellschaft / Energieverbrauch

Fussläufer / per pedes / Autobiomobilitäts­ mechanismus

Autobiomobilitätsmechanismus – oder einfach zu Fuss gehen. Die suffizienteste Art der FortFür den Weltenwanderer ist der bewegung überhaupt ist kostenlos, umweltfreundlich und führt Weg das Ziel. Seine Gedanken über jede Grenze. Leise und Unser Lebensstil hat einen im- und Begegnungen halten mit seinem Schritt mit. Es gibt keine auch noch gesund. Wer sich auf mensen Energieverbrauch sein Fusswerk besinnt, ist sicher zur Folge. Technische Errungen- Eile, keine Ziele, die erreicht schaften reduzieren ihn – man werden müssen. Der Weltenwan- kein Trendsetter. Dann schon eher ein Trendkehrer. Wie sagte lobt die Effizienz von allerlei derer reduziert sein Gepäck doch schon der deutsche DichGeräten. Aber erst mit der Suffi- auf das, was er tragen kann. Er ter Johann Gottfried Seume: zienz erfüllt die Effizienz ihren ist ein zeitloser Minimalist. «Es ginge alles besser, wenn Zweck: Ist ein geheiztes Bademan mehr ginge.» zimmer nötig? Muss ich jeden Tag duschen? Brauche ich fürs Händewaschen tatsächlich warEine Liste mit Links zu den Tipps mes Wasser oder täte es auch Suffizientes Reisen wagt Neues: finden Sie auf unserer Magazin App kaltes? Wieso spüle ich das Stadtwandern verspricht das (siehe Rückseite). Geschirr eigentlich vor? Und: Abenteuer vor der Haustüre. Der Brauche ich die vielen techniAutor Rene P. Moor schlägt schen Geräte wirklich? dazu ein Experiment vor: Man gehe einmal von einem beliebigen Startpunkt los, vorerst nach links, bei der ersten Strassenkreuzung nach rechts, bei der nächsten wieder nach links und In der Bürogemeinschaft wirkt der Grafiker neben dem Psycho- so weiter. Dieses Links-RechtsSchema führt auf eine span­ logen, der wiederum dem Bio­ logen gegenübersitzt, der in sei- nende Reise, deren Ausgang ungewiss ist und die auch keinen nem Rücken den Architekten weiss (dessen Partnerin Umwel- Stadtplan erfordert. tingenieurin ist). Hier kommt alles zusammen, was arbeitet und flexibel sein möchte. Wer jung (im Beruf) ist, ohne Kapital fürs eigene Büro oder das Geld Die suffiziente Mobilität meint im für andere Dinge sparen möchte, Grunde die maximale Fortbe­ findet hier viele schlaue Köpfe wegung unter minimalem Enerauf einem Haufen – ein Quell der gieverbrauch. Die Ansätze sind Ideen. Wird oft mit Starbucks vielfältig: Leben mit Car- und verwechselt. Bikesharing, maximale Nutzung des öffentlichen Verkehrs, Mitfahrgelegenheiten für Schrank, Bett oder Tisch – und natürlich für dich.

Weltenwanderer

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Interview

«Manche Designer bezeichnen sich als Strich­jungen der Industrie»

Das Interview mit der Designforscherin Ursula Tischner führte Esther Banz «Die meisten Industrie- und Produkt­ designer sind Knechte der Industrie», sagt Ursula Tischner. Im Interview erzählt die renommierte Design-Forscherin und -­Beraterin, wo sie die Zukunft nach­haltigen Designs sieht, wie Produktdesign mit Suffizienz zusammengeht und wie sich mit ihm ganze Systeme neu denken lassen. Greenpeace: Mit einer Produktdesignerin über Suffizienz zu reden, ist ein Wagnis. Das Interview könnte nach fünf Minuten bereits beendet sein … Ursula Tischner: Wohl kaum! Es gibt unter uns Designern einige – und ich gehöre dazu –, die sich auf Nachhaltigkeit spezialisiert haben. Wir arbeiten beispielsweise schon lange an Lösungen, mit denen sich Produkte verhindern lassen.

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Produktdesigner verhindern Produkte? Ja, die zentrale Frage für nachhaltigkeits­ orientierte Designer lautet: Wie können wir Produkte verhindern, dem Unternehmen aber trotzdem Gewinn bescheren, denn dafür wer­ den wir ja bezahlt. Und, wie schaffen Sie das? Indem wir mehr auf Dienstleistungen set­ zen. Wir möchten den Leuten das Leben nicht über den Verkauf von Produkten erleichtern, sondern mit Sharing-Systemen. Bei den Autos gibt es das schon länger. Da ist aber noch viel mehr möglich. Ein Beispiel, bitte! Ein amerikanisches Teppichunternehmen fing schon vor längerer Zeit damit an, seine Aus­ legeware nicht mehr zu verkaufen, sondern zu vermieten. Das Unternehmen bietet eine Dienst­ leistung an, die «Schöner Bodenbelag» heisst. Eine andere Firma garantiert Bauern eine gute Ernte – sie kümmert sich mit biologischen Me­ thoden darum, dass das Gemüse auf den Feldern gedeiht. Der Bauer bezahlt für diesen Service.

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Die Umstellung dürfte nicht für jede Firma einfach sein. Für die grossen Unternehmen, die bisher immer nur Produkte verkauft haben, ist sie deut­ lich schwieriger als für kleine Start-ups, weil sie in all den Jahren eine umfangreiche Infrastruktur für Produktionskapazitäten und Vertriebssyste­ me aufgebaut haben. Für jüngere Firmen ist es einfacher, in die Sharing-Economy einzusteigen. Zum Glück gibt’s jede Menge von denen. Die Sharing-Economy boomt ja nachgerade … Bei den Autos passiert viel, jedes grosse Automobilunternehmen in Deutschland bietet mittlerweile Carsharing-Systeme an, sogar Mercedes und BMW. Man merkt, dass sie ver­ standen haben, wohin die Reise geht. Sie kaufen jetzt auch kleine Start-up-Unternehmen und bauen deren Dienstleistungen in ihre Strategie ein. Die Konsumenten sind aber noch recht zögerlich. Noch immer dominiert die Vorstel­ lung, dass man Dinge kaufen muss, wenn man sie benutzen will. Die Idee des Eigentums ist stark in unseren Köpfen verankert. Aber es sind Veränderungen bemerkbar. Haben Sie selber schon erreicht, dass ein Unternehmen einen radikalen Wandel ein­ leitete? Ja. Beispielsweise bei einem Unternehmen, das Abfallbehälter an Entsorger und Städte ver­ kaufte. Mit uns haben sie Konzepte entwickelt, dass sie diese künftig vermieten. Davon profitie­ ren alle: Die Städte und Gemeinden müssen die Behälter nicht mehr kaufen, was Geld spart, die Entsorger müssen sich nicht mehr um die Instandhaltung kümmern, und das Unterneh­ men kriegt sein Material zurück und hat über längere Zeit einen garantierten Mietertrag. Das sind Beispiele, die Spass machen, weil es Winwin-win-Situationen sind: Insgesamt wird weni­ ger verbraucht, das System wird geschlossen betrieben und ist deshalb effizienter als der kon­ ventionelle Produktverkauf.

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Es scheint, als seien Sie über die Jahre von der Produktdesignerin zu einer Art Sharingund Kreislauf-Spezialistin geworden. Ja, das hat was. In unserem Büro haben wir einst mit Ökodesign angefangen und gesagt: Wir gestalten alles, was Produkt ist, ökologi­ scher. Dann wechselten wir zum Designen von Service, wo wir sagten: Das Ökoprodukt alleine ist nicht gut genug, wir müssen das ganze Sys­ tem von Produkt und Dienstleistung zusammen designen, weil wir dann auch die Nutzungs­ phase mitgestalten können. Wir hatten erkannt: Ökoproduktdesign ist ok, aber es wird die Probleme nicht lösen, die wir jetzt haben, wir müssen da sehr viel systemischer rangehen. Dies vor dem Hintergrund, dass bessere, effizientere Produkte nicht unbedingt zu Suffizienz führen, weil der Rebound-Effekt die Einsparungen gleich wieder zunichte­ macht? Richtig. Oft wird die höhere Produkteffizi­ enz dadurch aufgehoben, dass die Leute die Produkte öfter und unbedachter benutzen. Oder dadurch, dass wir einfach mehr Produkte brauchen, weil es beispielsweise mehr SingleHaushalte gibt. Auch das globale Wirtschafts­ wachstum sorgt dafür, dass insgesamt mehr Produkte hergestellt werden und der Ressour­ cenverbrauch nach wie vor steigt. Was resultierte aus dieser Einsicht? Dass wir uns die grösseren Systeme an­ schauten, die für den Energieverbrauch relevant sind, etwa die Mobilität, den Tourismus und die Landwirtschaft. Wir fragten uns, wie wir diese ganzen Systeme nachhaltiger gestalten könnten, an welchen Schrauben man drehen muss, um insgesamt ökologischer und sozial sinnvoller zu wirtschaften. Und wo stehen Sie jetzt? Wir haben ein grosses europäisches Projekt gestartet, das sich «innonatives» nennt und für «native Innovators» steht. Das haben wir unter www.innonatives.com kürzlich gelauncht. Es ist eine offene Innovations- und Design­ plattform. Kreative auf der ganzen Welt können gemeinsam Nachhaltigkeitsprojekte und nach­ haltigkeitsorientierte Designprojekte bearbeiten. Wir haben auch ein Crowdfunding, um guten

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Projekten zum Start zu verhelfen. Die ersten Projekte sind gerade erst abgeschlossen, die nächsten bereits in Planung. Wir wollen die Plattform langfristig betreiben. Es kommen immer mehr sogenannt ökolo­ gische Produkte auf den Markt, oftmals ziemlich chic verpackt. Sie scheinen einem «Kauf mich, ich bin öko, also gut!» zuzu­ rufen. Ist aber nicht jeder bewusste Verzicht – auch auf vermeintlich gute, ökologische Produkte – im Zweifelsfall die bessere Ent­ scheidung? Nein, das würde ich so nicht sagen. Wenn man ein Produkt gut designt, also beispielswei­ se langlebig und so wertig, dass die Leute es lieben, weil sie es ganz toll gebrauchen können und es wirklich zu einem Lieblingsstück wird – das ist ja auch eine Produktdesign-Qualität –, dann wollen die das vielleicht ihr ganzes Leben lang benutzen. Manche Designer schaffen das. Das krasse Gegenteil davon ist das Fast-FashionKonsumgut, bei dem es nur darum geht, Sa­ chen zu stylen, damit sie neu aussehen, obwohl nichts daran neu ist. Der einzige Zweck besteht darin, den Konsumenten zu suggerieren: «Hey, ihr braucht was Neues, werft das alte Zeug weg, auch wenn es noch gar nicht kaputt ist, wir haben ein cooles Styling. Ihr müsst das kaufen, damit ihr wieder happy seid.» Das ist genau das Gegenteil von nachhaltig. Die Handy- und die Computerbranche funktionieren so. Der Trend hat sich von der Bekleidungsin­ dustrie leider auf viele andere Segmente aus­ gebreitet, angefangen bei den Möbeln – ich sage nur: das freundliche Möbelhaus aus Schweden … Und dann eben die Handys: Die neuste Genera­ tion hat runde Ecken, die nächste dann wieder eckige – und die Technologie ist, na ja, ein wenig weiter entwickelt, aber nicht so sehr, und trotz­ dem braucht man jetzt jedes Jahr ein neues Smartphone. Das ist völliger Schwachsinn und falsch verstandenes Design. Seine Funktion erschöpft sich darin, die Konsum- und Wegwerf­ gesellschaft anzutreiben.

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Welchem Zweck dient gutes Design? Es hilft, Probleme zu lösen. Etwa indem es Dinge so gestaltet, dass sie den Menschen gut tun und nicht nur der Industrie Profite ver­ schaffen. Seit dem Bauhaus gibt es die Idee, dass Designer gesellschaftlich sinnvolle Dinge tun sollten. Viele jüngere Designer befassen sich sehr engagiert mit diesem Thema und es gibt immer wieder Protagonisten, die gute Bücher schreiben und öffentliche Reden halten. Leider muss man sagen, dass dieses Bewusst­ sein im Alltag der Mainstream-Produkt- und Industriedesigner noch nicht wirklich angekom­ men ist, insbesondere nicht in den deutsch­ sprachigen Ländern. Natürlich verstehe ich, dass die Kollegen Zwänge haben, von der Indus­ trie abhängig sind und deshalb tun, was von ihnen verlangt wird, nämlich Produkte zu de­ signen, die … … nach einem halben Jahr weggeworfen werden müssen? Genau. Manche Designer bezeichnen sich sogar als die Strichjungen der Industrie. Sie sagen: «Wenn die das wollen, dann machen wir es eben, es fragt ja keiner nach Nachhaltigkeit.» Das ist so das, was ich zu hören kriege. Ich sage dann jeweils: «Leute, das könnt ihr nicht viel länger so weiter betreiben, die Zeiten wer­ den sich ändern.» Es gibt ja immer mehr Ge­ setze, die den Unternehmen Produktverantwor­ tung auferlegen, die Konsumenten werden bewusster und es gibt Zwänge, weil Ressourcen nicht mehr so günstig verfügbar sein werden. Ich glaube, dass sich Designer, die das nicht ver­ stehen, längerfristig nicht im Markt halten können, auch wenn sie derzeit noch ganz gut von ihrer Arbeit leben. Was lässt Sie hoffen? Es gibt eine jüngere Generation von Desig­ nern, die nicht so arbeiten wollen, wie wir das noch gelernt haben. Sie sagen sich schon jetzt: «Wir wollen etwas machen, das sinnvoll ist.» Klar, die wollen auch einen coolen Job haben und berühmt werden, das wollen immer noch alle. Aber sie wollen nicht ihr ganzes Leben mit irgendwelchen Aktivitäten verbrin­ gen, die sie nicht sinnvoll finden. Und wenn es nicht der Bewusstseinswandel der jetzigen Designer ist, so ist es vielleicht die nachkom­

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Wo setzt die Politik punkto Suffizienz an? Es gibt da wenig, was sich auf Suffizienz bezieht. Die Politiker fürchten sich davor, Ver­ zicht und Beschränkung zu thematisieren. Man kann zwar sehen, dass in der Politik inzwischen mehr über nachhaltigen Konsum gesprochen wird, aber man ist weit davon entfernt, entspre­ chende Gesetze zu machen. Es geht mehr um Fragen wie: Wie können wir die Konsumenten erziehen und bilden? Was brauchen die, damit sie ihr Verhalten ändern? Wie geht soziales Lernen vor sich, wie geht Verhaltensverände­ rung und was kann die Politik dazu beitragen? In Ihren Vorträgen sprechen Sie oft von Effi­ zienz, erwähnen die Suffizienz aber nicht speziell. Warum? Ich glaube, dass viele Leute ohnehin bald weniger konsumieren werden – gezwungener­ massen, weil es ja leider diese prekären Arbeits­ verhältnisse gibt, wo die Leute trotz drei oder vier Jobs ihre Familie nicht ernähren können. Es gibt Menschen, die von der Gesellschaft im Stich gelassen werden, und viele Jugendliche, die ihre Schulbildung nicht zu Ende bringen oder keine Jobs mehr kriegen. Diese Entwick­ lungen finde ich persönlich sehr beängstigend. Es gibt ja Experten, die voraussagen, dass die Systeme zusammenbrechen werden, dass wir anarchistische Zustände haben werden. Dann würde es hier richtig abgehen. Ich hoffe das nicht. Aber die Lebensstile werden sich ändern müssen, da bin ich mir sicher. Sind Teilen und Zusammenstehen in der näheren Zukunft die grösseren Themen als Effizienz und Suffizienz? Ja, wir sind in einem Zeitalter der Koopera­ tion und das wird sich noch verstärken. Wir wer­ den es nur schaffen, die Krisen halbwegs zu meistern, wenn es uns gelingt, den verbreiteten Egoismus und die Machtpolitik einzudämmen. Wir müssen stattdessen schauen, was wir ge­ meinsam an coolen und interessanten Projekten machen können. So entsteht eine neue Bewe­ gung – viele Ansätze gibt es bereits. Wir können nicht weiter auf die Politik und die Unterneh­

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men warten, sondern müssen das selber in die Hand nehmen. Dabei möchte ich helfen, zum Beispiel auch mit unserer offenen Innovations­ plattform. Was empfehlen Sie Leuten, die Angst vor Konsumverzicht haben? Einfach mal den Fernseher in den Keller stellen, den Laptop nach der Arbeit zuklappen und in der gewonnenen Zeit schöne Dinge tun, beispielsweise mit Freunden und Familie ko­ chen oder Sport treiben. Und leckere, fleischlose Gerichte ausprobieren. Bei schönem Wetter mit dem Fahrrad zur Arbeit oder zum Einkaufen fahren, auf dem lokalen Wochenmarkt einkau­ fen, vor allem langlebigere Produkte bevorzugen, die man in zwei Jahren immer noch besitzen möchte. Und öfter mal freundlich mit den Nach­ barn reden.

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mende Generation, die mit ihrer heutigen Sozi­ alisierung dafür sorgen wird, dass sich eine Menge ändert.

Zur Person — Die Designforscherin Ursula Tischner studierte Architektur, Kunst und Produkt-Industrial Design. Nach ihrem Masterabschluss war sie mehrere Jahre an der Schnittstelle von Design und Umweltfor­ schung am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie tätig. Seit 1996 betreibt sie in Köln eine Agen­ tur für nachhaltiges Design, berät Unternehmen und Regierungen, publiziert regelmässig und unterrichtet an Hochschulen, darunter auch schon an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK).

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Essay

Die Märchen der Werbe­industrie

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Die Werbeindustrie bezeichnet sich gerne als kreativ. Doch wenn wir be­ trachten, was alles durch den Äther schwirrt und an Plakatwänden klebt, ist dies kaum berechtigt. Hätte sich die Menschheit stets auf dem Kreativi­ täts- und Innovationsniveau der Werbeindustrie bewegt, würden wir wohl immer noch in Höhlen sitzen und uns grunzend über das Wetter oder den Büffeleintopf verständigen. Die Kreativität der Werber rührt woanders her, nämlich vom Selbstbild ihrer gesellschaftlichen und – damit verknüpft – ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung. Text Christian Hänggi Die Apologeten der Aufmerksamkeitsmaschinerie erzählen uns über ihre Branche je nach Bedarf zwei Geschichten mit unterschiedlicher Stossrichtung. Gemäss der ersten ist die Werbeindustrie ein bedeutender Wirtschaftsmotor. Sie schafft Arbeitsplätze und informiert Konsumentinnen und Konsumenten über neue, nicht selten höchst innovative Erzeugnisse («mit neuer Formel!»), von denen diese sonst niemals erfahren würden, obwohl sie derart bahnbrechend sind. Dank Werbung lässt sich mehr Absatz erzielen. Sie hilft dem Wachstum, dem wichtigsten Gradmesser kapitalistischen Wohlstands, auf die Sprünge. Weil den Werbern bewusst ist, dass nicht alle Produkte bei der Bevölke­ rung und der Politik gleichermassen beliebt sind, verbreiten sie eine zweite Ge­ schichte, die auf Tabak und Alkohol zugeschnitten ist. In diesem Fall führt die Werbung nicht dazu, dass mehr konsumiert wird – Gott bewahre –, es werden nur Marktanteile verschoben: Wer sein Leben lang eine Zigarettenmarke geraucht hat, wechselt plötzlich zu einer anderen Marke, weil diese gerade eine tolle Werbekam­ pagne fährt. Beide Geschichten haben zweifellos ihren Reiz. Doch bei beiden handelt es sich um Märchen. Ich habe jedenfalls noch keine glaubwürdige Studie gesehen, welche die Wachstums- oder die Marktanteil-These überzeugend belegen würde. Der Branche ist das egal, denn Werbung orientiert sich nur ungern an unabhängig erhobenen Fakten, sondern lieber an süffigen Geschichten. Würde die Werbung den Absatz bestimmter Produkte tatsächlich ankurbeln, hätte sie eine erhebliche Mitverantwortung für die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und der Arbeits­ kräfte. Doch davon wollen die Werber selbstverständlich nichts wissen. Jede Werbung wirbt für die Werbung Wie also wirkt Werbung? Der kanadische Medienguru Marshall McLuhan stellte einmal fest: «Jede Werbung wirbt für die Werbung.» Jede Werbetafel, jeder TV-Spot, jedes Zeitungsinserat wirbt für das Medium Werbung, ganz unabhängig davon, ob für Nestlé oder Greenpeace. Jede Werbung zementiert so die Vorstellung, dass Werbung etwas Natürliches ist, dass sie in unserer Gesellschaft einen festen

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Platz hat und haben soll. Werbung hat etwas Selbstverstärkendes, Selbstbejahen­ des, und was bejaht wird, ist der Status quo. Dieser Status quo ist – hierzulande und fast überall – das kapitalistische Gesellschaftssystem mit seiner Konsumhaltung und seinen Wachstumsfantasien. Jede Werbung zeigt zunächst einmal, dass nur jene werben, die auch das nötige Geld dafür haben. Sie zeigt, dass es erstrebenswert ist, finanzkräftig zu sein, weil man sonst seiner Stimme keinen Ausdruck verleihen kann. Die meisten Pro­ dukte und Dienstleistungen, die beworben werden, haben Werbung auch nötig, weil sie in hohem Grad irrelevant und austauschbar sind und auf dem freien Marktplatz der Ideen kein Hahn danach krähen würde. Kommt dazu, dass Werbung die Obsoleszenz fördert, also das frühzeitige Ersetzen von Sachen, die noch brauchbar oder zu reparieren wären. Wir machen mit, weil wir das Konsumdenken längst verinnerlicht haben. Die Werbung macht uns aber auch glauben, dass alles, was wichtig ist, kurz, knapp und eingängig gesagt werden kann. In der Werbung ist kein Platz für komplexe Sachverhalte oder differenzierte Betrachtungen: Dieselben Slogans können für Autos, Computer oder Shampoos eingesetzt werden. Tiefere Wahrhei­ ten existieren nicht. Weiter zeigt jede – zumindest jede kommerzielle – Werbung, dass Konsum gut ist und zu Glück, Schönheit und gesellschaftlichem Ansehen führt. Dies, so meine ich, ist der Kern der Werbung als Wirtschaftsmotor: Sie zeigt uns ein Bild der Welt, in der die Menschen nicht in erster Linie Bürgerinnen oder Bürger sind, nicht Mütter, Liebhaber, Spinner oder Flaneurinnen, sondern Konsumentinnen und Konsumenten. Beleidigung für den Intellekt Die einzigen Werbekampagnen, die in der Bevölkerung zu reden geben, sind politisch, meist von aussen rechts. Diese beleidigen den Intellekt nicht weniger als eine Werbung für ein Elektronikfachhandelgeschäft oder eine Zahnpasta, sind aber oft besser gestaltet. Meine vielleicht etwas gewagte These ist, dass diese Po­ litkampagnen Kontroversen auslösen, weil sie an zwei entscheidenden Punkten von der kommerziellen Werbung abweichen. Erstens zeigen sie uns, dass wir nicht nur Konsumenten sind, sondern Bürgerinnen. Sie zwingen uns zu einer gesell­ schaftlichen Auseinandersetzung, was mehr Anstrengung erfordert, als ein neues Shampoo zu kaufen oder eben auch nicht. Zweitens erlauben sie uns, wenn wir die entgegengesetzte Meinung vertreten, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen und uns von ihnen abzugrenzen. Bei kommerzieller Werbung hingegen sind wir bereits Teil des Systems. Deshalb werden, wenn überhaupt, politische Plakate heruntergerissen und nicht jene von Unternehmen, die Lobbyarbeit betreiben, Gewerkschafter verschwinden

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lassen, unmenschliche Arbeitsbedingungen dulden, Umweltkatastrophen provo­ zieren, Daten sammeln oder Öffentliches privatisieren. Darauf getrimmt, dass wir primär Konsumenten sind und sich unsere Wahlfreiheit auf den Kaufentscheid beschränkt, finden wir es fast undenkbar, ein der Eigentumsgarantie unterstehen­ des Plakat eines schmutzigen Unternehmens zu zerstören. Jede Werbung wirbt für die Werbung. Werbung ist das Produkt, das mit Abstand am meisten beworben wird. Jede Werbung für ein Bioprodukt, ein «Öko»Auto oder eine linke Politikerin bewirbt gleichzeitig das System Werbung – und damit das System Konsum. Lässt sich daran etwas ändern? Ich wurde einmal gebe­ ten, einen Beitrag für das Greenpeace-Handbuch «Ratschläge und Einblicke für ein grüneres Leben» (Applaus Verlag, 2013) zu schreiben. Erwünscht waren Rat­ schläge, wie man sich vor Werbung schützen oder sie bekämpfen kann – alles na­ türlich im legalen Bereich. Nachdem ich jahrelang gegen kommerzielle Aussen­ werbung angetreten bin und die Erfolgsbilanz ernüchternd ist, bin ich zur Einsicht gekommen, dass die Strukturen zu festgefahren sind, als dass sich gegenwärtig etwas Handfestes ändern liesse. Oder doch? Als kleine Hommage an den grossartigen Werber Howard L. Gossage, der stets einen Coupon auf seine Anzeigen druckte, mit dem man seine Meinung kundtun und etwas Nettes gewinnen konnte, freuen wir uns über Ihre Ideen. Die beste wird mit einem Exemplar des Greenpeace-Handbuchs honoriert.

Zur Person — Der Medienökologe und freiberufliche Texter Christian Hänggi ist Co-Präsident der IG Plakat | Raum | Gesellschaft, die sich für weniger Aussenwerbung in Stadt und Kanton Zürich einsetzt. Er unterrichtet Medien- und Kommunikations­fächer an der Ramkhamhaeng University in Bangkok sowie zeitgenössische amerikanische Literatur an der Universität Ba­ sel. Sein Buch «Gastfreundschaft im Zeitalter der medialen Repräsentation» (Passagen Verlag, 2009) plädiert für einen ethischen Umgang mit der Reizüberflutung durch Werbebotschaften.

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Ideen, wie man Werbung in die Schranken weisen könnte, an: Greenpeace Redaktion Magazin Badenerstrasse 171 Postfach 9320 8036 Zürich Oder per E-Mail an: redaktion@greenpeace.ch

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Buchtipps

FUTURZWEI

Zeitwohlstand

Zukunftsalmanach 2015/16 Geschichten vom guten Umgang mit der Welt

Wie wir anders arbeiten, nachhaltig wirtschaften und besser leben

Von Harald Welzer, Dana Giesecke und Luise Tremel

Vom Konzeptwerk Neue Ökonomie e.V.

Alternativlos? Gibt es nicht. Der zweite FUTURZWEI-Zukunfts­ almanach erzählt in 83 Geschichten von gelebten Gegenentwürfen zur Leitkultur des Wachstums und der Verschwendung. Das Schwer­ punktthema ist Material – es geht um Rohstoffgewinnung und Güter­ produktion, um Konsum und Ab­ fall. Der Blick richtet sich auf das Politische und wie immer ins Futur II: Werden wir für ein Weni­ ger an Stoff, Konsum und Unge­ rechtigkeit bereit gewesen sein? Fünf Schriftsteller erzählen, wie in naher Zukunft mit Rohstoffen und Konsumprodukten umgegan­ gen werden könnte. Fischer Verlag ISBN: 978-3-596-03049-1 Fr. 24.50 www.fischerverlage.de

Was ist heute eigentlich Wohl­ stand? Wie können wir so leben, dass es allen Menschen gutgeht und wir innerhalb der ökologi­ schen Grenzen wirtschaften? Die Lösung könnte in einer anderen Wertschätzung der Zeit liegen. Die Autorinnen und Autoren stel­ len deshalb die Frage, was ein gutes Leben ist, und betrachten die Rolle von Zeit, Arbeit und einer intakten Umwelt für unser Wohlbefinden. Leicht verständ­ lich und doch fachlich fundiert bietet das Buch einen anregenden Einstieg in die Debatte um nach­ haltiges Wirtschaften und ent­ wickelt Visionen einer gerecht gestalteten Zukunft. Wer gerade zwei supraleitfähige Rohre und etwas Helium zur Hand hat, kann mit der enthaltenen Anleitung auch gleich eine Zeitmaschine bauen. Oekom Verlag München, 2013 ISBN-13: 978-3-86581-476-0 Fr. 23.90 www.oekom.de Erhältlich auch als E-Book

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Access – das ­Verschwinden des ­Eigentums

Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden Von Jeremy Rifkin Materielles Eigentum war gestern. Die Zukunft gehört virtuellen Gütern – und dem Zugriff auf sie. Unter dem Stichwort «Access» brachte Jeremy Rifkin diesen Trend schon vor einigen Jahren auf den Punkt. Heute gibt ihm die Realität Recht: Seine Thesen sind aktueller denn je. Aus dem Englischen von Klaus Binder und Tatjana Eggeling 2007, 3. Aufl. mit akt. Vorwort Campus Verlag ISBN: 978-3-593-38374-3 Fr. 34.90 www.campus.de


Buchtipps

Die NullGrenzkostenGesellschaft Von Jeremy Rifkin Das Internet der Dinge, kollabora­ tives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Aus dem Englischen von Bernhard Schmid Campus Verlag, 2014 ISBN: 978-3-593-39917-1 Fr. 38.50 www.campus.de Auch als E-Book erhältlich

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Intelligente Ver­ schwendung

Kaufen für die ­Müllhalde

The Upcycle: Auf dem Weg in eine neue Überflussgesellschaft

Das Prinzip der geplanten ­Obsoleszenz

Von Michael Braungart und William McDonough

Von Jürgen Reuss und Cosima ­Dannoritzer

Abfall war gestern, ab sofort gibt es nur noch Nährstoffe. Alle Produkte verbleiben in einem ste­ ten Kreislauf und es werden nur noch gesunde, unbedenkliche Materialien eingesetzt. Was wie eine Vision aus einer fernen Zu­ kunft klingt, ist vielerorts bereits Realität, und das Konzept hat einen Namen: Cradle to Cradle. In ihrem aktuellen Buch ge­ hen seine Begründer nun einen Schritt weiter: Im Fokus steht nicht mehr nur das kluge Design einzelner Produkte, beim «Upcyc­ ling» geht es um die Vervoll­ kommnung unseres Lebensstils – um gesundes Wohnen, freudvolles Arbeiten und die Errichtung zu­ kunftsfähiger Städte. Das Buch ist ein zutiefst positiver Zukunfts­ entwurf, eine überzeugende Einla­ dung, Teil der «Aufwärtsspirale des Lebens» zu werden. Umweltbuch des Monats November 2014 ausgezeichnet von der Deutschen Umweltstiftung Oekom Verlag München, 2013 ISBN: 13: 978-3-86581-316-9 Fr. 25.90 www.oekom.de Auch als E-Book erhältlich

Ein Produkt, das nicht kaputtgeht, ist der Albtraum des Kapitalis­ mus. Der Konsum ist der Motor unseres Wirtschaftssystems. Und so werfen wir weg und kaufen neu, anstatt zu reparieren – zumal das heute oft billiger ist. Seit dem Glühbirnen-Kartell der 1920er Jahre halten viele Produkte nicht so lange, wie sie eigentlich könn­ ten: Glühdrähte brennen vorzeitig durch, Laserdrucker stellen die Arbeit auf chipgesteuerten Befehl hin ein und alle drei Jahre muss ein neuer Computer her, da der alte mit dem neusten Betriebs­ system nicht mehr Schritt halten kann. Dahinter steckt System: «Geplante Obsoleszenz» heisst das Prinzip, das die vorsätzliche Verkürzung der Lebensdauer von Beginn an vorsieht. Dank Billig­ produktion und verschwenderi­ schem Rohstoffeinsatz ist es zum Grundpfeiler der Überflussge­ sellschaften und ihres Fetischs Wirtschaftswachstum geworden. Eine weltweite Flut von Wohl­ standsmüll und schwindende Res­ sourcen sind die Folge. Spannend wie ein Thriller, dabei aber fundiert und inspiriert

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Buchtipps erzählt «Kaufen für die Müllhal­ de», wer sich dieses Mittel zur Ankurbelung der Konjunktur aus­ gedacht hat und wie es zum Motiv unseres eigenen Handelns werden konnte. Das Buch beruht auf den mehr­ jährigen Recherchen zum gleich­ namigen Dokumentarfilm, der mehrfach im TV ausgestrahlt (Arte, ORF) und diskutiert wurde. Orange Press ISBN: 978-3-936086-66-9 Die schillernde Welt des Konsums Fr. 27.50 umgibt, verführt und führt uns, www.orange-press.com indem sie unsere Handlungen lenkt. Es ist dieser Teil eines glo­ balen Kreislaufs, den wir nicht sehen und nicht sehen wollen. Kaum einer verliert einen Gedan­ ken ans Danach: was mit den Gegenständen unseres Begehrens passiert, ohne die wir nicht mehr leben zu können glauben, wenn wir sie ablegen und durch immer neue ersetzen. Die Konsequenz: all die Abfälle, die wir täglich pro­ duzieren, verschwinden aus un­serem Blickfeld und stranden in Afrika, China oder Indien, um dort zu verrotten oder teilwei­ se rezykliert zu werden. Hier begibt sich der Künstler Raphael Perret auf Spurensuche nach den Ausscheidungsprodukten unserer Konsumgesellschaft. Er zeigt den Zerfall und die Transfor­ mation dessen, was uns für immer kürzer werdende Zeit so kostbar scheint. Seine Sujets stellen die Kehrseite der Farbenpracht der ewig neuen, glänzenden Gadgets in den Verkaufsregalen dar: wel­ chen Wert sie anderswo erlangen, wie sie Landschaften verändern und was es für die Menschen be­ deutet, in deren Heimat unser Müll abgeladen wird. Der Künstler Perret zeigt, welches Erbe wir

Machines of Desire

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diesen Ländern hinterlassen, und bringt es in anderer Form und neuer, zwiespältiger Schönheit zurück. Fr. 48.– www.amselverlag.ch


Buchtipps

Suffizienz als politische Praxis: Ein Katalog Von Manfred Linz Wie kann die Notwendigkeit der Suffizienz in der breiten Bevöl­ kerung Wurzeln schlagen? Da gibt es zunächst die Hoffnung auf einen kulturellen Wandel, in dem die immateriellen Werte des Le­ bens besser verstanden und mehr geschätzt werden. Es gibt inzwi­ schen viele Initiativen, um suffizi­ entes Leben und Wirtschaften in die Öffentlichkeit zu tragen, Aufmerksamkeit für sie zu gewin­ nen und für sie zu werben. Auch lehrt der Alltag inzwischen Suffizi­ enz. Da das tägliche Leben teurer geworden ist und weiter teurer werden wird, wächst auch die Ein­ sicht in die Grenzen des Konsums, zusammen mit der Erfahrung, dass massvoller Genuss die Le­ bensfreude nicht schmälert. Der Katalog verschiedener Arten von Suffizienzpolitik ist nicht nach Sachgebieten aufgebaut, sondern nach Eingriffstiefe und vermutlicher Akzeptanz der Mass­ nahmen. Im ersten Kapitel stehen Politiken, die wohl die Zustim­ mung des grössten Teils der Bevöl­ kerung finden werden, weil sie ihr Leben erleichtern oder jeden­ falls nicht beschweren. Ihr Ertrag für den Klimaschutz und die

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Ressourcenschonung ist freilich begrenzt. Der zweite Teil ent­hält Politiken, die Umstellungen und neues Nachdenken erfordern, die einen spürbaren Eingriff ins Gängige bedeuten, für die Routi­ nen gewechselt und neue Gewohn­ heiten gefunden werden müssen, die aber keinen tiefgreifenden Wandel der Lebensweise erfordern. Ihr Beitrag zum Erhalt der Natur fällt durchaus ins Gewicht. Im dritten Teil sind Politiken zu fin­ den, die ins gewohnte Leben und Wirtschaften eingreifen, ein gründliches Umdenken und auch Verzicht erfordern. Dafür leisten sie einen entscheidenden Beitrag zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Die vorgestellten 30 Politiken sind keine erschöpfende Aufstellung, sondern dienen als Beispiele: ein Strauss von Möglichkeiten mit sehr unterschiedlicher Reichweite. http://epub.wupperinst.org/ files/5735/WS49.pdf

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Die Berufsschule Ecole Professionnelle du Bâtiment (Eproba) in Kinshasa kann nun auch Solartechniker ausbilden – dank einer Solaranlage, die sie zu ihrem 25-Jahr-Jubiläum erhalten hat. Den Fortschritt ermöglichte die Berner Nonprofitorganisation Sol­africa mit Unterstützung von Greenpeace Schweiz. Solafrica hat sich auf die Verbreitung von Solarenergie in afrikanischen Ländern spezialisiert. Im Fokus steht die Ausbildung der lokalen Bevölkerung. Zu den Gründern der Schule gehört der Schweizer Hans Greuter. Als er Kinshasa 1962 als junger Sekundarlehrer im Auftrag des evangelischen Hilfswerks erstmals besuchte, zählte die Stadt rund 500 000 Einwohner. Heute leben mehr als 9 Millionen Menschen in der Kongo-Metropole, die ihr stürmisches Wachstum ohne Raumplanung, Baurecht, Strom- und Wasserversorgung bewältigt hat. Die meisten Zuwanderer kamen in der Hoffnung auf Arbeit und Sicherheit. Doch Greuter sagt, es mangle an allem. Am schlimmsten ist für ihn die Hoffnungslosigkeit der jungen Menschen. Zusammen mit einem lokalen Bauunternehmer, dessen Schweizer Frau bereits eine PrimarKonzernverantwortungsund Sekundarschule in Kinshasa gegründet hatte, implementierte Greuter an der Eproba ein duales Initiative – Schweizer Multis Berufsbildungssystem nach Schweizer Vorbild. in die Pflicht nehmen Dank der Ausbildung können die Absolventen direkt ins Berufsleben einsteigen. Die Finanzierung der Immer wieder sind Schweizer Konzerne im Schule gewährleistet das ökumenische Hilfswerk Ausland – vor allem in der Dritten Welt – in Skandader beiden Kilchberger Kirchgemeinden – eine Ver- le um Raubbau an der Natur und Menschenrechtsbindung, die auf Greuter zurückzuführen ist. verletzungen verwickelt. Juristisch sind sie dafür

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© N ic o las Chau veau / G r een peace

© s ol a f r ica

Kampagnen-News

Kongolesische Berufsschule bildet Solartechniker aus

Bis anhin wurden an der Eproba Maurer, Schreiner, Sanitärinstallateure, Elektriker und Hochbauzeichner ausgebildet. Dank der neuen Solaranlage können die angehenden Elektriker nun auch in Solartechnik unterrichtet werden. Die Übergabe der Anlage wurde mit einem grossen Anlass gefeiert, an dem lokale Medien, Vertreter der Bildungsbehörde sowie der Schweizer Botschafter Christian Gobet anwesend waren. Dieser zeigte sich vom Projekt begeistert, da die Schule ihren Betrieb nun unabhängig vom störungsanfälligen staatlichen Stromnetz führen kann und für die frisch ausgebildeten SolarelektrikerInnen ausgezeichnete Berufschancen bestehen. In Kinshasa ist ein Stromanschluss für die meisten Menschen ein unerreichbarer Luxus. Die Nutzung der Sonnenenergie hat nicht nur den Vorteil, umweltfreundlich zu sein. Sie ermöglicht den Menschen auch die Unabhängigkeit vom staatlichen Stromnetz und eine unbeschränkte, beständige Versorgung mit sauberer Energie. Unterstützen Sie die Kampagne unter www.solafrica.ch!


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tigt. Der Konzern übernahm erst Verantwortung, als er für die Ereignisse international geächtet wurde. Insbesondere in Entwicklungsländern ist der Staat oft nicht in der Lage, den Schutz von Mensch und Umwelt gegenüber den Aktivitäten international tätiger Konzerne zu garantieren. Viele multinationale Unternehmen sind in der Schweiz beheimatet. Pro Kopf der Bevölkerung weist unser Land weltweit die höchste Dichte an international tätigen Firmen auf und ist die Nummer zwei, was Direktinvestitionen im Ausland betrifft. Die Unterschriftensammlung startet im Mai. Sie können diese auf www.rechtohnegrenzen.ch downloaden.

© To m Jef f er so n  / G r een peace

kaum zu belangen. Bundesrat und Parlament waren bisher nicht bereit, rechtlich verbindliche Verhaltensnormen für Unternehmen mit Sitz in der Schweiz zu formulieren. Das will eine Koalition von 50 Nichtregierungsorganisationen, der auch Greenpeace angehört, nun ändern: Mit ihrer Volksinitiative «Für verantwortungsvolle Konzerne – zum Schutz von Mensch und Umwelt» (Konzernverantwortungsinitiative) wollen sie in der Schweiz eine Sorgfaltsprüfungspflicht für alle Schweizer Unternehmen gesetzlich verankern. Diese umfasst eine Risikoabschätzung vor Ort, Massnahmen zur Vermeidung und Beendigung allfälliger Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden sowie eine umfassende Berichterstattung. Die Sorgfaltsprüfungspflicht, die sich auf alle Geschäftsbeziehungen einer Firma erstrecken soll, orientiert sich an den Uno-Leitprinzipien. Die Initiative möchte zudem gesetzlich verankern, dass die Schweizer Unternehmen im Falle einer Nichtbeachtung dieser Sorgfaltspflicht auch für den Schaden haften, den die von ihnen kontrollierten Unternehmen aufgrund der Verletzung von Menschenrechten oder internationalen Standards zum Schutz der Umwelt verursacht haben. Zwei Beispiele belegen die Notwendigkeit der Initiative: An einem Augustmorgen im Jahr 2009 fühlten sich Zehntausende von Menschen in Abidjan (Côte d’Ivoire) plötzlich krank. Sie litten an Übelkeit, Brechreiz, Kopfschmerzen, Hautreizungen und Atemproblemen. Was sie nicht wussten: In der Nacht hatte der Frachter Probo Koala im Auftrag des damaligen Schweizer Konzerns Trafigura illegal 500 Tonnen Giftmüll an mindestens 18 verschiedenen Stellen deponiert. Die Firma musste dafür in der Côte d’Ivoire nie geradestehen. Als im Mai 2011 Sicherheitskräfte in Yalisika (Demokratische Republik Kongo) schwere Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung begingen, war auch ein Schweizer Konzern involviert: Die Danzer-Tochter Siforco hatte ihr Versprechen nicht gehalten, die Menschen für die Abholzung des Urwalds mit dem Bau einer Schule und eines medizinischen Zentrums zu entschädigen. Stattdessen rief Siforco Soldaten herbei, als es zu Ausschreitungen kam. Ein Dorfbewohner starb, mehrere Frauen und Mädchen wurden vergewal-

Der Schutz der Weltmeere rückt näher Nach jahrelangen politischen Auseinandersetzungen und hektischen Verhandlungstagen in der Uno gelang am 24. Januar der Durchbruch: Weltweit stimmten Regierungen zu, ein verbindliches Abkommen zu entwickeln, um maritimes Leben in internationalen Gewässern zu schützen. Dieser historische Entscheid wäre nicht möglich gewesen ohne den leidenschaftlichen Einsatz von Meeresschützern. Allein in der Woche vor der Abstimmung liess #oceanlovers mit über 6000 Tweets und Tausenden Facebook-Posts die Uno-Delegierten wissen, dass die Welt endlich Taten sehen will. Der Uno-Beschluss bietet die Chance, weltweite Standards für den Meeresschutz durchzuset-

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Kampagnen-News

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© T he U nited S tates C oa s t G ua r d

zen, etwa in Form von obligatorischen Umweltschutzprüfungen, ehe grünes Licht für Projekte gegeben wird. Zur zentralen Herausforderung wird die Zusammenarbeit zwischen Meeresschutzorganisationen und den Regulationsbehörden für Fischerei, Abbau, Schifffahrt und Verschmutzung. Auch wenn dieser Prozess viel Zeit erfordert: Die «Wave of Change» (#waveofchange) für den Schutz der grössten Biosphäre der Erde ist ins Rollen gekommen. Seit Greenpeace mit der Roadmap to Recovery die Regierungen erstmals aufgefordert hat, einen globalen Kataster von Meeresschutzgebieten aufzustellen und 40 Prozent der weltweiten Ozeane zu schützen, ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen. Das bahnbrechende Projekt mündete in die Kampagne für das Uno High Seas Biodiversity Agreement, die stetig gewachsen ist und Tausende UnterstützerInnen weltweit angezogen hat. Der internationale Druck führte schliesslich dazu, dass auch mächtige Staaten wie die USA umschwenkten, die sich jahrelang gegen das Abkommen ausgesprochen hatten. Vor der «Our Ocean»-Konferenz in Washington hatten verschiedene Greenpeace Länderbüros und viele andere Organisationen Tausende von Tweets an den US-Aussenminister John Kerry geschickt – mit der Aufforderung, sich an der Veranstaltung für den Schutz der Weltmeere einzusetzen. Kerry räumte ein, dass ihn die Aktion nicht kaltgelassen habe: «Die Ocean-Bewegung ist ein hartnäckiges Völkchen!»

Shell treibt Risikoprojekt in der Arktis voran Shell buhlt bei der US-Regierung um eine Lizenz für Ölbohrungen in der Arktis – mit Aussicht auf Erfolg. Knapp fünf Jahre nach der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko sieht ein US-Plan zur Energieförderung für 2017 bis 2022 vor, dass in zwei ebenso abgelegenen wie sensiblen Meeresgebieten nach Öl gesucht werden darf: in der Beaufort- und der Tschuktschensee nördlich von Alaska. Beide Regionen verfügen weder über eine ausreichende Präsenz der Küstenwache noch über die Infrastruktur, um angemessen auf ein Ölunglück zu reagieren. Dabei schätzt die US-Regierung die Wahrscheinlichkeit für einen oder sogar mehrere schwere Unfälle auf 75 Prozent. «Es ist unverantwortlich, angesichts dieser enormen Risiken weitere Gebiete der Arktis für die Ölindustrie freizugeben», sagt Lisa Maria Otte, GreenpeaceExpertin für die Arktis. Eine erst kürzlich in der Fachzeitschrift «Nature» veröffentlichte Studie warnt vor weiteren Folgen: Wenn der globale Temperaturanstieg zwei Grad Celsius nicht übersteigen soll, muss das Öl aus dem Arktischen Ozean im Boden bleiben. Dessen ungeachtet treibt Shell seine Pläne voran. So auch Gazprom: Der russische Staatskonzern ist bisher der erste und einzige, der nördlich der arktischen Eisgrenze nach Öl bohrt. Beide Unternehmen setzen eine einzigartige Region aufs Spiel: Die Arktis ist die Heimat indigener Völker und endemischer Tierarten wie der Eisbären oder der Narwale. Doch es gibt auch Hoffnung auf eine Trendwende: Vor Grönland verlassen Ölfirmen ge-

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rade die Arktis und geben ihre Bohrlizenzen zurück. Und die norwegische Statoil gab jüngst bekannt, ihre Arktis-Pläne mindestens für dieses Jahr auf Eis zu legen.

Verleihung des Schmähpreises und zur Abschiedsfeier. Die legendären US-Aktivisten «The Yes Men» führten exklusiv ihr «Requiem auf das WEF» auf, gefolgt von einer Retrospektive des deutschen Europaparlamentariers Sven Giegold. Dieser würdigte das Public Eye, das 15 Jahre lang einen kritischen Blick auf die Geschäftspraktiken von Unternehmen geworfen und zivilgesellschaftlichen Organisationen eine Plattform geboten habe, um die Verletzung von Menschen- und Arbeitsrechten sowie Umweltzerstörung und Korruption öffentlich und medienwirksam anzuprangern. Am anschliessenden Podiumsgespräch diskutierten die Keynote Speaker mit der Arbeitsrechtsaktivistin Anannya Bhattacharjee, WEF-Kommunikationschef Adrian Monck und Andreas Missbach, Geschäftsleitungsmitglied der EvB, über die Zukunft der Globalisierungskritik. publiceye.ch/de

Public Eye Lifetime Award geht an Chevron Chevron, einer der grössten Ölkonzerne der Welt mit Sitz in San Ramon (Kalifornien, USA) und Fortaleza (Brasilien), kann sich einer zweifelhaften Ehre erfreuen: Der US-Multi hat von Public Eye den ultimativen Schmähpreis verliehen bekommen: den Public Eye Lifetime Award. Aus der «Hall of Shame», in der alle Gewinner der letzten zehn Jahre verewigt sind, hat die Fachjury die Shortlist für diese letzte Online-Abstimmung zusammengestellt. Vom 19. November 2014 bis zum 22. Januar 2015 stimmten weltweit über 60 000 Menschen ab und erkoren Chevron zum Sieger aller Sieger – 2006 hatte der Konzern den Preis in der Kategorie Umwelt für die Verschmutzung grosser Teile noch unberührten Urwalds im Norden Ecuadors erhalten. Bis heute weist das Unternehmen jegliche Verantwortung für eine der wohl schlimmsten Umweltkatastrophen von sich. Trotz eines mehr als 20 Jahre dauernden Rechtsstreits konnte sich Chevron bis anhin jeglicher Bestrafung entziehen. Am 23. Januar trafen sich im Davoser Hotel Montana über 100 Interessierte, Medienschaffende und Vertreter befreundeter NGOs zur letzten

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Essay

Das Wood Wide Web im Pflanzenreich Bei den Pflanzen geht es auch nicht immer harmonisch zu und her. Es gibt Konkurrenzkampf, Vetternwirtschaft, Verdrängung und Vertreibung. Pflanzen sind stark im Vernetzen, Austauschen und Eingehen von Kooperationen. Sie mit uns Menschen zu vergleichen, wäre nicht korrekt. Während wir Wachstum über alles setzen und dabei Ressourcen verbrauchen, bis sie erschöpft sind, haben Pflanzen die Fähigkeit, ihr Wachstum den Ressourcen anzupassen.

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Text Florianne Koechlin, Illustration Julie Petter

Ein Löwenzahn auf dem Mergelweg in meinem kleinen Garten unterscheidet sich gewaltig von einem Artgenossen einen Meter daneben im schattigen Gras. Der eine ist klein, mit ledrigen Blättern und fast stielloser, kleiner Blüte. Der andere ist hochgewachsen, mit grossen, dunkelgrünen, ausladenden Blättern und einer tiefgelben, duftenden Blüte. Gut möglich, dass sie beide von Samen derselben Eltern abstammen. Welch erstaunliche Anpassungsleistung! Es ist diese Eigenschaft, die Pflanzen befähigt, besonders suffizient und effizient zu gedeihen. Wenn wenig da ist, wachsen sie kaum, über­ leben aber trotzdem. Eine Katze würde bei anhaltendem Nahrungs­ mangel verhungern; sie könnte nicht einfach die Grösse einer Maus annehmen. Pflanzen sind sesshaft, können nicht davonrennen und müssen sich deshalb ihrer Umgebung anpassen. Eine weitere Eigenschaft, die Pflanzen zu grosser Effizienz und Suffizienz verhilft, ist ihre aktive Verbundenheit und Vernetzung mit der Umgebung. Eine Pflanze steckt nicht einfach im Boden und gedeiht allein: Unter dem Boden schafft sich jede Pflanze eine nährstoffreiche Oase im Wurzelstock. Sie «schwitzt» wertvolle Stoffe aus ihren Wurzeln und versorgt damit zig Millionen kleinster Lebe­ wesen: Pilze, Bakterien oder Viren. Im Austausch helfen diese der Pflanze, Nährstoffe aus dem Boden zu gewinnen, machen sie resistent gegen Krankheit, Hitze und Trockenheit, fördern das Wurzelwachs­ tum, neutralisieren Bodentoxine und wehren Schädlinge ab. Pflanzen und Mikroben sind intime Partner in praktisch jedem Lebensprozess, und das seit vielen Millionen Jahren. Wood Wide Web Die Kooperation reicht weit über den Wurzelbereich hinaus. Ein Wald etwa erscheint uns als Ansammlung individueller Bäume: Eichen, Buchen, Fichten, Erlen. Unter dem Boden aber bilden all diese Bäume gemeinsam mit Pilzen ein hochvernetztes, dynamisches Ganzes. Das unterirdische Netzsystem aus Baumwurzeln und Pilz­ fäden wird Mykorrhiza genannt, was auf Griechisch «Pilzwurzel» heisst. Alle Waldbäume und viele Pilze, zu denen auch bekannte Speisepilze wie Pfifferling, Röhrling oder Steinpilz gehören, sind Teil dieses riesigen Beziehungsnetzes. Es hat ein grösseres Volumen als die für uns sichtbaren Bäume über dem Boden. In der wissenschaft­ lichen Literatur nennt man es Wood Wide Web. Bei den Mykorrhizen profitieren meist beide Symbiosepartner, die Pflanzen und die Pilze. Die Pflanzen beliefern die Pilze mit Zuckerverbindungen, die sie mit Hilfe von Sonnenlicht herstellen. Die Pilzfäden führen den Pflanzen Wasser und Nährstoffe zu. Sie gelan­ Magazin Greenpeace Nr. 2 — 2015

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gen mit ihren mikroskopisch feinen Fäden in Bodenbereiche, die Pflanzenwurzeln nicht zugänglich sind. Pflanzen nutzen das gemeinsam gehegte unterirdische Netz auch, um überlebenswichtige Informationen auszutauschen. Bohnen, die mit Blattläusen infiziert sind, beginnen sich zu wehren – und ihre Nachbarinnen vor der drohenden Gefahr zu warnen. Versuche in China haben gezeigt, dass sich auch Tomatenpflanzen so verhalten, wenn sie vom Mehltaupilz befallen werden. Die alarmierten Pflanzen können sich schneller und besser zur Wehr setzen. Es handelt sich hier also um zwei Phänomene: die Symbiose Pilz mit Wurzel und das Austauschnetz der Wurzeln. Wenn eine Flachspflanze neben einer Hirsepflanze wächst und durch Mykorrhizapilze unterirdisch mit ihr verbunden ist, wird sie mehr als doppelt so gross, wie wenn sie neben ihresgleichen wächst. Eine Gruppe um Andres Wiemken von der Universität Basel konnte nachweisen, dass die Hirse einen grossen Teil ihrer Zuckerverbindun­ gen über das gemeinsame Wurzel-Pilz-Netz an den Flachs abgibt. «Man kann sagen, die Hirse füttert den Flachs», sagt Wiemken, obwohl Hirse und Flachs überhaupt nicht miteinander verwandt sind. Ein unterirdischer Bazar Anscheinend bilden Pflanzen in geeigneten Mischkulturen, wie sie früher in der Landwirtschaft gang und gäbe waren, unter dem Boden eine Art dynamischen Marktplatz, auf dem jede Pflanze überschüssige Nährstoffe abgibt und gegen solche eintauscht, die sie gerade benötigt. Klee und andere Leguminosen können Stickstoff liefern, Pflanzen mit langen Wurzeln wiederum, wie Sträucher und Bäume, können aus der Tiefe Wasser holen und an das gemeinsame Mykorrhizanetz abgeben. Andere Pflanzen können Phosphor oder Zuckerverbindungen freigiebig ins gemeinsame Pilz-Wurzel-Geflecht investieren. Auf dem unterirdischen Bazar herrscht ein ständiges Geben und Nehmen. Pflanzen sind exzellente Networkerinnen, was ihnen ein Überleben auch unter widrigsten Umständen ermöglicht und sie befähigt, besonders effizient und suffizient zu wachsen. Wie im Internet gibt es auch in dieser grossen unterirdischen Lebensgemeinschaft zuweilen Konkurrenz. Die Studentenblume Tagetes zum Beispiel «schwitzt» pflanzentoxische Stoffe – sogenannte Thiophene – aus den Wurzeln aus und braucht das Mykorrhizanetz, um die Toxine in der Umgebung zu verteilen. Diese hindern andere Pflanzen am Wachstum.

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Das Potenzial besser nutzen Die industrielle Landwirtschaft nutzt dieses Potenzial der Pflanzen kaum, im Gegenteil: Eine Maispflanze in einer Monokultur zum Beispiel wird von oben und unten bespritzt und gedüngt. Sie steht da wie eine Autistin. Es ist für sie obsolet geworden, sich unter dem Boden mit Kleinstlebewesen zu verbünden, sich zu vernetzen und mit Duftstoffen Nützlinge anzuziehen. Sie ist ganz von der Chemie ab­ hängig. Studien zeigen, dass Pflanzen in Monokulturen rund 40 Pro­ zent weniger Mykorrhizanetze aufbauen als solche im Biolandbau. Aber auch der Biolandbau und andere agrarökologische Systeme könnten die Fähigkeiten der Pflanzen noch viel besser nutzen und so effizienter und suffizienter werden. Nötig sind experimentierfreudi­ ge Bauern und Bäuerinnen, die sich, in Zusammenarbeit mit der Forschung, folgende Fragen stellen: Wie können wir die Bedingungen so gestalten, dass eine Kulturpflanze ihr Bestes gibt? Welche Mischkul­ turen eignen sich auch bei uns? Wie können wir die Abwehrkräfte einer Pflanze aktivieren, wie ihre Kommunikation mit Duftstoffen intensi­ vieren und wie das Heer von Helfern im Wurzelbereich gezielt fördern? Die heutige Landwirtschaft produziert rund 40 Prozent aller schädlichen Klimagase. Die Herstellung von synthetischem Dün­ ger und Pestiziden ist enorm energieintensiv, der Verbrauch an nicht erneuerbaren Ressourcen gross. Es ist höchste Zeit, dass auch hier Effizienz und Suffizienz verbessert werden. Dabei könnten Pflanzen unsere Lehrerinnen sein. Sie waren in der Evolution ungemein erfolgreich: Weit über 90 Prozent der gesamten Biomasse besteht aus Pflanzen. Website von Florianne Koechlin mit Buchhinweisen und Bildergalerie: www.floriannekoechlin.ch Win-win-Situationen Zwei Beispiele zeigen, wie man mit biologischen Methoden den Ertrag von Äckern steigern und Schädlinge effizient bekämpfen kann. Bei der seit alters her in Zentralamerika prak­ tizierten Drei-Schwestern-Landwirtschaft werden Mais, Bohnen und Kürbisse in einer Mischkultur angepflanzt. Der Mais liefert Kohlenhydrate und dient der Bohne als Stange. Die Bohne liefert Pro­ teine und Stickstoff. Der Kürbis gedeiht im Schat­ ten von Mais und Bohne, hält den Boden feucht und verhindert Erosion. In dieser Mischkultur pro­ duziert jede einzelne Pflanze mehr als in einer Mo­ nokultur. Für den renommierten Maisforscher Garrison Wilkes ist die Drei-Schwestern-Landwirt­ schaft «eine der erfolgreichsten menschlichen Er­ findungen aller Zeiten». In Ost- und Südafrika ist Mais das wichtigste Grundnahrungsmittel. Schädlinge wie der Stängel­ bohrer verursachen oft riesige Schäden und ver­ nichten bis zu 80 Prozent der Ernte. Die Bäuerin­

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nen und Bauern kennen jedoch eine effiziente biologische Methode, den Schädling mit Duftstof­ fen zu bekämpfen. Sie pflanzen die bodendecken­ de Bohnenpflanze Desmodium zwischen die Mais­ reihen. Ihr Geruch stösst den Stängelbohrer ab und vertreibt ihn aus dem Feld. Gleichzeitig bringt Des­ modium wertvollen Dünger (Stickstoff ) in den Bo­ den und schützt ihn vor Erosion. Das ist aber nur der erste Teil des Systems. Der andere besteht da­ rin, dass um die Felder herum drei Reihen Napier­ gras gesetzt werden. Der Duft dieses Grases zieht den Stängelbohrer an und lockt ihn aus dem Mais­ feld heraus. Das Napiergras produziert zudem ei­ nen klebrigen Stoff, der für die Larven des Stängel­ bohrers zur Falle wird. Auf diese Weise können die Maiserträge um bis zu 300 Prozent gesteigert wer­ den, ganz ohne Agrochemie und Gentechnik. Des­ modium und Napiergras ergeben zudem gutes Viehfutter. Mittlerweile setzen rund 90 000 Bau­ ern auf diese bewährte Methode.


Interview

© A nouk Garci a- A ki ri

«Wir finden kaum mehr Schutz» Interview mit dem I­ ndigenenführer Benki Piyãko

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Die Holzindustrie beutet die Regenwälder im Amazonasgebiet von Brasilien und Peru rücksichtslos aus, Widerstandskämpfer werden ermordet. Derweil haben die einhei­ mischen Ashaninka eine Million neue Bäume gepflanzt. Text greenpeace.de Bei der Begrüssung im Greenpeace-Büro in Hamburg ist er schweigsam, unnahbar und kühl: Benki Piyãko, Indigenenführer des Amazo­ nasvolks der Ashaninka, das in Brasilien und Peru lebt. Doch als das Interview beginnt, strafft sich sein Körper, der Blick wird wach, denn es geht um sein Volk, seine Heimat Brasilien – und um die Missstände und Gefahren dort. Engagiert berichtet er von der Ausbeutung des Regen­ walds, von korrupten Politikern und einer Holz­ fällermafia, die vor nichts zurückschreckt. Anfang September wurde einer seiner Freunde und Mitstreiter für Umweltschutz und Men­ schenrechte nahe der brasilianischen Grenze in Peru getötet, mit ihm starben drei weitere füh­ rende Aktivisten. «Man hat sie wie Tiere ge­ schlachtet», sagt Piyãko erbittert. Greenpeace: Ihr Mitstreiter, der bekannte Umweltaktivist Edwin Chota, ist tot. Was ist dem Mord vorausgegangen? Benki Piyãko: Edwin, der wie ich zum Volk der Ashaninka gehörte, lebte in Peru, wo er seit Jahren gegen die illegale Rodung kämpfte. Er war verzweifelt, denn die Holzindustrie bedroht die indigenen Völker und zerstört den Regen­ wald. Gemeinsam haben wir versucht, Unter­ stützung zu bekommen. Ich habe mich an viele Hilfsorganisationen gewandt, unter anderem auch an Greenpeace, habe Filmaufnahmen ge­ macht und die Geschehnisse dokumentiert. Das Problem ist, dass der Gouverneur der Regi­ on zugleich einer der grössten Holzhändler ist. Deshalb war er natürlich nicht daran interes­ siert, sich für unseren Schutz einzusetzen. Dazu kommt, dass die Regierung in Peru noch passi­ ver ist als jene von Brasilien. Auch Sie bekommen häufig Todesdrohun­ gen. Weshalb? Die peruanische Regierung sieht in mir eine Bedrohung, weil ich die Gemeinschaft der Asha­ninka über die peruanisch-brasilianische

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Grenze vernetze und mich für den ständigen Kontakt zwischen den Ashaninka-Gemeinden einsetze. Wir müssen zusammenhalten, uns austauschen und uns treffen. Was hat der Tod der Gefährten bei Ihnen ausgelöst? Er macht mich sehr traurig, bestärkt mich aber darin, weiter ohne Waffen gegen die Holz­ industrie und für die Rechte meines Volkes zu kämpfen – im Wissen, dass wir von den brasiliani­ schen Behörden keinen Schutz erwarten können. Wer sind die Ashaninka? In Brasilien leben 1300 Angehörige unseres Volkes. Sie verteilen sich im westlichen Bundes­ staat Acre auf vier Gebiete. Meine Gemeinschaft besteht aus etwa 600 Menschen, unser Land erstreckt sich über insgesamt 87 200 Hek­taren. Das Gebiet wurde 1992 von der brasilianischen Regierung als Schutzzone für mein Volk an­ erkannt. Im benachbarten Peru hingegen, wo zwischen 60 000 und 100 000 Ashaninka leben, will die Regierung nichts von Schutzgebie­ ten wissen. Das führt immer wieder zu Eigen­ tumskonflikten. Wie äussern sich diese Konflikte? Seit den 1980er Jahren dringen in Brasilien und auch in Peru immer mehr Holzhandels­ unternehmen in unsere Gebiete vor, um illegal Bäume zu roden. Wenn wir uns wehren, bedro­ hen uns die Holzfäller häufig. Aus Angst haben sich viele Ashaninka in entlegenere Regionen zurückgezogen. Doch mittlerweile gibt es kaum mehr Orte, wo wir Schutz finden. Bekommen Sie denn von niemandem Hilfe oder Unterstützung? Es gibt einige grössere Nichtregierungs­ organisationen, die sich für den Schutz unseres Volkes einsetzen und mit der brasilianischen Regierung in Kontakt stehen. Allerdings kennen sie die Probleme in unserer Region nicht sehr genau und bislang konnten sie nur wenig errei­ chen. Kleine Gemeinschaften wie wir werden meist überhört.

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Haben Sie selbst schon mit Regierungsver­ tretern gesprochen? Wir haben in Gesprächen auf die Illegalität der Abholzungen in unseren Gebieten hinge­ wiesen. In Peru haben Delegierte meines Volkes Dokumente vorgelegt, laut denen uns die Holz­ unternehmen als Ausgleich für die Rodungen Ausbildungs- und Gesundheitszentren bauen sollten. Doch die Versprechen sind nicht einmal das Papier wert, auf dem sie stehen. Weder die Regierung noch die Industrie setzen diese Pläne um. Sie selbst haben zwei Ausbildungsprojekte ins Leben gerufen. Ja, denn Bildung und Vernetzung sind die wichtigsten Pfeiler unserer Gemeinschaft. Seit 2007 vermitteln wir im Ausbildungszentrum Yorenka Atame in der Ortschaft Marechal Thaumaturgo im Bundesstaat Acre Umweltma­ nagement- und Naturschutzmodelle. Diese haben das überlieferte Wissen indigener Völker als Grundlage. Parallel dazu arbeiten wir im Projekt «Beija Flor» mit indigenen und nichtin­ digenen Kindern und Jugendlichen aus Marechal Thaumaturgo, damit sie die Möglich­ keiten zum Schutz des einzigartigen Ökosys­ tems Regenwald so früh wie möglich kennenler­ nen, anwenden und weitertragen. Im Zentrum lernen sie, nachhaltig mit natürlichen Ressour­ cen umzugehen und die heimische Biodiversität auszubauen und nutzbar zu machen. Auf dem Lehrplan stehen unter anderem auch Techniken zur Wiederaufforstung gerodeter Flächen. Wie treiben Sie die Wiederaufforstung voran? Weil sich von offizieller Seite niemand dar­ um kümmert, haben wir diese Aufgabe selbst an die Hand genommen und seit dem Jahr 2000 über eine Million neue Bäume gepflanzt. Bei der Aufforstung der riesigen abgeholzten Flächen benötigen wir eine Artenvielfalt, die das Fortbe­ stehen des Regenwaldes garantiert. Inzwischen arbeiten wir auch mit der Agrarwirtschaft zu­ sammen. Wir möchten einheimisches Obst an­ bauen und so die lokale Wirtschaft stärken.

In diese Bauvorhaben fliessen auch europäische Gelder. Doch die wahren Kosten tragen die Na­ tur und die indigenen Völker. Immerhin gibt es internationale Förderprojekte zur Wiederauf­ forstung der Regenwälder in Peru und Brasilien, zum Beispiel von der deutschen Regierung. Die muss jedoch genau kontrollieren, wie ihre Gel­ der verwendet werden: Kommt die Förderung tatsächlich in den entsprechenden Projekten an, und kommt sie dem Umweltschutz zugute? Wie können die Menschen hier in Europa Sie unterstützen? Das Wichtigste ist, dass unsere Projekte und unsere Geschichte weitergetragen werden. Denn dadurch erhöht sich der Druck auf unsere Regierung und jene von Peru – vielleicht veran­ lasst sie das irgendwann zum Handeln. Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Die grossen Holzfirmen und Wirtschafts­ mächte verschliessen die Augen vor unseren Problemen – Menschenleben und Umwelt sind ihnen egal. Die Politiker wiederum handeln meist nur im Interesse der Industrie. Ich wün­ sche mir eine Politik, die nicht nur Staudämme finanziert, sondern auch nachhaltige Projekte. Eine, die den Regenwald respektiert und schützt. Dieses Interview schliesst an jenes mit dem Amazo­ nasforscher Jeremy Narby über die Ashaninka-India­ ner und ihr Verhältnis zur Wildnis an, das wir im Ok­ tober 2014 unter dem Titel «Für die Natur waren die 300 Jahre Aufklärung ein Höllentrip» publiziert haben. Damals haben wir auch den Artikel «Die Wildnis exis­ tiert nicht» mit Bildern des Fotografen Michael Gold­ water veröffentlicht. Ihm war es gelungen, die harmo­ nische Beziehung der Ashaninka mit der Natur einzufangen. Beide Beiträge können auf der App nach­ gelesen werden.

Erhalten Sie wenigstens finanzielle Hilfe? Von unserer Regierung bekommen wir keinen einzigen Real. Sie baut stattdessen immer mehr Staudämme, welche die Natur zerstören.

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Fotoreportage

Kongo – verheerender Holzeinschlag

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Der industrielle Holzeinschlag ist eine der grössten Bedrohungen für den Regenwald im Kongobecken. Zurzeit fällen Holzfirmen Bäume auf einer Fläche von über zehn Millionen Hektaren – das entspricht zwei­ einhalbmal der Grösse der Schweiz.

lichkeit und offiziellen Stellen die Misere vor Au­ gen zu führen und ein Umdenken zu bewirken.

S. 72 Machtlos: Oft verlassen die Firmen die Dörfer plötzlich und unangekündigt wieder und lassen herumliegende Holz­ stämme zurück. S. 74 Scheinidyll: Unkontrollierter Holzschlag Fotos Clément Tardif, Text Greenpeace am Congo River zerstört den Lebensraum In Afrika sind 60 Millionen Menschen vom der Bewohner. Regenwald des Kongobeckens abhängig, dem zweitgrössten der Erde nach jenem am Amazo­ S. 75 Stichprobe: Der Kontrolleur Leonardo nas. Er bietet ihnen Nahrung, Lebensraum, Moindo Motumbe überprüft in Yambangia Material für Kleider – und sogar Heilmittel. Der eine legal vergebene Fäll-Lizenz. Regenwald ist zudem die Heimat von Säuge­ S. 76 Sammelplatz: Unmengen von geschlage­ tieren wie dem gefährdeten Gorilla, dem Schim­ nem Holz landen im Hafen von Kinkole, pansen und dem Bonobo sowie vieler weiterer rund 20 Kilometer von Kinshasa entfernt. einzigartiger Spezies, die nur hier vorkommen. S. 78 Flusskraft: Für den Transport auf dem Dennoch dringen Holzmultis immer tiefer Congo River werden die gefällten Bäume in die verbleibenden Regenwälder ein. Für den bis zum nächsten Hafen zu riesigen FlosAbtransport der Urwaldriesen braucht es ein sen verbunden. Strassennetz, welches wiederum Wilderern den S. 79 Holzumschlagplatz: In der Hafenstadt Zugang zu den Wäldern ermöglicht. Tangiert Kinkole werden die meist illegal gefällten von diesem Raubbau sind auch Dorfgemein­ Bäume mit grossen Traktoren auf Schiffe schaften, die vom urtümlichen Umfeld abhängig verladen und nach Europa und China sind. Und zunehmend verändert die Entwal­ verschifft. dung auch das Klima. S. 80 Zukunftsangst: «Wir wissen nicht, wohin Die Demokratische Republik Kongo (DRK) die grossflächige industrielle Abholzung verfügt über mehr als acht Prozent der weltwei­ noch führen soll.» Die Witwe des ehema­ ten Kohlenstoffbestände – sie ist der viertgrösste ligen Dorfoberhauptes von Bokoweli Kohlenstoffspeicher der Welt. Und der wird macht sich Sorgen um die Zukunft ihres sukzessive zerstört. Dorfes. Die Wälder der DRK sind bedroht. Der S. 81 Dorfversammlung: Die Menschen im Ort Abbau von Holz ist von Willkür bestimmt, völlig Bokoweli sind wütend: Holzfirmen unorganisiert und meist illegal, wobei die agie­ versprachen, Schulen und Infrastruktur renden Firmen oft ungestraft bleiben. Wertvol­ zu bauen und liessen Ruinen zurück. les tropisches Holz wird für Luxusbauten nach Europa und China verfrachtet, ohne dass die Menschen, denen der Wald bisher alles bot fürs Leben, etwas davon haben. Von den Holzfir­ men versprochene Schulen, Krankenhäuser oder Strassen werden kaum je realisiert. Trotzdem gibt es Hoffnung auf einen Wan­ del. Ein vor kurzem unterzeichnetes Gesetz erlaubt es den Gemeinden, ihren Wald selber zu verwalten. Bis jetzt wissen allerdings oft nicht einmal Regierungsvertreter etwas davon, wie Greenpeace im vergangenen Oktober bei einem Augenschein vor Ort herausgefunden hat. Es steht immens viel auf dem Spiel. Der Raubbau muss gestoppt werden. Greenpeace je­ denfalls lässt nichts unversucht, der Weltöffent­

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das Grenzstadt in der eu- Gegenteil von ropäischen Türkei Investment

dt. Autopionier † (Carl) Verbandsmaterial per procura (Abk.)

Welcher Ölkonzern will diesen Sommer in der Arktis nach Öl bohren? Ort im Kt. Aargau ind. Bundesstaat

griechischer Name von Troja

nord. Göttin altchines. Weiser

Menge, Stück nächtlich jagender Greifvogel

Knollengemüse

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digitale Leitung (Abk.)

panikartiger Ansturm

aufrollbares Sonnendach

Rätsel

neuer Trend zum Einkaufen ohne Verpackung

Auslese Vor dem Gebäude der Schweizer Atomaufsicht ... ist es verboten, friedlich zu demonstrieren.

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Hauptausdehnung

nördlicher Breite (Abk.) italien. Wirtshaus

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Werkzeugeinsatz

Direktor (Abk.)

zeitig

Getränk

z. B. ein Londoner

Präposition Adresse (Abk.)

weisse Herbstrübe südfrz. Fluss

Kilowattstunde (Abk.)

JamaikaPopmusik persönl. Fürwort

Wiesenpflanze

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Fluss durch den Thunersee

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Eisenfrass Autokennzeichen für Kroatien

Bierherstellungsbetrieb berühmte Erzählung von Hermann Hesse

Vorderster in einer Reihe

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Redner der Antike

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Männerstimme

Architektenbund

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asiat. Parkzierbaum

Ostregion v. Nigeria (eh.)

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Salz der schwefligen Säure

Hochschulart (Abk.)

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ungefähr

Teil der Uhr

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Wort der Ablehnung

Schauspiel

Insel in der Irischen See Estrich

somit, folglich, demnach

Grogzutat

Art und Weise, sich zu kleiden

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ital. Geigenbauer † Richtergremium

Schweizer Humanist †

Futtergefäss austral. Strauss

eine vom Stück Aussterben bedrohte Kautabak Schweinswalart

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