Greenpeace Switzerland Magazin 4/2013 DE

Page 1

— David gegen Goliath — Kräftemessen in der Arktis  S. 12 g reen peace MEMBER 20 13, Nr. 4

Dossier: Bevölkerungswachstum  ab S. 18 Sand wird Mangelware  S. 40 Greenpeace Photo Award: Land unter in Senegal  S. 48


C ove r: © Deni s Sinyakov / Greenp eac e

Editorial — Seit dem 19. September, als ein russisches ­Kommando in der Petschora-See unsere «Arctic Sunrise» ­gestürmt hat, führt Greenpeace den vielleicht grössten Kampf ihrer Geschichte. Es geht um die Arktis, ein dünn ­besiedeltes, scheinbar lebensfeindliches Gebiet unserer Erde, das dort beginnt, wo unsere Zivilisation aufhört. Es mag also ironisch anmuten, dass wir in dieser historischen Phase unserer und Ihrer Umweltorganisation ein Heft über das Bevölkerungswachstum vorlegen. Natürlich ­besteht ein Zusammenhang zwischen dem besinnungslosen Run auf die letzten fossilen Ressourcen des Planeten und dem demografischen Stress, unter dem die Menschheit steht. Wie wir aber in unserem Dossier zu zeigen versuchen, stimmt die Gleichung «Mehr Menschen = mehr Umweltzerstörung» nur bedingt: Wir wagen zu behaupten, dass eine grünere, gesündere Erde auch ohne polares Öl und Gas noch mehr Menschen beherbergen könnte. Die Rezepte bleiben letztlich dieselben: Eine Energy[R]evolution (lesen Sie auf Seite 56), eine nachhaltige Landwirtschaft (S. 28), aber auch intelligente Städte (S. 32) und somit ein Systemwandel, der Ressourcen vernichtendes Wachstum (S. 40) nicht mehr zum Motor unseres Daseins macht. Es gibt auch Wachstum, das uns gefällt: Rund um die Arctic30, die tapferen Arktisschützer, die nach ihrem fried­ lichen Protest im September wochenlang im Gefängnis sassen, ist eine riesige, weltweite Bewegung gewachsen. Millionen nahmen Anteil, Millionen handelten. Die Reihe der Kundgebungen, Mahnwachen, Petitionen und natürlich gewaltlosen Aktionen riss nicht ab. Persönlichkeiten aus aller Welt soli­ darisierten sich mit den Arctic30. Die Medien berichteten, die sozialen Netzwerke liefen heiss. Es zeigte sich, dass freie Meinungsäusserung und ­gewaltloser Widerstand für unzählige Menschen unveräusserbare Werte sind. Sich dahinter zu versammeln, gibt uns allen Mut, Power und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Wohl noch nie hat Greenpeace weltweit so viel Kraft bündeln können. Als die Arctic30 Ende November das Untersuchungsgefängnis auf Kaution verlassen konnten, herrschte für kurze Zeit eine verdiente Euphorie des Sieges. Aber Kumi Naidoo riet zum Blick voraus und zitierte Winston Churchill: «Das ist nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang des Endes. Aber es ist, vielleicht, das Ende des Anfangs.» Die Redaktion


Die Polgegend wird zum Zankapfel der Grossmächte

12

Die erste Greenpeace-Aktion in der Arktis war 1989. Was bisher geschah.

15

Arktis

Arktis-Kampagne

Schwerpunkt

Bevölkerungswachstum

ab S. 18

© Pablo Lo pez Luz

Inhalt

Die Demographie als Sündenbock der Ökologie

Sven Teske, der Vater der Energy[R]evolution redet über die Knacknüsse der Energiewende

Interview

Greenpeace Photo Award: Die Gewinner in zeigt Senegal in Klimanot

Die Karte Fracking – Spiel mit Feuer und Gift

In Aktion 2 Leserbriefe / Impressum 10 48 Chefsache 11 Kampagnen-News 64 In Kürze 68 58 Öko-Rätsel 72

Testamente Ist man mit 50 zu jung, um sein Er be zu regeln?

60

Überlebenskampf Wegen Waldzerstörung geht den Tigern auf Sumatra der Lebensraum ver loren

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

56

62



Machtgehabe Ein Offizier verhaftet mit vorgehaltener Waffe Greenpeace-Aktivisten, die vor der Gazprom-Plattform ­Prirazlomnaya gegen Ölbohrungen in der Arktis ­demonstrieren. 28 Mitglieder und 2 freie Journalisten werden wegen angeblicher Piraterie ins Gefängnis von Murmansk geschafft. Barentssee, 18. September 2013

© D en is S i n ya kov / G r een p eac e


Luftangriff AngehÜrige des russischen Sicherheitsdienstes werden von Helikoptern aufs Deck des GreenpeaceSchiffs Arctic Sunrise geflogen und verhaften die Umweltaktivisten an Bord. Ein Besatzungsmitglied ­fotografiert den Einsatz mit dem Handy. Barentssee, 19. September 2013


© Greenp eac e


Weltspektakel In der vierten Spielminute des Champions-League-ツュMatchs von Schalke 04 und FC Basel seilen sich vom Dach des St.-Jakob-Parks vier Greenpeace-Aktivisten ab und hissen ein 28 Meter breites Protestbanner gegen die ツュテ僕vorhaben von Gazprom in der Arktis. Der russische Energiegigant ist Sponsor von Schalke 04 und der UEFA. Basel, 1. Oktober 2013


© PATRICK SEE G ER (KEYST ONE /DPA / Pat r i c k S e e g e r )



Weltweit, 18. Oktober 2013

Internationale Solidarität Am «Arctic 30 Global Day of Solidarity» haben Zehntausende von ArktisschützerInnen in 36 Ländern für die Freilassung der in Russland inhaftierten Greenpeace AktivistInnen ­demonstriert. Menschenrechtler, Politiker und Journalisten haben sich dem Protest angeschlossen. Über drei Millionen Menschen haben eine Online-Petition mit der Forderung «Free Arctic 30» unterschrieben.

© Greenp eac e


Leserbriefe

Seit Jahren habe ich kein Greenpeace-Magazin mehr mit so viel Interesse (beinahe) durchgelesen. Gratulation! Den Artikel über die Aussteiger fand ich höchst interessant und vielleicht erfahren wir in den nächsten Heften, wie es in Italien und Spanien aussieht. ­Diese b ­ eiden Länder grenzen auch ans Meer und haben eine bedeutende Landwirtschaft. Als Thema kön­nte ich mir die Einsteiger­ winzer und der Agriturismo in Italien vorstellen. Der Tourismus zerstört viele Gebiete unserer Erde. M. T. in B. Ist ja schön und gut, die Aus­ steigerei – manch eineR mehr sollte das machen. Wenn aber, dann richtig! Als Dorfkind gehen mir zu diesem Bericht einige Fragen durch den Kopf: Warum glauben alle immer, Bauern seien naturverbundene, tierliebe, sanfte Zeitgenossen? Ich habe viele Bauern anders erlebt, denn auch die Landwirtschaft ist ein Geschäft, mit dem man Geld verdienen muss. Und auch in der Landwirtschaft gibt es grossen Druck, den wir Konsumenten nicht gerade verringern: Alle wünschen sich tier-, umwelt- und artgerecht produzierte Lebensmittel, aber kaum jemand ist bereit, für gute Qua­ lität auch gutes Geld zu bezahlen – ein Widerspruch, den wir Kon­ sumenten ändern könnten. Zudem frage ich mich: Warum ums Himmels willen bestellt ­Nicole Mycelien in den USA? Gibt es in Europa keine Pilze mehr? Wer wirklich nachhaltig anbauen will, sollte möglichst auf einheimische Sorten setzen – wer weiss, was mit Pflanzen aus anderen Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

Kontinenten eingeschleppt wird. Wie viele Pflanzen oder Tiere wurden von Urlaubern schon mitgebracht, die nun einheimische Arten verdrängen? Muss man das auch noch bewusst fördern? Aus­ serdem kann ein einheimischer Pilzzüchter vermutlich bessere Ware liefern als ein Webshop in den USA. So ganz ausgestiegen ist Nicole wohl noch nicht, es schwingt da noch ziemlich viel Grossstadt mit … Klar, wer etwas Neues beginnt, muss erst einmal einiges aus­ probieren. Zudem ist die Natur die Natur: Im einen Jahr wächst das eine Gemüse oder die eine Beere besser, im nächsten kann es eine andere sein. Ich habe meinen kleinen Gemüsegarten auf 1800 Metern über Meer. Da muss man sich einfach überraschen lassen! Irene Scherrer, Graubünden In regelmässigen Abständen erkundige ich mich über die Greenpeace-Aktivitäten. Als Mitglied unterstütze ich die Anliegen von Greenpeace und erhalte auch das Magazin – in Papierform. Greenpeace setzt sich immer wieder gegen das Waldroden ein, um das Gleichgewicht der Natur zu er­ halten. Meine Wohnung ist komplett papierlos und ich erhalte die Zeitschrift immer noch per Post statt digital. Ich habe bereits nachgefragt, wann es endlich eine ­digitale Variante gibt. Mir wurde gesagt, eine App sei unterwegs und eine digitale Variante sei «bald erhältlich». Trotz rezykliertem Papier ist eine Zeitschrift heutzutage doch überflüssig für viele. Leider kriegte ich auch die neuste Version auf Papier. Wann kehrt Greenpeace vor der eigenen Tür und macht Schluss mit dem Papier? In der Hoffnung auf eine baldige Umsetzung grüsst bestens P. Peter

10

Impressum Greenpeace Member 4/2013 Herausgeberin/Redaktionsadresse Greenpeace Schweiz Heinrichstrasse 147 Postfach 8031 Zürich Telefon 044 447 41 41 Fax 044 447 41 99 redaktion@greenpeace.ch, www.greenpeace.ch Adressänderungen unter: suse.ch@greenpeace.org Redaktionsteam: Tanja Keller (Leitung), ­Matthias Wyssmann, ­ Hina Struever, ­Roland Falk Autoren: Verena Ahne, Muriel Bonnardin, Judith Brandner, Christian Hug, Andrea Hösch, Philipp Löpfe, Thomas Niederberger, Mathias Plüss, Samuel Schlaefli, Judith Wyder, Matthias Wyssmann Fotografen: Stephan Bösch/Ex-Press, Flurina Rothenberger Gestaltung: Hubertus Design Druck: Stämpfli Publikationen AG, Bern Papier Umschlag und Inhalt: 100% Recycling Druckauflage: d 110 500, f 22 500 Erscheinungsweise: viermal jährlich Das Magazin Greenpeace geht an alle ­Mitglieder ­( Jahresbeitrag ab Fr. 72.—). Es kann Meinungen ­ent­halten, die nicht mit offiziellen Greenpeace-­ Positionen ­übereinstimmen. Der Lesbarkeit zuliebe sehen wir davon ab, konsequent die m ­ ännliche und die weibliche Form zu verwenden. Die männliche Form bezieht daher die weibliche Form mit ein – und umgekehrt. Spenden: Postkonto 80-6222-8 Online-Spenden: www.greenpeace.ch/spenden SMS-Spenden: Keyword GP und ­Betrag in ­Franken an 488 (Beispiel für Fr. 10.—: «GP 10» an 488)


Marco, Denis, Sini, Peter, Miguel, Camila, Colin, Ana Paula, Phil, Kieron, Falza, Mannes, Anne Mie, Francesco, Cristian, Paul, Jonathan, David, Tomasz, Roman, Dima, Gizem, Ruslan, Andrey, Ekaterina, Alexandra, Frank, Anthony, Iain, Alexandre – die «Arctic 30» sassen zwei Monate lang in russischen Gefängnissen bei Murmansk. Ihr Vergehen: Sie wollten die Weltöffentlichkeit auf die gefährlichen Bohrpläne des Ölkonzerns Gazprom in der Arktis aufmerksam machen. Darf man das? Wochenlang beschäf­ tigte diese Frage die Medien, auch in der Schweiz. Ob sie als idealistische Weltverbesserer, als naive Opfer der russischen Justiz, als mutwillige Gesetzesbrecher, als Schmarotzer, als bewundernswerte ­Hel­dinnen oder als «Gratisbrennstoff der PR-Maschine Greenpeace» dargestellt ­wurden: Die mutige Aktion der «Arctic 30» liess niemanden kalt, ob Befürworterin oder Gegner. Was die Kraft und die Wirkung von Aktionen wie jener auf der Ölplattform Prirazlomnaya ausmacht, ist das persönliche Statement jedes einzelnen Menschen, der daran teilnimmt. Denis, Marco, Sini und die anderen der «Arctic 30» haben sich aus eigenem Antrieb entschieden, dass ihnen die Zukunft der Erde wichtiger ist als ihre persönliche Sicherheit. In Greenpeace haben sie eine Organisation gefunden, ­deren Ziele sie teilen und in deren Rahmen sie sich wirksamer für ihre Überzeugung einsetzen können als allein. Unverhältnismässig ist nicht das ­Risiko, das sie mit ihrer Banner-Aktion auf einer Ölplattform eingegangen sind, sondern vielmehr die Härte, mit der sie danach bestraft wurden. In unserer Welt wächst der Druck, jede Handlung rational abzuwägen, mögliche Risiken zu beziffern, zu ­vermeiden und abzuwälzen. Fundamentale Menschenrechte wie das Recht auf freie Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

Meinungsäusserung werden zwar anerkannt, nur kosten dürfen sie nichts. Und stören schon gar nicht. Noch schlimmer: Idealismus ist suspekt geworden. In einer vom ökonomischen Nutzen geprägten ­Gesellschaft wird uneigennütziges Handeln nicht verstanden. Der russische Fotograf Denis Sinyakov schrieb aus dem Gefängnis in Murmansk: «Mein ganzes Berufsleben lang habe ich versucht, Zeuge von wichtigen Ereig­ nissen zu sein. Eine wichtige Geschichte war die Arktis. Ich habe sie bei meiner Arbeit mit Greenpeace während Jahren verfolgt. Jetzt ist diese Geschichte zu einem Wendepunkt in meinem Leben geworden. Ich ­danke euch für all eure Unterstützung, für eure Briefe und euren Protest. Seid nicht traurig. Ich verspreche euch, auch nicht traurig zu sein.» Auch Marco Weber, der Schweizer Aktivist, sandte uns tröstliche Worte aus seiner Zelle: «Lasst uns die zerbrechliche Arktis bewahren und damit auch unsere Chance auf eine Zukunft. Solche Ideale, und damit auch das Bewusstsein, das Richtige getan zu haben, halten mich hier über Wasser.» Die «Arctic 30» haben es mit ihrer ­Aktion geschafft, dass die Warnung vor ­einer Zerstörung des fragilen Ökosystems Arktis endlich gehört wird. Und dass ­Mil­lionen Menschen weltweit sich ermutigt fühlen, ihren Kampf für den Schutz der ­Arktis und für eine zukunftsfähige Welt weiterzutragen. Das macht uns zuversichtlich. Verena Mühlberger und Markus Allemann, Co-Geschäftsleitung © Hei ke Gra sser / Gr ee n peace

CHEFSACHE

Ist Idealismus strafbar?

11


Brennpunkte in der Arktis ZIF

PA

as

E R OZ E A N

ka

an

d

SLAND

KAN

NORDPOLARMEER

RUS

AD

A

Al

ISCH

ön

l

AN

Quelle: r ebel, © HuberT us

Gr

AT L A

NT

IS

C

HE R

OZ

E

ARKtIS

Norwegen

200-Seemeilen-Wirtschaftszone neue Gebietsansprüche Polarkreis lomonosow-Rücken

Gasförderung Ölförderung Mögliche Öl- und Gasvorkommen

kalTer krieG Bedrohliches Säbelrasseln zwischen den Staaten um die Bodenschätze der Arktis. Das Risiko einer Ölkatastrophe in diesem hochsensiblen Ökosystem bleibt. Von Christian hug, www.polarnews.ch

Magazin Greenpeace nr. 4 — 2013

Der grösste Teil der arktischen Erdöl- und Erdgasvorkommen liegt zwar innerhalb der 200-meilen-Zone (370 Kilometer): So bezeichnet man die Distanz von der Küste aus, über die das jeweilige Anrainerland besitzansprüche stellen darf und damit über die alleinigen Fischerei- und Förderrechte verfügt. Das meer jenseits dieser Zone und damit auch die Eisdecke der Arktis gehören niemandem – beziehungsweise allen. Doch weil sich einige Vorkommen ausserhalb dieser Zone befinden und darüber hinaus noch weitere Vorkommen entdeckt werden könnten, erheben vor allem die fünf Anrainerstaaten der Arktis (uSA, Kanada, Russland, Grönland beziehungsweise Dänemark als «Pate» und norwegen) besitzansprüche über die 200-meilen-Zone hinaus, um sich so weitere Förderrechte zu sichern. Spätestens hier kommen auch andere Staaten wie china, Deutschland, italien und Frankreich ins Spiel, die sich ebenfalls ihr Stück vom Kuchen sichern wollen.

12


Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

13

© Steve Mo rgan / G r een peac e

Um diese Begehrlichkeiten zu regeln, gründete die Seerechtskonvention der UNO 1997 die sogenannte Commission on the Limits of the Continental Shelf, die Festlandsockelkommission. Hier kann jedes Land Besitzansprüche über die 200-Meilen-Zone hinaus geltend machen, sofern es beweisen kann, dass sich sein Kontinentalsockel auf dem Meeresboden über die besagte Zone hinaus ausbreitet. In der «Beweisführung» der betreffenden Länder hat sich vor allem der LomonossowRücken zum Zankapfel entwickelt. Dieser 60 bis 200 Kilometer breite und bis zu 3500 Meter hohe Gebirgszug auf dem Meeresgrund erstreckt sich zwischen Grönland und den ­russischen Neusibirischen Inseln – und genau da liegt das Problem: Die Russen betrachten den Lomonossow-Rücken als Fortsetzung ihres Landes, während Grönland das Gebirge als unterseeischen Fortsatz Grönlands definiert. Die Kanadier reklamieren den Rücken derweil als Fortsetzung ihrer Ellesmere-Insel für sich. Alle drei Länder haben geologische Gutachten erstellt, die ihre These beweisen. Dass übrigens unter dem Lomonossow-Rücken Erdöl oder andere Bodenschätze lagern, schliessen amerikanische Geologen praktisch aus (siehe Heft 3/2010). Rat. Zudem fordert China von Russland den freien Zugang zur Nordostpassage. China macht Stunk Nächstes Jahr soll der zweite chinesische Besorgnis erregt seit einigen Jahren China. Eisbrecher vom Stapel laufen. Das Stockholmer Die Wirtschaft des bevölkerungsreichsten Lan- Friedensforschungsinstitut Sipri macht sich des der Erde wächst in Riesenschritten und bein einer kürzlich veröffentlichten Studie Sorgen nötigt dringend «Treibstoff», um den Motor am um den Frieden in der Arktis wegen der AggresLaufen zu halten. Immer wieder erhebt Peking sivität Chinas. Doch auch Russland setzt auf Taten mit klarer Signalwirkung: Bereits im Frühresolut Besitzansprüche auf kleine Inseln (und ling 2011 verkündigte der russische Heerchef die zugehörigen 200-Meilen-Zonen) und gerät Alexander Postnikow die Bildung einer Arktisso in Konflikt mit Nachbarstaaten. Natürlich ist der rote Riese auch scharf auf das Erdöl und das Brigade mit Stützpunkt nahe Murmansk. ­Russland werde, so hiess es ohne Schönfärberei, Erdgas in der Arktis. seine Ansprüche auf die Bodenschätze im EisDas veranschaulicht die Regierung auch meer notfalls militärisch durchsetzen. 2015 mit militärischen Mitteln: Bereits fünf Mal sollen Kriegsschiffe und U-Boote in der Arktis durchquerte der 167 Meter lange Eisbrecher patrouillieren. Entsprechend verstärkten die Xuelong (Schneedrache) die Arktis, zuletzt im vergangenen Sommer nahe am Nordpol vorbei. USA und Kanada umgehend ihre militärische Präsenz in den arktischen Gewässern. Parallel dazu ist das 8,2 Meter lange Tiefsee-UBoot Jiaolong (Meeresdrache) unsichtbar unterNichts als Probleme wegs. Beide seien, so versichert Peking gerne, Viele Experten sind zuversichtlich, dass es nur zu Forschungszwecken unterwegs. Aber das nie zu einem militärischen Konflikt in der Arktis ist diplomatisches Gerede: China geht es darkommen wird. Niemand kann sich einen teuren um, den starken Staat zu markieren, und es drängt auf den Beobachterstatus im Arktischen Krieg leisten um Öl, bei dem immer noch nicht


Arktis

sicher ist, ob man es überhaupt je wird fördern können. Und vor allem: In der Entwicklung notwendiger neuer Fördertechniken sind die Länder auf gegenseitige Hilfe, sprich den Austausch von Know-how, angewiesen. Kommt hinzu: Eine Studie des norwegischen Zentrums für internationale Klima- und Umweltforschung in Oslo kam im Herbst ­letzten Jahres zum Ergebnis, dass die Arktis als Erdöl- und Erdgaslager stark überschätzt wird: Die Kosten, diese Reserven auszubeuten, seien schlicht und einfach zu hoch. Die Ölförderung in der Arktis ist extrem teuer, weil das unberechenbare Wetter, die tiefen Temperaturen und das launische Meer die Techniker vor schier unlösbare Probleme stellen. Der norwegische Staatskonzern Statoil hat deshalb Anfang Jahr angekündigt, seine Bohrungen in der Arktis vorerst für ein Jahr buchstäblich auf Eis zu legen. Auch Shell stornierte seine Bohrversuche nach der Panne mit der «Noble Discoverer» für ein Jahr. BP gab die Suche nach Erdöl in der Beaufortsee nach einer Wirtschaftlichkeitsanalyse bereits letzten ­Sommer auf. Ein paar Monate später verschob auch der russische Staatskonzern Gazprom die Ausbeutung des riesigen Shtokman-Gasfeldes in der Barentssee «auf bessere Zeiten». Die französische Total-Gruppe hat das ­Projekt Liberty, die Erdölsuche im arktischen Meer, ebenfalls eingestellt – ihr CEO Christophe de Margerie liess selbstkritisch verlauten: «Eine Ölverschmutzung um Grönland wäre eine Katastrophe. Ein Leck würde dem Ansehen des Unternehmens zu stark schaden.» Geht diese Einsicht auf die Ölkatastrophe 2010 im Golf von Mexiko durch die BP-Plattform «Deepwater Horizon» zurück? Das klingt alles nach guten Nachrichten – vor allem aus der Sicht von mweltschutzorgani­ sationen wie Greenpeace, die sich vehement für ein generelles Förderverbot in der Arktis einsetzen. Dazu besetzten sie unter anderem im letzten August die russische Bohrinsel Priraslomnaja oder legten im vergangenen Januar in Davos eine Shell-Tankstelle lahm. Aber in der Arktis liegt zu viel schwarzes und flüssiges Gold, als dass die Konzerne so einfach aufgeben würden: Beflissen signalisierten sie deshalb gleichzeitig mit der Einstellung ihrer Projekte, dass sie weiterhin nach Erdöl und Erdgas in der Arktis suchen werden. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

Total sucht gemeinsam mit den Regulierungsbehörden nach einem Weg, das Projekt Liberty wiederzubeleben. Gleichzeitig verhandelt Total mit dem russischen Staatsunternehmen Rosneft über eine gemeinsame Fördertaktik auf russischem ­arktischem Festland. Total, der staatliche russische Erdgaskonzern Gazprom und die norwegische Statoil ­arbeiten weiterhin gemeinsam an der Ausbeutung des Shtokman-Gasfelds. Rosneft verhandelt mit dem amerikanischen Konzern ExxonMobil über ein gemeinsames Vorgehen in der Karasee: 2014 wollen sie dort mit Bohrungen beginnen. ConocoPhillipps, der drittgrösste amerikanische Ölkonzern, hat gemeinsam mit der ­japanischen Mitsubishi Corporation im Frühling 2012 erfolgreich Testbohrungen nach Erdgas vor Alaska durchgeführt und will nun in ­Kalifornien eine entsprechende Infrastruktur aufbauen. Die britisch-holländische Shell hat in der Beaufortsee letzten Herbst sogenannte Top Holes gebohrt: Bohrlöcher, die senkrecht in die Öl oder Gas führende Schicht gebort und anschliessend wider versiegelt werden. ExxonMobil, Statoil und der italienische Konzern Eni haben Verträge unterzeichnet, die Testbohrungen auf russischem Festland ­erlauben. ConocoPhillipps hat bei den Russen ebenfalls Lizenzen gekauft: 2014 sollen die Bohrungen in der Tschuktschensee beginnen. Statoil hat Lizenzen von Russland gekauft, um in der Barentssee das Snohvit-Gasfeld ­auszubeuten. Diese Aufzählung ist nicht vollständig, aber sie zeigt: Das grosse Spiel geht weiter. Immerhin: Die intensive Zusammenarbeit unter den Konzernen schweisst die mitspielenden Länder enger zusammen. Die Hoffnung, dass die Konflikte um Erdöl und Erdgas in der Arktis friedlich gelöst werden, steigt. Es bleibt jedoch die akute Sorge um den Lebensraum Arktis. Denn wie es aussieht, ist die erste grosse Ölkatastrophe in diesem hochsensiblen Ökosystem nur eine Frage der Zeit.

14


Arktiskampagne

© G r een p eac e / Dan i el B el t rá

Greenpeace setzt sich seit 1989 intensiv für den Schutz der Arktis ein.

Arktis: Die Chronik einer Kampagne Aufgrund der rauen klimatischen Bedingungen sind Ölbohrungen in der Arktis extrem riskant und gefährlich. Eine Ölkatastrophe wäre nur eine Frage der Zeit und würde das sensible Ökosystem, die Heimat zahlreicher Arten wie Eisbären, Narwalen und Polarfüchsen, für lange Zeit zerstören. Um die Arktis dauerhaft vor der gefährlichen Ausbeutung zu schützen, fordern wir die Errichtung eines internationalen Schutzgebiets. In seinem Weltklimabericht warnt der zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaveränderung (IPCC) der Vereinten Nationen zudem vor Konsequenzen, die in der Arktis bereits sichtbar sind. Die Analyse der Wissenschaft ist eindeutig: Die Klimaerwärmung schreitet voran. Das Meereis in Arktis, Antarktis und Grönland sowie die Gletscher in der Schweiz schmelzen immer schneller und nur eine sofortige Energiewende weltweit kann die Entwicklung stoppen.

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

15

Januar 2012 Wissenschaftler fordern Einbezug der Forschung Rund 600 anerkannte Wissenschaftler aus aller Welt rufen US-Präsident Obama und US-­ Innenminister Salazar auf, die Empfehlungen des U.S. Geological Survey Report zu erfüllen, ­bevor neue Öl- und Gasprojekte im Arktischen Meer genehmigt werden. Februar 2012 US-Bericht: Shell beherrscht ­Umweltrisiken nicht Der US-Rechnungshof erklärt, Shells Engagement reiche nicht aus, um Umweltrisiken und ­logistische Herausforderungen ­einer möglichen Ölkatastrophe komplett zu entschärfen. Februar/März 2012 Greenpeace-Protest gegen Shell-Pläne Greenpeace protestiert weltweit gegen Shells Ölbohrpläne im Sommer 2012 in der Arktis. Mehr als 70 Stunden harren Aktivisten auf dem Bohrturm der Noble ­Discoverer in einem neusee­­län­dischen Hafen aus. Eine halbe ­Million Menschen schicken ­Protestmails an Shell-Geschäfts­ führer Peter Voser und andere Shell-Manager. März 2012 Einstweilige Verfügung wird ­eingeschränkt Ein Bundesrichter in Alaska weist einen Antrag von Shell auf eine umfassende einstweilige Verfügung gegen Greenpeace USA als weder notwendig noch berechtigt zurück. Der Richter begrenzt die Ver­ fügung auf das Bohrschiff Noble Discoverer und die Bohrplattform Kulluk von Shell.


© D enis S inya kov / G r eenpeace

August 2012 © J oerg M od row / G r eenp eace

Mai 2012

Arktiskampagne

Shell-Schiff Nordica gestoppt Greenpeace-Aktivisten fangen das von Shell gecharterte Spezialschiff Nordica vor Rügen auf dem Weg in die Arktis ab. Die Umweltschützer protestieren gegen die Weiterfahrt des Schiffes, das Shell zur Unterstützung der Ölbohrungen in die Arktis entsandt hat. Mai 2012 Ölsuche verschiebt sich Die schwierigen Bedingungen vor der Küste Alaskas erfordern eine Aufschiebung der Ölsuche von Shell in der Arktis. Juli 2012 BP stoppt Liberty-Projekt Der britische Ölkonzern BP kündigt wegen explodierender ­Kosten einen Stopp des Projekts Liberty in Alaska an. Das Öl­ reservoir (rund 100 Mio. Barrel) hätte mit einer künstlich vor der Küste aufgeschütteten Insel durch eine 13 Kilometer lange Horizontalbohrung erschlossen werden sollen. Juli 2012 Ölbohrschiff strandet bei Dutch Harbor Bei Windstärken von 6 bis 7 hat sich das Shell-Bohrschiff Noble Discoverer vom Ankerplatz gelöst und ist in der Nähe von Dutch Harbor gestrandet. Shell bestreitet dies. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

Protest auf Gazprom-Plattform Greenpeace-Aktivisten – darunter auch Kumi Naidoo, der Geschäftsführer von Greenpeace Inter­ national – klettern auf die Gazprom-Plattform Prirazlomnaya in der russischen Petschorasee, um gegen die Ölförderung des russischen Staatskonzern zu protestieren. Als die Aktivisten mit Wasserkanonen und Metallteilen beschossen werden, wird die ­Aktion abgebrochen.

der Arktis: die Risiken und der zu erwartende Imageschaden seien zu gross. Das Unternehmen kämpft nach einem schweren Ölunfall in der Nordsee finanziell ums Überleben. Dezember 2012 Bohrinsel läuft auf Grund Zum Jahreswechsel reisst die Verbindungsleine zwischen der Bohrinsel Kulluk und einem Schlepper, der die Plattform ins Winter­ quartier nach Seattle schleppen sollte. Mehrere Abschleppversuche schlagen fehl und die Plattform strandet mit 550 000 Liter Treib- und Schmierstoffen an Bord. Mit der Verlegung der Plattform trotz ungünstigem Wetter wollte Shell vermutlich eine Millionen-Steuerzahlung vermeiden.

September 2012 Bohrschiff muss Arbeit einstellen Kurz nach Bohrbeginn muss das Bohrschiff Noble Discoverer die Arbeit in der Tschuktschensee einstellen, weil sich eine 50 x 12 Kilometer grosse Eisfläche auf die Bohrstelle zu bewegt. September 2012 Greenpeace-Aktivisten blockieren Shell-Tanksäulen Greenpeace-Aktivisten in den Niederlanden befestigen Schlösser an Zapfhähnen und blockieren so über 70 Shell-Tankstellen. Shell beantragt eine einstweilige Januar 2013 Verfügung gegen Greenpeace Shell verletzt Umweltauflagen Niederlande und fordert eine hohe Die US-Bundesumweltbehörde Geldstrafe. Das Gericht urteilt moniert die Verletzung des ­zugunsten von Greenpeace. ­Luftreinhaltungsgesetzes durch das Bohrschiff Noble Discoverer September 2012 und die Bohrplattform Kulluk Total warnt vor Ölbohrungen in bei Shell. der Arktis Der französische Energiekonzern Total warnt vor Ölbohrungen in

16


April 2013 Shell dealt mit Gazprom Shell und Gazprom unterzeichnen ein Übereinkommen, um ­gemeinsam in der russischen Arktis Ölfelder zu erschliessen. April 2013

Juli 2013 Kletteraktion auf höchstes ­Bürogebäude in London Nach 15 Stunden erreichen sechs Greenpeace-Kletterer die Spitze des «Shard» in London. Das Hochhaus ist mit 310 Metern das höchste Gebäude in Westeuropa und liegt in Sichtweite mehrerer Shell-Büros. Auf der Spitze hissen die Aktivisten eine Flagge mit der Aufschrift «Save The Arctic».

© Dav id Sa ndi so n / G r een p eac e

© T he Un i te d States C oa st G uar d

Gerichtsurteil gegen Greenpeace-Aktivisten Die neuseeländische Schau­spie­ler­ in Lucy Lawless wird mit sieben weiteren Greenpeace-Aktivisten zu jeweils 120 Stunden Sozialarbeit und zu einer Geldstrafe von insgesamt rund 5200 neuseeländi­ Greenpeace-Expedition schen Dollar verurteilt. Das Gezum Nordpol richt lehnt die von Shell geforder- Greenpeace-Aktivisten versenken te Schadenersatzzahlung in Höhe die Namen von fast drei Millionen von 650 000 Dollar jedoch ab. Arktisschützern, welche die ­Petition zum Schutz der Arktis unterschrieben haben, in einer Glaskapsel am Nordpol.

7. Februar 2013 Shell unterbricht Arktis-Projekt 2013 Shell kündigt eine Unterbrechung seines Arktis-Projekts an und will 2013 weder in der Beaufortnoch in der Tschuktschensee nach Öl bohren. Damit zieht der Konzern die Konsequenzen aus der Pannenserie 2012. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

© Chr i st i an Ås l u nd / G r eenp eace

© N ig el M a r p l e / G r eenp eace

7. Februar 2013

17

August 2013 Protest beim Formel-1-Rennen von Belgien Beim Grand Prix in Spa protestieren Greenpeace-Aktivisten gegen das Arktis-Projekt von Shell, einem der Hauptsponsoren. Auf der Haupttribüne wird ein 20 Meter langes Banner mit der Aufschrift: «Arctic Oil? Shell No!» entrollt.

Am 18. September protestierten Greenpeace-Aktivisten friedlich an der Gazprom-Bohrinsel Prirazlomnaya gegen Ölbohrungen in der Arktis. Darauf wird das Greenpeace-Schiff Arctic Sunrise von den russischen Behörden in internationalen Gewässern unter ­Waffengewalt geentert, beschlagnahmt und mit der Crew in die Nähe des Hafens von Murmansk geschleppt. Zwei Monate sassen die 28 Umweltschützerinnen und zwei Journalisten wegen Piraterie und Rowdytums in Murmanks in ­Untersuchungshaft. Ende November wurden sie gegen Kaution ­freigelassen. Updates zur Kampagne und den «Arctic 30» finden Sie auf unserer Website www.greenpeace.ch.


Schwerpunkt Bevölkerungswachstum

Sind wir Mensc

Position 1

«Die Bevölkerung muss schrumpfen bei einem Fussabdruck null.»

Das ist die meistumschiffte Frage der ­Ökologie. Und der meistgehörte Vorbehalt lautet: Jeder Umweltschutz ist sinnlos, ­solange die Weltbevölkerung so wächst.

RADIKALE ÖKOLOGIE: Was ist ihre Meinung zur radikalen Ökologie? greenpeace.ch/debatten

Wenn 2,5 Milliarden Chinesen und Inder an Kaufkraft zulegen, wirkt sich ihr rasant zunehmender Konsum katastrophal auf die Natur aus – diese Vermutung liegt nahe. Immigration und Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt führen zu Dichtestress in der Schweiz – so wird argumentiert angesichts von wachsenden Siedlungen und schwindendem Wiesenland. All diese Behauptungen sind berechtigt – aber sind sie auch richtig? Dass die Debatte über die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungswachstum und Umwelt nicht in Gang kommt, mag damit zusammenhängen, dass wir an ein Tabu rühren: Es gibt kein Recht, die Freiheit einzuschränken, dass die Menschen sich fortpflanzen – zumindest nicht in einer Gesellschaft, in der wir noch leben möchten. Vor allem aber scheitert die Debatte an einem grundlegenden Missverständnis: Wir verlagern das Problem gerne in den globalen Süden und machen die Armen der Welt zu einer ökologischen Bedrohung, die sie nicht sind. Dafür müssten sie zuerst reich werden – wie wir.

Geburtenkontrolle: Programme, die Fertilität zu kontrollieren, sind meist gescheitert. S. 20

«Wir sind zu viele, wenn wir unseren Wohlstand wahren wollen.»

Der Magazin-Schwerpunkt gibt keine ­Antworten. Er will vielmehr die Problematik einordnen zwischen vier Grundpositionen im Spannungsfeld von radikaler Ökologie und blindem Wachstumsglauben.

Position 2 Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

18


r zu viele chen?

Position 3

Essay: Der Hunger von zehn Milliarden S. 28

«Die Weltbevölkerung darf wachsen, wenn wir radikal umdenken.»

Glossar: Wichtige Begriffe zum Thema. S. 38

Systemwandel: Vor allem ökologische Städte könnten eine Lösung sein. S. 32

«Trotz aller Bemühungen wird die Weltbevölkerung laut der UNO wachsen — auf 10,9 Milliarden Menschen im Jahr 2100.» INTERESSANTE FAKTEN: Bevölkerungswachstum S. 46

Sand: Ein Dokumentarfilm über die schwindende Ressource zeigt, wie Wachstums- und Bauwut in den Abgrund führen. S. 40 Japan: Eine schwindende Bevölkerung kann den Wohlstand bald nicht mehr tragen. Seite 25

«Unsere Wirtschaft muss wachsen und deshalb muss unsere ­Bevölkerung wachsen.»

Position 4 Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

19


Bevölkerungspolitik Von Samuel Schlaefli

Position 2

Im Namen von Fortschritt und Armuts­ bekämpfung versuchen Staaten die Geburtenzahl mit Zwangssterilisationen und Verhütungsmitteln zu senken. Mit wenig Erfolg, wie die ethnologische ­Forschung in Asien und Afrika zeigt.

© Jon as B endi k se n

Bildung ­­statt ­Bevölkerungspolitik

Überfülltes Schulzimmer in Indien: Millionenschwere Regierungsprogramme zur Geburtenkontrolle haben nur geringen Einfluss auf die Geburtenrate.

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

20


Shalini Randeria fühlt sich manchmal wie im falschen Film: In den siebziger Jahren, als sie in Neu Delhi zur Schule ging, propagierten grosse Regierungsplakate: «Eine kleine Familie ist eine glückliche Familie.» Zehn Jahre später, während ihres Doktorats in Heidelberg, stand auf ebenso grossen Plakaten: «Kinder bringen mehr Freude ins Leben.» Notabene waren alle Plakate von einer Regierung aufgehängt worden, die sich in Entwicklungsländern gleichzeitig für die Reduzierung der Geburtenrate bei Frauen starkmachte. «Wenn die Welt sowohl als überbevölkert wie auch als unterbevölkert wahrgenommen wird, sind es – je nachdem, welches Land und welche ethnische Gruppe oder Klasse im Mittelpunkt der Betrachtung steht – immer ‹die anderen›, die zu viel sind», schrieb Randeria später in einem Artikel über Bevölkerungspolitik. Heute ist Shalini Randeria Professorin für Sozialanthropologie und Soziologie am «Institut de hautes études internationales et du développement» in Genf. Seit über zwanzig Jahren kritisiert sie polemische Überbevölkerungsdebatten, die in regelmäs­ sigen Abständen sowohl von links wie von rechts lanciert werden. «Überbevölkerung ist zum Common Sense geworden. Sie hat eine Faktizität erhalten, welche die ursprüngliche politische Natur hinter dieser Art des Denkens verschleiert», reklamiert sie. Die politische Natur ist bei Thomas Malthus und seinem «Essay on the Principle of Population» von 1798 zu suchen. Die Ursachen der Hungersnöte im 18. Jahrhundert fand Malthus bei den überzähligen Armen und nicht in einer ungleichen Verteilung oder einer fehlenden Solidarität. Seine Ablehnung gegenüber staatlicher Armenfürsorge bedeutete in letzter Konsequenz: Lasst die Armen verhungern, damit die Privilegierten ihren Status quo halten können. Heute befür­ worten zwar die meisten vor der Überbevölkerung warnenden Stimmen eine staatliche Intervention. Der Diskurs umfasst aber nach wie vor zwei zentrale Aspekte von Malthus’ Denken: die Angst vor zu wenig Ressourcen und die Angst vor den Armen, die dafür verantwortlich seien. Neu hinzugekommen sind die Angst vor Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

21

Migration und die Angst vor Umweltzer­ störung. Gerade die noch junge Kopplung von Überbe­völkerung und Umwelt findet Randeria höchst problematisch: «Niemand stellt in Frage, dass Kleinfamilien in Europa einen Zweitwagen brauchen. Dass eine Frau in Afrika ein drittes Kind gebären will, wird hingegen als Belastung für unsere Umwelt angesehen.» Eine Debatte zur Überbevölkerung, ohne gleichzeitig über Ressourcenverbrauch und -verteilung zu diskutieren, sei nicht nur heuchlerisch, sondern auch sinnlos, ist Randeria überzeugt. Dass in den Industrieländern niemand an der Ressourcenverteilung schrauben will, ist nicht weiter erstaunlich. Fängt man jedoch damit an, eröffnen sich neue Perspektiven: «Wäre nicht auch eine andere Philosophie des Gemeinwohls denkbar? Eine, in der diejenigen mehr Ressourcen verbrauchen dürfen, die mehr Kinder haben?» Zwangssterilisierungen und «Cafeteria Approach» Randerias Vorschlag scheint illusorisch, denn das Gedankengut von Malthus ist bis heute in entwicklungspolitischen Debatten zur Überbevölkerung zu finden. Die Tatsache, dass verarmte Menschen in Asien und Afrika verhungern oder nach Europa fliehen, wird darauf zurückgeführt, dass sie zu viele sind. Logische Folgerung: Die Geburtenzahl pro Frau (Fertilität) muss sinken. Entwicklungsprogramme, die genau dies erreichen wollen, haben eine lange Geschichte: Indien war 1951 der erste Staat, der sich die Geburtenreduzierung explizit auf die Fahne schrieb. Die Theorie der «Überbevölkerung» war zu dieser Zeit in der indischen Mittelschicht bereits Allge­meinwissen. Schliesslich hatte Malthus den ersten Lehrstuhl für Politische Ökonomie am East India College in Haileybury inne, wo britische Kolonialbeamte ausgebildet wurden. Abgesehen von drastischen und gewaltsamen Interventionen Mitte der siebziger Jahre, darunter der Zwangsste­ rilisierung von über fünf Millionen Männern, setzte die indische Regierung auf «Freiwilligkeit» – dies im Gegensatz zu Chinas mit Zwang verordneter Ein-KindPolitik ab 1979. Frauen in Indien wurden mit kleinen Geschenken zu Sterilisierungen


Bevölkerungspolitik

motiviert, zugleich setzte man mit Unterstützung der USA auf den «Cafeteria Approach». Dabei machten Staatsbeamte indischen Paaren bei Hausbesuchen Pillen, Kondome und Spiralen schmackhaft. All dies mit dem einzigen Ziel, die Geburtenzahlen auf ein von der Zentralregierung vorgegebenes Soll zu reduzieren. Randeria betrieb 1999 und 2001 selber Feldforschung in Gujarat (Westindien) und Uttar Pradesh (Nordindien). Sie wollte verstehen, wie Soll-Geburtszahlen zwischen den Frauen auf dem Land, Beamten in den Dörfern, dem Ministerium in Neu Delhi, der amerikanischen Entwicklungsbehörde USAID und der Weltbank zustande kamen. «Dabei wurde mir klar, dass Familienplanung in Indien (wie auch in China) nicht die Planung der gewünschten Kinderzahl durch die Ehepaare, sondern die Planung der Geburten durch bürokratische Massnahmen bedeutet», schrieb sie später in einem Artikel. Randeria erkannte auch, dass die millionenschweren Programme sowie der insbesondere auf die verarmte ländliche Bevölkerung ausgeübte Zwang mit Soll-Kontingenten bis hin zu Menschenrechtsverletzungen am Ende nur einen geringen Einfluss auf die tatsächlichen Geburtenraten hatten. Sie verglich die offiziellen Zahlen der verbrauchten Verhütungsmittel in einzelnen indischen Bundesstaaten mit denjenigen der entsprechenden Gesamtfertilitäts-Raten, aber sie konnte keinen direkten Zusammenhang feststellen. Der Bundesstaat Kerala zum Beispiel hatte die geringste Fruchtbarkeitsrate Indiens (1,8 Kinder pro Frau), obwohl lediglich 40,5 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter (15 bis 45) moderne Verhütungsmittel benutzten. Der Punjab

Kinder gelten oft als Chance zur Statusverbesserung der Familie. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

22

hingegen zeigte mit 2,7 Kindern pro Frau eine wesentlich höhere Fertilität, obschon laut Statistik über 66 Prozent der Paare Familienplanung betrieben. Randeria erklärt diese Diskrepanz unter anderem damit, dass sich die meisten Frauen in Indien im Alter zwischen 30 und 35 Jahren sterilisieren lassen, also nachdem sie bereits die gewünschte Anzahl Kinder geboren haben. Ähnliches haben Ethnologen auch in Afrika beobachtet: Die amerikanische Anthropologin Caroline Bledsoe hat gezeigt, dass moderne Verhütungsmittel in vielen Ländern Afrikas nicht primär zur Verringerung der Anzahl Kinder dienen, sondern vielmehr zur strategischen Planung des Zeitpunkts und der Geburtsumstände. Kinder gelten oft als Chance zur Verbesserung der ökonomischen Situation und des Status der Familie. Kleinfamilien nach europäischem Zuschnitt erscheinen deshalb wenig attraktiv. Den in Kenia, Simbabwe und Botswana beobachteten Geburtenrückgang führte die Anthropologin in erster Linie auf den wirtschaftlichen Aufschwung und die politische Stabilität zurück und nicht auf die Verbreitung von Verhütungsmitteln. Aus Feldforschungen im ländlichen Asien weiss man zudem, dass Pillen und Kondome zwar oft dankbar angenommen werden, was aber noch lange nicht bedeutet, dass sie auch zweckgemäss eingesetzt werden. Kondome können auch als Dekoration für Kindergeburtstage dienen oder wegen der hohen Qualität des Kautschuks zum Reparieren von Veloreifen genutzt werden, wie in Bangladesh beobachtet. Der Wunsch nach einer Grossfamilie Zwar gibt es Studien, die die Variation der Fertilitätsrate zwischen unterschiedlichen Ländern zu 90 Prozent auf Unterschiede in der Nutzung von Verhütungsmitteln zurückführen. Steige deren Verwendung um 15 Prozent, so verhindere dies durchschnittlich ein Kind pro Frau, heisst es in einem Artikel des «Scientific American» von 1993. Als Beweis dafür wird Bangladesch angeführt, wo der massive Anstieg von Verhütungsmitteln zwischen 1970 und 1990 die Geburtenrate von 7 Kindern auf 5,5 gedrückt haben soll. Mit der Investition von


Magazin Greenpeace Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013 Nr. 4 — 2013

23

© KEYS TONE/ROBERT HARDING/ Tuul

Kolumnentitel


ZVG

Bevölkerungspolitik

Shalini Randeria, Professorin für Sozialanthro­ pologie und Soziologie, hält nichts von einfachen Kausalitäten zwischen Verhütungsmitteln und Geburtenraten.

einigen Milliarden Dollar in Kontra­zeptiva wäre somit das Bevölkerungsproblem zu lösen, folgerten die Autoren. Diese Nachricht fand bei vielen Planern von Antinatalitätsund Entwicklungshilfeprogrammen Gehör. Kurz darauf kam eine Studie des Welt­bank-Ökonomen Lant Pritchett jedoch zu genau gegenteiligen Befunden. Er verglich Daten des «World Fertility Survey» zur durchschnittlich erwünschten Kinderzahl in unterschiedlichen Ländern mit den tatsächlichen Fruchtbarkeitsrate und kam zum Schluss, dass 90 Prozent der hohen Fruchtbarkeitsraten in Entwicklungsländern in erster Linie auf den Wunsch nach Kinderreichtum und nicht auf das Fehlen von Kontrazeptiva oder mangelndes Wissen über Verhütung zurückzuführen seien. Das heisst: Will man das Bevölkerung­swachstum tatsächlich bremsen, muss man – ganz im ökonomischem Jargon – die hohe Nachfrage nach Kindern reduzieren und nicht das Angebot an Verhütungs­mitteln vergrössern. Randeria hält auch nichts von einfachen Kausalitäten zwischen Verhütungsmitteln und Geburtenraten: das sei «zu reduk­ tionistisch und nicht generalisierbar». Im südindischen Bundesstaat Kerala mit über 30 Millionen Bewohnern sank die Fertilitätsrate zwischen 1979 und 1991 von durchschnittlich 3 Kindern pro Frau auf 1,8. Heute liegt sie noch etwas tiefer und damit etwa auf mitteleuropäischem Niveau. Die Erfolgsgeschichte Keralas Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

24

ist laut Randeria das Resultat der positiven Wechselwirkung mehrerer Faktoren, darunter eines traditionell hohen gesellschaftlichen Status der Frauen, eines matrilinearen Erbrechts, einer hohen Alphabetisierungs­rate, längerer Ausbildungs­ zeiten, eines späten Heiratsalters und einer niedrigen Mutter- und Kindersterblichkeit dank guter staatlicher Gesundheitsver­ sorgung. Hinzu kamen die Einführung von konsequenten Agrarreformen und Pensionen. Am Ende war die geringe Fertilitätsrate Keralas eine ungeplante Folge von fortschrittlicher staatlicher Sozialpolitik, die in erster Linie das Wohl der Bevölkerung anvisierte und weniger die demografische Entwicklung. Frauenbildung als Schlüssel Ethnologen und Historiker haben gezeigt: Es gibt bis heute gibt kontextunabhängigen Allerweltslösungen, um einen Geburtenrückgang zu initiieren. Ein Faktor existiert jedoch, der seine globale Gültigkeit bewiesen hat: «Alle verfügbaren Studien zeigen, dass eine höhere Frauen­bildung die Geburtenraten senkt.» So evident die Korrelation auch ist, Randeria findet sie problematisch: «Selbst wenn die Forschung zeigen würde, dass Frauen mit höherer Bildung mehr Kinder kriegen, müsste man trotzdem darin investieren. Bildung ist ein Wert für sich. Sie ist ein Recht und eine staatliche Pflicht, kein Verhütungs­mittel.» Dem hätte sicherlich auch der französische Philosoph Marquis de Condorcet zugestimmt. Seine aufklärerische Sicht auf das zunehmende Ungleichgewicht zwischen Nahrungsmitteln und Bevölkerung stand Ende 18. Jahrhundert in krassem Kontrast zu Malthus’ Sozialdarwinismus. Condorcet setzte auf die menschliche Vernunft und eine bewusste, freiwillige Änderung des reproduktiven Verhaltens. Der Frauenbildung kam für ihn eine Schlüsselrolle zu. Hätte sich damals nicht Malthus’, sondern Condorcets Gedankengut durchgesetzt, und wäre seine aufklärerische Losung von «Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit» in den demografischen Dis­­kurs eingegangen – die aktuellen De­batten zur «Überbevölkerung» würden uns heute wohl als mittelalterlich erscheinen.


Position 4

Die Bevölkerung in Japan nimmt seit Jahren ab. Die zunehmend hohe Lebenserwartung der Senioren fordert der jungen Generation viel unbezahlte Leistung ab.

Japan wird alt In der japanischen Präfektur Nagano gibt es einen Berg namens Obasuteyama – der Berg, auf dem die Alten ausgesetzt werden. Dazu gibt es eine Legende. Eine Version besagt, dass die über 60-Jährigen in früheren Zeiten freiwillig auf den Berg gingen, um den Nachkommen nicht zur Last zur fallen. Eine andere Variante geht so, dass der Sohn die alte Mutter zum Sterben hinaufbringt. Als er bemerkt, dass sie unterwegs die Äste von den Bäumen knickt, damit er den Rückweg wieder findet, ist er von ihrer Liebe zu Tränen gerührt und nimmt sie wieder mit hinunter. Der japanischen Realität entspricht diese Legende natürlich nicht. Wahr ist, dass Japan vor einigen Jahren ins Zeitalter der Entvölkerung eingetreten ist. Dieser Befund mag angesichts der Massen in den Ballungszentren verwundern, aber ohne Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

25

massives Gegensteuern wird die japanische Bevölkerung von heute 127 Millionen in den kommenden Jahrzehnten jährlich um eine Million zurückgehen, so die Prognosen. 2060 wird Japan nach Schätzungen des Gesundheits- und Wohlfahrtsministeriums nur mehr 87 Millionen EinwohnerInnen haben. Bis dahin werden 40 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein. Die Herausforderung für die Gesellschaft ist die grosse Zahl pflegebedürftiger Menschen (derzeit rund sechs Millionen) und der Mangel an Pflegepersonal. Pflege wurde in Japan traditionell als Aufgabe der Frauen betrachtet, vor allem als Pflicht der Ehefrau des ältesten Sohnes, der im Elternhaus lebt. Und auch wenn die Traditionen aufbrechen, liegt der Prozentsatz alter Menschen, die von ihren Kindern gepflegt werden, immer noch um ein Vielfaches höher als im Westen.

KEYST ONE/AP/Jun ji Kuro kawa

Bevölkerungsrückgang Von Judith Brandner


Die Politik reagiert hilflos Ein Besuch bei Junko Yoshida in Kioto beleuchtet die Problematik. Die ehemalige Lehrerin an einer Kunstschule ist 70 Jahre alt, ihr Ehemann ist 74. Seit mehr als zwei Jahren pflegt sie ihre 94-jährige Mutter, die im gemeinsamen Haushalt lebt. Nach einem Hitzschlag hatte sich der Zustand der alten Dame verschlechtert und sie musste mehrmals ins Spital. Mit 84 brach sie sich den Fuss, seither kann sie nur noch schlecht gehen. Schliesslich bat die Mutter die Tochter, sie bei sich aufzunehmen. In ein Altersheim habe sie nie gehen wollen, denn für ihre Generation sei es selbstverständlich, dass sich die Kinder um sie kümmerten, sagt Junko Yoshida. Heimplätze sind zudem rar. Einen bis zwei Tage die Woche verbringt die Mutter in einem Tagespflegeheim, das entlastet die Yoshidas ein wenig. Einmal pro Monat kommt eine Angestellte der Stadt Kioto auf Besuch, die den Pflegenden zur Seite steht. Trotz dieser Hilfe fühlen sich die Yoshidas oft erschöpft und überfordert. Die demografische Entwicklung verläuft so rasant, dass die staatlichen Institutionen mit ihren Massnahmen hinter ihr her­hinken. Und die Frauen von Japan, das längst ein globalisiertes Industrieland ist wie etwa Österreich oder die Schweiz, zeigen immer weniger Lust, den Weg ihrer Mütter und Grossmütter zu gehen. Das hat Auswirkungen in der Gesellschaft: Wie können die Pensionen gesichert und wie kann für ausreichend Pflegepersonal gesorgt, wie der Überalterung auf dem Arbeitsmarkt und dem drohende Arbeitskräftemangel gegengesteuert werden? Auf diese Fragen reagiert die Politik hilflos. 2007 erreichte die erste Generation der Babyboomer das Pensionsalter – um die Lücke zu schliessen, wurde das Pensions­ alter auf 65 Jahre angehoben. Weitere Erhö­hungen sind angekündigt.

Das Zusammentreffen dieser Phänomene ist ein Zufall, macht aber die Lage enorm dramatisch. Ein Grund für die Entwicklung liegt in der rapiden Veränderung der ­Gesellschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Japans junge Frauen sind heute sehr gut ausgebildet, emanzipiert und berufstätig. In dem Mass, wie der Anteil der erwerbstätigen Frauen steigt, geht die Geburtenrate zurück, konstatiert Florian Coulmas, Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio und Leiter eines grossen Forschungsprojekts zum Be­völ­ kerungswandel. Viele Frauen arbeiteten aus ökonomischen Gründen, unter anderem um die hohen materiellen Ansprüche in der kapitalistischen Gesellschaft befriedigen zu können, sagt Coulmas.

Die meisten Jungen leben bei den Eltern Immer weniger junge Frauen ent­ scheiden sich für eine Ehe. Das wirkt sich massiv auf die Fruchtbarkeitsrate aus, denn traditionellerweise bekommen nur verheiratete Frauen Kinder. Rund ein Drittel der jungen Frauen zwischen Mitte zwanzig und dreissig gibt in Umfragen an, nicht die Absicht zu haben, je zu heiraten. Die Soziologin Sawako Shirahase von der Universität Tokio erklärt: «Sobald sie heiraten, müssen sie sich um die Kinder kümmern, den Arbeitsmarkt verlassen und können ihre Karriere nicht mehr weiter­verfolgen.» Work-Life-Balance ist zwar ein Schlagwort, das Regierung und Unter­ nehmen gleichermassen propagieren, doch in der Praxis ist die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Kindern überaus schwierig. 80 Prozent aller unverheirateten jungen Leute in ihren Zwanzigern und Dreissigern leben noch bei ihren Eltern, auch dies oft aus ökonomischen Gründen. Aus der eher düsteren Situation entstehen aber auch neue Ideen. Der sogenannte «Silver Market» etwa ist ein wichtiger GeschäftsDie Lage ist dramatisch zweig geworden – vom Mobiltelefon­ Das Fehlen von Zuwanderung ist einer hersteller bis zur Sport- und Reisebranche der Gründe, weshalb die Bevölkerung in hat die Wirtschaft die kaufkräftige und Japan zurückgeht, die niedrige Fruchtbar- rüstige Zielgruppe der 60- bis 70-Jährigen keitsrate , die mit 1,3 Kindern pro Frau unter entdeckt und bietet massgeschneiderte Produkte an. Die Entwicklung von dem Bestandserhalt liegt, sowie die welt­weit höchste Lebenserwartung sind weitere. Robotern für Pflege und Rehabilitation ist Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

26


KEYST ONE / E PA / FRANCK ROBICHON

Bevölkerungsrückgang

Der Nachwuchs in Japan ist mit einer immer älter werdenden und vor allem rüstigen Bevölkerung konfrontiert.

ein zukunftsträchtiges Forschungsgebiet. Es gibt etwa die Kuschelrobbe Paro, die zu streicheln sich auf das Verhalten Demenzkranker positiv auswirkt. Geforscht wird zudem am Ri-Man, einem Roboter, der nach einem Befehl an taktile Sensoren einen Patienten hochheben, halten und tragen kann. Für die Entwicklung künftiger Robotergenerationen werden die Neuroinformationstechnologien eine grosse Rolle spielen. Dabei geht es unter anderem um das sogenannte Brain Robot Interface BRI, eine Schnitt­stelle zwischen Gehirn und Roboter, die es ermöglicht, Bewegungen des Roboters mit Gedanken zu steuern. Das spezifische Gehirnmuster des Gedankens «Geh vorwärts» oder «Geh zurück» wird an das Interface gesendet und von dort weiter zum Roboter, der das Muster in die Tat umsetzt. Diese Schnittstelle zwischen menschlichem Gehirn und Roboter ist für Menschen gedacht, die Schwierigkeiten mit dem Sprechen haben. Geforscht wird auch am Design von Pflegerobotern: Sie müssen sicher und einfach zu bedienen sein. Dieses Ziel ist wohl realistischer als eine Zuwanderung aus dem Ausland, welche die demografische Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

27

Fehlentwicklung korrigieren könnte: Japan war nie ein Einwanderungsland und wird bei der heutigen Politik auch nicht dazu werden. Ausnahmen sind Frauen aus asiatischen Nachbarländern, die als Ehefrauen für Bauern in ländlichen Gebieten angeworben werben. In den vergangenen Jahren wurden auch einige tausend asiatische Pflegerinnen aufgenommen, die allerdings schwierige Sprachprüfungen und Ausbildungen absolvieren mussten, was nur wenige schafften. Langfristig wird wohl ein kleineres Japan übrigbleiben. Die demografische Entwicklung scheint derzeit in den Hintergrund zu treten, weil die Anstrengungen, die Lage um das havarierte AKW Fukushima in den Griff zu be­ kommen, sämtliche Kräfte beanspruchen.


Essay Von Philipp Löpfe

Position 3

Um eine Nahrungs­katastrophe zu vermeiden, braucht die Welt bald doppelt so viele Lebensmittel wie heute. Fünf Visionen könnten zu einer Lösung dieses Problems beitragen.

Der Hunger von zehn Milliarden

Wer im Silicon Valley Rang und Namen hat, beteiligt sich an einem Raumschiff. Elon Musk feiert nicht nur mit dem Elektroauto Tesla Erfolge, er ist auch die treibende Kraft hinter Space X, einem privaten Raumschiffunternehmen. Zusammen mit der Nasa hat es im Mai 2012 seine erste Rakete ins All geschossen. Ebenfalls ins Raketengeschäft eingestiegen sind Paul Allen, Mitbegründer von Microsoft, Amazon-Gründer Jeff Bezos, Larry Page von Google und Hollywood-Regisseur James Cameron. Weder kommerzielle Interessen noch der Wunsch nach Glamour stehen hinter dem Raketenspleen. Die ITMilliardäre verhalten sich wie die Gentleman-Wissenschaftler der Aufklärung, die dank ihrer privaten Forschertätigkeit im 18. und 19. Jahrhundert die Grundlagen der modernen Naturwissenschaften gelegt haben. Elon Musk & Co. werden aber noch von einem zweiten Motiv getrieben – der Angst, dass der Planet Erde bald zu klein wird für die Menschheit. Schon heute leben wir über unsere Verhältnisse – und die Zukunft sieht düster aus. Gegen zehn Milliarden Menschen werden bis Mitte dieses Jahrhunderts die Erde bevölkern. Sie werden mehr Nahrungsmittel brauchen, viel mehr sogar. Der deutsche Agroökonom Joachim von Braun schätzt, dass sich unser Bedarf an Lebensmitteln in den kommenden 40 Jahren nochmals verdoppeln wird. Ist das ohne Gentech und industrielle Landwirtschaft überhaupt machbar? Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

28


70 Prozent des Getreides ist heute Tierfutter 1971 veröffentlichte eine junge Hippiefrau namens Frances Moore Lappé ein Kochbuch mit dem Titel «Diet for a Small Planet». Es fusste auf einer einfachen Überlegung: «Was wir essen, können wir kontrollieren. Aber dieser Akt verbindet uns mit der wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Ordnung des ganzen Planeten.» Lappés Kochbuch wurde ein Bestseller, genauso wie «Diet for a New America», ein Buch von John Robbins aus dem Jahr 1987. Lappé und Robbins sind typische Vertreter einer Bewegung, die Essen, Gesundheit und Politik als Gesamtpaket betrachten. Als Amerikaner haben sie früh erlebt, welch verheerende Folgen die Steak- und Hamburger-Esskultur hat, und räumen gründlich auf mit dem Mythos, Hunger sei eine Folge von Überbevölkerung oder Mangel. Hunger ist vielmehr die Folge einer einseitigen Ernährung und einer falschen Verteilung der Lebensmittel. Hauptschuld am Hunger trägt ein übermässiger Fleischkonsum der Menschen im Westen. Rund 70 Prozent des Getreides werden heute nicht für die Produktion von Brot oder Teigwaren verwendet, sondern als Tierfutter. Noch krasser sieht es beim Wasser aus. Wer ein Pfund Rindfleisch verzehrt, verbraucht dabei etwa gleich viel Wasser wie wenn er ein halbes Jahr lang duscht. Oder um es in einem anderen, überraschenden Vergleich auszudrücken: Wer sich vorwiegend von Fleisch ernährt und einen umweltfreundlichen Toyota Prius fährt, hinterlässt einen grösseren ökologischen Fussabdruck als ein Vegetarier in einem Hummer. Das Potenzial der Kleinbauern Roger Thurow war 30 Jahre lang Reporter beim «Wall Street Journal». Dann hatte er genug von der Finanzwelt und wandte sich etwas ganz anderem zu. Anstatt zu analysieren, wie Banker und Hedgefonds-Manager ihr Geld an Computer­ terminals verdienen, beobachtete er ein Jahr lang, wie Kleinbauernfamilien in einem Weiler in Westkenia ihren kargen Lebensunterhalt erwirtschaften. Seine Erfahrungen schildert er im Buch «The Last Hunger Season». Die Landschaft, in der die kenianischen Kleinbauern leben, ist so, wie wir sie aus Filmen wie «Out of Africa» kennen. Das Leben der Menschen ist jedoch beinhart: «Das romantische Ideal von afrikanischen Kleinbauern – einer Landbevölkerung, die in Einklang mit der Natur lebt und blühende Felder pflegt – hat sich verwandelt in eine Horrorszene mit unterernährten Kindern, Knochen brechender Arbeit und tiefster Hoffnungslosigkeit», stellt Thurow fest. «Niemand sollte es wagen, die Romantik mit der Realität zu verwechseln. Afrika ist eine Albtraumlandschaft der Vernachlässigung.» Diese Albtraumlandschaft ist nicht gottgewollt. In Kenia beispielsweise gibt es genügend fruchtbares Land und mehr als genügend Personal, um es zu bewirtschaften – vier von fünf Kenianern sind heute noch Kleinbauern. Trotzdem ist der Hunger allgegenwärtig, vor allem in den Monaten vor der Maisernte im Juni. In diesen langen Wochen des «Wanjala» ist es Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

29


Essay

nach wie vor üblich, dass eine Tasse Tee, ein bisschen Mais oder gar nichts auf den Tisch kommt, dass unterernährte Schüler in den Schulen dem Unterricht nicht folgen können, weil sie zu schwach sind oder heimgeschickt werden, weil ihre Eltern das Schulgeld nicht bezahlen können. Die Kleinbauern arbeiten hart, aber dennoch können sie nicht einmal genügend Nahrung für sich selbst produzieren. Die Rettung liegt nicht bei grösseren Traktoren und Gentech. Das Hauptübel ist die Wirtschaftsordnung: Alles hat sich gegen die Kleinbauern verschworen. Sie verfügen über keinerlei Reserven, müssen ihren Mais verkaufen, wenn die Preise am Boden sind, und zukaufen, wenn sie am Höchstpunkt sind. Wird ein Kind krank oder bricht sich jemand ein Bein, muss die einzige Kuh verkauft werden, um den Arzt zu bezahlen. Ein Sack Mais mehr kann darüber entscheiden, ob eine Familie hungert oder nicht. «Es ist eine perverse Wirtschaftsordnung und eine, die Kleinbauern in ihrer Armut gefangen hält», stellt Thurow fest. Schon kleinste Änderungen dieser Wirtschafts­ ordnung zeigen deshalb spektakuläre Erfolge. Unter der Leitung des NGO One Acre schliessen sich Kleinbauern – genauer Kleinbäuerinnen, denn es sind meist Frauen – zu Genossenschaften zusammen. Sie erhalten besseres Saatgut zu vernünftigen Preisen, Dünger und Unterricht in der Anbaumethode. Auf dem gleichen Boden kann nun bis zu zehn Mal mehr geerntet werden. Die modernste Landwirtschaft ist ökologisch — und autark Kuba hat heute die vielleicht modernste Landwirtschaft der Welt. Die Bauern haben gelernt, die natürlichen Ressourcen optimal zu nutzen und weitgehend auf Kunstdünger und die Chemiekeule zu verzichten. Auch Urban Farming, in westlichen Städten bisher ein belächelter Trend der Alternativszene, ist in Kuba selbstverständlich geworden. Was Lebensmittel betrifft, ist Havanna eine beinahe selbstversorgende Stadt geworden. «Seit 1989 setzt die kubanische Regierung auf eine Politik, die auf einer neuen wissenschaftlichen Basis beruht, die besser auf knappe Ressourcen und auf die Notwendigkeit der Selbstversorgung abgestimmt ist», schreibt Miguel Altieri in seinem Buch «Agroecology». «Kubas neue Forschung betont stark das Verständnis und das Ausnützen der subtilen, jedoch mächtigen Möglichkeiten der biologischen Organismen. Biologisch bestimmte Dünge- und Unkrautvertilgungsmittel bilden deshalb das Herzstück eines nach biologischen Grundsätzen gemanagten Agroökosystems.» Altieri ist Agronomieprofessor an der Berkeley University in Kalifornien und gilt als einer der führenden Agroexperten der Welt. Kuba hat diesen Wandel nicht aus freien Stücken voll­zogen. Nach dem Fall der Berliner Mauer wurde die Karibik­ insel schlagartig vom Nachschub aus der Sowjetunion abgeschnitten. Im Jahr 1990 ging deshalb der Import der Unkrautvertilgungsmittel um 60 Prozent zurück, der Import von Dünger um 77 Prozent und derjenige von Öl für die Landwirtschaft um Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

30


Essay

50 Prozent. Bis dahin waren Fidel Castros Bauern alles andere als ökologische Musterknaben gewesen. Der Grad der Industrialisierung der kubanischen Landwirtschaft war fast so hoch wie derjenige in Kalifornien. Ohne Hilfe aus Moskau konnte dieses System jedoch nicht mehr aufrechterhalten werden. Schlimmer noch: Weil die Kubaner auch keine Lebensmittel mehr erhielten, musste ihre bisher auf Kunstdünger und Erdöl basierende Landwirtschaft nicht nur vollkommen auf den Kopf gestellt werden – um eine Hungerkatastrophe zu vermeiden, musste sie auch ihren Output verdoppeln. Vernünftige politische Unterstützung könnte die Profite der Kleinbauern steigern Die kenianischen Kleinbauern und das Beispiel Kuba zeigen, dass industrielle Landwirtschaft das Lebensmittel­ problem der Menschheit nicht lösen wird. Im Verbund mit der Nahrungsmittelindustrie führt dies im Gegenteil dazu, dass die viel zu billigen Kalorien verschwendet werden. Damit wird eine exzessive Fleischproduktion gefördert, die ethisch fragwürdig und ökologisch unsinnig ist. Der mit Salz, Zucker und Fett aufgemotzte Convenience Food macht die Menschen krank und dick. Die industrielle Landwirtschaft ist zudem keines­wegs so dominierend, wie oft vermutet wird. Nach wie vor produzieren Kleinbauern rund die Hälfte aller Lebensmittel und Biobauern erwirtschaften Erträge, die nur leicht unter denjenigen der Grossbetriebe liegen. Sie schonen dabei nicht nur die Umwelt, sie sind auch profitabler. «Neue ökonomische Bewertungen legen den Schluss nahe, dass die Profite der organischen Farmen diejenigen der konventionellen Betriebe übersteigen», stellt Altieri fest. Mit einer vernünftigeren politischen Unterstützung könnten es aber deutlich mehr sein. Anstatt die industrielle Landschaft mit unsinnigen Anreizen zu fördern, noch mehr billige Kalorien zu produzieren, die fast zur Hälfte weggeworfen werden, sollte eine biologische Kleinbauernlandwirtschaft genügend Unterstützung erhalten, um eine nachhaltige Lebens­mittelproduktion zu sichern. Es ist auch legitim, Zölle zum Schutz einer solchen Landwirtschaft einzusetzen. Es gibt weder ein ökonomisches noch sonst ein Gesetz, das den Import von unter fragwürdigen Umständen hergestellten Lebensmitteln (vor allem von Fleisch) rechtfertigen würde.

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

31


Bevölkerungswachstum Von Thomas Niederberger

Position 3

Können immer mehr Menschen nachhaltiger leben? Nicht, wenn jeder vom Einfamilienhaus im Grünen träumt. Die ökologische Zukunft sind neue Städte.

Strategien für eine dichtere Welt

Wenn alle sieben Milliarden Menschen dieser Erde eines schönen Tages beschliessen würden, sich zu versammeln, könnten sie das zum Beispiel in den Kantonen Bern und Aargau tun. Dann hätten immer noch alle einen Quadratmeter Standfläche. Wenn alle so viel konsumieren, wie sie es heute tun, brauchen sie anderthalb Planeten. Würden sie sich dem Konsum-Niveau des Durchschnittsschweizers anpassen, sogar knapp drei Planeten. Gemäss aktuellen Studien soll die Weltbevölkerung bis 2050 auf gegen 10 Milliarden wachsen. Gleichzeitig wächst die Wirtschaft – und damit Konsum und Energieverbrauch vor allem in aufstrebenden Ländern wie China, Brasilien und Indien. Damit steigen die Treibhausgas­ emissionen und die Klimaveränderung bedroht Siedlungsräume und Landwirtschaft. «Es ist offensichtlich, dass die armen Länder eine Entwicklungschance brauchen, unter anderem um ihr Bevölkerungs­ wachstum zu bremsen. Aber es ist ebenso klar, dass sie dafür nicht auf den gleichen klimaschädlichen Entwicklungsweg Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

32

geschickt werden dürfen, den die Industrienationen gegangen sind», heisst es in einem Diskussionspapier des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. In den Ländern des Südens brauche es darum vor allem Bildung, Armutsbekämpfung und Rechte für die Frauen, um das Bevölkerungswachstum zu bremsen. Die Länder des Nordens hingegen seien gefordert, ihren Verbrauch zu reduzieren. Mit anderen Worten: Es braucht globale Gerechtigkeit. So weit die Ausgangslage. Fragt sich nur, wo anfangen? Zum Beispiel in Masdar City, einer Stadt in Abu Dhabi, die frisch aus der Wüste gestampft wird. Das Geld dafür riecht stark nach Erdöl. Es gehört einer Fürstenfamilie, die weiss, dass es nicht ewig sprudelt. Masdar ist ihr Versuch, sich für die post­ fossile Gesellschaft zu positionieren, «geplant, um die höchste Lebensqualität mit dem tiefsten ökologischen Fussabdruck zu ermöglichen – auf eine kommerziell machbare Weise», verspricht die Website. Mit dabei sind weltweit führende Konzerne in den Bereichen Bautechnologie,


33

© J eremie So ut eyrat

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013


Ein Wertewandel ist feststellbar, aber er verläuft noch viel zu träge. Und über allem hängt die Frage, wer über die Verwendung knapper Ressourcen entscheiden kann.

Transport- und Energiesysteme. Hier betreiben sie Forschung und erproben neue Technologien im 1:1-Massstab. Es geht um den vielleicht wichtigsten Markt der Zukunft: Bereits jetzt leben mehr Menschen in Städten als auf dem Land, bis 2050 soll ihr Anteil auf zwei Drittel wachsen. Die Konkurrenz ist hart. Auch China setzt auf «grüne» Technologien. Seit 2007 wurde die Produktion von Solarzellen dank strategischer Förderung jährlich verdoppelt und mit Yixing ist ebenfalls eine Ökostadt am Enstehen, in Kooperation mit dem World Business Council for Sustainable Development.

bläulich schimmernder Kristall. Der direkte Weg von der neuen Haltestelle der Glattalbahn zur Caféteria der Eawag geht über einen Trampelpfad und durch ein Gebüsch. Einige nutzen ihn also schon. Dr. Dominic Notter ist Forscher an der Empa, die ihre Büros gleich nebenan hat, und Mitautor einer Studie mit dem Titel «Der westliche Lebensstil – ein weiter Weg zur Nachhaltigkeit». Die Empa erforscht neue Technologien und ihre Umweltverträglichkeit, die Studie sei eine Art Nebenpro­ dukt davon, erklärt Notter. «Speziell daran ist, dass wir mit Daten aus einer repräsentativen Umfrage zum Lebensstil der SchweizerInnen arbeiten – und Es braucht die Einsicht und die dieser Querschnitt, gemessen am CO2Beteiligung aller Betroffenen Ausstoss, entspricht ziemlich genau dem So wertvoll solche Initiativen für den westlichen Lebensstil.» Erfasst wurde technologischen Fortschritt sein mögen, sie das private Konsumverhalten, Wohnen, haben ein Problem: Von autoritären Mobilität, Ernährung und Recycling. Dabei Regierungen angestossen, riskieren sie, an haben Notter und seine Kollegen eine einer Bevölkerung vorbei geplant zu Entdeckung gemacht: die «Sub-Population werden, die nichts zu sagen hat. Und mit n». Das sind 107 Individuen von 3369 vereinzelten Leuchtturmprojekten allein Befragten, die mit einem global nachhaltilässt sich die grösste Herausforderung – gen Energieverbrauch von rund 2000 Watt der ökologische Umbau bestehender Städte auskommen (siehe Kasten «2000-Wattund Infrastrukturen – nicht bewerk­ Gesellschaft» S. 37). Die Sub-Population n stelligen. Dafür braucht es die Einsicht und ist zu zwei Dritteln weiblich, im Durchschnitt 50 Jahre alt und verdient 34 600 Franken die Beteiligung aller Betroffenen. pro Jahr. Sie isst dreimal wöchentlich Fleisch, Ortstermin in Dübendorf. Genauer fährt drei Stunden Zug und verbraucht im gesagt, irgendwo im Wachstumsgebiet der «Glatttalstadt» zwischen Überlandstrasse, Haushalt jährlich 6000 kWh Strom – kaum weniger als der allgemeine Durchschnitt. S-Bahn, Autobahn, einer Tankstelle Hingegen besteigt sie nur alle sechs Jahre ein und einem Autohändler neben Resten von Flugzeug statt jährlich. Angenommen, Kuhweiden. Dazwischen steht das Nulldie Menschen hinter der Statistik würden Energie-Bürogebäude der Eawag wie ein Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

34


Bevölkerungswachstum

zu Trendsettern für den nachhaltigen Lebensstil der Zukunft, dann würden wir unseren Abfall weiterhin rezyklieren (auch wenn das für den Verbrauch kaum ins Gewicht fällt) und die Ernährung würde lokal produziert, mit wenig Fleisch und tierischen Produkten (nicht unbedeutend). Die massivsten Änderungen beträfen Mobilität und Wohnen: Frau n legt jährlich nur 1700 Kilometer mit dem Auto zurück, weniger als 20 Prozent des Schweizer Durch­schnitts, und braucht nur halb so viel Heizenergie, weil sie mit 35 Quadratmetern beheizter Wohnfläche auskommt. So weit die Statistik. Nur, was sind das für Menschen? Die perfekten Öko­asketen? Prekäre Stubenhocker, die sich weder Auto noch Ferien in Übersee leisten? Student­ Innen in Wohngemeinschaften? Anhaltspunkte dazu geben die Daten zum Einkommen. Allgemein nimmt der Verbrauch mit grösserem Einkommen linear zu. Wer mehr verdient, konsumiert auch mehr – selbst wenn jemand sich ein Minergie-Einfamilienhaus und ein Hybridauto leistet, aber dafür viel Fläche braucht und täglich mit dem Auto zur

Es ist durchaus möglich, mit zwei Dritteln weniger Energiekonsum als der Schweizer Durchschnitt zu leben.

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

35

Arbeit pendelt (Rebound-Effekt). Von den 216 eher gut verdienenden Individuen, die in einem Minergiehaus leben, schaffen es gerade einmal 16, mit 2000 Watt auszukommen. Anderseits verdienen die Sparsamen im Durchschnitt zwar 10 000 Franken weniger als der Schnitt, aber es gibt darunter auch einzelne mit 80 000 Franken Jahreseinkommen. «Bei ihnen kann man davon ausgehen, dass die Sparsamkeit kein ökonomischer Zwang, sondern ein bewusster Entscheid zur Genügsamkeit ist», schliesst Notter und folgert: «In naher Zukunft ist eine 2000Watt-Gesellschaft nur realistisch, wenn technologische Effizienzsteigerung mit einer intelligenten Suffizienz­strategie kombiniert wird.» Gebaut wird seit Jahren vor allem für Singles und Doppelverdiener Nennen wir sie also die «Suffizienten» – eine kleine Minderheit zwar, aber sie beweist, dass es durchaus möglich ist, mit zwei Dritteln weniger Energiekonsum als der Schweizer Durchschnitt zu leben, und sich damit auf einem Niveau bewegt, das global nachhaltig wäre. Notter vermutet, dass die meisten von ihnen im städtischen Raum leben, allerdings hat er keine Daten dazu. Wieso die Stadt und nicht das Häuschen auf dem Land mit eigenem Garten, das für viele immer noch der Inbegriff des «natur­nahen» Lebens ist? Die Stadt ermöglicht einen ökologischen Lebensstil bei hoher Qualität, weil Wohnen, Arbeit, Beziehungen und Freizeit in ­ Fuss- und Velodistanz liegen. Eine tiefe Pro-Kopf-Wohnfläche gehört für viele dazu – nur schon wegen der hohen Mieten muss eine typische 110-QuadratmeterWohnung für eine Kleinfamilie oder eine 3er-WG reichen. Allerdings zieht der Immobilienmarkt in eine andere Richtung: Gebaut und saniert wird seit einigen Jahren vor allem für Single­haus­halte und Doppelverdiener, die gross­zügige Wohnflächen belegen. In Neubauten in der Stadt Zürich nutzt eine Person im Schnitt fast 70 Quadratmeter. «Technologien und Lenkungsinstrumente für den ökologischen Umbau stehen eigentlich bereit», schliesst der Empa-Forscher


Notter. Eine ökologische Steuerreform würde helfen. Das Benzin müsste teurer werden. Das Problem liege bei der politischen Akzeptanz «und am Ende regiert halt schon das Geld». Seinen Beitrag sieht er darin, «das Thema präsent zu halten, um ein langsames Um­denken zu bewirken». Dass in der Stadt Zürich mit 76 Prozent Ja-Stimmen das Ziel einer 2000-Watt-Gesellschaft in die Gemeindeordnung auf­ge­ nommen wurde, gibt ihm Hoffnung. «Das zeigt, dass ein Wertewandel stattfindet.» Ein Wertewandel kann auch ins Geld gehen. Jungen Erwachsenen scheint es immer weniger wichtig, den Führerausweis zu machen und ein eigenes Auto zu besitzen. Wie das Magazin «Spiegel» meldet, liegt das Durchschnittsalter von Neuwagenkäufern in Deutschland bereits bei 52 Jahren. In Trendsetter-Städten wie Berlin und New York besitzt die Hälfte der BewohnerInnen kein Auto und die andere lässt es meist in der Garage stehen. Den Autokonzernen macht diese Entwicklung zunehmend Sorgen, einige gehen in die Offensive: Mercedes, BMW und Citroën haben Car-Sharing-Angebote entwickelt, um die junge, urbane Klientel, die sich ums Statussymbol Auto foutiert, bei der Stange zu halten. Trendforscher sehen dies als Bestätigung, dass auch die Grosskonzerne die Entwicklung zur «Share Economy» nicht mehr ignorieren können. Die Lösung heisst Teilen. Was mit dem Do-it-Yourself des Punk und mit esoterisch angehauchten Tauschkreisen begann, etablierte sich über die Open-SourceInformatik, Wikipedia und Filesharing und drängt nun mit Wucht in die Welt der

In Städten wie Berlin und New York besitzt die Hälfte der Menschen kein Auto. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

36

Hardware. Von herumstehenden Autos über schlecht ausgenutzte Wohnungen und Büroräume bis zu Staub ansetzenden Bohrmaschinen und Rasenmähern – teilen kann man fast alles, das ökonomische Potenzial ist gewaltig und mit seiner Vermittlung kann Geld verdient werden. Dass Teilen effizient und ressourcenschonend ist, wird auf den entsprechenden Websites oft als angenehmer Nebeneffekt erwähnt. Für die Nutzer wird der vordergründige Nachteil, nicht jederzeit uneingeschränkt über ein eigenes Ding verfügen zu können, durch die emotionalen Vorteile wettgemacht: sozialer Austausch und ein unverkrampftes Gefühl der Zugehörigkeit. Werte, die der Vereinzelung entgegenwirken. Beziehungen pflegen ist wertvoller als noch mehr Besitz Das Prinzip der Share Economy geht in Richtung dessen, was der Ethnologe Marshall Sahlins als «ursprüngliche Überfluss­gesellschaft» bei Jäger-undSammler-Gesellschaften beschrieben hat: Maximiert wird nicht der persönliche Besitz (der eh nur Ballast ist), sondern die Anpassungsfähigkeit an eine gegebene Ressourcenbasis mit dem Ziel, möglichst viel Zeit für die schönen Seiten des Lebens zu haben: Beziehungen pflegen, Feste feiern, Geschichten erzählen, faulenzen. Anders gesagt: An die Stelle der linearen Konsumsteigerung (Abb. 1, Kurve B) tritt die abflachende Kurve der «GlücksÖkonomie» (Kurve A). Mehr Besitz und Konsum macht nicht immer noch glücklicher, der Grenznutzen nimmt ab. Jeremy Williams, Autor des Blogs «Make Wealth History», erklärt es so: «Einen Kaffee auf Kosten des Hauses geschenkt zu bekommen, ist super, der zweite ist willkommen, aber niemand will zehn haben.» Man könnte anfügen: «Niemand ausser ein Kaffeesüchtiger.» Die Heraus­ forderung, die sich uns im kon­sum­ gesättigten Westen stellt, ist vergleichbar mit einem Entzug: Lernen, mit weniger glücklich zu sein. Qualität statt Quantität. Fassen wir die Stränge zusammen. Bevölkerungswachstum reduzieren braucht globale Verteilungsgerechtigkeit. Wir sind nicht zu viele, wir brauchen aber zu viel.


Bevölkerungswachstum

Zufriedenheit

A

B

Besitz

Abb. 1  Frappante Kurve: Zufriedenheit hängt nicht für ewig von materiellem Besitz ab — irgendwann ist der Mensch saturiert oder vieler Dinge gar überdrüssig.

Technologische und organisatorische Lösungen für ein gutes Leben mit weniger materiellen Dingen sind nicht nur bekannt, sie werden auch bereits angewandt. Ein Wertewandel ist nötig und feststellbar, aber er verläuft noch viel zu träge. Und über allem hängt die omnipräsente, aber meist verdrängte Frage, wer über die Verwendung knapper Ressourcen entscheiden kann. Diese Frage der Machtverteilung und der Demokratisierung der Wirtschaft lässt sich immer weniger ignorieren, denn sie zielt mitten in die Zentren der Metropolen – von Tahrir, Syntagma und Plaza del Sol über Occupy Wall Street bis zum Gezi-Park und nach Brasilien. Der Autor David Graeber versteht diese «transformativen Ausbrüche der Imagination», so unterschiedlich die Auslöser und Forderungen auch sein mögen, als Versuche, «gemeinsame Probleme der Menschheit auf gleichbe­ rechtigte, demokratische Weise zu lösen». Die tiefgreifenden Veränderungen, welche die Beteiligten dabei durchleben, schaffen gleichzeitig neue Modelle, Werte und Denk­weisen, die auf die ganze Bevölkerung ausstrahlten – und zwar im Fast-ForwardModus. Gut möglich, dass man unter den Akteuren einige unserer «Suffizienten» antreffen würde, denke ich auf dem Heimweg durch den Siedlungsbrei der Glatttalstadt. Imagination – sich eine andere Lebensweise überhaupt vorstellen zu können – ist vielleicht die beste Übung für die Zukunft in einer dichten Welt. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

37

2000-Watt-Gesellschaft: Das Konzept für eine 2000-Watt-Gesellschaft stammt ursprünglich von der ETH. Der Name ­bezieht sich auf den Energieverbrauch, der pro Kopf weltweit nachhaltig produziert werden kann. Der Standard kann auf Gebäude, Areale, Gemeinden, Städte und Regionen angewandt werden wie auch auf den persönlichen Verbrauch. Zu den ursprünglichen Partnerstädten Basel, Zürich und Genf sind weitere ­dazu­gekommen, darunter zehn Städte in der ­Bodenseeregion, die im Herbst eine eigene 2000-Watt-Kampagne lanciert haben. www.wirleben2000watt.com www.2000watt.ch


Glossar

Zusammengestellt von Mathias Plüss

Begriffe und Persönlichkeiten rund um die Bevölkerungsdebatte Antinatalitäts­ programm

Staatliches Massnahmenpaket zur Verringerung der Geburtenzahl, bestehend etwa aus Verhütungsförderung, Vorschriften und Anreizen für weniger Kinder. Länder wie Iran, Indien und China haben damit erfolgreich die Fertilität ihrer Frauen gesenkt. Die chinesische Regierung behauptet, durch die restriktive Ein-KindPolitik seit 1979 rund vierhundert Millionen Geburten verhindert zu haben. Ein grosses Problem ist aber der zunehmende Männerüberschuss infolge der häufigen Abtreibung von Mädchen.

Condorcet, Marquis de (1743 – 1794)

Französischer Aufklärer, der als Erster das Problem der Ernährung einer stetig wachsenden Bevölkerung formulierte. Als Gegenmassnahme propagierte er den landwirtschaftlichen Produktivitätszuwachs, insbesondere aber forderte er Bildung für alle, also auch für Frauen. Mit der Idee, die Frauen auf diese Weise zu einer freiwilligen Reduktion der Kinderzahl zu bewegen, war Condorcet seiner Zeit weit voraus.

Demografische Entwicklung

Langfristiger Wandel der Bevölkerungszahl und -struktur eines Landes. Die zuneh­ mende Lebenserwartung und die sinkende Fertilität führen vielerorts zu einer Überalterung, die aber – etwa in der Schweiz – durch Einwanderung gebremst wird. Bis zum Ende des Jahrhunderts wird sich aber auch in den Entwicklungsländern der Anteil der über 59-Jährigen Die durchschnittliche Einwohnerzahl verdreifachen, von heute 9 auf 27 Prozent pro Quadratkilometer, also die Bevölkerung der Bevölkerung. geteilt durch die Fläche eines Landes.

Bevölkerungsdichte

Depopulation

Bevölkerungspeak

Das Jahr, in dem die Bevölkerung eines Gebiets ihren höchsten Stand erreicht. Gemäss UNO könnte das global bereits 2050 der Fall sein – allerdings nur, wenn die Fertilität kontinuierlich von heute 2,5 auf 1,5 Kinder pro Frau sinkt. Verharrt sie langfristig bei 2 Kindern weltweit, so beginnt die Weltbevölkerung erst Mitte des 22. Jahrhunderts langsam zu sinken. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

38

Rückgang der Bevölkerung eines Gebiets. Früher hauptsächlich verursacht durch Seuchen, Kriege und Hungersnöte, heute durch sinkende Geburtenraten und Auswanderung. Von den grossen Ländern verzeichnen derzeit Japan, Russland und Deutschland einen Bevölkerungsrückgang. Der Flächenstaat mit der grössten Entvölkerungsrate ist derzeit Moldawien.


Fertilität

Auch Fruchtbarkeitsrate genannt. Gemeint ist die Gesamtzahl der Kinder, die eine Frau durchschnittlich im Lauf ihres Lebens haben wird (unter der Annahme, dass die heutigen Geburtenzahlen etwa gleich bleiben). Damit die Bevölkerung stabil bleibt, muss die Fertilität bei etwa 2,1 Kindern pro Frau liegen – in Entwicklungsländern wegen der höheren Kindersterblichkeit bei etwa 2,3. In der Schweiz liegt sie derzeit bei 1,5.

Geburtenrate

Anzahl Kinder pro 1000 Einwohner, die in einem Land in einem Jahr geboren werden. In Krisenzeiten geht die Geburtenrate typischerweise zurück — in Griechenland sank sie seit 2008 um 15 Prozent. Oft ist der Kinderwunsch in solchen Situationen aber nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben.

Generation Babyboomer

Jene Menschen, die in den Jahren steigender Geburtenraten nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden. Die Phase geburtenstarker Jahrgänge endete in den sechziger Jahren mit dem Pillenknick.

Ökologischer Fussabdruck

Fläche in Hektaren, die benötigt wird, um die Ressourcen zu erzeugen, die ein Mensch verbraucht. Der ökologische Fussabdruck ist ein Mass für die Umwelt­ verträglichkeit des individuellen Lebensstils. Pro Person stehen etwa 1,8 Hektaren Land zur Verfügung – der durchschnittliche Fussabdruck beträgt aber global derzeit 2,7 und in der Schweiz gar 5 Hektaren. Wir leben über unsere Verhältnisse. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

39

Malthus, Thomas Robert (1766 – 1834) Einflussreicher britischer Geistlicher und Gelehrter, der 1798 durch seinen Essay «Das Bevölkerungsgesetz» berühmt wurde. Darin stellte er die These der ungehemmten Vermehrung der Menschheit auf: Die Bevölkerung wachse stets viel rascher als die landwirtschaftliche Produktion. Anders als Marquis de Condorcet war Malthus pessimistisch: Die Natur müsse notwendigerweise von Zeit zu Zeit mit Naturkatastrophen und Hungersnöten korrigierend eingreifen, um das Bevölkerungswachstum zu stoppen. Später plädierte Malthus allerdings auch für eine Bildungs­ offensive für die Armen.

Sahlins, Marshall (geb. 1930)

Amerikanischer Ethnologe. Er wurde bekannt mit der These, dass die Jäger und Sammler nicht permanent um ihr Überleben kämpfen mussten, sondern vielmehr in einer Art urzeitlicher Überflussgesellschaft lebten. Vielerorts sei mehr als genug Nahrung vorhanden gewesen und die Jäger und Sammler hätten stets nur so viel Essen besorgt, wie sie gerade benötigten. Da sie darüber hinaus keinen materiellen Besitz anstrebten, hatten sie sehr viel Freizeit. Sie lebten im Überfluss – wenn auch in einem ganz anderen als wir heute.


40

© Christia n Grun d

Magazin Magazin Greenpeace Greenpeace Nr. 4 — 2013 4 — 2013


Ressource Sand Von Matthias Wyssmann

Position 4

Am letzten 28. Mai zur Hauptsendezeit hatten viele Fernsehzuschauer ein Schock­ erlebnis: Auf Arte wurde der Dokumentarfilm «Sand — die neue Umweltzeitbombe» 1 ­ausgestrahlt: Der Welt geht der Sand aus. Strände schwinden, Flüsse leiden, Meeres­ böden werden geplündert. Hauptver­ antwortlich ist unökologisches Bauen im Angesicht von Migration und Bevölkerungswachstum. Greenpeace hat mit Regisseur Denis Delestrac ein Gespräch geführt.

Jedes Sandkorn zählt So weit ist es also gekommen: Jetzt geht der Menschheit selbst der Sand aus. «Wie Sand am Meer» lautete bis vor Kurzem die Redensart für unermessliche Verfügbarkeit. Die Wendung gehört nun der Vergangenheit an. Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt, dass uns bald Erdöl und Uran ausgehen werden. Aber der Sand? Und doch ist es nicht mehr zu übersehen, weder in Miami Beach noch an fernöstlichen Stränden: Rund um den Globus schrumpfen die Strände. Zuweilen werden ganze Häuserzeilen unterspült und vom Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

41

Meer weggefressen. Ganze Ökosysteme werden zerstört. Die Folgen sind schwerwiegender, als man glauben könnte. Der französische Regisseur Denis Delestrac hat von Asien bis Amerika die schleichende Umweltkatastrophe dokumentiert und ihre Ursachen verständlich und berührend in einen Film gepackt. Seine «Untersuchung eines Verschwindens» ist ein AhaErlebnis, das sich auf weit mehr als auf Sandstrände bezieht: auf den wichtigsten Baustoff unserer Gesellschaft. 1

«Le sable — enquête sur une disparition»


Neuland aus dem Schlauch: Vor Dubai wurden 2005 künstliche Inseln in Form von Palmen aufgeschüttet.

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

42


Ressource Sand © REUTERS / Anwa r Mir za

Wie reagiert es? Ohne zu übertreiben: zu 100 Prozent positiv. Die Menschen sind beeindruckt. Viele sagen mir: «Jetzt verstehe ich, warum mein Strand immer schmaler wird.» Oder: «Als ich jünger war, ging ich oft an einen breiten Strand. Jetzt ist er nicht mehr da.» Viele Leute, auch Kinder, bedanken sich bei mir und sagen: «Ich sehe den Strand jetzt mit anderen Augen.» Das ist fantastisch! GP: Formiert sich so etwas wie eine Bewegung zum Schutz der Strände? DD: Leider nein. Es gibt – je nach Land oder Region – Gruppierungen, die sich für den Sand einsetzen, Aktivisten, die für ihre Strände kämpfen, ob in der Bretagne oder in den USA. Doch das ist alles sehr fragmentiert. Global gesehen fehlt das Bewusstsein. Es gibt keine Leader, die sich dieses Anliegen auf die Fahne schreiben, um es zu bekämpfen. GP: Wie haben Umweltorganisationen auf Ihren Film reagiert? DD: Da passiert noch wenig. Es gibt Coastal Care, eine Organisation in Kalifornien (www.coastalcare.org). Das sind wirklich Pioniere beim Schutz der Küsten, der Verteidigung der Strände und im Kampf gegen das Sand Mining. Nur müssen wir jetzt einen Gang höherschalten, um die nötige Dringlichkeit zu erzielen. GP: Aber die Politik ist wohl weit davon entfernt, etwas zu unternehmen … DD: Nicht unbedingt. Zumindest in Frankreich benutzen Politiker den Film, um in ihren Regionen vom Verschwinden der Strände zu reden. Nun haben sie ein Werkzeug, um auch anderen zu erklären, was passiert. Vorher wussten sie nicht, wie sie die Probleme verständlich machen sollten. Es ist ein sehr wissenschaftliches Greenpeace: Denis Delestrac, Ihr Film hat wie Thema, bei dem es um die Dynamik eine Bombe eingeschlagen … der Küsten, um Strömungslehre und so Denis Delestrac: Die erste Reaktion erfolgte weiter geht. Ich glaube, wir haben das Ganze noch vor der Ausstrahlung im TV, als wir den verdaulich dargestellt. Film an die Presse schickten. In Frankreich griffen die Medien das Thema sofort auf. Ein komplexes Thema spannend wie Jedermann sprach davon, weil niemand einen Krimi darzustellen, das haben bisher von der Sache gewusst hatte. Als der Denis Delestrac und seine Crew wirklich geschafft. Die Bilder sind nicht nur für Film dann ausgestrahlt wurde, schlugen alle verständlich, sie sind auch intensiv, wir den Zuschauerrekord. Seither reise ich aufrüttelnd und doch sachlich und an viele Festivals und kriege mit, wie das unaufgeregt. Publikum reagiert. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

43

GP:

DD:


Ressource Sand

Bis 2025 sollen 75 Prozent der Menschen in Küstennähe wohnen. Ein Kunststück, wenn man bedenkt, wie verzwickt sich die Sache mit dem Sand verhält. Sand ist der am meisten unterschätzte Rohstoff. Aus ihm wird Glas gemacht. Ohne Sand gäbe es keine Mikroprozessoren in unserer Elektronikgeräten. Sand steckt in Flugzeugen, Waschmitteln und im Wein – vor allem aber im Beton. Heute bestehen zwei Drittel der Gebäude weltweit aus Stahlbeton, und der enthält zu zwei Dritteln Sand. Ein durchschnittliches Haus verschlingt 200, ein Kilometer Autobahn 30 000, ein AKW 12 Millionen Tonnen. Jedes Jahr verbraucht die Menschheit 15 Milliarden Tonnen Sand. Und zwar keinen Wüstensand, der zum Bauen unbrauchbar ist, sondern Meersand und Strandsand. Auf der Erde sind schätzungsweise 75 bis 90 Prozent der Strände auf dem Rückzug. Für die Bauwirtschaft wird vor den Küsten mit gigantischen Schiffen Sand aus dem Meer gepumpt. Die Löcher, die so entstehen, füllen sich in kurzer Zeit wieder mit Sand, der von den Stränden ins Meer wandert. Singapur. Die «asiatische Schweiz» wächst seit Jahrzehnten. Die Wirtschaft, die Bevölkerung, die Skyline – aber auch das Territorium: Das Land ist zum Wachstum verdammt. In den letzten 40 Jahren sind nicht nur die Häuser in die Höhe geschossen, sondern es wurden auch 20 Prozent neue Landflächen aufgeschüttet, mit unermesslichen Mengen Sand. In Dubai – dem «Sandkasten für grössenwahnsinnige Baulöwen» – steht der Burj Khalifa, das höchste Gebäude der Welt, ein gigantischer Turm aus Beton und Glas. Vor allem aber entstehen im Emirat die Projekte «The Palm» und «The World», künstliche Sandinseln vor der Küste, damit Reiche und Superreiche ihre eigene Insel, ihren eigenen Strand besitzen können. Die Menschheit drängt an die Küsten. Bis 2025 sollen 75 Prozent in Küstennähe wohnen, und das bei ungebremstem Bevölkerungswachstum. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

44

Greenpeace: Im Umweltschutz wird das Bevölkerungswachstum oft ausgeblendet, als wäre es ein Tabu. Denis Delestrac: Das ist seltsam. Ich glaube, es ist die Quelle aller unserer Probleme auf dem Planeten: Wir sind zu viele … Aber da ist nicht nur das Bevölkerungswachstum, sondern auch jenes der Wirtschaft. Die sandhungrigen Golfstaaten zum Beispiel sind demografisch recht stabil. GP: Im Binnenland Schweiz wollen immer mehr Menschen immer mehr Wohnfläche, oft im Grünen. DD: Und weltweit verdichten sich die Küstensiedlungen – ein echtes Problem. Vor 50 oder 60 Jahren wohnten dort vor allem Fischer. Die Strände interessierten wenig. Dann entwickelte sich der Tourismus. Heute wird dort ein Drittel der Ferien verbracht. Und viele möchten am liebsten am Meer leben. Deshalb werden die Küsten zugebaut. Was man leider nicht weiss: Indem man nah an die Strände baut, hindert man sie daran zu «atmen», sich vor- und zurückzubewegen, wie jeder Strand es täte, wäre er nicht von Beton blockiert.

Delestracs Film zeigt die Absurdität sehr anschaulich: Es zieht uns an die Küsten und Strände. Ironischerweise werden diese aufgebraucht, um Hotels und Städte zu bauen. Weil wir so nah ans Wasser bauen, können sich die Strände nicht regenerieren. In Miami Beach und anderswo werden Unsummen investiert, um die Strände mit neuem, vom Meeresgrund gepumptem Sand zu erhalten – der das Problem nur verschlimmert und ohnehin rasch wieder abgetragen wird. Um den Sand, der einmal gratis war, ist ein gigantisches Geschäft entstanden. Sand wird rund um den Planeten verschoben – oft illegal. In Singapur dominiert der Sandschmuggel. In Indien ist die Sandmafia die mächtigste kriminelle Organisation des Landes, die vor nichts zurückschreckt


Gibt es auch eine gute Nachricht? Ja. Es gibt tausend Möglichkeiten zu handeln – auch lokal. GP: Zum Beispiel bei der Art, wie wir bauen? DD: Ja. Wir könnten zum Beispiel aus Glas wieder Sand herstellen. Wir könnten Bauschutt zu Granulat rezyklieren. Aus Altmetall liessen sich sogar Hochhäuser bauen. Wir könnten mit Stroh bauen. Es ist sehr solide und brennt nicht – entgegen der vorherrschenden Meinung. Oder wir bauen aus Bambus. Es gibt sehr viel, was wir unternehmen könnten … GP: Was muss geschehen? DD: Wesentlich wäre ein neues Bewusstsein in der Politik, aber auch in der breiten Öffentlichkeit. Deshalb habe ich meinen Film gemacht. Das Thema soll nicht mehr nur Wissenschaftlern vorbehalten GP:

DD:

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

45

sein, sondern auch jene Menschen erreichen, die wirklich den Lauf der Dinge politisch verändern können. Dass wir in 20 oder 30 Jahren keine Strandferien mehr machen können, mag uns vielleicht nicht den Schlaf rauben. Doch es gibt wenig, das uns mehr betrifft als die Art, wie wir leben und wohnen – wie wir bauen, für wen und wie viel. Das Be­ völkerungswachstum mag zur grenzenlosen Bauwut beigetragen haben. Die Migration hat ihren Anteil daran. Vor allem aber ist es der absurde Wachstumszwang einer Wirtschaft, in der viel Geld für Prunkbauten, aber keins für die Schaffung von menschenwürdigen Lebensbedin­ gungen zur Verfügung steht. Das Drama um den Sand zerstört unwiderruflich einen prachtvollen Teil unserer Welt. Wenn wir jetzt nicht handeln, zerrinnt uns die Zeit wie Sand zwischen den Fingern.

zvg

und immer mehr auch die Immobilien­ spekulation dominiert. In Mumbai leben die Hälfte der Menschen in Slums, aber 50 Prozent der gebauten Wohnungen stehen leer. Auch in China stehen 65 Millionen Wohnungen leer, in Spanien sind es 30 Pro­­zent der seit 1996 gebauten Wohnungen. Im Burj Khalifa sind gerade einmal 10 Pro­zent der Apartments belegt. Aber es kommt noch schlimmer: Meersand entsteht im Landesinneren, in den Bergen, und wird von Flüssen ins Meer getragen. Nur kommt der grösste Teil gar nicht mehr an, denn die Flüsse werden ausgebaggert und Staudämme versperren dem Sand den Weg. Allein in den USA wurde seit 1776 an jedem Tag ein Staudamm gebaut. In China wird demnächst kein Wasserlauf mehr ungestaut sein. Weltweit gibt es 845 000 Stauwehre. Für die Gewinnung von sauberem Strom mag das gut sein. Für die Küsten ist es verheerend. Wirklich schlimm wird es, wenn wir zu alledem den Klimawandel und den steigenden Meeresspiegel dazunehmen – dann ist die Umweltzeitbombe perfekt. «Die Strände sind unsere Barrikaden», sagt ein Geologe im Film. 100 Millionen Menschen leben auf weniger als einem Meter über dem Meeresspiegel, der bis 2100 um 1 bis 1,5 Meter steigen wird. In Indonesien sind bereits über 20 Inseln von der Landkarte gestrichen worden.

Denis Delestrac Der 45-jährige Franzose war Jurist und Fotograf. Heute gehört er zu den renommiertesten Dokumentarfilmern. Sein Film «Pax Americana» über die Aufrüstung im Weltraum brachte ihm 2010 den Durchbruch. Seine Projekte haben ihn intensiv in Afrika und Asien reisen lassen. Auch die beiden nächsten Film­ projekte werden sich mit ökologischen Fragen beschäftigen. Er will sich aber kein grünes Etikett verpassen lassen. «Ich will das Unsichtbare zeigen, das uns umgibt», sagt er. «Aber ich will mich nicht speziali­ sieren. Ich filme, was mich lei­ denschaftlich interessiert. Denn ich verbringe Jahre mit einem Thema.» Denis ­Delestrac lebt in Barcelona.

Den Film sehen Denis Delestracs Doku­ mentarfilm «Sand — die neue Umweltzeitbombe» ist auf DVD noch nicht erhältlich. Sobald er erschienen ist, informieren wir Sie in diesem Magazin. Schon jetzt können Sie den Film im Internet schauen (ohne Gewähr): www.greenpeace.ch/sand.


Zahlen und Fakten zur Bevölkerungs­entwicklung Trotz aller Bemühungen wird die Weltbevölkerung laut der UNO noch lange wachsen: Von 7,2 Milliarden (heute) über 9,6 Milliarden (2050) auf 10,9 Milliarden Menschen im Jahr 2100. Die durchschnittliche Grösse der 100 grössten Städte der Welt hat sich innert 100 Jahren fast verzehnfacht. Dabei verschieben sich die Gewichte nach Süden: ­Indien wird China 2028 als bevölkerungsreichstes Land der Erde ablösen. Und in der Tabelle für das Jahr 2050 stehen nicht mehr die USA auf dem dritten Platz, sondern Nigeria. Die grösste Bevölkerungsdichte weltweit herrscht in Monaco (18 000 Einwohner/km2), die kleinste in der Mongolei (2 Einwohner/km2). Gleich menschenverlassen wie die Mongolei ist übrigens das am dünnsten besie­delte Gebiet der Schweiz, der Kreis Avers (Juf) im Kanton Graubünden. Libanon hat mehr als 1 Million syrische Flüchtlinge aufgenommen — bei einer Einwohnerzahl von weniger als 5 Millionen. China will 9 Grossstädte im Gebiet des Perflussdeltas zur grössten Stadt der Welt verschmelzen. Geplante Einwohnerzahl: 42 Millionen. Die Fruchtbarkeitsrate liegt heute global bei etwa 2,5 Kindern pro Frau — das ist ein wenig mehr, als es zur Aufrechterhaltung der Bevölkerung braucht. Doch die Rate sinkt ständig — sie hat sich innert 50 Jahren halbiert. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

46


Zusammengestellt von Mathias Plüss

Besonders hohe Fruchtbarkeitsraten haben heute Niger (7,0 Kinder pro Frau), Mali (6,3), Somalia (6,2) und Afghanistan (5,5). Besonders tiefe Raten haben etwa Tschechien (1,3), Hongkong (1,1) oder Singapur (0,8). Die Abtreibung weiblicher Föten hat in China zu einem Männerüber­schuss geführt. Im Jahr 2020 dürfte es im Land gegen 40 Millionen mehr junge Männer als junge Frauen geben. Eine starke Bevorzugung von Buben gibt es auch in Aserbaidschan, Indien, Vietnam, Armenien und Georgien, aber auch in Albanien, Mazedonien und im Kosovo. Umgekehrt sterben in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion die alten Männer weg. Hauptgrund: Alkoholismus. In Russland sind 70 Prozent der über 65-Jährigen Frauen. Weltweit gibt es gemäss der UNO etwa 230 Millionen Migranten — davon sind 16 Millionen Flüchtlinge. Die höchsten Ausländeranteile haben die Vereinigten Arabischen Emirate (84 Prozent der Bevölkerung), Katar (74 Prozent), Monaco (64 Prozent), Kuwait (60 Prozent) und Andorra (57 Prozent). Die weltweit grösste Migrantengruppe sind die Mexikaner in den USA (rund 13 Millionen). Weitere grosse Gruppen sind die Russen in der Ukraine (3,5 Millionen), die Bangladeschi in Indien (3,2 Millionen), die Inder in den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie die Ukrainer in Russland (je 2,9 Millionen). Die russische Bevölkerung schrumpft, jene von Jemen wächst stark. Demografen schätzen, dass die beiden Länder 2050 etwa gleich viele Einwohner haben könnten, obwohl Russland mehr als 30 Mal so gross ist. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

47


Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

48

© Fl urin a Rothenb erge r

Greenpeace Photo Award

1


Land unter in den ­Banlieues von Dakar Jedes Jahr kommt es während der Regen­zeit in der ­senegalesischen Hauptstadt Dakar zu schweren Überschwemmungen. Der Klimawandel, die Landflucht ­sowie die illegalen Siedlungen als Folge davon führen zu immer mehr Elend und Chaos. Bilder: Flurina Rothenberger, Gewinnerin des Greenpeace Photo Award 2013, Text: Judith Wyder Wolkenbruch in Diacksao, einem dicht besiedelten Vorort der westafrikanischen Hauptstadt Dakar. Innert Minuten ver­wandeln sich die ­Naturstrassen in Flüsse. Papis Keïta, 30, schüttet eimerweise Wasser aus seinem Haus. Acht ­Monate lang bleibe die gelblichbraune Brühe im Parterre stehen, sagt er. Trotz der übel riechenden Brutstätte für Krankheiten – vor allem ­Malaria – harrt der junge Mann mit seinen Brüdern, ihren Ehefrauen und Kindern hier aus. Doch wenn das Wasser im Haus stark ansteigt, gehen die Kinder nicht zur Schule und Keïta schafft es oft auch nicht in die Flipflop-Fabrik, wo er als Taglöhner arbeitet. Nichts ist wasserdicht in der Stadt. Das Quartier versinkt in Regenfluten, jeder Hausbesitzer ist damit beschäftigt, sein Haus vor ­Unheil zu bewahren. Manche Pfützen in den Banlieues sind so gross wie Schwimmbecken und verwandeln sich nach dem Dauerregen in ­pechschwarze Schlammtümpel. Als Keïtas Vater das Haus vor rund 50 Jahren baute, kannte Diacksao noch kein Hoch­ wasser. In den Siebziger- und Achtzigerjahren herrschte in der Sahelzone grosse Dürre. Seit den Neunzigerjahren aber nehmen verheerende Niederschläge jährlich zu. Dennoch wird überall in den Banlieues wild gesiedelt – sogar neben verlassenen Häusern, die in den ­weichen ­Sandboden eingesunken sind und als illegale Abfalldeponien benutzt werden. Ingenieur Claude Moïse Dembele, 65, weiss, dass ­diesem unkontrollierten Siedlungsboom ein sozialer Druck zugrunde liegt: «In der senegalesischen Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

Gesellschaft muss ein Mann als ‹Chef de ­famille› ein Haus bauen. Diese Pflicht wiegt so schwer, dass viele bereit sind, ein Haus irgendwo hinzustellen.» Sogar auf trocken­gelegten Seen wird in Dakar gesiedelt. In der Gürtelzone um Dakar ist die Bevölkerung in den vergangenen 20 Jahren explodiert: Ein Viertel mehr Menschen zogen vom Land in die Banlieues, nach Pikine, Thiaroye, Guediawaye. Gemäss Angaben der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) beträgt der Anteil illegaler Spontansiedlungen rund 50 Prozent. Die Landpreise haben sich in den vergangenen zehn Jahren verfünffacht. Es kommt auch häufig vor, dass Parzellen mehrfach verkauft werden. Die Ver­­käufer wissen, dass den Käufern das Geld fehlt, um zu prozessieren. In der senegalesischen Metropole kollidieren viele Missstände: Landflucht, Siedlungs­ chaos, Armut, ungenügende Sensibilisierung der Bevölkerung, schlechte Entwässerungssysteme, verbaute Natur­läufe oder fehlende Urbanisierungskonzepte der Regierung. Die politisch Veran­twortlichen betreiben eine «Pflästerli­ politik» und scheuen radikale Lösungen wie etwa Umsiedlungen. Papa Malick Hane, 65, Bürgermeister von Pikine Ouest, gehört zu den Wenigen, die Rohbauten in der illegalen Zone ab­reissen liessen. «Wir müssen die Leute davon abhalten, ihr Haus aus Platzmangel in der Überschwemmungszone zu bauen. In solch misslichen Umständen zu leben, ist unmenschlich. Wenn wir das Problem nicht in den Griff bekommen, wächst es uns allen über den Kopf.»

49


Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

50


Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

51

© Fl uri na Rothenb erg er

2


Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

52


Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

53

© Fl uri na Rothenb erg er

3


Greenpeace Photo Award

4

5

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

54


6

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

­ edingungen verändert. Zonen, die während der B ­Trockenzeit kein Hochwasser kannten, ­werden heute wieder überschwemmt. Die Schweizer Fotografin Flurian Rothenberger gewann 2012 beim Greenpeace Photo Award den Publikumspreis. Der Wettbewerb wurde in Zusammenarbeit mit dem Kulturmagazin «Du» lanciert mit der Absicht, Umweltthemen innovativ ins Bild zu setzen. Die Arbeiten von Flurina können in Forum für Dokumentarfotografie der COALMINE in Winterthur besichtigt werden. Vernissage: 16. Jan. 2014 um 18.30 Uhr Öffentliche Führung mit der Künstlerin: Sa 18. Jan. 2014 um 11.30 Uhr Dauer der Ausstellung: 17. Jan. bis 28. März 2014 Gleichzeitig wird die Fotodokumentation im «Du» vorgestellt. — das Kulturmagazin offeriert GreenpeaceMitgliedern ein Jahresabo für 120 statt 160 Franken. Das Abo kann unter redaktion@greenpeace.ch mit Vermerk «DU» und der Mitgliedernummer bestellt werden.

55

© Fl uri na Rothenb erg er

1 «Ein Haus zu bauen, ist in Senegal für­­einen ‹Chef de famille› Pflicht. Ohne Haus hat er im ­Leben versagt.»: Claude Moïse Dembele, 64, ­Ingenieur, über das Siedlungschaos in Dakar. 2 Fanta, 16, harrt in Thiaroye aus: Heute ­leben ein Viertel mehr Menschen in ­Dakar als noch vor 20 Jahren. Sie kommen auf der Suche nach Arbeit in die Stadt und siedeln wild in Zonen, die während der Regenzeit regelmässig überschwemmt werden. 3 Ausnahmezustand in Thiaroye: In der Banlieue werden vor allem die Nebeneffekte bekämpft und nicht die Ursachen. Die Unternehmen, die zum Abpumpen der Quartiere aufgeboten werden, ­profitieren finanziell von dieser Situation. 4 Private Vorsorge in Diacksao: Rückt die Regenzeit näher, kaufen die Hausbe­sitzer Berge von Sand. Mit diesem schütten sie das Haus auf, wenn es sich mit Wasser füllt. Ignoriert wird dabei, dass die Zimmerdecke dadurch Jahr für Jahr immer näher kommt. 5 Familiendrama in Thiaroye: Aida und ihre F ­ amilie mussten während der ­Regenzeit aufs Dach flüchten. Als die ­alleinerziehende Mutter die Rechnung für das Abpumpen des Wassers nicht begleichen konnte, verlor sie das Haus. 6 Eine Senegalesin beim Gerben am Lac de ­Thiourour: Durch den Klimawandel haben sich die


Ingenieur aus dem niedersächsischen Oldenburg. Im Interview spricht er über Deutschlands Erfahrungen mit Sonnenenergie und über Schweizer Voraussetzungen für die Energiewende.

N ilotpa l Ba r ua h

Greenpeace: Sie haben nicht nur zahlreiche Greenpeace-Energieszenarien zu verantworten. Sie haben dem Kind auch einst seinen Namen gegeben: Energy[R]evolution. Geht es nun um Entwicklung oder um Revolution? Sven Teske: Eben beides. Technisch gesehen geht es um Entwicklung. Energiepolitisch hingegen brauchen wir eine Revolution. Sprechen wir über einen wichtigen Pfeiler der Energiewende: die Solarenergie. In Deutschland entspricht die installierte Fotovoltaikleistung bei voller Auslastung der Stromproduktion von 30 Atomkraftwerken. Dennoch steckt die deutsche Solarbranche in der Krise. Sven Teske wirbt seit Jahren weltweit Die Krise ist nichts weiter als eine Flaute. für erneuerbare Energien und ist vom In vielen Ländern wie etwa Japan, Brasilien, den globalen Siegeszug der Sonnenkraft überzeugt. Er ist Co-Autor des Green- USA und einigen afrikanischen Ländern entwickelt sich gerade ein Markt für Fotovoltaik, ganz peace-Energieszenarios für die einfach weil sich die Menschen die viel billiger Schweiz, das jüngst publiziert wurde gewordenen Module jetzt auch leisten können. und sich konsequent an den welt­ Vom bevorstehenden weltweiten Boom werden weiten Vorgaben des Klimaschutzes auch die deutschen Hersteller profitieren. Aber orientiert: die kritische Grenze von bis dahin müssen sie noch eine Durststrecke durchschnittlich zwei Grad Erwärmung überwinden, denn noch immer gibt es Überkaeinzuhalten. pazitäten, da in China in den vergangenen Jahren sehr viele Solarfabriken gebaut wurden. Der Von Andrea Hösch Markt kam mit der Produktion nicht mit. Was hat die deutsche Solarindustrie falsch Nistkästen aufhängen, das ist nicht seine Welt. gemacht, woraus andere lernen können? Sven Teske braucht globale Dimensionen und Die Fotovoltaik ist jetzt marktreif geworden. mächtige Gegner, um zur Bestform aufzulaufen. In unserem globalen Wirtschaftssystem passiert es dann leider fast immer, dass sich das Mehr als die Hälfte seines Lebens hat er sich Geschäft auf einige wenige Hersteller konzentmit Industriebossen, Politikern, aber auch mit riert. So manche Pioniere mussten Insolvenz Gleichgesinnten angelegt und dabei nie sein anmelden oder wurden von anderen übernomZiel aus den Augen verloren: den erneuerbaren men. Das kann man der Branche nicht vorwerEnergien zum Durchbruch zu verhelfen. Und zwar weltweit. Seit 1994 arbeitet er im deutschen fen. Dagegen müssen sich die erfolgsverwöhnGreenpeace-Büro, vor einigen Jahren wechselte ten Sonnenkönige vorhalten lassen, dass sie viel er zu Greenpeace International. 2004 arbeitete zu spät darüber nachgedacht haben, was paser massgeblich am ersten globalen Greenpeacesiert, wenn die Politik die staatlich garantierte Energieszenario mit. Seither hat er vier weitere Einspeisevergütung eindampft. Dass dies eines globale Editionen sowie 40 Länderszenarien Tages kommen würde, war klar. Keinen Plan B realisiert. Das macht mit allen Aktualisierungen in der Schublade zu haben, war ein grober stolze 100 Ausgaben. «Die Wirklichkeit hat alle ­Managementfehler. meine Prognosen für erneuerbare Energien weit Welche Zukunft hat das Geschäft mit der übertroffen», freut sich der 47-jährige DiplomSonne in Deutschland?

Energiewende

Streiter für ­sonnige Zeiten

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

56


Die deutsche Solarindustrie ist gefordert, weiterzudenken. Sie muss in Zukunft qualitativ hochwertige Spezialanfertigungen entwickeln, effizientere Solarzellen, intelligente Energiesteuerungen und vor allem neue Speichertechniken. Inzwischen versorgen sich immer mehr Leute mit ihrem eigenen Strom. Welche Folgen hat der Trend zur Eigennutzung? Der eigene Strom kostet inzwischen nur noch halb so viel wie der Strom vom Energieversorger. Das war früher genau umgekehrt. Wer heute über eine Fotovoltaikanlage verfügt, macht also Gewinn – auch ohne jede Förderung. Deshalb breitet sich die Solartechnologie auf ­ungezählten Dächern aus und ist nicht mehr zu stoppen. Selbst ohne jede Förderung wird sie ihren Siegeszug fortsetzen. Wind und Sonne werden den Ton angeben und die gesamte Energieversorgung auf den Kopf stellen. Strom­ versorger, die 2020 die Anlagen ihrer Kunden nicht integrieren können, werden vom Markt verschwinden. Der Umbau des Energiesystems kommt auch in der Schweiz in Gang. Wie stehen die Chancen hierzulande? Die Schweiz hat es im globalen Vergleich deutlich einfacher, eine Energierevolution ­umzusetzen, da Energieeffizienz bereits eine grosse Rolle spielt. Ausserdem verfügt die Schweiz über eine sehr grosse Kapazität an Pumpspeicher-Wasserkraftwerken, die für den Ausgleich bei einem hohen Anteil an Solarstrom gebraucht werden. Laut Studien könnte die Schweiz ihren Strombedarf zu einem Viertel mit Solarstrom decken. De facto steht sie aber noch ganz am Anfang. Das liegt vor allem daran, dass das Vorurteil, Solarstrom sei besonders teuer, leider noch immer weit verbreitet ist. Aber längst gilt in der Schweiz dasselbe wie in Deutschland: Der Betrieb von Fotovoltaikanlagen ist heute schon günstiger als Strom vom Energieversorger. Noch dazu wurden die Entwicklungskosten vor allem von Deutschland getragen, die Schweiz kann jetzt direkt davon profitieren. Was kann die Schweiz sonst noch vom ­nördlichen Nachbarn lernen? In Deutschland sind viele Bürger Mitglied in Energiegenossenschaften – die Energie­ wende kommt von unten und befindet sich vor allem «in Bürgerhand». Die Wertschöpfung Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

bleibt dadurch hauptsächlich in den Städten und Gemeinden – dieses Modell könnte auch für die Schweiz interessant sein. Was entgegnen Sie jemandem, der sagt, die Energiewende koste zu viel und sei etwas für Visionäre? Die Energiewende nicht zu machen, würde uns aufgrund des Klimawandels deutlich ­mehr kosten. Ich bin optimistisch, dass der ­Umbau gelingt, denn mit jeder Investition in erneuerbare Energien sparen wir in Zukunft, da Sonne und Wind billiger sind als fossile und atomare Energien. De facto fusst schon heute jedes zweite Kraftwerk, das irgendwo auf der Welt neu gebaut wird, auf erneuer­baren Energien. Das brandneue Greenpeace Energieszenario «Energy[R]evolution», erstellt von unabhängigen Experten, ist das einzige Schweizer Energie­ szenario, welches das Klima wirklich schützt und einen schnellen Atomausstieg ermöglicht. Die Energy[R]evolution zeigt wissenschaftlich fundiert den Weg zu einer umweltfreundlichen, sicheren Energieversorgung: Einhaltung des 2°C Klimaziels bei einer global gerechten Verteilung der CO2- Emissionen. Schneller Ausstieg aus der Atomkraft: ­Begrenzung der Laufzeit auf 40 Jahre — das letzte AKW geht 2024 vom Netz. Ausstieg aus fossilen Energien (Gas, Öl usw.) und damit grosse Auslandunabhängigkeit. Versorgungssicherheit, rund um die Uhr, im Sommer und im Winter. Wirtschaftlicher Nutzen und die Schaffung von inländischen Arbeitsplätzen. Greenpeace fordert Politik und Wirtschaft auf, die Energy[R]evolution als Messlatte für ihre Zielsetzungen, Rahmenbedingungen und Massnahmen in der neuen Energiestrategie zu nehmen. Mehr: www.greenpeace.ch/energyrevolution

57


Fracking Rohstoff­förderung mit Brachialgewalt

DIE Karte

Die Technik boomt, vor allem in den USA: Durch «hydraulisches Aufbrechen» (Fracking) tiefer Gesteinsschichten werden im grossen Stil neue Gas- und Ölvorkommen nutzbar. Rohstoffe wurden dadurch billiger, Gas verdrängt die noch klimaschädlichere Kohle aus dem US-Strommix und das Land könnte bald unabhängig von Energieimporten werden. Doch die Methode birgt Risiken. Über zahlreiche Bohrlöcher wird unter hohem Druck Wasser in grossen Mengen in die Tiefe gepresst. So entstehen Risse im Gestein, durch die Gas oder Öl ausströmt. Die Frac-Flüssigkeit ist ein Cocktail aus Bioziden, Schmier- und Rostschutzmitteln, darunter krebserregenden Substanzen. In den USA häufen sich Klagen über verseuchtes Grund- und Trinkwasser. Enorme Schiefergasressourcen schlummern auch in Europa, doch die Skepsis ist gross. Frankreich hat Fracking verboten, Polen dagegen hofft, damit unabhängig von russischen Importen zu werden. In Deutschland wird bereits sogenanntes Tight Gas, das in höher liegenden Schichten gebunden ist, sowie Kohleflözgas mittels Fracking gefördert. Das schiefergas in deutschem Boden könnte den deutschen Gasbedarf rund zwölf Jahre lang decken. Die Politik ringt noch um mögliche Verbote oder Umweltauflagen.

Unverhoffte Reserven — Gasvorkommen in den Weltregionen (in Billionen Kubikmetern) Nordamerika

150

39 61 10 40

Südamerika

3 35

Europa

67

8 21

37

12

16

4

5

89

Afrika 4

15

37 33

257

GUS-Staaten 27

47

62

Wo das Gas im Boden schlummert — vermutete Schiefergasvorkommen weltweit

121

135

Naher Osten 6 8 60

43

China, Südasien, Ozeanien

8

138 17

61 45

bereits gefördert  förderbare konventionelle R ­ eserven  konventionelle Ressourcen, womöglich künftig förderbar  unkonventionelle Ressourcen wie Schiefergas


Die Erschliessung von Bodenschätzen, also auch von Erdgas, ist in der Schweiz Sache der Kantone. Drei bisher — Waadt, Freiburg und Genf — haben Fracking bis auf Weiteres verboten, im Kanton Bern will die Grüne Partei eine Initiative gegen die Förderung von nicht konventionellen fossilen Ressourcen lancieren. Auch auf Bundesebene hat der Nationalrat den Bundesrat dazu aufgefordert, die rechtlichen Grundlagen für ein Verbot zu prüfen. Konzessionen für die Suche nach Erdgas haben zurzeit sechs Firmen/Konsortien; sie decken fast das gesamte Mittelland und den Jura ab. Probebohrungen gab es bisher allerdings erst in No­ ville (Waadt). Gefrackt wurde noch nie, konventionell gefördert erst einmal: In den Jahren 1985—1994 holte man in Finsterwald LU 73 Millionen Kubikmeter Gas aus dem Boden. Der Verbrauch des Landes liegt bei jährlich rund 3500 Millionen Kubikmeter. Wie viel förderbares Erdgas in Schweizer Tiefen liegt, ist völlig unklar; die höchsten Schätzungen liegen bei 200 Milliarden Kubikmeter, was für 60 Jahre reichen würde. Zwei Firmen/Konsortien planen in nächster Zeit Probebohrungen. Celtique Energie will in Neuenburg zu vermuteten konventionellen Vorkommen in 2300 Meter Tiefe gelangen, stösst aber auf den Widerstand des Collectif Citoyens, welches mit der Greenpeace-Regionalgruppe Neuenburg mehr als 10 000 Protestunterschriften gesammelt und im September dem Grossrat übergeben hat. Fracking als Option sieht die SEAG/PEOS, die in der Zürcher Gemeinde Humlikon Gas in einer Tiefe von 3500 Metern abbauen will. Der Standort ist problematisch, weil er nahe bei einem von der Nagra in Betracht gezogenen Endlager für radioaktive Abfälle liegt. SEAG/PEOS zieht auch fünf weitere, noch nicht öffentlich genannte Bohrstellen in Betracht.

Abbaumethode mit Risiken — Wie Fracking funktioniert und welche Folgen für die Umwelt drohen

Transport und Entsorgung

Schiefergas

Grundwasser

A

B

C

Tight Gas

konventionelles Gas

D

undurchlässige Gesteinsschicht

natürliche Störung

mehrere 1000 Meter

Altbohrung

gashaltiges Gestein

Mögliche Risiken

1

2

A Frac-Flüssigkeit dringt durch Lecks in der Zementeinfassung des Bohrlochs ins Grundwasser. B Frac-Flüssigkeit fliesst über Altbohrungen für frühere Erkundungen und Nutzungen ins Grundwasser. C Schadstoffe werden bei Transport und Lagerung von Frac-Flüssigkeiten oder der Entsorgung des «Flowback» frei. D Schadstoffe steigen durch natürliche geologische Störungen empor und gelangen ins Grundwasser. 1 Unter hohem Druck wird ­Wasser, angereichert mit einem Chemie­cocktail und Quarzsand, ins gashaltige Gestein gepresst. Es bilden sich Risse. 2 Nach dem Abpumpen halten die Sandkörner die Risse offen. Gas strömt in die Leitung.

© greenp eac e-maga zin. de / Carsten Ra ffel

Fracking in der Schweiz


Jung im Leben

Nachlassplanung

Sie stehen mitten im Leben und haben bereits testamentarisch vorgesorgt.

Barbara Martens, 56 Jahre, Chemikerin und Arbeitshygienikerin, Beratung für KatzenhalterInnen (www.katzensofa.ch)

Greenpeace: Sie sind jung. Was war Ihre ­Motivation jetzt schon vorzusorgen? Barbara Martens (BM): Ich hatte bereits mit 24 Jahren mein erstes Testament geschrieben. Mein Mann und ich waren damals beide noch im Studium, wollten uns aber gegenseitig finanziell absichern und bedenken. Ich stamme aus einer Familie, in der Vorsorge und Geldein­ teilung wichtig waren. Heute bin ich Single und habe ein neues Testament. Ich habe im privaten wie im geschäftlichen Kontext oft erlebt, wie schnell das Schicksal zuschlagen kann. Deshalb ist es mir wichtig, nebst einem Testament auch eine Patientenverfügung und einen Vorsorgeauftrag* zu haben. Damit kann ich sicherstellen, «Mir sind die Themen Tier- und Naturschutz dass meine Wünsche – unter anderem, was mit und das Wohl der Kinder sowie von Benachteiligten mir, aber auch was mit meinen beiden Katzen grundsätzlich wichtig.» ­passieren soll – umgesetzt werden. Gabriele Feigl (GF): Ich bin zwar noch jung, EL: Greenpeace (und andere NGOs) haben aber auch nicht mehr ganz jung. Zudem bin ein Umweltbewusstsein manifestiert und dabei ich beruflich (und zunehmend auch privat) sichtbar gemacht, wie der Mensch mit seiner ­damit konfrontiert, dass Leben und Sterben Umgebung verbunden ist bzw. wie er sich von weniger berechenbar sind, als sich das viele Menschen wünschen. So habe ich meinen Nach- seiner natürlichen Umgebung entkoppelt hat. Greenpeace (und anderen) gelingt es immer lass bereits jetzt geregelt, um den Hinterblie­ benen allzu viel Admini­s­tra­tion nach meinem wieder, Missstände zu korrigieren, Ungleichgewichte aufzuheben und als David gegen GoliAbleben zu ersparen. ath Tier, Mensch und Natur zu schützen. Viel Eugen Liengme (EL): Jung ist vorbei, aber danke. Das Schreiben eines letzten Willens ist wichtiger noch ist die Tatsache, dass so eine Art der Wunsch, anderen nach dem Tod etwas auf greifbare zeitgenössische Naturmythologie oder ein Mensch-Natur-Bezug entsteht, den so bestimmte Art weitergeben zu wollen. Für viele von uns vermissen. Greenpeace hat mich mich war das schon sehr lange klar. Endlich ein Leben lang begleitet und ist für mich eines der habe ich mich hingesetzt. Jetzt muss ich das nicht mehr vor mir her­schieben und kann mich wichtigsten Ereignisse der letzten 50 Jahre. Was wünschen Sie sich von Greenpeace, wenn auf diesseitige Ziele ­konzentrieren. Welches Erlebnis im Leben, welches Motiv Ihr Testament eines Tages vollstreckt wird? BM: Ich weiss nicht, welche Umweltpro­ hat dazu geführt, dass Sie entschieden ­haben, auch Greenpeace zu bedenken? bleme uns in den nächsten Jahrzehnten BM: Mir sind die Themen Tier- und ­erwarten. Ich überlasse es Greenpeace und den ­Naturschutz und das Wohl der Kinder sowie von Verant­wortlichen zu diesem Zeitpunkt, mein Benach­teiligten grundsätzlich wichtig. Für Legat nach Aktualität und Priorität einzusetzen. Greenpeace habe ich mich entschieden, weil mich GF: Von Greenpeace wünsche ich mir, dass die Z ­ ivilcourage und der zivile Ungehorsam die Energie aller dort Beschäftigten noch lange, ­beeindrucken, weil das zu meinem Wesen passt. lange anhält für die Umweltschutzstrategien, Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

60


welche die Organisation erarbeitet. Und ich hoffe, dass ich mit meiner Zuwendung einen kleinen Teil dazu beitragen kann, dass sich dieses Engagement weiter entfalten kann. EL: Ich wünsche mir nichts Konkretes. Ich hoffe nur, dass sich der Spirit von Greenpeace erhält und dass er auch weiterhin viele Menschen erreicht, sie inspiriert. Haben Sie sich für das Schreiben des ­Testaments Unterstützung geholt? BM: Die Unterstützung und die Anleitung stammen von meiner Patientenverfügung. Dort stand genau, wie ich mein Testament formul­ ieren und wo ich es hinterlegen soll. Der Anwalt einer der bedachten Organisationen, die auch eine Pflicht in Bezug auf meine Katzen übernimmt, hat im Anschluss mein Testament überprüft. Am Anfang hatte ich mein Testament bei einer Grossbank hinterlegt, jetzt ist es gut und sicher auf der Gemeinde aufgehoben. GF: Meinen Nachlass habe ich allein geregelt – meiner Meinung nach sollte in diesen letzten Dingen allein entschieden werden, denn mit der Bilanz meines Lebens werde ich irgendwann auch ganz für mich allein Abschied nehmen müssen. EL: Das Schreiben eines letzten Willens ist eine private Angelegenheit. Für den professionellen Rahmen des Testaments gibt es bei ­Muriel ­Bonnardin von Greenpeace Zürich die beste Beratung.

Eugen Liengme, 52, Künstler, liengmekunst.ch

«Ich hoffe, dass sich der Spirit von Greenpeace erhält und dass er weiterhin viele Menschen inspiriert.»

Gabriele Feigl, 52, Ärztin für Psychiatrie und Teilzeitälplerin mit einem Faible für Hornvieh, setzt sich für den Kuhgnadenhof in Nidwalden ein.

Für die Bestellung des kostenlosen Greenpeace-Testament-Ratgebers oder für eine Erstberatung wenden Sie sich bitte an claudia.steiger@greenpeace.org (Vermerk: Jung im Leben), direkte Telefon­ nummer 044 447 41 79.

«Ich hoffe, dass ich mit meiner Zuwendung an Greenpeace in einem erweiterten Rahmen zum Schutz unserer Umwelt beitragen kann.»

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

61

© Steph an B ösch/ Ex- Press

* Der Vorsorgeauftrag ermöglicht einer handlungsfähigen Person die Gestaltung der eigenen Angelegenheiten für den Fall der zukünftigen Urteilsunfähigkeit. Der Vorsorgeauftrag wird wie das Testament von Hand geschrieben und ­hinterlegt.


© Stev e W i n t er

Palmöl

Die letzten Sumatra-Tiger Noch streifen Tiger durch die Urwälder Indonesiens. Doch diese werden in ­atemberaubendem Tempo zerstört. Soll der Sumatra-­ Tiger überleben, muss der Raubbau sofort gestoppt werden. Von Verena Ahne

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

62

Indonesien ist die traurige Nummer eins. Schneller als jeder andere Staat der Erde vernichtet das Land seine Wälder. Bereits die Hälfte der CO2Speicher, der dichten Dschungel und der seltenen Torfmoorwälder, hat der Inselstaat am Äquator binnen weniger Jahre umgehackt oder, noch schlimmer, abgefackelt. Vom Weltraum aus sind alljährlich zur Trockenzeit gigantische Rauchschwaden zu sehen, die über Südostasien ziehen: beissender Qualm, der Anrainerstaaten wie ­Singapur protestieren lässt und Indonesien neben den USA und China zum drittgrössten CO2-­ Produzenten gemacht hat. Das hat vor allem einen Zweck: Platz zu schaffen für immer noch mehr Palmölplantagen. Die rabiate Vernichtung ist nicht nur eine ­Klimakatastrophe. Mit jeder Ölpalme geht auch ­Lebensraum verloren, endgültig und unwiederbringlich. Wald, in dem Elefanten leben und Nashörner, Orang-Utans und Tausende anderer ­Arten, die vielleicht weniger bekannt, aber deshalb nicht weniger schützenswert sind. Wald, der das Reich ist von Raja Harimau Macan*, dem ­Tiger und König des Dschungels. Der Sumatra-Tiger hat sich in den besonders dichten Wäldern der Insel über die Jahrtausende


zur kleinsten aller Tigerarten entwickelt. Die letzte Grosskatze Indonesiens ist nur etwa halb so gross wie die Tiere auf dem Festland. Ihre Brüder und Schwestern auf Bali und Java ­wurden im letzten Jahrhundert ausgerottet: der Bali-Tiger 1937, der Java-Tiger erst vor Kurzem, Anfang der 1980er Jahre. König Harimau droht das gleiche Schicksal. Zwar gibt es inzwischen 231 Tigerschutzgebiete auf Sumatra. Doch was nach viel klingt, gibt oft nicht viel her für einen echten Artenschutz. Denn drei Viertel dieser Zonen sind kleiner als 300 Quadratkilometer. Wer weiss, dass die ­einzelgängerischen Tiere Reviere zwischen 70 und 116 Quadratkilometern durchstreifen, kann sich leicht ausrechnen, dass in derart kleinen Zonen ein Überleben nicht möglich ist. Aber auch in den wenigen grossen Gebieten ist die Art in Bedrängnis. Zwar hat Indo­ nesiens ­Präsident Susilo Bambang Yudhoyono im Mai ein Rodungsmoratorium erneuert. Doch davon sind bereits erteilte Lizenzen ausgenommen – das muntere Bäumefällen geht also weiter. ­Zudem ist die Hauptnahrung der Raubkatzen – Hirsche, Tapire oder Wildschweine – heillos überjagt. Eingezwängt und vom Hunger getrieben, greifen die Sumatra-Tiger deshalb immer öfter Menschen an, die wiederum den Abschuss verlangen. Hinzu kommt die illegale Jagd auf die bedrohten Tiere. Auf dem Schwarzmarkt bringt das breit gestreifte Fell des Sumatra-Tigers Riesensummen – und einige Körperteile noch mehr, die für «medizinische» Zwecke verwendet ­werden: Zähne und Klauen, Knochen und Augen, sein Fett gegen Rheuma, das feine Nasenleder als Wundauflage, der Penis als Aphrodisiakum … Seit 1998, vermeldeten die indonesischen Behörden 2009, wurden mindestens 60 Grosskatzen getötet – eine Katastrophe bei rund 400 Tieren, die noch übrig sind. Manche schätzen, dass gar nur noch 250 Sumatra-Tiger in freier Wildbahn leben und weitere 360 in Zoos. Schlimmer bestellt ist es nur noch um das Sumatra-Nashorn, dessen weit verstreuter Bestand – optimistisch geschätzt – bei 200 liegt. Um sie zu retten, zählt also jede Minute. Die Rodungen müssen unverzüglich vollständig gestoppt, die verbliebenen Waldgebiete streng geschützt werden. Illegalen Holzeinschlag und Wilderei gilt es zu unterbinden. Vor allem aber sind wir gefragt, die wir die Hauptschuld tragen Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

Tiger-Lebensraum Bewaldeter Tiger-Lebensraum 2011 Entwaldung 2009—2011 Konzessionen für Zellstoff, Palmöl, Bergbauindustrie, Holzeinschlag

an all der Not: Kein Palmöl mehr für unsere Tanks! Nur nachhaltig produziertes, streng kontrolliertes Palmöl für Kosmetika und Nahrungsmittel! Kein Papier aus tropischen ­Regionen! Sonst, und bis dahin fehlt wirklich nicht mehr viel, könnte Raja Harimau Macan bald der letzte Dschungelkönig auf Sumatra gewesen sein. * «Raja» ist in Indonesien und in Indien die traditionelle Bezeichnung für «König». Die Wörter «Harimau» und «Macan» bedeuten auf Indonesisch «Tiger».

63


© Rod r ig o Pa iva

Public Eye: Der scharfe Blick auf Umweltsünder unter den Grossunternehmen

Kampagnen-News

Schweizer Solarbox gehört zum festen Inventar auf der Rainbow Warrior Als die neue Rainbow Warrior III im Herbst 2012 (unser Frühling) der Küste von Brasilien entlang segelte, war auch Retze Koen von Jugendsolar mit an Bord. Die KollegInnen von Greenpeace Brasil hatten mit Unterstützung aus der Schweiz eine Solarküche eingerichtet, die in jeder Hafenstadt beim Schiff aufgestellt wurde und BesucherInnen die Wartezeit vor der Schiffsbesichtigung versüsste. Die Bevölkerung und die Presse rea­ gierten begeistert auf die Solarküche. Popcorn, gebackene Eier, Kaffee — alles war in Sekunden weg. Danach kam die Idee auf, permanent eine Solarbox mit einer Küche an Bord der Rainbow Warrior III mitzuführen: Immer wenn das Schiff ein Land besucht, in dem eine relevante Kampagne stattfindet, kommt die Solarküche zum Einsatz. Das Potenzial für die Nutzung von Sonnenenergie in Brasilien ist riesig. Nachdem das GreenpeaceBüro in São Paulo im vergangenen Juni einen Bericht dazu veröffentlicht hat, wollen wir erreichen, dass die Sonnenenergie zum festen Bestandteil einer nachhaltigen Energieversorgung wird.

Machen Sie mit bei der Public-Eye-Abstimmung, welches Unternehmen in diesem Jahr das fragwürdigste Verhalten an den Tag legte. Gemeldet wurden dieses Jahr folgende Firmen: Bayer, Syngenta und BASF (Einsatz gefährlicher Pestizide); Eskom Holdings Südafrika (Umweltbelastung durch fossile Brennstoffe); FIFA (Korruptionsvorwürfe); Gap Inc. (Behinderung von Massnahmen zur Arbeitssicherheit); Glencore Xstrata (Umweltzerstörung); HSBC (Investitionen, die Menschenrechtsverletzungen mit sich ziehen); Marine Harvest (Arbeitsrechtsverletzungen) und Gazprom (geplante Bohrungen in der Arktis). www.publiceye.ch. Neue Website / Who is Who Die neue Public-Eye-Website soll helfen, Verletzungen von Menschenrechten und Umweltzerstörung durch Firmen zu verdeutlichen. Bekannt gemacht werden sollen Fälle, in denen Firmen ihre Verantwortung nicht wahrgenommen haben, aber auch Erfolge, die gegen fragwürdige Firmen erzielt wurden. Public Eye soll für Bürgerrechtsorganisationen zur wichtigsten Plattform werden, auf der internationale Unterstützung für Kampagnen mobilisiert werden kann. Zudem sollen Firmenverantwortliche abgebildet werden, denn jedes schmutzige Geschäft wird von jemandem autorisiert. Auch engagierte Menschen und Organisationen sollen auf der neuen Website ein Gesicht erhalten. Neue Mitglieder in der Jury Mit Yoke Ling Chee aus Malaysia und Vandana Shiva aus Indien sind zwei ausgewiesene Aktivistinnen in die Jury von Public Eye gekommen. Diese emanzipiert sich zunehmends von den Trägerorganisationen. Die wirtschafts-ethischen Auseinandersetzungen werden durch die Akademiker Ulrich Thielemann (Berlin), Klaus Peter Rippe (Universität Karlsruhe) und Guido ­Palazzo (Universität Lausanne) geführt. Yoke Ling Chee ist Direktorin des Third World Network. Als Expertin in Umwelt- und Entwicklungsfragen spezialisiert sie sich auf negative Konsequenzen des Welthandels, speziell für Länder des Südens, deren Situation sie in Regierungs- und Nichtregierungsgremien vertritt.

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

64


Teilnehmer der Public-Eye-Award-Presse­ konferenz 2014 in Davos: Tomáš Sedláček Mit Tomas Sedlacek kommt im Januar 2014 ein kritischer Ökonom nach Davos. Der Chefökonom der grössten tschechischen Bank, ein Mitglied des Nationalen Wirtschaftsrats in Prag, war Berater unter Präsident Vàcláv Havel. In seinem Buch «Die Ökonomie von Gut und Böse» zeigt er Dogmen auf, die sich als fatal erwiesen haben. Dennoch denken die WEF-Teilnehmer nicht um. So obliegt es Initiativen wie Public Eye, die Ökonomisierung des Bösen aufzuzeigen.

Subventionsverbot: Historische Niederlage für die Atomlobby Greenpeace begrüsst die Entscheidung der Europäischen Kommission, ihre Pläne zur Erleichterung von nationalen Subventionen für die Atomkraft fallen zu lassen. «Das ist eine historische Niederlage für die Atomlobby und eine Bankrotterklärung der Atomenergie in Europa. Ohne Subventionen durch die Steuerzahler ist die Atomkraft nicht wettbewerbs- und nicht überlebensfähig. Die Entscheidung der EU-Kommission ist ein erster Schritt in Richtung eines atomstromfreien Europa», ist ist Central East Europe (CEE) Greenpeace Geschäftsführer Alexander Egit überzeugt. Laut EU-Verträgen gilt nun ein Subventionsverbot. Nur bei gemeinsamem Interesse der Union darf wie bisher über Ausnahmen entschieden werden. Die Anti-Atom-Allianz, angeführt von Dänemark, Deutschland und Österreich, soll das Prinzip der Technologieneutralität in der EU-Energiestrategie für das Jahr 2030 verhindern. Greenpeace hat einen wichtigen Etappensieg erzielt, doch jetzt versucht die Atomlobby, für die angeblich CO2-arme Atomtechnologie Chancengleichheit mit erneuerbaren Energien herzustellen.

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

© G r eenp eace / J oh n N ovis

Die Physikerin Vandana Shiva setzt sich für Biodiversität und gegen «Biopiraterie» (Patentieren von indigenem Wissen) und die Ausbeutung genetischer Vielfalt durch multinationale Konzerne ein. Sie zählt zu den einflussreichsten Sprecherinnen über Ernährungssicherheit und -zugang.

Wo FSC draufsteht, soll künftig wieder FSC drin sein Der Forest Stewardship Council (FSC) ist ein Zertifizierungssystem, das eine sozial verträgliche und umweltgerechte Waldbewirtschaftung gewährleisten soll. Das FSC-Label hilft Konsumenten, Holzprodukte aus gut bewirtschafteten Wäldern zu erkennen. Greenpeace war bei der Gründung des Labels vor 20 Jahren dabei und ist heute noch Mitglied. Allerdings sind wir besorgt über die wachsende Zahl von FSC-Zertifikaten, die trotz fragwürdiger Geschäftspraktiken sowie schwacher Richtlinien und Standards vergeben werden — gerade in den grossen Expansionsländern wie Kanada und Russland, aber auch in Tropenregionen wie dem Kongobecken oder im Amazonasgebiet. Besonders das FSC-System «Controlled Wood», das auf Produkten mit «FSC Mix» gekennzeichnet wird, bereitet Sorge, weil unzertifiziertes Holz vermischt oder verbunden mit zertifiziertem Holz als FSC bezeichnet wird. Greenpeace versucht die internationale FSC-Gemeinschaft zum Handeln zu bewegen — unter anderem mit FSC-Klagen, Nachforschungen und Fallstudien aus Regionen, wo Urwälder mit dem Segen des FSC-Labels abgeholzt werden. Wir fordern Transparenz sowie eine konsequente Umsetzung und Kontrolle des FSC-Standards. Zertifizierungsfirmen müssen zum Einhalten der FSC-Standards gezwungen werden. Unter dem FSC-Label dürfen keine Rechte von indigenen und lokalen Waldvölkern verletzt werden, deren Lebensgrundlage von der Waldbewirtschaftung beeinträchtigt wird. Schweizer Konsumenten raten wir, Produkte aus lokalem Holz zu wählen.

65


Japanische Regierung gaukelt Menschen um ­Fukushima Sicherheit vor

Weniger Abfall, weniger CO2 , weniger Fleisch und Fisch, weniger Ölverbrauch, weniger neue Handys und Finger weg von der Arktis! Mehr Klimaschutz, mehr Nachhaltigkeit, mehr Urwald stehen lassen und Freiheit für unsere Aktivisten! Wo sollen welche Akzente gesetzt werden und wie? Welches ist die bessere Massnahme auf dem Weg zu einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung BNE. Und was ist das? BNE soll die Entwicklung nachhaltig gestalten, die Zukunft sichern, unseren Kindern beibringen, dass sie nicht mehr nehmen, als nachwächst, dass sie die Erde im Auge behalten und sich nicht so verhalten, als gäbe es noch viele davon im Multipack. Was mit dem Lehrplan 21 in die Schulstuben kommen wird, etabliert sich auch bei Schulbesuch.ch. Die BNE kommt bestimmt — wie viel sie verändern kann, ist ungewiss. Bildung für Nachhaltige Entwicklung soll in den bestehenden Fächerkanon integriert werden. Fachübergreifende Themen wie Demokratie, Menschenrechte, Gleichstellung, Gesundheit, Frieden, kulturelle Identität, Umwelt und Ressourcen werden angesprochen. Lehrpersonen sollen Bezüge zu globalen Fragen herstellen und nach Handlungsspielräumen für die Klasse und sich selber suchen. Der neue Lehrplan ist ein schriftliches Dokument. Er muss mit Herzblut und Engagement gefüllt werden, sonst schmilzt das Eis weiterhin! Gemäss der neuen Studie des Marktforschungsinstitutes Gfk im Auftrag der Bildungskoalition NGO, wollen Jugendliche ein Mitspracherecht in Bildungsfragen. Auch wollen sie mehr Wissen über Energie- und Umweltthemen, sowie Menschenrechts- Konsum- und Gesundheitsfragen. NGO s wie Greenpeace können hier aktiv mithelfen. Schulbesuch.ch berät Sie gerne. www.schulbesuch.ch, www.education21.ch www.bildungskoalition.ch

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

Eine internationale Strahlenschutzgruppe von Greenpeace hat während 5 Tagen ­Messungen in verstrahlten Gegenden rund um Fukuhima durchgeführt. Sie haben festgestellt, dass noch lange keine Normalität einkehren wird und eine Rückkehr der Menschen bleibt trotz einiger Dekontaminierungen des Staates gefährlich.

© No r i ko Hayashi / G r een p eac e

Kampagnen-News

Lehrplan 21: Schulbesuch.ch stellt sich Herausforderungen der Zukunft

Florian Kasser, Atomexperte bei Greenpeace Schweiz war bei den Messungen dabei und berichtet: «Die Region Tamura liegt rund 20 Kilometer westlich des havarierten AKWs Fukushima, eingebettet in eine anmutig wirkende Landschaft. Die Ruhe und Schönheit der Natur sind aber nur vordergründig. Hier sollte man lieber nicht Halt machen: Die Gegend ist belastet mit dem radioaktiven Isotop Cäsium 137 aus dem Atom-Super-GAU. Im Umkreis von 20 Kilometern um das AKW wurde die Bevölkerung evakuiert. Wir, das sind 15 Mitarbeitende von Greenpeace messen mit unseren Geräten die Radioaktivität in der Region. Als «Strahlenschutzgruppe» wurden wir geschult, uns in einem verstrahlten Umfeld bewegen und die Risiken dokumentieren zu können. In Tamura machen wir keinen Schritt ohne Messgeräte, Geigerzähler und Dosimeter. Ohne diese Geräte wäre die Radioaktivität nicht nachweisbar. Die Region gehört zu den ersten, die ein umfangreiches Dekontaminationsprogramm erlebten. Die Menschen, die nach der Katastrophe evakuiert wurden, werden jetzt behördlich zur Rückkehr und zur Wiederaufnahme eines normalen

66


© N o r i ko Hayash i / G r een p eac e

Die japanische Regierung arbeitet derzeit mit Hochdruck daran, Gebiete zu reinigen: in schwarzen Säcken verpackt liegt radioaktiv belastetes Material am Strassenrand — eine Entsorgungsmöglichkeit gibt es bisher nicht.

Lebens aufgefordert. Mit unserem Einsatz wollen wir feststellen, ob die Bevölkerung gefahrlos zurückkehren kann. Die Dekontamination einer Region wie Tamura ist schwierig. Cäsium kann nicht vernichtet werden, also kommt nur die Verlagerung des Isotops an einen Ort in Frage, wo es die Bevölkerung nicht direkt belastet. Die obere Erdschicht wird abgetragen, Gras und Äste werden geschnitten, betonierte Flächen mit einem Hochdruckwasserstrahl behandelt: eine gigantische Aufgabe. Zehntausende Säcke mit verstrahltem Material füllen Lagerungsstellen in der Gegend. Irgendwann sollen sie in ein Lager für radioaktive Abfälle überführt werden. Die möglichen Zielgemeinden für den Bau solcher Lager wehren sich vehement gegen die Absichten der Regierung. Es ist unmöglich, eine ganze Region wie Tamura zu dekontaminieren — das bestätigen unsere Messungen. Es wurden vor allem Zonen rund um Wohngebiete und öffentliche Gebäude gereinigt. In einigem Abstand davon zeigen unsere Geräte eine steigende Strahlenbelastung an. Die Behörden fordern von der Bevölkerung eine harte Entscheidung: Entweder auf ein paar dekontaminierte Inseln in eiMagazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

nem radioaktiv verseuchten Umfeld zurückkehren oder Abschied nehmen von Hab und Gut und sich woanders ohne jegliche Hilfe eine neue Existenz aufbauen. Die Regierung hat angekündigt, dass die finanzielle Hilfe für Evakuierte gestoppt wird, wenn ihre Grundstücke dekontaminiert wurden. Greenpeace findet, sie schaffe dadurch eine inakzeptable Zwangslage. Japans Regierung hat handfeste politische Gründe für ihre Haltung. Premierminister Shinzo Abe ist auch nach dem Super-GAU noch ein Nukleokrat. Er setzt alles daran, eine erfolgreiche Bewältigung der atomaren Katastrophe vorzutäuschen. In Wahrheit sickert auf dem Gelände des AKWs hochradioaktives Wasser in den Ozean und ins Grundwasser. Die Normalität liegt in weiter Ferne.»

67


Klima

Update

Ozonschild wird ­wieder dichter

Bündner verhindern Beteiligung an ­Kohlekraftwerk

«Das Montreal-Protokoll zeigt Wirkung», sagt der Chemiker Mario Molina, der mit dem Deutschen Paul Crutzen 1995 den Nobelpreis für Chemie erhielt. Die beiden hatten die Wirkung fluorierter Chlor­kohlenwasserstoffe (CFC) auf die Atmosphäre erforscht. Seit den späten Neunzigern werden keine CFC mehr produziert, die heutigen Sprays sind keine Gefahr mehr für die Umwelt. Jetzt nimmt die Konzentration der Ozonkiller in der Atmosphäre ­allmählich ab. «Dies ist das erste globale Umweltproblem, das die Weltgemeinschaft gelöst hat», so ­Molina. Es wird aber bis 2050 dauern, ehe der Ozonschild wieder so dicht ist wie früher.

In Kürze

Quelle: National Geographic www.nationalgeographic.de/aktuelles/meldungen/ das-ozonloch-schrumpft

Früher

Heute

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

68

Projekt in Saline Joniche (I) wird nicht weiterverfolgt Das Bündner Volk will die Energiewende. Das zeigte die Annahme der kantonalen Volksinitiative «Ja zu sauberem Strom ohne Kohlekraft» am 22. September 2013 klar. Die Initiative wurde von besorgten Bündnerinnen und Bündnern lanciert. Sie verlangt, was eigentlich selbstverständlich ist: – Unternehmen mit Beteiligung des Kantons investieren nicht in Kohlekraftwerke. Der Kanton setzt sich dafür ein, dass Repower das Projekt für ein Kohlekraftwerk im italienischen Saline Joniche nicht weiterverfolgt. – Der Kanton und seine Betriebe sollen in saubere und sichere Energien und damit in den Werkplatz Graubünden investieren. – Die Annahme der Initiative ist ein starkes Zeichen für die Energiewende und den Klimaschutz. Die Bündner Regierung und der Grosse Rat sind nun in der Pflicht, alle politischen und juristischen Möglichkeiten zu nutzen, damit keine Kantonsgelder in Kohlekraftwerke fliessen. Die Regierung muss dem Grossen Rat ­innert Jahresfrist einen Verfassungsartikel zur Initiative vorlegen. Das Volk wird dann erneut über die Kohle-Frage entscheiden, voraussichtlich im Jahr 2015. Die ­Initianten werden darauf achten, dass der Volkswille in der Gesetzgebung umgesetzt wird. Repower muss zudem das Kohlekraftprojekt in Saline Joniche aufgeben und sofort einen geordneten Ausstieg einleiten.


Solarenergie

Ikea investiert in Solaranlagen © Pau l Hil t on

Ikea-Solaranlagen für ein britisches Pilotprojekt sollen von der chinesischen Hanergy-Gruppe hergestellt werden und für umgerechnet rund 8300 Schweizer Franken zu haben sein. Zum Anlagepaket gehören Beratung, Aufbau Vor der Küste in Kroatien werden und Wartungsarbeiten. Laut Ikea Druckluftkanonen für die Suche soll sich die Investition in eine nach Öl und Gas eingesetzt. Der Anlage für einen britischen Durchschnittshaushalt nach sieben Jahextreme Lärm der Kanonen bringt ren auszahlen. Die Aktion wird Wale und Delphine in Lebensgefahr. OceanCare und NRDC (Natu- damit begründet, dass Ikea-Kunral Resources Defense Council) den künftig nachhaltiger leben lancieren jetzt eine Protestaktion. möchten und der Konzern darauf OceanCare kämpft seit 1989 für die reagieren wolle. Der Möbelriese bedrohten Tiere und erhielt 2011 will zudem bis 2020 nur noch von der UNO den UN-Sonderbera- Strom verbrauchen, den er selbst terstatus. Unter der Führung der aus erneuerbaren Energien produOrganisation begann 2013 die welt- ziert. Das Unternehmen erwarb weite Online-Kampagne «Silent bereits einen Windpark in Irland Oceans» zum Schutz der Meeresund investiert Milliarden in Windtiere vor Unterwasserlärm (www. und Solarenergie-Programme. oceancare.org, www.silentoceans. Verkaufen sich die Solaranlagen im org). Der NRDC ist eine grosse britischen Pilotprojekt, könnten amerikanische Naturschutzorgani- sie vielleicht auch bald in Schweisation, deren Wissenschaftler, zer Ikea-Läden zu haben sein. ­Juristen und Umweltexperten sich Forschung dem Schutz der Volksgesundheit und der Umwelt verschrieben ­haben. Sie hat 1,3 Millionen Mitglieder und Netzaktivisten, die an Themen wie Energie, dem Schutz wilder Tiere und dem Schutz der Forscher der ETH Lausanne bünOzeane arbeiten. Seit zwei Jahrzehnten bemüht sich der NDRC an deln Sonnenlicht mit hauch­ vorderster Front in internationalen dünnem Nanodraht. Ein einziger Foren wie der International Mari­ Draht kann das Sonnenlicht wie time Organization und der Bonner eine winzige Lupe bündeln und so Konvention um die Erhaltung die nutzbare Sonnenenergie verwild lebender Tierarten durch eine vielfachen. Damit könnten höchst effiziente Nanodraht-Solarzellen ­Reduktion der Lärmbelastung in bald Realität werden. den Ozeanen. www.nrdc.org Protestmails an die kroatische Nanodrähte sind Metall- oder Regierung können unter Halbleiterkristalle mit dem Durchwww.silentoceans.org abgeschickt messer eines Zehntausendstels werden. eines menschlichen Haars. Dem

Lärmschutz für Wale, Delphine und Co.

Hocheffiziente Nanodraht-Solar­ zellen

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

69

internationalen Team um Anna Fontcuberta i Morral von der ETH Lausanne ist es gelungen, mit einem Nanodraht aus Galliumarsenid das Sonnenlicht auf seine 15-fache Intensität zu bündeln. Bislang gingen Physiker davon aus, dass die Effizienz von Solarzellen wegen physikalischer ­Gesetze nicht über die sogenannte Shockley-Queisser-Grenze* ­steigen könne. «Wir setzen diese Grenze jetzt hinauf, und sei es auch nur um ein paar Prozente», meldet die Westschweizer ETH. Dies öffne neue Wege zur Entwicklung von Nanodraht-Solarzellen, die potenziell sehr effizient und flexibel sein könnten. * Die Schockley-Queisser-Grenze beschreibt die Begrenzung des Wirkungsgrads von Solarzellen. Buchtipp

© Hey n e Ver lag

Protestaktion

Mit der Natur reden Michael Roads über das verborgene Wissen der Schöpfung Michael Roads eröffnet seinen LeserInnen eine neue Erlebnisdimension: In Form eines Tagebuchs erzählt er aus eigener Erfahrung, wie es möglich ist, mit der innersten Essenz von Bäumen, Tieren, Flüssen und Steinen zu kommunizieren und Einblicke in die ­Weisheit der Natur zu gewinnen. Aus dem Amerikanischen von ­Waltraud Ferrari. Heyne Verlag, ­Taschenbuch, Broschur, 208 Seiten, CHF 10.50 ISBN: 978-3-453-70048-2


Forschung

Buchtipp

Fliegenlarven für Zuchtfische

In Kürze

Damit Aquakultur nachhaltig ist, darf die Fütterung der Zuchtfische weder zur Überfischung noch zur Minderung menschlicher Nahrungsmittel beitragen. Das Forschungsinstitut für biologischen Landbau FiBL und Coop haben in einem Projekt eine Alternative entwickelt und erfolgreich getestet: eiweissreiches Mehl aus den ­Larven einer Fliegenart. Die europaweite Zulassung des Insektenmehls ist auf gutem Weg, unterstützt wird die Arbeit durch Coop. Untersuchungsobjekt war die Larve der Soldatenfliege ­(Hermetia illucens). Deren letztes Larvenstadium scheint geeignet für die Fischfütterung. Die Verfütterung von Lebensmittelresten an die Fliegenlarven hilft überdies, wertvolle Inhaltsstoffe sinnvoll zu nutzen. In einem umfangreichen Versuch wurden Massenproduktion, Verarbeitungstechniken, Produkteigenschaften und Wirtschaftlichkeit des Insektenmehls untersucht. Die Resultate sind gut. Das vom Industriepartner Hofmann Nutrition in Bützberg hergestellte Hochleistungsfischfutter mit Hermetiamehl erwies sich in einem achtwöchigen Versuch in der Biofischzucht New Valfish im Wallis als ebenbürtig mit herköm­ mlichem Fischfutter. Der FiBL-­ Projektleiter Andreas Stamer rechnet 2014 mit einer EU-weiten Zulassung.

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

© Pr es t el V er l ag

FiBL und Coop suchen nach ­Alternativen für die Bioaquakultur

Die Natur als einfallsreiche Künstlerin Autoren Ernst Haeckel und Olaf Breidbach

Ein genauer Beobachter war er, der deutsche Zoologe, Philosoph und Freidenker Ernst Haeckel (1834–1919). In seinem ersten Buch, «Atlas der ­Radiolarien», beschrieb er 1862 unbekannte einzellige Lebewesen der Tiefsee und sein zweites Werk, «Kunstformen der Natur» (1904), zeigte, wie formschön die Details unserer Umwelt sein können. Der neu gestaltete Band «Kunstformen der Natur – Kunstformen aus dem Meer» vereinigt jetzt vieles aus diesen beiden Titeln und ist ein Schmökerwerk für kulturell und an der Umwelt Interessierte. Prestel Verlag, gebunden, ca. 336 Seiten, CHF 35.50 ISBN: 978-3-7913-4660-1

Lebensmittel

Coop überzeugt mit Makelhaftem Coop führt in seinem Sortiment unter dem neuen ­Label «Ünique» Früchte und Gemüse, die optisch nicht den gewohnten Standards entsprechen, für Konsumenten aber bekömmlich sind. Angeboten werden etwa Früchte mit Hagelschäden oder Gemüse, denen Launen der Natur eigenwillige Formen zukommen liessen. Die Reaktion der Kundschaft ist positiv und verhindert, dass mit unwesentlichen Makeln behaftete Nahrungsmittel weggeworfen werden.

70


Buchtipp

Buchtipp

Buchtipp

© DVA

Die unermessliche Vielfalt des Ökosystems von Ozeanen beginnen wir erst jetzt vollends zu ­begreifen. Im letzten Jahrhundert hat jedoch die Herrschaft des Menschen über die Natur auch die Ozeane erreicht: Wir fischen sie leer und füllen sie stattdessen mit Umweltgift. Tiefseebergbau droht den Lebensraum unzähliger Pflanzen und Tiere zu verändern. Die Klimaerwärmung liess bereits ein Viertel aller Korallen zugrunde gehen. In seinem aufrüttelnden Buch beschreibt der Meeresbiologe und -schützer Callum Roberts den Reichtum der Ozeane und ihren Wandel, und er ruft dazu auf, der Zerstörung der Meere Einhalt zu gebieten. DVA Sachbuch, gebunden, 592 Seiten, CHF 35.50 ISBN: 978-3-421-04496-9

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

© L u dw ig V er l ag

Callum Roberts über den grössten Lebensraum der Erde und warum dieser in Gefahr ist

Der Wald – ein Nachruf Der Förster Peter Wohlleben erklärt wie der Wald funktioniert, warum wir ihn brauchen und wie wir ihn retten können

© K nau s V er l ag

Der Mensch und das Meer

Der Atlantik Biografie eines Ozeans Simon Winchesters Erzählung über ein Stück ­ungezähmte Natur

Der Atlantik ist Thema verblüffender Geschichten und Anekdoten und das eigentliche Zentrum Unberührten Wald gibt es schon ­unserer westlichen Kultur. Simon lange nicht mehr. Wohlleben berichtet von Schä- Winchesters Kultur- und Natur­ geschichte macht die Faszination den, die Holzindustrie und Jäger anrichten, und darüber, dass Bio- für diesen «wildesten aller energie aus Holz falsch verstande- ­Ozeane» erlebbar. Immer wieder führten Reisen ner Klimaschutz ist. Wohllebens den Autor kreuz und quer über jahrzehntelange Erfahrung hat ihn gelehrt, dass Wälder am besden Atlantik. In seinem neuen ten ohne mensch­liche Eingriffe Buch breitet er seine gesammelten gedeihen. Die ­Freizeitindustrie Schätze vor dem Leser aus. und die Jäger­lobby, eine am Profit ­Spannend und kenntnisreich erorientierte Holz- und Forstwirtzählt er, wie der Atlantik vor über schaft und die b ­ oomende Bio­ 190 Millionen Jahren entstand energiebranche s­ chaden ihm nicht und wie seit Urzeiten die Menweniger als der saure Regen in schen sich mit diesem Meer mesden achtziger ­Jahren. Wohlleben sen. Fast scheint es, als hätten sie zeigt, wie es anders gehen könnte: in jüngster Zeit den Kampf geEr bewirtschaftet in der kleinen wonnen – doch Simon Winchester mahnt zu respektvollem Umgang Eifel-­Gemeinde Hümmel einen ökologischen Vorzeigewald, in dem mit dem weiterhin unberechen­ er auf heimische Buchen setzt, auf baren Riesen. Aus dem Englischen von Michael Pflanzenschutzmittel verzichtet und Besucher für die Belange der Müller. Deutsche Erstausgabe, Bäume sensibilisiert. Anschaulich Knaus Verlag, gebunden, vermittelt er Wissenswertes über mit Schutzumschlag, 528 Seiten, CHF 40.90 das Leben und Zusammen­leben ISBN: 978-3-8135-0431-6 der Bäume. Ludwig Verlag, gebunden, 256 Seiten, CHF 28.50 ISBN: 978-3-453-28041-0

71


Zu gewinnen: 3 Wildbienen-Nisthilfen

Die Bioterra-Nisthilfe für Ihre ­Hauswand, Balkon oder Garten, wurde in Zusammenarbeit mit ­ ildbee.ch optimiert und bietet optimale Nistmöglichkeiten für hohlraumbewohnende Wildbienen. W Senden Sie das Lösungswort bis am 31. Januar 2014 per E-Mail an redaktion@greenpeace.ch oder per Post an Greenpeace Schweiz, Redaktion Magazin, Stichwort Ökorätsel, Postfach, 8031 Zürich. Das Datum des Poststempels resp. des E-Mails ist massgebend. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Über die Verlosung wird keine Korrespondenz geführt. ein Urkanton physikalische Stadt in Einheit Texas

russisches Erdgasförderunternehmen Schweizer Humanist† elektron. Post senden

Welches Land steuert Vortragseiner Entvölkerung künstler entgegen? (französ.)

Speisenfolge

Insel der Philippinen

Lohn der Soldaten

Rote Rübe Sprache der Sinti

1

dt. Komponist † (Carl)

Ort in Uri mexikanische Währung Amateurin

Mehrzahl alte span. Währung (Abk.)

spezielle Einrichtung für radioaktiven Abfall Konstruieren am PC Bündner Ort

Kurort am Gardasee

Rätsel

eh. Bezirk im Hinterland von Lausanne Tennisverband (Abk.) Vorbild, Hochziel

Schweizer StellverAktien- treter (Kzw.) index seemänn. (Abk.) Begriff

Gas-/Ölförderung auf Englisch

13 Telefonat Kupferstecher†

Papierzählmass

4

12

Rückentraggestell Touristikverband

nordische Totengöttin

Anredefürwort

14

nordital. Seeort Ort im Kt. Schwyz

olymp. Komitee (Abk.)

östliche Halbinsel Mittelgriechenlands äther. Öle

9

3

5

Wirts- Hauptstadt haus im von Ghana engliaustral. schen Stil Strauss

französisch: Sohn

Kadaver Strichcode (Abk.) Reiseomnibus (Kzw.) Frauenstimme in der Art von (frz.)

6

neuerer Bibelteil (Abk.) südfranzös. Stadt

10

Wurfspeer der Bantu im südlichen Afrika

leichtes Motorrad, Töffli Auf welcher asiatischen Insel ist der Tiger durch Abholzung bedroht?

Wintersportort im Berner Oberland

2

asiatisches Buckelrind

2

einer von fünf Anrainerstaaten der Arktis

Alphirt

Bez. für einen Dienstpflichtigen (Abk.)

1

11

österr. TV-Sender, Abk. amerikan. Erfinder†

Ausweis (Kzw.) Fluss im Kaukasus

Einiges gibt es wie ... am Meer?

Sommer (frz.) Einfachzucker

Temperaturmasseinheit

8

Staat in Ostafrika

3

4

5

6

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2013

7

8

9

72

10

7 11

12

13

14


ツゥ Green peac e / N ic ol a s Fojt u

Der im テ僕 verendende Schwan ist ein Sinnbild fテシr das drohende Schicksal der arktischen Flora und Fauna.


AZB 8031 Zürich

Abstimmung vom 9. Februar 2014 Greenpeace empfiehlt:

JA zu * FABI * Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur

Motorfahrzeuge verursachen 40 Prozent unseres CO2-Ausstos­ses. Die Bahn ist die umweltverträglichste Alternative. Das Schienennetz ist aber bis ins Letzte ausgereizt. Deshalb kämpft der VCS Verkehrs-Club der Schweiz mit Partnern wie Greenpeace dafür, dass der Umstieg von der Strasse auf die Schiene auf Jahre hinaus sichergestellt wird. Stimmen Sie deshalb am 9. Februar JA zu FABI und damit JA für einen aktiven Klimaschutz.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.