Greenpeace Switzerland Magazin 4/2012 DE

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— Eisschmelze: Die arktische Fauna wird heimatlos S. 11 G REEN PEACE MEMBER 20 12, NR. 4

SCHWERPUNKT DANACH S. 17–40 Nach der Politik S. 35 Energieeffizienz made in Dänemark S. 47 Walliser Solarstrom ist Mangelware S. 53

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

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S. 29

S. 41 S. 53

C OVE R: © HUGH RO SE / AST O CK / C O RBI S

S. 23

Editorial — Digitalisierung: Dieser Begriff lässt sich einfach nicht abschütteln. «Digital» wird wohlfeil eingesetzt, wo Innovation beschworen wird, wo es um neue Märkte und Kommunikationsformen geht, um neue Systeme und moderne Gesellschafts- und Lebensformen. Er impliziert automatisch Schnelligkeit und vor allem moderne, neuste Technologie. Und während Sie dieses neue Magazin greenpeace (noch) physisch in den Händen halten, werden gleichzeitig weltweit Printmedien verdigitalisiert. Eines der grössten politischen Wochenmagazine, «Newsweek», wird per Ende 2012 eingestellt. «Spiegel Online» schrieb dazu im Oktober: «Das legendäre Blatt, seit 80 Jahren auf dem Markt, wurde Opfer der digitalen Revolution.» In unserem Themenschwerpunkt Danach geht es auch – aber nicht nur – um die digitale Revolution. Jeremy Rifkin, Ökonom und Vordenker unserer Zeit, stellt dazu in seinem neu erschienenen Buch eine interessante These auf. Es geht viel um digital economy, digital distribution, digital communication und digital networks. Aber auch darum, dass die Menschheit sich in einer Endspiel-Situation befindet und er nur noch einen Ausweg sieht: eine nachhaltige, empathische Zivilisation. Um digital vorne dabei zu sein, führte unsere Redaktion diesen Frühling eine Mitgliederumfrage durch. Wir wollten herausfinden, wie sich der Greenpeace-Supporter in Zukunft informieren will: ob und welche Inhalte er sich auf iPad und Tablets zu lesen vorstellen kann. Die Umfragezahlen sprachen Klartext. 25 Prozent der Mitglieder würden Informationen von Greenpeace gerne digital erhalten: eine unglaubliche Zahl, welcher wir immer stärker gerecht werden wollen. Letztlich ist es aber egal ob unsere Storys Sie digital, gedruckt oder gar mündlich erreichen. Wichtig ist, dass sie echt sind. Aus erster Hand. Wie unser fotografischer «Frontbericht» aus den Waldbrandgebieten in Russland. Oder die Reportage aus dem Wallis, die aufdeckt, wieso Solarkraft in diesem Kanton nicht genügend gefördert wird. Es sind echte Menschen nach einer echten Katastrophe, die in Japan nach einer menschlicheren, sozialeren und umweltfreundlicheren Welt streben und dabei bereit sind, ihre gesellschaftliche und politische Routine grundlegend zu überdenken – und sich zu verändern. Die Digitalisierung verändert die Welt und ihre Bewohner. Indem sie den Menschen die Möglichkeit gibt, sich horizontal zu vernetzen, verändert sie die Spielregeln der Macht zu Gunsten jener, die sich Empathie und Nachhaltigkeit zuwenden. Die Redaktion


UMWELTAKTIVISTEN IM EINSATZ GEGEN RUSSLANDS BRENNENDE WÄLDER

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SCHMILZT DAS EIS DER ARKTIS, WIRD ES ENG FÜR EISBÄR & CO.

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DANACH

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DÄNEMARK IST DIE MUSTERNATION IN SACHEN ENERGIE-EFFIZIENZ

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Solarenergie

ES GÄBE GENUG SOLARSTROM IM WALLIS. DAS MISSFÄLLT DER STROMLOBBY

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VOM MODEL ZUR MEERJUNGFRAU Die Meeresschützerin Hannah Mermaid taucht ab.

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Foto-Reportage

Titel

Schwerpunkt

Bisher gültige Muster haben ausgedient. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft orientieren sich neu. Stromzukunft

INHALT

Portrait

In Aktion Chefsache Die Karte Kampagnen-News In Kürze Öko-Rätsel

02 10 58 63 68 72

IMPRESSUM – GREENPEACE MEMBER 4/2012 Herausgeberin/Redaktionsadresse Greenpeace Schweiz, Heinrichstrasse 147, Postfach, 8031 Zürich, Telefon 044 447 41 41, Fax 044 447 41 99, redaktion@greenpeace.ch, www.greenpeace.ch Adressänderungen unter: suse.ch@greenpeace.org Redaktionsteam: Tanja Keller (Leitung), Matthias Wyssmann, Hina Struever, Roland Falk Autoren: Peter Balwin, Judith Brandner, Urs Fitze, Philipp Löpfe, Kurt Marti, Hannes Grassegger, Samuel Schlaefli, Matthias Wyssmann Fotografen: Christian Åslund, Christoph Bangert, Ralph Deseni, Nicolas Fojtu, Amac Garbe, Ted Grambeau, Heike Grasser, Megumi Ikeda, Rune Johansen, Paul Langrock, Joerg Modrow, Daniel Mueller, Pietro Naj-Oleari, Flip Nicklin, Bastian Oldhouse, Igor Podgorny, Jiri Rezac, Bernd Roemmelt, Hugh Rose, Jonas Scheu, Anne Schoenharting, Denis Sinyakov, Clément Tardif Gestaltung: Hubertus Design Druck: Stämpfli Publikationen AG, Bern Papier Umschlag und Inhalt: 100% Recycling Druckauflage: d 113  500, f 21 500 Erscheinungsweise: viermal jährlich Das Magazin Greenpeace geht an alle Mitglieder (Jahresbeitrag ab Fr. 72.—). Es kann Meinungen ent halten, die nicht mit offiziellen Greenpeace-Positionen übereinstimmen. Der Lesbarkeit zuliebe sehen wir davon ab, konsequent die männliche und die weibliche Form zu verwenden. Die männliche Form bezieht daher die weibliche Form mit ein – und umgekehrt. Spenden: Postkonto 80-6222-8 Online-Spenden: www.greenpeace.ch/spenden SMS-Spenden: Keyword GP und Betrag in Franken an 488 (Beispiel für Fr. 10.—: «GP 10» an 488)

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Mahnung aus der Dreckluft In einem Mini-Zeppelin schweben zwei GreenpeaceAktivisten über den Braunkohle-Tagebau Welzow Süd in der brandenburgischen Lausitz. Sie protestieren gegen den schwedischen Staatskonzern Vattenfall, der weitere Förderstätten plant. Deutschland, 16. September 2012

© PAUL LA N G RO C K / G R EEN P EAC E



Gazprom I: Prankenhieb gegen den Giganten Als Eisbテ、ren verkleidete Greenpeace-Aktivisten werden vor dem Gazprom-Hauptquartier in Moskau von Polizisten weggekarrt. Sie hatten gegen Offshore-テ僕bohrungen protestiert, die das russische Energieunternehmen in der Arktis beabsichtigt. Russland, 5. September 2012

ツゥ D EN IS S I N YA KOV / G R EEN P EAC E


Gerüstet für die Katastrophe Greenpeace-Aktivisten blockieren eine Shell-Tankstelle in Stockholm und machen mit bitterer Ironie darauf aufmerksam, dass für die Ölbohrungen, die der Treibstoffmulti in der Arktis plant, kein Notfallszenario existiert: «Wir haben Schaufeln und Besen — alles bestens». Schweden, 15. September 2012


© CHRIS T I A N Å S L U N D / G R EEN P EAC E



Gazprom II: Eisige Dusche, brandheisse Aktion Greenpeace-Aktivisten belagern fünf Tage lang das Gazprom-Versorgungsschiff «Anna Akhmatova» in der Petschorasee und werden von der Crew mit Wasserkanonen beschossen. Am Protest gegen die Gefährdung des arktischen Ökosystems nimmt auch der internationale Greenpeace-Geschäftsleiter Kumi Naidoo teil: «Die Arroganz der Ölkonzerne erschüttert mich», sagt er. Russland, 27. August 2012

© D EN IS S I N YA KOV / G R EEN P EAC E


Max Frisch fragt im «Fragebogen»: Was fehlt Ihnen zum Glück? Frage 23. Dann die Frage 24: Wofür sind Sie dankbar? Und 25: Möchten Sie lieber gestorben sein oder noch eine Zeit leben als ein gesundes Tier? Und als welches? Fragen begleiten uns ständig: Lebensfragen, Sinnfragen, Beziehungsfragen. Sie sind schnell gefunden. Antworten ist oft schwieriger, nicht selten komplex, manchmal unmöglich. Ein Händler kauft Kokosnüsse im Dutzend für 12 Franken. Danach verkauft er sie im Dutzend für 9 Franken. Infolge dieser Transaktion wird der Händler zum Millionär. Wie ist das möglich? Jetzt suchen Sie nach der Antwort! Oder: Der Bundesrat möchte eine neue Energiestrategie ohne Atomkraft. Er definiert für die Schweiz in Sachen Sonnenenergie Zielwerte für das Jahr 2035, welche Bayern bereits 2011 umgesetzt hat. Warum steht der Bundesrat auf der Bremse? (Damit erreicht die sonst so innovative und pionierhafte Schweiz in 23 Jahren, was Bayern in 9 Jahren geschafft hat.) Können wir Schweizer auch schneller? – Denken Sie nach, vielleicht finden Sie eine Antwort. Wie wär’s mit dieser Frage: Produzieren wir lieber Wartelisten oder erneuerbaren Strom? (Seit der Einführung der kostendeckenden Einspeisevergütung KEV warten rund 20 000 Photovoltaik-Projekte auf der Liste.) Und: Warum muss warten, wer liefern möchte? Wollten wir nicht den Atomstrom abstellen? – Suchen Sie nach der Antwort. Wir haben keine, die offiziell bestätigt wäre. Wir haben Vermutungen, ja. Bösartige und weniger bösartige ... artige auch. Wir sind versucht, anzunehmen, der Bundesrat sei flügellahm, stromlinienartig ... oder gar irgendwie abartig: Vor einem guten Jahr meinten wir noch, jetzt komme in der Schweiz die Energiewende! Doch die Frage «Wie schaffen wir die Energiewende?» provozierte den Expertenstreit. Wie gesagt: Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

Antworten ist schwieriger als Fragen stellen. Es braucht Sie und uns – Greenpeace Schweiz – deshalb gerade jetzt. Nein, solange die Sonnenenergie kontingentiert bleibt, der Gashahn geöffnet werden soll, munter produziert und nicht ernsthaft eingespart wird, reicht es nicht, von oben rechts bis Mitte links «Energiewende» zu krähen! Wir ruhen nicht, bevor die Forderungen der Effizienzinitiative umgesetzt, der Atomausstieg festgeschrieben und der Deckel auf der Sonnenenergie weg sind! Frage: Haben Sie die «Eidgenössische Volksinitiative für eine sichere und wirtschaftliche Stromversorgung» (siehe Beilage StromeffizienzInitiative) bereits unterschrieben? Bleibt die Antwort auf die Frage nach den Kokosnüssen. Immerhin sie ist schlüssig. Haben Sie sie gefunden? Richtig: Der Verkäufer war vorher Milliardär und jetzt ist er halt Millionär. Anschlussfrage: Warum denken wir immerfort an Wachstum? Verena Mühlberger und Markus Allemann, Co-Geschäftsleitung

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© HEI K E G RA SSE R / G R EEN PEACE

CHEFSACHE

Kokosnüsse und andere Knacknüsse


© F LI P N I CK LI N

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SÄUGETIERE DER ARKTIS: MIT DEM EIS SCHMILZT DIE HOFFNUNG AUF IHR ÜBERLEBEN

Die Klimaveränderung ist kaum mehr zu stoppen: In wenigen Jahrzehnten könnte das Nordpolarmeer jeden Sommer eisfrei sein. Und dann wird es bedrohlich für Eisbär & Co. Von Peter Balwin Die Schiffsuhr zeigt drei Uhr nachts. Trotzdem drängeln die Teilnehmer der Expeditionstour auf die Brücke und die Aussendecks, halb noch im Pyjama, halb schon in hastig übergeworfene Winterkleider gehüllt. Sonnenbrillen verdecken die noch verschlafenen Augen – die Mitternachtssonne steht hoch über dem dichten Treibeis am wolkenlosen Himmel über dem Nordpolarmeer. Was ist geschehen? Jemand hat einen Wal gesichtet, einen der hier vor Spitzbergen seltenen Grönlandwale. «Dort taucht er auf!», ruft jemand begeistert in Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

die gleissend helle nächtliche Stille. Obwohl alle sofort in die gleiche Richtung blicken, ist der V-förmige Blas des mächtigen, gegen 19 Meter langen Meeressäugers schon fast verhaucht. Aber dann taucht sein riesiger Rücken auf. «Der Grönlandwal ist eines der wunderbarsten Tiere der Welt», schrieb Charles Darwin Mitte des 19. Jahrhunderts in sein Tagebuch. Und erst sein Lebensraum: spektakulär, unvergesslich schön, vergänglich – das Treibeis im Arktischen Ozean. Eine atemberaubende Mischung aus blendendem Weiss und urweltlicher Ruhe. Während sich andere nordische Walarten für die Wintermonate in die Subtropen absetzen, bleibt der Grönlandwal der Kälte und dem Eis treu: Er hält sich das ganze Jahr über im vereisten Nordpolarmeer auf. Während es dieser Walart dank Schutzmassnahmen wieder besser geht, verändert sich die Umwelt drastisch. Das Meereis taut auf, ohne das der Grönlandwal und zahlreiche weitere Säugetierarten der Arktis verloren sind. «Und – wie war es? Merkst du schon etwas? Schmilzt das Eis?», so lauten neuerdings die Fragen in meinem Bekanntenkreis, wenn ich

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Magere Beute: Bleiben die Robben aus, muss sich der Eisbär mit Vogeleiern begnügen.

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am Ende des Sommers aus der Arktis nach Hause zurückkehre. Das Interesse am Nordpolargebiet ist gestiegen – oder besser: Die Sorge ist gewachsen um diesen einzigartigen, fragilen Lebensraum am nördlichen Ende der Welt. Und wie das Eis schmilzt! Messreihen aus unterschiedlichen Wissenszweigen verdeutlichen, wie dramatisch und schnell sich das Nordpolargebiet wegen der Klimaerwärmung verändert. Ein paar Beispiele: Mitte September 2012 waren bloss noch 3,4 Millionen Quadratkilometer des Nordpolarmeers mit Eis bedeckt. Das ist absoluter Minusrekord – bisher. In wenigen Jahrzehnten könnte das Nordpolarmeer im Sommer eisfrei sein. Die Fläche des Meereises wird ständig geringer, das Eis dünner. Betrug die durchschnittliche Dicke der Eisdecke über dem Arktischen Ozean 1980 noch 3,64 Meter, wird sie für 2008 mit 1,89 Metern angegeben: eine Abnahme um gut die Hälfte. In den letzten Jahrzehnten lagen die Sommertemperaturen in der Arktis höher als jemals zuvor in den vergangenen 2000 Jahren. Die Liste erschreckender Tatsachen aus der Arktis liesse sich problemlos verlängern. Nicht nur das Packeis des Meeres und die Gletscher schmelzen, auch die Permafrostböden tauen auf. Tauperioden unterbrechen die Winterkälte. Und Winde, Flüsse und Meeresströmungen transportieren tonnenweise Schadstoffe wie Blei, Quecksilber, DDT und andere Pestizide oder PCB aus unseren Breiten in die Arktis. Die gesamte Nahrungspyramide ist von diesem Chemiecocktail hochgradig betroffen. Rund 20 000 Eisbären sind gefährdet Wenn das Meereis wegschmilzt, leiden die Tiere. Im Ozean wie auch an Land geraten Fische, Meeres- und Landsäugetiere in Bedrängnis. Das arktische Ökosystem hat sich bereits dramatisch verändert; das Schmelzen des Packeises ist bloss die augenfälligste Variante. Fast wöchentlich publizieren Naturwissenschafter neue Befunde zum (schlechten) Zustand der Arktis. Sie belegen vor allem eines: Die Klimaerwärmung hat das Leben rund um den Nordpol schon gehörig aus dem Lot gebracht. Einer, den die Erderwärmung am stärksten trifft, ist der Eisbär. 20 000 bis 25 000 Exemplare sind rund um den Nordpol zu Hause. Das Meereis ist ihr Leben, hier finden sie Beute Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

«Und — wie war es? Merkst du schon etwas? Schmilzt das Eis?»

(vor allem Bart- und Ringelrobben), hier treffen sie paarungswillige Partner (ohne Packeis keine Paarung), hier wandert der König der Arktis bis 7100 Kilometer pro Jahr durch sein Reich. Je länger das Meer eisfrei bleibt, desto geringer sind die Chancen, die benötigte Menge Robben zu erbeuten. Trächtigen Weibchen gelingt es dann nicht mehr rechtzeitig, sich eine Fettreserve anzufressen, bevor sie sich Anfang Winter zum Gebären in eine Schneehöhle zurückziehen. Das hat nachweislich bereits zu einer verringerten Reproduktion bei den Eisbären der südlichen Beaufortsee vor Alaska sowie zu einer Abnahme der Population in der westlichen Hudson Bay in Kanada geführt. Auch die Erreichbarkeit geeigneter Gebiete steht auf dem Spiel, denn nicht überall ermöglichen es Terrain und Schneeverfrachtung den Bärenweibchen, stabile Wurfhöhlen in Schneewehen anzulegen. Der Abstand zwischen dem Südrand des Packeises und den Gebieten mit Wurfhöhlen an Land wächst. Russische Wissenschafter berichten von den Nordküsten Sibiriens, dass sich das Meereis im Sommer viel weiter nach Norden zurückzieht als bisher: Die Eisgrenze erreicht

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Mächtige Firmen stampfen in aller Stille Abbauprojekte aus dem Boden Was die Tiere der Arktis in ihrer Existenz bedroht, lockt und freut die Industrie, allen voran die Erdölindustrie. Das schmelzende Meereis macht Gebiete zugänglich, in denen Rohstoffe vermutet werden. Laut jüngsten Schätzungen lassen sich über ein Fünftel der noch unentdeckten Ölvorkommen der Erde in der Arktis finden. Sollte das Nordpolarmeer im Sommer bald eisfrei sein, wie es Klimamodelle vorhersagen, wird die Ausbeutung arktischer Ressourcen im grossen Stil angegangen. Eine solche Entwicklung fügt der Bedrohung arktischer Tiere und Pflanzen durch die Klimaerwärmung weitere Komponenten hinzu: Schiffsverkehr, Verschmutzung, Lärm, seismische Aktivität, Infrastruktur etc. Schon heute berichten Forscher von Konflikten, zum Beispiel in Alaska. Dort überlappt sich das Verbreitungsgebiet der Eisbären mit geplanten und bereits aktiven Öl- und Gasförder-

© JI R I RE ZAC / G R EE N PEACE

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bereits den 82. Breitengrad und ist damit weiter von den Küsten entfernt als je zuvor. Irgendwann wird die offene Wasserfläche zwischen Eisrand und Festland für die Bären zu breit sein, mögen sie noch so gute Schwimmer sein. Dann werden sie Anfang Winter ihr Wurfhöhlengebiet an der Küste nicht mehr erreichen. Die zunehmend eisfreien Sommermonate machen den Eisbären in Svalbard auf Spitzbergen ebenfalls zu schaffen. Im Sommer an Land gestrandet, bleibt ihnen nichts anderes, als sich zum Beispiel an dort brütenden Weisswangengänsen gütlich zu tun. Dank rigoroser Naturschutzmassnahmen in den letzten sechzig Jahren hat die Population dieser Gans von 300 auf 30 000 zugenommen. Die hungrigen Bären machen diesen Erfolg jetzt zunichte. So beobachteten niederländische Forscher, wie ein Eisbär in einem Aufwasch gleich tausend Gänseeier verzehrte. Von 500 Nestern im Gebiet verzeichneten nur 40 einen Bruterfolg. In solch kargen Zeiten, welche die warmen Arktissommer den Eisbären bescheren, kommen auch Seetang an der Küste, andere pflanzliche Nahrung, aber auch Tierkadaver oder Vogelküken auf den Speiseplan. Das ist traurig. Denn wenn man weiss, dass ein Durchschnittseisbär mit einer einzigen Mahlzeit gegen 20 Prozent seines Körpergewichts aufnehmen kann (für uns Menschen entspricht das einem Mittagessen von 15 Kilo), ist klar, dass Probleme programmiert sind. Der grosse Magen knurrt, wenn die Robben im Sommer knapp sind, und der Eisbär – das grösste Landraubtier der Erde – seinen Hunger mit Amuse-Bouches zu stillen versucht. Statt sich Reserven für den Winter anzufressen, zehren die Bären von den körpereigenen Fettvorräten. Solchen Tieren begegnet man in der sommerlichen Tundra von Spitzbergen. Ihr Fell wirkt schmutzig, der Körper mager. Sie sind ausgezehrt und hungrig. Ihr Zustand erhöht die Gefahr bei einem Zusammentreffen mit Menschen, die immer zahlreicher als Touristen in die Arktis reisen. Im Körperfett der Eisbären lagern sich auch Schadstoffe der Chemiedusche ab, welche die Arktis aus der bewohnten Welt erreicht. Wenn Eisbären wegen der Klimaerwärmung über immer längere Perioden fasten, belasten sie sich mit langlebigen organischen Schadstoffen, die aus dem Fettgewebe freigesetzt werden. Der König der Arktis vergiftet sich von innen.

Imponiergehabe: Ein bedrohter Stellerscher Seelöwe sonnt sich nahe Dutch Harbor auf Unalaska Island.

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projekten in einer vierzig Kilometer breiten Zone entlang der Küste. Damit wächst die Gefahr von Störungen und Ölunfällen. Die weltweite Verbrennung fossiler Brennstoffe ist massgeblich verantwortlich für die Klimaerwärmung und die Eisschmelze. Weil das Packeis schwindet, können noch mehr fossile Energiequellen ausgebeutet werden: ein Teufelskreis. In aller Stille stampfen mächtige Firmen grosse Abbauprojekte aus dem arktischen Boden. Passend dazu bauen Schiffswerften eisbrechende Containerschiffe und Tanker. In der russischen Petschorasee zum Beispiel, einem Randmeer der Barentssee an der russischen Eismeerküste, bringen Tanker das Rohöl vom Verladeterminal Varanday in die arktische Hafenstadt Murmansk – erstmals ohne die Hilfe von Eisbrechern, denn die Tanker können Meereis bis zu einer Dicke von 1,5 Metern selber durchpflügen. Durch die weiter östlich und nördlich gelegene Karasee verkehren bereits eisbrechende Containerschiffe – ganzjährig. Nicht nur neue Schiffstypen rollen vom Stapel, es bieten sich dank dem schwindenden Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

arktischen Meereis auch neue, spektakuläre Routen für die kommerzielle Schifffahrt an. Eine davon, die rund 4700 Kilometer lange Nordostpassage entlang der Nordküste Eurasiens, führt von Nordeuropa über Sibirien nach Japan. Sie lässt die Herzen von Öltankerkapitänen und Containerschiffsleuten höherschlagen. Schon haben erste Handelsschiffe die bedeutsame Abkürzung durch arktische Gewässer gewählt – und der Verkehr wird zunehmen. Im August 2011 durchfuhr der erste Supertanker die gesamte Nordostpassage, immerhin ein Schiff von 280 Metern Länge. «Dank der Nordostpassage ist die Arktis zur führenden wirtschaftlichen Region Russlands geworden», stellte der vor zwei Jahren verstorbene Wirtschaftswissenschafter Alexander Granberg bereits 2004 an einem Workshop zum arktischen Seetransportgeschäft fest. «Die Arktis», sagte Granberg voraus, «wird sich schneller entwickeln als der ganze Rest Russlands.» Etwa 80 Prozent des Erdöls und 99 Prozent des Erdgases, das bisher in der Arktis gefördert wurde, stammen aus Russland. Die Nordostpassage ist heute schon während 20 bis 30 Tagen pro Jahr befahrbar und die

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© BER N D RO EM M ELT / G R EEN PEAC E

Mit der Eisschmelze schwindet ihr Territorium: Eisbären in Nordalaska spielen vor den Überbleibseln eines Wals.


© UHH / K LI M ACAM PUS / KA L ES CHK E

TITEL

Meereis-Bedeckung am 6. August 2012 im Vergleich zu den Vorjahren. Die rote Linie zeigt den Mittelwert der Eisausdehnung der Jahre 1992 bis 2006 im August.

Prognosen versprechen eine schiffbare Saison von 100 Tagen in naher Zukunft. Prompt weisen russische Wissenschafter darauf hin, dass die zunehmende Beliebtheit dieser Transitstrecke heute bereits die stärkste Störung für die Eisbären der russischen Arktis ist – ganz zu schweigen vom möglichen Desaster eines Tankerunfalls in diesen abgelegenen, biologisch vielfältigen und produktiven Gebieten. Ähnliches bahnt sich in der kanadischen Arktis an. Mitte September 2012 erhielt die Baffinland Iron Mines Corporation von der Regierung des Territoriums Nunavut nach vierjährigen Verhandlungen grünes Licht, ihr Vier-Milliarden-Dollar-Projekt auf der Baffin-Insel anzugehen. Dort plant die Bergbaufirma, Eisenerze im Tagebau zu fördern und sie auf neun Eisbrecherfrachtern mit je 190 000 Tonnen Ladegewicht das ganze Jahr über durch das seichte Foxe Basin nach Europa zu verschiffen. Der Terminal käme am heute unberührten Steensby Inlet auf etwa 70°30' nördlicher Breite zu liegen. Für die Eisbrecherflotte wird die Grubenfirma dort 50 Millionen Liter Schiffsdiesel lagern – mitten in einer heute noch unberührten Tundralandschaft. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

Schiffe stören den Aktionsraum der Wale Das Meeresbecken des Foxe Basin, das jeden Winter zufriert, weist eine vielfältige Tierwelt auf. So etwa suchen weibliche Grönlandwale die Gegend regelmässig auf, um ihre Jungen aufzuziehen – kaum 70 Kilometer von der Frachterroute entfernt. Auch für Narwal und Weisswal/Beluga ist das Foxe Basin ein wichtiger Lebensraum – beide Arten sind sehr empfindlich. Hinzu kommt, dass das Foxe Basin rund 2200 Eisbären beherbergt. Ihr Aktionsraum im Meereis wird durch den winterlichen Schiffsverkehr massiv gestört. Angesichts solch unheilvoller Entwicklungen in der Arktis werde ich in Zukunft um eine eindeutige Antwort ringen müssen, wenn mich meine Bekannten fragen: «Und – wie war es im hohen Norden?» Natürlich – überwältigend schön ist es weiterhin in Nunatsiaq, dem schönen Land der Inuit. Doch der Klimawandel hat das arktische Ökosystem im Kern getroffen. Peter Balwin bereist die Arktis und die Antarktis seit 18 Sommern regelmässig als Polarreiseleiter auf eisgängigen Schiffen. Auf seinen 83 Fahrten in die kalten Zonen der Erde und auf rund 1800 Exkursionen in der Tundra wurde er Zeuge klimabedingter Veränderungen, auf die er in Vorträgen und Artikeln hinweist.

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M A G Z I N

G R E E N P E A C E

No4

2012

DANACH mit Beiträgen von Samuel Schlaefli, Judith Brandner, Philipp Löpfe und Matthias Wyssmann


DANACH

Aus Klamauk kann bitterer Ernst werden. Wenn wir daran denken, mit wie viel gruseliger Wonne die Welt dem letzten Tag des Maya-Kalenders – dem Weltuntergang! – entgegen scherzte, dann sind wir froh, dass dieses Magazin gedruckt wurde und Sie es gesund in Händen halten... Wir haben Ernst gemacht und einige Beiträge zur Zeit «Danach» verfassen lassen, haben die Apokalypse aber – vorerst – ausgespart. Ein «Danach» bezieht sich zwangsläufig auf eine Zäsur, ein einschneidendes Ereignis. Hoffen wir, dass es sich dabei nicht um jene Katastrophe handeln wird, für die wir in den Wochen und Monaten vor dem allerletzten Tag der Mayas mit Galgenhumor geübt zu haben schienen. Wie wäre es, wenn wir jetzt schon vor der Not eines bedrohlichen Danach eine neue Welt- und Wirtschaftsordnung üben würden? Notwendig wäre es.

Nach dem Wachstum Für Tomáš Sedláček ist eine Wirtschaft ohne Wachstum denkbar. S. 19 Nach der Katastrophe Fukushima hat in Japan einen neuen Blick auf die Macht geöffnet. S. 23 Nach der Revolution Für Jeremy Rifkin steht uns eine «Heirat» von Information und Energie bevor. S. 29 Nach der Politik Was, wenn die klassische Interessenpolitik ausgedient hätte? S. 35


NACH DEM WACHSTUM

MAGAZIN GREENPEACE

No4

2012

Tomáš Sedláček ist ein Philosoph unter den Ökonomen. Er erlöst die Wirtschaft vom Pathos, wertfrei zu sein, und entlarvt ihre moralischen Prämissen. Inspiration für seine Analysen und Vorstösse holt er sich im Alten Testament genauso wie in «Matrix».

«WIR SIND ZU EINER GESELLSCHAFT VON FACHIDIOTEN VERKOMMEN» Von Samuel Schlaefli

Käme die Ökonomie daher wie Tomáš Sedláček, sie wäre eine bunte und sinnliche Wissenschaft. Der 35-jährige Chefökonom der grössten tschechischen Bank trägt zu seinem hellorangen, widerborstigen Haar einen leuchtend violetten Pullover und Jeans. Zum Espresso bestellt er eine Cola und bei Gesprächsbeginn bietet er Zigaretten an. Sedláček ist ein passionierter und geduldiger Erzähler, der sich Zeit nimmt für sein Gegenüber. Dies, obschon er ständig unterwegs ist: Gestern von Prag nach Bozen für einen Vortrag am Transart Festival, morgen gehts in aller Frühe weiter nach München zu einem Termin mit dem Hanser Verlag, bei dem dieses Jahr die deutsche Übersetzung seines ersten Buchs «Die Ökonomie von Gut und Böse» erschien. Grundlage dafür war seine Doktorarbeit, die von der Karls-Universität in Prag einst abgelehnt wurde. Die tschechische Originalfassung schaffte es 2009 als erstes Non-Fiction-Werk in die Bestsellerliste und wurde darauf ins Englische übersetzt. Heute wird Sedláček an Festivals, zu Konferenzen, Fernsehshows und sogar auf Theaterbühnen eingeladen. In seinen Vorträgen ergründet er die Ursprünge und Ursachen für die jüngsten Perversionen unseres Wirtschaftssystems. Dabei bedient er sich bei Texten aus dem Alten Testament, Reden von Aristoteles, Theorien von Adam Smith, Dialogen aus «Matrix» und Fabeln aus «Lord oft the Rings». «Fachidioten» – Sedláček wiederholt das deutsche Wort mehrmals, der Begriff gefällt ihm. Ja, wir seien zu einer Gesellschaft von Fachidioten verkommen, meint er. «Stellen Sie sich einmal vor, unsere Welt würde von Zahnärzten regiert: Obligatorisches dreieinhalbminütiges Zähneputzen für alle, bei Regelverstoss Bestrafung – und die Gesundheit der Zähne wäre das Wichtigste für die Gesellschaft.» Bevor man über die Absurdität dieser Metapher lachen kann, holt einen Sedláček zurück auf den Boden: «See, that’s exactly what happened with the economists.»

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MAGAZIN GREENPEACE

No4

2012

© ANN E S CH O EN HART I N G / O S T K R EUZ

NACH DEM WACHSTUM

Tomáš Sedláček: «Wachstumsverzicht wird uns helfen, von einer Schwergewichtsökonomie zu einer leichteren, wissensbasierten und umweltverträglicheren zu gelangen.»

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NACH DEM WACHSTUM

MAGAZIN GREENPEACE

No4

2012

Herr Sedláček, hat die Wirtschaft den gesunden Menschenverstand verloren? Ja, und die ganze Mathematik hat wesentlich dazu beigetragen. Wenn sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort eingesetzt wird, hilft sie, Dinge zu erklären. Falsch eingesetzt, vernebelt sie aber den gesunden Menschenverstand. Mathematik ist eine Parabel und darf nur im passenden Kontext angewandt werden. Doch wir haben sie überall eingesetzt. Wurde die Ökonomie durch ihren totalitären Erklärungsanspruch zu dem Monster, für das sie heute von vielen Menschen gehalten wird? Sie wurde zur Religion und zum Fetisch. Wir haben damit die Kirche, das Recht, Familienbeziehungen und die Politik erklärt. Wir nutzen die «Rational choice»-Theorie (rationale Entscheidungen zugunsten des grössten persönlichen Nutzens) für fast alle Bereiche des Lebens. Kann man Liebe mathematisch erklären? Ja, wahrscheinlich könnte man das. Ist es pervers? Ja, absolut, also lassen wirs lieber sein.

«Falsch eingesetzt, vernebelt die Mathematik den gesunden Menschenverstand.»

Sedláček beginnt seine Vorträge gerne mit dem Befund, das heutige Wirtschaftssystem sei manisch-depressiv. Ein System mit der unangenehmen Angewohnheit, sich selbst immer wieder zu überhitzen. Eines, in dem nicht die Balance zählt, sondern der Kick. Er findet Vorläufer dafür bereits in einem der ersten schriftlichen Zeugnisse unserer Zivilisation: Im 4000-jährigen Gilgamesch-Epos aus Mesopotamien wendet sich Enkidu, eine Kreatur zwischen Mensch und Tier, von seiner Herde und der Natur ab und wird in der Stadt zur «zivilisierten» Person. Die Natur wird zur Ressource, Effektivität zum neuen Leitbild. Enkidus ursprüngliche Zufriedenheit weicht dem Drang nach Fortschritt und Spezialisierung. Von nichts sei unsere Gesellschaft dermassen besessen, ist Sedláček überzeugt, wie vom Glauben an Fortschritt und Wachstum. Produktionsmengen, Erträge und Konsum wurden zu Massstäben für die vermeintliche Zufriedenheit. Ist der Kapitalismus am Ende, hat er als wirtschaftliches Modell ausgedient? Nein, wir stecken in keiner Kapitalismuskrise. Der Kapitalismus ist nicht perfekt, aber er hat viele Vorteile gegenüber anderen Systemen. Das Problem ist vielmehr der Wachstumskapitalismus. Eine Marktwirtschaft ohne Wachstum wäre also möglich? Absolut. Kein Staat geht wegen fehlenden Wachstums bankrott, sondern wegen exzessiver Schulden. Staaten können – vorausgesetzt, sie haben keine Schulden – auch ohne Wachstum über Jahrzehnte in einer guten Position verharren. Es braucht eine gewisse Umstrukturierung des Systems, damit auch für Arbeitslose und Arme gesorgt ist, aber gegen Armut und Arbeitslosigkeit gibt es wesentlich cleverere Mittel als Wachstum. Da kommt Sedláčeks «Sabbatökonomie» ins Spiel, zu der er sich von der Geschichte im ersten Buch Mose inspirieren liess. Einen Tag der Zufriedenheit will er einführen, einen, an dem die Menschen unproduktiv sind und für einmal nicht versuchen, die Welt um sich zu verändern. «Gott hat am siebten Tag nicht geruht, weil er danach ein weiteres Universum bauen musste, sondern um sich

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«Kein Staat geht wegen fehlenden Wachstums bankrott, sondern wegen exzessiver Schulden.»


NACH DEM WACHSTUM

MAGAZIN GREENPEACE

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ob dem Erreichten zu freuen.» Die stimmungsvolle Zimmereinrichtung, der ununterbrochen fliessende Strom, der aromatische Kaffee – alles Erscheinungen, über die wir uns von Zeit zu Zeit bewusst freuen sollten. «Nutzen ist eine Sache der Vergegenwärtigung und nicht der Leistung», sagt Sedláček und fordert weniger Arbeitsbelastung für den Einzelnen und mehr Arbeit für viele. Deshalb macht er sich in Tschechien für die Kurzarbeit stark. Zugleich kämpft er als Regierungsberater im Nationalen Wirtschaftsrat für eine restriktive «Wir haben in den Fiskalpolitik. Eine minimale Staatsverschuldung soll die neue Richtgrösse sein vergangenen Jahren und nicht mehr wie heute das maximale BIP-Wachstum. Dafür hat Sedláček künstliches Wachstum die «Josef-Regel» formuliert: Wachstum und Haushaltsdefizit eines Staates geschaffen mit Geld, dürfen zusammen drei Prozent des BIP nicht übertreffen. Regierungen würden das wir nicht hatten.» darüber hinaus verpflichtet, in guten Zeiten Rücklagen zu bilden, und könnten sich zum Ankurbeln der Wirtschaft nur noch in Defizitjahren zugunsten eines ausbalancierten Staatshaushalts moderat verschulden. Ähnliches riet schon Josef dem ägyptischen Pharao im altem Testament, als dieser sieben Jahre der Fülle und sieben der Verzweiflung vorhersah. Ihre Vorschläge hören sich einfach an angesichts der Misere, in welche die globale Wirtschaftskrise viele Staaten und Menschen gebracht hat. Wir haben in den vergangenen Jahren künstliches Wachstum geschaffen mit Geld, das wir nicht hatten. Das muss aufhören. Um das zu verstehen, braucht es keine Mathematik, keine Ökonometrie oder Theorien des Homo oeconomicus. Kann eine Systemreform allein die Exzesse eindämmen? Sie wollen wissen, ob Evolution oder Revolution? Ich habe den Kommunismus in der Tschechoslowakei noch erlebt. Dort brauchte es die Revolution, um sich vom alten System zu trennen. Trotzdem gehöre ich heute zu den Reformkapitalisten. Gibt es keine Alternative? Natürlich gibt es Selbstversorgungsinitiativen und Gemeinschaften mit eigenen sozialen Währungen, aber das funktioniert nur im kleinen Massstab. Sie und ich, wir können uns solchen Gemeinschaften jederzeit anschliessen. Da sehe ich den fundamentalen Unterschied zwischen Kommunismus und Kapitalismus: Letzterer erlaubt kommunistische Blasen, im Kommunismus ist das Umgekehrte nicht möglich. Inwiefern würde eine Abkehr von der Gier nach Wachstum auch unsere Umweltprobleme lösen? Wachstumsverzicht wird uns helfen, von einer Schwergewichtsökonomie zu einer leichteren, wissensbasierten und umweltverträglicheren zu gelangen. Erinnern Sie sich an das fiktive Land Mordor und die Siedlung Rivendell im Film «Lord of the Rings»? Nein, weshalb? In Rivendell wird praktisch nichts produziert, alles wird irgendwie vererbt, den Menschen und der Natur geht es gut. In Mordor hingegen gibt es eine Schwerindustrie mit Eisenöfen, Bäume werden gefällt und grosse Armeen unterhalten. Das BIP von Mordor muss um einiges höher sein als dasjenige von Rivendell. Doch in welcher der beiden Welten möchten Sie leben?

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Nach Fukushima ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen nachhaltig geschädigt. Intellektuelle und AkivistInnen, aber auch normale BürgerInnen suchen nach neuen Wegen für ihr Land.

JAPANS JUGEND SETZT AUF POLITISCHES AUFBEGEHREN STATT RESIGNATION Von Judith Brandner

Die jungen Menschen im Seminar an der Städtischen Universität Nagoya machen erstaunte Gesichter, als ich ihnen im Wintersemester 2011/12 die Aufgabe stelle, eigene Recherchen zur Katastrophe vom 11. März 2011 anzustellen und einen Essay zum Thema zu verfassen. Kaum jemand der rund sechzig Studierenden in drei Seminarkursen weiss mit dieser Vorgabe zunächst etwas anzufangen. «Fukushima» ist unter den Zwanzigjährigen im Hunderte Kilometer entfernten Nagoya kein Thema, wie es scheint. Die meisten sitzen müde in der Veranstaltung, erschöpft von ihren schlecht bezahlten McJobs, die ihnen das Studium finanzieren helfen. Viele widmen sich bereits intensiv der Arbeitssuche für die Zeit nach dem Studium, im Wissen, dass nur ein Bruchteil eine feste Anstellung finden wird in einem Land, wo rund ein Drittel aller Beschäftigten in einem prekären Arbeitsverhältnis stehen. Die meisten Studierenden versuchen die Katastrophe zu verdrängen und sich einzureden, sie seien von den Folgen nicht betroffen. Doch nach und nach wird klar, wie verunsichert die jungen Menschen sind, wie wenig sie über die Folgen der Nuklearkatastrophe wissen und wie gering ihr Vertrauen in die Informationen von Regierung, Behörden und Medien ist. Dieser Vertrauensverlust in die Institutionen spiegelt die Gesamtstimmung in der japanischen Gesellschaft – und das nicht erst seit dem 3.11.11. Seit Japan unter Premier Koizumi einen neoliberalen Kurs eingeschlagen hat, öffnet sich die soziale Kluft immer mehr und spaltet die einst harmonische Mittelstandsgesellschaft. Die Katastrophe zeigt dies verstärkt. Heute befindet sich Japan in der grössten Krise der Nachkriegszeit, so der Befund politischer Beobachter. Seit Jahren beteiligen sich nur wenig über die Hälfte der Stimmberechtigten an nationalen Urnengängen. Als die Wahlbeteiligung 2009 bei den Unterhauswahlen 69 Prozent erreichte, galt dies als Rekord. Anfang August 2012

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ergab eine Meinungsumfrage der liberalen Zeitung Asahi Shimbun, dass 79 Prozent der Befragten kein oder nur geringes Vertrauen in die Sicherheitsmassnahmen der Regierung bezüglich der Atomenergie haben. In derselben Umfrage befanden 81 Prozent die Diskussion über die Atomenergie und die künftige Energiepolitik für unzureichend. Kein Wunder – ein Plan, in welche Richtung Japans Energiepolitik gehen wird, fehlt auch fast zwei Jahre nach Erdbeben, Tsunami und der dreifachen Kernschmelze im AKW Fukushima. Die japanische Ein Grund für den Vertrauensverlust sind die Verflechtungen zwischen Anti-AKW-Bewegung Politik, Industrie und Medien, die der kritische Atomwissenschafter Hiroaki bekommt eine Koide vom Reaktorforschungsinstitut der Universität Kyoto in Bezug auf die stärkere Stimme Atomindustrie als «Genjimura» bezeichnet, als verschworene Atomgemeinund immer mehr schaft aus Politikern, Wirtschaftsverbänden, Energiewirtschaft und IndustrieZulauf. konzernen, die Atomkraftwerke herstellen, Wissenschaftern, die die Atomenergie ausbauen wollen, und den Massenmedien, in denen aus Rücksicht auf die Inserenten keine kritische Berichterstattung vorkommt. Junge Menschen wie die StudentInnen im Seminar in Nagoya verlassen sich schon lange nicht mehr auf die herkömmlichen Medien und informieren sich lieber übers Internet, über Twitter oder Mixi, das japanische Pendant zu Facebook. Im Seminar wollen viele wissen, wie die Medien in Europa über die Katastrophe berichtet haben, vor allem über den Unfall im AKW und die Folgen. Nach und nach weicht die Resignation einem politischen Aufbegehren. Intellektuelle, AktivistInnen, aber auch einfache Bürger suchen nach neuen Wegen für ihr Land. Der 1971 geborene Hiroki Azuma, Professor an der Universität Waseda und einer der jüngeren Intellektuellen im Land, bittet seit der Katastrophe unterschiedlichste KünstlerInnen und Intellektuelle zum Diskurs in der von ihm gegründeten Kulturzeitschrift Genron. Die Ausgabe mit dem Titel «Japan 2.0» befasst sich mit der Frage nach der japanischen Identität im Anschluss an

© MEGUMI I KE DA

Japanische Frauen beschirmen Polizisten, während sie gegen den Neubetrieb des AKW Ohi in der Präfektur Fukui protestieren.

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den 11. März 2011: «Die Welt rückt enger zusammen, bald umspannt das Netzwerk den ganzen Planeten – was bedeutet es vor diesem Hintergrund, in einer Inselnation im Fernen Osten zu leben?» Japan stehe an einem Scheideweg, es sei klar, dass die Katastrophe das Land verändert habe, Reformen seien dringend notwendig, so die wichtigste Botschaft. Ein klares Bild des künftigen Japan vermögen jedoch auch die AutorInnen von «Genron» nicht zu zeichnen. DIE ROLLE DER NEUEN GRÜNEN PARTEI IST NOCH UNKLAR Die japanische Anti-AKW-Bewegung, die es schon lange gibt, deren Stimme bislang aber zu leise war, bekommt immer mehr Zulauf. Den Anfang machten spontane Kundgebungen und Proteste, die mittlerweile zu einer regelmässigen Einrichtung geworden sind: Seit vielen Wochen wird jeden Freitag vor dem Sitz des Premierministers gegen die Atomenergie demonstriert. Es sind friedliche Demonstrationen, wo Alt und Jung nebeneinander stehen. Kenzaburo Oe, der Literaturnobelpreisträger von 1994, der immer wieder als Gewissen Japans auftritt, ist Mitbegründer und einer der führenden Köpfe der Anti-AtomPlattform Sayonara Genpatsu, die den Abschied von der Kernenergie im Titel trägt. Der Gruppe gelang es im September 2011, rund 60 000 Menschen zu einer riesigen Kundgebung in Tokio zusammenzubringen. Ende Juli 2012, nachdem zwei Reaktoren des AKW Oi in der Präfektur Fukui am japanischen Meer wieder ans Netz genommen worden waren, fanden sich 150 000 Menschen ein, die bei einer der grössten Demonstrationen seit den 1960er Jahren ein Ende der Atomenergie verlangten: eine beachtliche Zahl in einem Land, in dem keine ausgeprägte Demonstrationskultur besteht. Auch in die Parteienlandschaft, jahrzehntelang von der rechtsgerichteten LDP dominiert, ehe sie 2009 von der DPJ abgelöst wurde, ist Bewegung gekommen. Im Sommer 2012 formierte sich eine neue, landesweite grüne Partei. Welche Rolle sie künftig spielen wird, bleibt abzuwarten. Eine Gruppe Abgeordneter von LDP, DPJ und SPJ hat sich zur überparteilichen Plattform Genpatsu Zero no Kai zusammengefunden und tritt für einen vollständigen Ausstieg aus der Atomenergie ein. Angesichts des Vertrauensverlusts in die Institutionen verwundert es kaum, dass auch im Kampf gegen die radioaktive Belastung immer mehr Menschen zur Selbsthilfe greifen. Eine von ihnen war die Besitzerin eines Waldorf-Kindergartens in Fukushima-Stadt. Die rund sechzig Kilometer vom havarierten AKW entfernte Stadt gehört nicht zur Sperrzone. Dennoch ist die radioaktive Belastung in manchen Bezirken so hoch, dass immer mehr Menschen wegziehen. Auch über dem Areal des Kindergartens ist die radioaktive Wolke niedergegangen. Tatkräftig unterstützt von Greenpeace, schritt die Kindergärtnerin im Mai 2011 selber zur Dekontaminierung von hundert Quadratmetern Spielplatz, bis sie einsehen musste, dass die Radioaktivität so nicht in den Griff zu bekommen ist. Mittlerweile ist auch sie fortgezogen. Im ganzen Land haben NGOs und Freiwillige Messstationen eingerichtet, an denen besorgte BürgerInnen ihre Lebensmittel auf Radioaktivität testen lassen können. In die vom Tsunami zerstörten und zum grossen Teil immer noch nicht wiederaufgebauten Regionen zieht es nach wie vor viele freiwillige HelferIn-

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Angesichts des Vertrauensverlusts in die Institutionen wundert es kaum, dass immer mehr Menschen zur Selbsthilfe greifen.


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Tokyo, 29. Juli 2012 Junge Anti-Nuklear Demonstrantinnen im Hibiya Park im Zentrum von Tokyo. Immer häufiger protestiert die japanische Bevölkerung gegen das politische System.

© A P PHO TO /GREG BAKER

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Die traditionell «grünen» Anliegen werden am stärksten von der neu gegründeten Partei Midori no To vertreten.

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nen. Es sind vor allem junge Menschen ohne Job und ohne Zukunftsperspektive, die den Betroffenen Hoffnung und Mut geben und nicht zuletzt ihrem eigenen Leben mehr Sinn verleihen wollen. Die Veränderungen in der japanischen Gesellschaft sind leise, aber spürbar. Es zeichnet sich ein Kampf ab zwischen denen, die an ihrer politischen und ökonomischen Macht festhalten, und denen, die ein neues Japan wollen – ein menschlicheres, sozialeres, ein umweltfreundlicheres Japan. Es geht um viel, gerade in der Energiepolitik. Denn der Atomenergie ganz abzuschwören, hiesse auch, auf die latente atomare Abschreckung zu verzichten – auf die Möglichkeit, Atomwaffen zu bauen. Dies erachten so manche in einer unruhigen asiatischen Region für notwendig, auch wenn es der japanischen Verfassung widerspricht. DIE GRÜNEN WOLLEN DEN SCHRITT IN DIE NATIONALE POLITIK SCHAFFEN Die japanische Politik wurde von 1955 bis 2009 praktisch ohne Unterbruch von der rechtskonservativen Liberaldemokratischen Partei LDP geprägt. Mit Unterbrechung 1993/94, und durch eine Koalition zwischen LDP und SDP, 1994– 96, stellte die LDP über 40 Jahre lang in Alleinherrschaft die Regierung. Die LDP ist traditionell verflochten mit Industrie- und Wirtschaftsverbänden sowie Veteranenorganisationen. Bei den Unterhauswahlen 2009 wurde die LDP von der Demokratischen Partei Japan (DPJ) abgelöst. Die DPJ wird zumeist als Mitte-Links eingestuft, vereint jedoch ein breites Spektrum politischer Ansichten, in dem sozialdemokratische Inhalte ebenso Platz finden wie konservative. Das mag das Fehlen einer klaren Linie in der Atompolitik erklären. Die Sozialdemokraten der JSP, jahrelang die grösste Oppositionspartei im japanischen Nachkriegsparteiensystem, sind seit Jahren nur mehr eine marginale Kleinpartei. Ein Höhepunkt war die Rede des sozialistischen Premiers Murayama 1995 während einer Koalitionsregierung mit der LDP zum 50. Jahrestag des Kriegsendes mit der Entschuldigung Japans für die Gräueltaten in Asien zwischen 1931 und 1945. Die traditionell «grünen» Anliegen – Ausstieg aus der Atomenergie, Exportverbot von Atomenergie-Technologien, Förderung von erneuerbaren Energien, Reduzierung der CO2-Emissionen – werden heute am stärksten von der im August 2012 gegründeten grünen Partei Midori no To vertreten. Diese politische Vereinigung ist bis Redaktionsschluss noch nicht im nationalen Parlament, sondern lediglich auf kommunaler und Präfekturebene vertreten. Die Stimmung im Land spricht derzeit für eine Rolle der Grünen in Japans Parteienlandschaft. Da jedoch die Neuwahlen von 2013 auf Dezember 2012 vorverlegt wurden, war die Vorbereitungszeit für die junge Gruppierung diesmal zu kurz. Judith Brandner, geboren 1963 in Salzburg, Radiojournalistin und Autorin. Studierte Japanologie an der Universität Wien. Seit 1987 Dutzende Male zu längeren Aufenthalten in Japan, zuletzt im Wintersemester 2011/12 als Gastprofessorin an der Städtischen Universität Nagoya. Bücher: «Ausser Kontrolle und in Bewegung», Reportage Japan, Picus 2012, und «Kratzer im glänzenden Lack», Reportage Japan, Picus 2011. www.judithbrandner.at

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Jeremy Rifkin ist laut dem Time Magazine «der meistgehasste Mann der Wissenschaft». Mit provokativen Thesen rüttelt er an Gesellschaftsformen und Grundsätzen der Energiewirtschaft.

UNBEIRRTER MEISTER DES VERNETZTEN DENKENS

GRA FIK: C OV ERB IL D AUS «THE THI RD IND US TR I AL RE VOL UT IO N » VO N J ER EM Y R I F K I N

Von Philipp Löpfe

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Eine Welt, in der die Menschen sich dank einem neuen globalen Bewusstsein besser verstehen («Die empathische Zivilisation»), und eine Welt, in der nachhaltig und dezentral erzeugte Energie die Wirtschaft in einen sanften Ökokapitalismus verwandeln («Die dritte industrielle Revolution») – so könnte man die beiden letzten Bücher des amerikanischen Intellektuellen, Politologen und Ökonomen Jeremy Rifkin zusammenfassen. Kein Wunder, wird er von Zynikern als seniler Schwärmer abgeschrieben. Doch wer bei Rifkin Anzeichen von Altersdemenz zu entdecken glaubt, irrt. Der nicht mehr ganz junge Vordenker – Rifkin ist 68 Jahre alt – macht in seinen jüngsten Werken mit Recht auf einen Zusammenhang aufmerksam, der die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts entscheidend prägen, ja möglicherweise gar zu einer Schicksalsfrage der Menschheit werden wird: die Verbindung von nachhaltiger Energie, moderner Informationstechnologie und Gesellschaftsform. Wer ist Jeremy Rifkin? In vieler Hinsicht ein klassischer Vertreter der 68er-Generation. Als er an der University of Pennsylvania Ökonomie studierte, politisierte ihn der Protest gegen den Vietnamkrieg. In der Folge wurde er ein führendes Mitglied der damaligen Friedensbewegung. Auch bei Demonstrationen gegen Öl- und andere Multis war er an vorderster Front dabei. Bald machte sich Rifkin einen Ruf als kritischer Vordenker. Bis heute hat er insgesamt 19 Bücher zu Fragen der Gesellschaft, der Arbeitswelt, der Ökologie und vor allem der Energie verfasst. Das hat ihn zu einem gefragten Mann gemacht: Multinationale Unternehmen, nationale Regierungen und die EU-Kommission suchen seinen Rat. Dies wiederum hat ihm Feinde verschafft, denn Rifkin scheut sich nicht, mit dem breiten Pinsel zu malen und die grossen Zusammenhänge aufzugreifen. Das Time Magazine bezeichnete ihn einst als den «am meisten gehassten Mann in der Wissenschaft». Rifkin tanzt zwar auf vielen Hochzeiten, aber er ist kein Heuchler und lebt, was er predigt. Er ist ein überzeugter Vegetarier, «beinahe Veganer», wie er präzisiert, und hat mit seiner Frau in Virginia eine Farm für misshandelte Tiere eingerichtet. «Säugetiere sind wie die Menschen Teil einer grossen Familie», sagt er. «Alle Lebewesen sitzen im gleichen Boot.» Rifkin ist überzeugt, dass sich die Menschheit an einem Punkt befindet, der über Sein oder Nichtsein entscheiden wird. «Wir sind in einer Endspielsituation», sagt er: «Die Globalisierung stösst an ihre Grenzen.» Die Klimaerwärmung wird die Menschen zwingen, ihre Wirtschaft grundlegend zu verändern, und zwar schon bald. «Die dritte industrielle Revolution, von der ich spreche, ist eine abso-

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© E URO P EAN PAR LI AME N T / PI ET RO N AJ-O LEAR I

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Vordenker Jeremy Rifkin: «Die dritte industrielle Revolution, von der ich spreche, ist eine absolute Notwendigkeit geworden.»

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lute Notwendigkeit geworden», sagt Rifkin und fügt hinzu: «Es gibt keine Alternative. Es gibt keinen Plan B.» Der zentrale Punkt der dritten industriellen Revolution ist die Verschmelzung von Internet und erneuerbarer Energie. «Im 21. Jahrhundert werden Hunderte Millionen Menschen ihre eigene grüne Energie erzeugen – in ihren Häusern, in Büros, in Fabriken – und sie mit anderen über intelligente dezentrale Stromnetze, über ‹Internetze› teilen, so wie die Menschen heute ihre eigenen Informationen erstellen und via Internet mit anderen teilen», schreibt Rifkin. Die Fusion von Internet und erneuerbarer Energie wird zu einem Paradigmenwechsel in Wirtschaft und Gesellschaft führen. Rifkin vergleicht es mit den grossen Veränderungen, welche die erste und die zweite industrielle Revolution bewirkten. Im 19. Jahrhundert führte die Verbindung von Dampfmaschine und Druckerei dazu, dass Volksschulen entstanden und die Massen in den Genuss von Bildung kamen. Die Konvergenz von Elektrizität und Telefonie bewirkte die Kommunikationsgesellschaft des 20. Jahrhunderts. Noch tiefer greifende Veränderungen wird die Verbindung von Internet und nachhaltiger Energie bewirken. «Das Internet ist nebst einem sehr mächtigen Kommunikationsinstrument auch eine neue Organisationsform», sagt Rifkin. Die hierarchische Einwegkommunikation wird abgelöst von einer horizontalen Jeder-mit-jedem-Kommunikation. Die nachhaltige Energie verstärkt diese Tendenz, denn anders als die fossile Energie ist sie nicht auf wenige Orte der Welt konzentriert, die mit hohem militärischem und finanziellem Aufwand geschützt und ausgebeutet werden. «Die Situation im Energiebereich lässt sich vergleichen mit der Situation der Computer in den 1970er Jahren», sagt Rifkin. «Damals dominierten die Mainframecomputer von IBM, die zur herrschenden Hierarchie passten. Heute haben wir grosse Energieunternehmen, die Strom mehrheitlich zentral erzeugen und dann verteilen – die IBM-Situation. Doch bald wird es Millionen von Gebäuden geben, die selbst Energie produzieren. Anders gesagt: Die Entwicklung in der IT-Branche – vom Mainframe zum Personal Computer, zum Laptop und zum Smartphone – wird sich im Energiesektor wiederholen.» Die Heirat von Internet und nachhaltiger Energie wird auch die zwischenmenschlichen Beziehungen verändern. Dank sozialer Medien wie Facebook oder Twitter und Open-Source-Modellen wie Wikipedia und Linux entsteht eine «empathische Zivilisation». Ein uralter Traum der Menschheit, eine Wirtschaft, die von Altruismus und nicht von Egoismus dominiert wird, kann so endlich Wirklichkeit werden. «Heute schon kann man beobachten, dass Jugendliche dank

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Facebook und Twitter beginnen, sich kooperativer zu verhalten», sagt Rifkin und fügt hinzu: «Die Kehrseite davon ist, dass auch der Narzissmus zunimmt, dass die Menschen zunehmend wie Schauspieler auf der Bühne stehen. Die Jugendlichen werden beides, toleranter und selbstverliebter.» Nicht nur Jeremy Rifkin macht sich Gedanken darüber, welche sozialen Veränderungen eine digitale Wirtschaft bringen wird. Zu teilweise ähnlichen Schlüssen kommt zum Beispiel auch Chris Anderson, Chefredaktor der IT-Zeitschrift «Wired» und Autor des Bestseller «The Long Tail». Darin skizziert er die Umrisse einer entstehenden digitalen Ökonomie. In der Musikindustrie ist sie bereits weit fortgeschritten, denn Musik wird schon weitgehend digital transportiert. Das bedeutet: Es gibt keine Transport- und Lagerkosten und kein 20:80-Prinzip mehr. Darunter versteht man ein Phänomen im Handel, das man nicht rational erklären, aber stets aufs Neue beobachten kann: 20 Prozent der Titel sorgen für 80 Prozent des Umsatzes. Nur im traditionellen Teil der Musikindustrie ist dieses Phänomen noch zu beobachten. Stellt man die Verkäufe der Tonträger in einem Diagramm dar – auf der vertikalen Achse den Titel und auf der horizontalen Achse den Umsatz –, erhält man eine Kurve, die links oben hoch anfängt, zunächst steil abfällt und dann mehr oder weniger parallel entlang der Horizontalachse verläuft. Dieser «lange Schwanz» repräsentiert zahlreiche Tonträger mit minimalen Verkaufszahlen. Solange CDs in Plattenläden verkauft und aufbewahrt werden, muss auch das Sortiment dem 20:80-Prinzip untergeordnet werden. Das bedeutet: Die Auswahl der Titel ist klein, und was sich im Bereich des «langen Schwanzes» befindet, fliegt raus. In der digitalen, transport- und lagerkostenlosen Welt hingegen ändert sich dies fundamental. Jetzt wird es auch ökonomisch sinnvoll, selbst kleinste Auflagen im Sortiment zu behalten. Nicht nur Stars, sondern auch Unbekannte und Amateure erhalten nun eine Chance. «Das ist die Welt der Blogger, der Videofilmer und der Garagenbands, die plötzlich ein Publikum erhalten, weil sie von der digitalen Distribution profitieren», stellt Anderson fest. Anderson kommt zu Schlüssen, die stark an Rifkins empathische Zivilisation erinnern. Die digitale Ökonomie ebnet die Hierarchien ein, die Grenzen zwischen Profis und Amateuren werden fliessend. «Wenn die Werkzeuge zur Produktion allen zur Verfügung stehen, werden alle zu Produzenten», heisst es bei Anderson. In vielen Bereichen der Wirtschaft zeichnet sich eine hybride Form von analogen und digitalen Welten ab. Oder wie Anderson es formuliert: «Heute ist unsere Kultur zunehmend eine Mischung aus Kopf und Schwanz,

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Hits und Nischen, Institutionen und Individuen, Profis und Amateuren. Die Massenkultur wird nicht verschwinden, sie wird ganz einfach weniger Masse.» Auf eine entscheidende Frage haben aber weder Anderson noch Rifkin eine überzeugende Antwort: Was geschieht mit den multinationalen Konzernen, die heute die Szene dominieren? Werden die aktuellen Monopolisten wie iTunes, Facebook, eBay oder Amazon klaglos das Feld räumen? Chris Anderson glaubt das tatsächlich. Er spricht im Zusammenhang mit diesen Riesen von «vorübergehenden Kinderkrankheiten». «Die Zukunft gehört den aggregierten Nischenanbietern», prophezeit er. Ähnlich sieht auch Rifkin die Zukunft grundsätzlich in rosa Farben. Die Monopolmacht der Energiekonzerne werden einen sanften Ökokapitalismus nicht verhindern. «Die dritte industrielle Revolution und die neue Ära des dezentralisierten Kapitalismus ermöglichen es, einen neuen Weg der Globalisierung zu beschreiten: von unten nach oben, weitgehend emissionsfrei, gestützt auf regenerative und regional gewonnene Energien, aber weltweit vernetzt», hält er fest. Immerhin fügt er hinzu: «Dieser Weg muss aber erkämpft werden, er versteht sich nicht von selbst.» Ist Jeremy Rifkin nun ein Schwärmer, ein Scharlatan oder ein visionärer Denker? Er erinnert an George Orwell. Der englische Autor griff einst mit Zukunftsromanen wie «1984» auf faszinierende Weise brennende Fragen der Gesellschaft seiner Zeit auf und gab die Antworten auf frustrierende Art nur zum Teil. Auch Rifkin legt den Finger auf den wunden Punkt: Ohne Zweifel wird die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts massgeblich von Energiefragen und vom Internet geprägt sein. Soziale Medien und ein Smartgrid werden dabei eine entscheidende Rolle spielen. Doch sie werden uns nicht automatisch in eine empathische Zivilisation und einen dezentralisierten Ökokapitalismus führen. Die Oligarchen werden nicht freiwillig abtreten, ihre wirtschaftlichen Interessen sind viel zu bedeutend. Philipp Löpfe studierte Anglistik und Ethnologie. Von 1999 bis 2002 war er Chefredaktor des Zürcher «Tages-Anzeigers». Löpfe arbeitet heute als freier Journalist und Buchautor.

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Occupy und Pussy Riot mögen historische Anekdoten sein. Aber sie markieren den Abschied von einer Politik, die die Interessen der Menschen verleugnet.

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© F LYER : AD B UST ER S.O RG

Von Matthias Wyssmann

Dieses Flyerbild ging um die Welt: die grazile Ballerina auf dem Rücken des bronzenen Stiers. Es stand am Anfang der Bewegung Occupy Wall Street – als Symbol für den Triumph des echten Menschen über die Macht der Börse. Der Bulle steht in New York im Finanzdistrikt, unweit des Zuccotti Park, den Aktivisten im Herbst 2011 besetzten, 59 Tage lang, und damit Nachahmer auf der ganzen Welt auf den Plan riefen.

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Auch wenn es heute stiller geworden ist um Occupy: Das Phänomen ist weit grösser und globaler. Der arabische Frühling hat vorgemacht, wie sich im digitalen Zeitalter die Massen horizontal, also ohne ideologische Cheftruppe, zu Bewegungen organisieren können. Im von der Krise besonders gebeutelten Spanien war mit dem radikaldemokratischen Asamblea-Modell eine Vorläuferin von Occupy entstanden. Und seit Jahren gibt die Décroissance-Bewegung nicht nur ökologische Impulse, sondern sucht auch nach radikal neuen Gesellschaftsformen. Es scheint, als würde allenthalben mit einer Politik nach der Politik experimentiert: einer Politik, die die Macht nicht länger von der Basis an jene Elite delegiert, von der wir nicht wissen, welche Interessen sie verfolgt, aber ahnen, dass es nicht die Interessen sind von demos, dem Volk. Occupy & Co. stehen für eine anbrechende Zeit, in der eine wachsende Zahl von Menschen ihr politisches Schicksal selbst in die Hände zu nehmen versuchen. Das klingt optimistisch. Oder verzweifelt. Mit der globalen Wucht der Finanzkrise ist uns nicht nur klar geworden, dass die Politik ihre Macht eingebüsst hat. Obamas 787-Milliarden-Dollar-Konjunkturprogramm verpuffte und landete in den Schatullen jener Banker, die verantwortlich sind für die Armut von Millionen. Europas Handlungsfähigkeit scheitert an Partikularinteressen. Russland verabschiedet sich endgültig von der Demokratie. Der arabische Frühling wartet vergeblich auf den Sommer. Eine neue Hungerkrise droht am Horizont. Und über allem hängt das Damoklesschwert eines Klimawandels, der die Erde innerhalb von Generationen in eine schier unbewohnbare Welt verwandeln kann. Stattdessen enttäuschen uns Politiker, Parteien, Institutionen und multilaterale Systeme. Konferenzen wie Rio+20 sind Farcen. Massnahmen zur Überwindung der Finanzkrise sind zweifelhaftes Geschacher. Sogar auf das Überleben der EU, des bedeutendsten politischen Projekts seit dem Zweiten Weltkrieg, würden wohl nur wenige Wetten abschliessen. Und leider setzt sich diese Enttäuschung bis auf die lokale Ebene fort. Wenn die Politik in den Augen einer wachsenden Zahl von Bürgerinnen und Bürgern also nicht mehr in der Lage ist, Entscheidungen zu Gunsten einer gemeinsamen Zukunft zu fällen, dann wird ein Abschied von dieser Politik nachvollziehbar. Wir glauben nicht länger, dass die Politik uns aus der Krise lenken kann. Nicht die Politik. Also scheint die Stunde für eine andere Politik gekommen. Aber für welche? Wie Occupy im Herzen des New Yorker – und Zürcher – Finanzdistrikts findet diese neue Demokratie anderswo statt. Die «Transition Towns» der Décroissance-Bewegung liegen fern der Hauptstädte. Die Debatten werden in den Web-, E-Mail- und Twitter-Kanälen geführt. Die Adressaten sind immer weniger die politischen Behörden, sondern die Konzerne und ihre Exponenten. Wenn es denn Forderungen gibt, haben sie oft etwas Kompromissloses und – in den Augen der Gegner – Unerfüllbares. Nicht die Inhalte sind relevant, sondern der Systemwandel. Politik als die Kunst des Machbaren hat ausgedient. Wie konnte es so weit kommen? Der bronzene Bulle in Manhattan wurde im Dezember 1989 – nach einer überwundenen Finanzkrise – errichtet. Einen Monat früher war mit dem Fall

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der Berliner Mauer ein neues Zeitalter angebrochen. Einen Atemzug der Geschichte lang schien eine globale und zugleich demokratische Welt in Griffnähe. Nicht nur das: Geschmiedet worden war dieses historische Momentum von – der Politik. Nicht mit Waffengewalt, nein, politisch hat Michail Gorbatschow seine totalitäre UdSSR gebodigt. Vielleicht war diese Sternstunde der absolute Höhepunkt nicht nur der Demokratie, sondern der Politik schlechthin: Sie konnte nach Jahrzehnten eines grauenhaften kalten Krieges versteinerte Blöcke zerbröckeln lassen. Kein Vierteljahrhundert später blicken wir heute einer politischen Krise in die Augen, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg wohl nicht mehr gegeben hat. Diese politische Krise ist eine Krise der Politik. Was seit 1989 nämlich geschah: Im Windschatten der Euphorie über eine weltweite freie, offene Gesellschaft 1 haben sich neue Empires erhoben. Sie schafften es, einen ultraliberalen Kapitalismus mit Demokratie und Freiheit gleichzusetzen. Es war der kühnste, gewaltigste und leider auch erfolgreichste Imagetransfer aller Zeiten. Plötzlich galt die Weltformel Freiheit der Bürger = Freiheit der Märkte = Freiheit der Konzerne. Konzerne mit Jahresumsätzen wie Bruttosozialprodukte ganzer Länder, befehligt von kompromisslosen Führern, errichteten die jenseits der Politik und über Staaten und Kontinente hinweg Machtballungen von nie da gewesenen Ausmassen. Das Unfassbare: Die demokratischen Massen beteten sie an. Wirtschaftskapitäne wurden zu Popstars. Schrankenlosigkeit war unter diesen neuen Führern angesagt. Und jetzt, da sie offenkundig – und zwangsläufig – so was von versagt haben, gibt es keine starke Politik mehr, die im Angesicht der Krise handeln könnte. Dem mögen wachsende Staatsquoten und immer dichtere soziale Systeme und Regelwerke widersprechen. Aber die eigentlichen Kennzahlen zeigen eine andere Sprache: Immer weniger Menschen besitzen immer mehr, zerstören dafür immer dreister die natürlichen Grundlagen des Lebens und entziehen sich zunehmend jeder Verantwortung. Im Alltag mag die Politik Gesetze zum Schutz der Mieter durchsetzen; aber immer weniger Menschen besitzen ihr Zuhause. Konzerne wie Nestlé mögen sich für sauberes Trinkwasser einsetzen, bemächtigen sich aber zugleich seiner Quellen mit höchst eigennützigen Absichten. Der Konsum mag boomen, aber unsere Möbel sind zunehmend aus Sperrholz und Kunststoff und unsere Nahrungsmittel industriell. Wir können zwar tun, was wir wollen, um Schopenhauer zu zitieren, aber wir können nicht wollen, was wir wollen – dafür sorgt die immense Maschinerie der Werbung, auch der politischen. Wenn die «alte» Politik also private Interessen vertritt, muss eine «andere» Politik diese Interessen angreifen. Genau das geschieht immer häufiger, und zwar direkt und ausserhalb der politischen Institutionen. Der Konflikt wird nicht mehr zuerst in den Parlamenten geführt, sondern direkt zwischen den Kontrahenten. Statt via Parteien und Abgeordnete umweltzerstörerisches Verhalten eines Konzerns zu unterbinden, greifen die neuen Bewegungen diesen Konzern direkt an. Greenpeace hat diese Taktik seit vierzig Jahren vorgemacht. Bestenfalls folgt die Politik, indem sie das Anliegen aufgreift und entsprechende Gesetze erlässt.

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Die heutige politische Krise ist eine Krise der Politik schlechthin.

Immer weniger Menschen besitzen immer mehr und zerstören Lebensgrundlagen.


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© AP P HOT O

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Bürgerbewegungen haben in den USA eine lange Tradition. In der Vergangenheit schienen sie aber alle in Washington auf dem Kapitol münden zu wollen. Heute suchen sich Bewegungen andere Schauplätze.

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GROSSE DINGE HABEN KLEINE ANFÄNGE In diesem Sinn hat ein Ereignis in jüngerer Zeit besondere Symbolik: der Protest der Band Pussy Riot in Russland. Der Akt war zweifellos politisch. Aber war er Politik? Pussy Riot vermittelten mit ihrer folgenschweren Aktion zwar eine klare politische Botschaft. Aber zugleich wird man das Gefühl nicht los, dass jener naive Auftritt in einer Kirche in keinem Verhältnis steht zum politischen Erdbeben, das er verursachte. Er war aktionistisch, aber auch anekdotisch. Er folgte keiner demokratischen Logik. Der Protest setzte seinen Die Aktion von Pussy Hebel ausserhalb eines politischen Systems aus Institutionen und Gesetzen Riot folgte keiner demokratischen Logik. an – so fadenscheinig sie in Putins Russland auch sein mögen.2 Und der Hebel war wirkungsvoll. Jede demokratische (wenn nicht jede politische) Handlung enthält den Glauben daran, dass wir mittels einer Hebelwirkung etwas bewirken können, was unsere eigentliche Kraft übersteigt. «Grosse Dinge haben kleine Anfänge», heisst es im Film «Lawrence of Arabia», der den Übergang einer zerstrittenen Clangesellschaft zu einer politischen Union schildert, also eine Art arabischen Frühling vor hundert Jahren. Mit dem arabischen Frühling unserer Epoche verhält es sich ganz ähnlich: Er entstand aus der plötzlichen Offensichtlichkeit, dass innerhalb des geltenden politischen Systems keine Veränderung möglich war. Der Tahrir-Platz befand sich ausserhalb des institutionellen Ägypten. Im letzten September wurde der Frankfurter Adorno-Preis der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler verliehen. In ihrer Dankesrede berief sie sich auf eben jenen Theodor Adorno und fragte, ob das Leben nicht so «entstellt und verzerrt» sei, dass «im Grunde kein Mensch in ihm richtig zu leben» vermöge. Adorno folgert daraus, dass dieser Umstand «eigentlich fast bei jedem Menschen notwendig zum Protest führen müsse»3. Protest wäre demnach die logische Form der Politik. «Das gemeinsame Vorgehen im Widerstand», sagte Butler, «findet sich meiner Auffassung nach manchmal schon im Sprechakt oder im heroischen Kampf, aber auch in körperlichen Gesten des Neinsagens, des Schweigens, der Bewegung, der Weigerung, sich von der Stelle zu bewegen, in all den Haltungen, die für jene Bewegungen charakteristisch sind, die demokratische Prinzipien (...) in den Aktionen umsetzen, mit denen sie für eine neue, radikaler demokratische und substanziell unabhängigere Lebensweise demonstrieren.» Wir haben rasch erkannt, dass diese neuen Formen der politischen Mitsprache auch andere Mittel erfordern als Wählen und Stimmen an den staatlichen Urnen. Judith Butler nennt sie «performative Inszenierungen radikaler Demokratie». Vom Philosophischen in den politischen Alltag übertragen, heisst das, seinen Forderungen Ausdrucksformen zu geben, die den üblichen politischen Prozess durchbrechen, indem sie stören, schockieren, amüsieren und vor allem eine «körperliche» Echtheit ausstrahlen. Im Zeitalter der neuen Medien mögen sie die Massen dazu inspirieren, die Botschaften via neue Medien zu posten, zu sharen, zu vervielfältigen. Genau wie Pussy Riot. Oder wie Occupy Wall Street, eine Bewegung, die «radikale Demokratie» stärker lebt als wahrscheinlich jede Bewegung zuvor.

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NACH DER POLITIK

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«Grosse Dinge haben kleine Anfänge.» – Das tönt wie die Rezeptur für eine Politik im Zeitalter von Web 2.0, von Blogs, Social Media und viralen Botschaften, die sich rasend schnell ausbreiten und sich um die Regeln der klassischen Politik wenig kümmern. Wie Pussy Riot. Die Institutionen haben sozusagen abgedankt. Neue Plattformen sind an ihre Stelle getreten. Aber wir kennen ihre historische Dimension noch nicht: ihr Potenzial, die Welt zu verändern. Matthias Wyssmann hat Politik studiert und arbeitet seid 2009 für Greenpeace.

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Das Ende des Kalten Kriegs und einer bipolaren Welt der Abschreckung wurde eiligst als das «Ende der Geschichte» gepriesen. Was dem Fall besondere Symbolkraft verlieh, war der Umstand, dass er auch für das Ende einer Illusion stand: jener einer russischen Demokratisierung ab 1989. Dieser Protest ist nicht revoltierenden Outsidern vorbehalten. In der Ausgabe 3/2011 dieses Magazins vertrat der Psychoanalytiker Daniel Strassberg den Standpunkt, dass es sich bei jeder Freiwilligenarbeit, wie unzählige Menschen sie im Privaten wie auch in der Gesellschaft leisten, um eine Art «mikrorevolutionären Akt» handelt.

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HEISSER EINSATZ IN RUSSLANDS FEUERHÖLLE

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Landwirtschaftliche Brandrodungen bedrohen jährlich Millionen von Menschen und führen zu erheblichen Umweltschäden. Eine Gruppe von Umweltaktivisten und Greenpeace sind aufgebrochen, um verheerende Feuer in Russland zu bekämpfen. Zuvor mussten Sie sich für den Einsatz in einem Trainingscamp schulen lassen. Russlands Regierung unternimmt nichts gegen die Katastrophe. Fotos von Daniel Mueller und Igor Podgorny Die meisten Brände sind kein Zufall. Die Intensive Rodung der Wälder hat dazu geführt, dass riesige Flächen nur noch leicht entzündbare Buschlandschaften sind. Ein Funke genügt, um eine Katastrophe auszulösen. Russische Bauern brennen jeden Frühling Grasreste nieder, um mit dieser alten Strategie Felder für die Saat und das Vieh vorzubereiten. So entstehen die meisten Wald- und Torfbrände. Letztere sind enorm gefährlich, weil sie ausser Kohlendioxid auch eine riesige Menge Kohlenmonoxid und Russpartikel freisetzen. Das führt lokal zu dichtem Smog und zu Gesundheitsproblemen für Mensch und Tier. Die Brände, welche die Artenvielfalt der Wälder schmälern, tragen erheblich zur globalen Erwärmung bei. Trotzdem unternimmt Russland nichts gegen die Grasbrände. In einzelnen Gebieten Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

sind sie zwar verboten, eine Kontrollbehörde aber gibt es nicht. Die Verantwortung wird den Pächtern und Förstern überlassen. Ein Brandschutzkonzept fehlt, und über 100 000 Siedlungen mit etwa 27 Millionen Einwohnern liegen fern jeder Feuerwehr. Greenpeace Russland will die Situation mit politischen Forderungen verbessern. Die Organisation schickt ausserdem Löschtrupps mit Freiwilligen in betroffene Gebiete, schult Bewohner in Brandschutz und informiert Bauern über die Folgen der Brandrodung. Das GreenpeaceProjekt «Kids for Forests» unterstützt die Wiederaufforstung einzelner Gegenden: Einheimische Kinder werden zum Pflanzen und Schützen neuer Bäume ausgebildet.

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1 Gefährliches Unterfangen: Ein GreenpeaceAktivist bekämpft ein Buschfeuer in der Region von Wolgograd.

7 Spitze an der Spritze: Der Aktivist von Greenpeace Russland macht vor, wie das wichtigste Gerät bei Einsätzen gehandhabt wird.

2 Gespenstische Szene: Mit Löschgeräten auf dem Rücken, gehen Greenpeace-Aktivisten und Freiwillige gegen die Flammen vor.

8 Hightech als Hilfsmittel: Am Laptop werden offizielle Satellitendaten abgerufen, welche die Suche nach Brandherden ermöglichen. Die Helfer prüfen Statistiken und vergleichen sie mit eigenen Daten.

3 Tückischer Moment: Jedes übersehene Glutnest kann in Sekunden neu zu lodern beginnen.

9 Drill im Schutzanzug: Im Ernstfall ist es überlebenswichtig, dass jeder Handgriff automatisch sitzt und alle Helfer über ihre Ausrüstung Bescheid wissen.

4 Ungeniessbares Gemüse: Der Kohl dieses Gemüsegartens verdarb in der Feuerhölle.

10 Wie ein Mahnmal: Ein Feuer hat den Träger einer Stromleitung so angesengt, dass er als Kunstwerk taugen könnte.

5 Ohne Rauch und Hitze: Das Zeltlager im Meschorski-Nationalpark hat Greenpeace errichtet, um freiwilligen Brandbekämpfern die nötigen Kenntnisse zu vermitteln. 6 Übung am Schlauch: In vielen Regionen Russlands ist weit und breit keine offizielle Feuerwehr existent und jeder geschulte Freiwillige ein Garant dafür, dass Wälder überleben können. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

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ENERGIESPAREN: DÄNEMARK IST WEIT ENERGISCHER ALS DIE SCHWEIZ

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Wer ernsthaft Energie-Effizienz anstrebt, kommt um Verbindlichkeit nicht herum. Das geht einem in Dänemark auf, wo die Einführung von Sparzielen für die Energiewirtschaft eine Trendwende gebracht hat. Die Schweiz könnte viel daraus lernen. Von Urs Fitze, Pressebüro Seegrund Seit 2005 sinkt der Elektrizitätsverbrauch in Dänemark stetig um etwas mehr als ein Prozent pro Jahr. In der Schweiz lässt sich die gegenteilige Entwicklung beobachten: Seit 2005 steigt der Stromverbrauch jährlich um ein knappes Prozent. Auch auf lange Sicht schneidet Dänemark besser ab. Von 1990 bis 2010 weist die nationale Energiestatistik einen um 11 Prozent gestiegenen Elektrizitätsverbrauch aus, die Schweiz hingegen hat um knapp 28 Prozent zugelegt, mit steigender Tendenz in den Jahren 2001 bis 2010. Das liegt etwa im Rahmen des teuerungsbereinigten Wirtschaftswachstums der vergangenen zwei Jahrzehnte. Aber auch die dänische Wirtschaft hat sich in diesem Zeitraum gut entwickelt: Das Bruttoinlandprodukt ist gar um 41 Prozent gestiegen. Und während der Gesamtenergieverbrauch der Schweiz in diesem Zeitraum um 18 Prozent zunahm, hat er sich in Dänemark auf dem Niveau von 1990 eingependelt. Das heisst: Insgesamt haben beide Staaten ihre Energieeffizienz gesteigert. Aber Dänemark hat diese Aufgabe vor allem beim Stromverbrauch viel besser gemeistert als die Schweiz. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

Dabei waren die Schweizer Plänen vielversprechend: In den 1990er Jahren war bei «Energie 2000» von einer Stabilisierung des Stromverbrauchs für das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends die Rede. Ebenfalls nur noch Makulatur ist das 2000 verabschiedete Programm «Energie Schweiz», welches das Wachstum des Stromverbrauchs von 2000 bis 2010 auf maximal fünf Prozent beschränken wollte. Man kommt nicht umhin, mit Blick auf die dänischen Erfolge von zwei verlorenen Jahrzehnten zu sprechen. Das lohnt einen vertieften Blick in das Land zwischen Nord- und Ostsee mit seinen 5,6 Millionen Einwohnern, einer gleich hoch entwickelten Wirtschaft und einem vergleichbaren Lebensstandard. Schon in den 1990er Jahren forcierten die Dänen den Bau von erdgasbetriebenen Fernwärmewerken, die neben Heizwärme mit einem Gesamtwirkungsgrad von bis zu 90 Prozent auch Strom produzieren. Parallel dazu begann der Bau von Windrädern, um von der starken Abhängigkeit von Kohle wegzukommen. Die Erfolge sind beeindruckend: Binnen zweier Jahrzehnte gelang es, den Kohleanteil in der Stromproduktion von

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«Politiker reden — Führer handeln»: GreenpeaceAktivistInnen demonstrierten am UN-Klimagipfel in Kopenhagen von 2009 dagegen, dass reiche Nationen nicht bereit sind, Schadstoffe ihrer Industrie zu reduzieren. 94 auf 51 Prozent zu drücken, während jener der Windenergie von 2 auf 27 Prozent stieg. Auch andere erneuerbare Energien, namentlich die Nutzung von Biomasse, haben von praktisch 0 auf knapp 10 Prozent zugenommen.

aus erneuerbaren Quellen stammen, bis 2050 die gesamte dänische Energieversorgung. Dass diese Vision mehrheitsfähig geworden ist, kommt bei allen umweltpolitischen Fortschritten der vergangenen zwanzig Jahre einer Revolution gleich. Denn die Ziele, die sich die Bis 2050 soll alle dänische Energie aus Regierung gesetzt hat, sind zwar weit ambierneuerbaren Quellen stammen tionierter als jene ihrer liberalkonservativen VorDas soll erst der Anfang sein. Die im vergänger, doch die Konservativen sitzen mit im gangenen Jahr mit einer dünnen Mehrheit von Boot! Das Energieabkommen, das am 22. März 50 000 Stimmen an die Macht gekommene 2012 unterzeichnet wurde, wird von allen Linkskoalition unter Ministerpräsidentin Helle politisch relevanten Parteien mitgetragen. Das Thorning-Schmidt hat ein Umweltprogramm galt schon für die 2005 und 2008 unterzeichvorgelegt, das selbst Tarjei Haaland, bei Green- neten Vereinbarungen. Vor sieben Jahren verabpeace Dänemark zuständig für Klima- und schiedeten sich die Dänen vom Prinzip der Energiekampagnen, kurz den Atem stocken liess: Freiwilligkeit und von finanziellen Anreizen, «Das lag weit über unseren Erwartungen.» Im mit denen Industrie und Verbraucher zum EnerVorfeld der Wahlen hatte sich das oppositionelle giesparen und zum effizienteren Umgang mit Vierparteienbündnis auf eine Umweltvision Energie motiviert werden sollten. Wer es ernst geeinigt, an der Greenpeace massgeblich mitge- meint mit den in den meisten industrialiarbeitet hatte. So sollen die Klimagasemissierten Staaten anerkannten Reduktionszielen, sionen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber dem braucht Verbindlichkeit statt Freiwilligkeit. Referenzjahr 1990 reduziert werden, und zwar Die von Regierung und Opposition gleicherausschliesslich in Dänemark selbst. Bis 2035 massen getragene neue Energiepolitik verpflichsollen Strom- und Heizenergie ausschliesslich tete die Energiewirtschaft zu Effizienz und Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

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Wahrzeichen Meerjungfrau vor Kraftwerk in Kopenhagen: Greenpeace hat massgeblich an Dänemarks Umweltvision mitgearbeitet.

sie im Jahr 2010 auf 5 Cent an und lagen damit deutlich unter den budgetierten 6,7 Cent, obwohl die Energieversorger die Vorgabe 2010 gar übertroffen hatten. 5 Cent oder knapp 6 Rappen: Das entspricht etwa dem Niedertarif bei vielen Schweizer Elektrizitätsversorgern. Der dänische Energieverband ist vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen zum Promotor in Sachen Energiesparverpflichtungen geworden. Es sei das mit Abstand effizienteste politische Instrument, um Energie zu sparen, nicht zuletzt deshalb, weil den Versorgungsunternehmen Bussen und der Entzug der Lizenz drohen, wenn sie die Ziele nicht erreichen.

Trotz allem Sparwillen bleibt der Verkehr eine heilige Kuh Für Tarjei Haaland von Greenpeace Dänemark ist der Grosserfolg auch damit begründet, dass die Ziele reichlich tief gesetzt worden waren. Das wird sich ab 2013 ändern. Dann steigt die Vorgabe laut dem neuen Energieabkommen auf 2,6 Prozent, 2015 bis 2020 werden es gar 2,9 Prozent sein. Nur so wird es in Kombination mit einer ganzen Palette anderer Massnahmen möglich, das für 2020 gesetzte Ziel einer Reduktion des Gesamtenergieverbrauchs um 7,6 ProTransparenz – eine Umkehrung des bisherigen zent gegenüber 2010 zu erreichen. An der techPrinzips des «Immer mehr produzieren und nischen Machbarkeit zweifelt niemand. Am konsumieren» zu einem «Stetig weniger». Kon- politischen Willen auch nicht. In den Himmel kret müssen die Energieunternehmen in Däneloben darf man die Dänen aber nicht, denn der mark jährlich Reduktionsziele erfüllen, die sie Verkehr ist eine heilige Kuh: Er bleibt ausdrücknur erreichen, wenn sie ihren Kunden erfolglich ausgeschlossen. Ein Fragezeichen setzt reich beim Energiesparen helfen. Das Nachweis- Tarjei Haaland auch bei den für den Betrieb von prozedere ist kompliziert, baut im Wesentlichen Biomassekraftwerken zugelassenen importieraber auf einer von den Behörden genehmigten ten Holzschnitzeln. Liste von rund 200 Massnahmen auf. Eine ist Dänemarks Beispiel hat inzwischen in der zum Beispiel die Installation einer Wärmepumpe, Europäischen Union Schule gemacht. Die vom für die eine festgelegte Zahl von KilowattstunEuropäischen Parlament am 11. September 2011 den gutgeschrieben wird. Finanziert werden die genehmigte Energieeffizienz-Richtlinie orientiert Investitionen im Umlageverfahren von den sich am dänischen Vorbild und ist massgeblich Energiekonsumenten. Die Kosten für einen während der dänischen EU-Präsidentschaft im dänischen Haushalt liegen bei etwa 22 Franken ersten Halbjahr 2012 vorangetrieben worden. pro Jahr. Die Vorgabe betrug 0,7 Prozent pro Doch es gibt ein paar Wermutstropfen. So sind Jahr von 2006 bis 2009, für die Jahre 2010 bis die Vorgaben im Vergleich zu Dänemark mit 2012 waren es 1,2 Prozent. Eine im Januar 2012 1,5 Prozent deutlich lascher und die von Deutschveröffentliche Analyse der dänischen Energie- land durchgedrückte Klausel, wonach Gebäubehörde zeigt, dass die Ziele erreicht worden desanierungen angerechnet werden dürfen, die sind und für 52 Prozent aller in Dänemark erreich- vor Inkrafttreten der Richtlinie am 1.1.2012 ten Energieeinsparungen verantwortlich sind. durchgeführt wurden, sorgt für eine VerwäsDie Kosten lagen in den Jahren 2006 bis 2009 serung. Unter dem Strich kommen so jährlich nur bei 4,5 Cent pro Kilowattstunde, danach stiegen 1,1 Prozent Einsparungen zustande. Dennoch Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

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Vorbildlich: Solarpanels auf Dächern in Kopenhagen.

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Laut Bundesrat stabilisiert sich der Stromverbrauch erst ab 2020 Und die Schweiz? Wenn es um die effiziente Nutzung elektrischer Energie geht, ist die Schweiz um Jahre ins Hintertreffen geraten. Das zeigt ein Blick in die aktuelle Energiestrategie 2050 des Bundesrats, die derzeit in der Vernehmlassung ist. Geht es nach den Plänen des Bundesrats, stabilisiert sich der Stromverbrauch erst ab 2020, bis dahin soll gar eine Steigerung möglich sein. Verpflichtende Effizienzziele sollen in Anlehnung an die Europäische Union für mittlere und grosse Stromlieferanten gelten. Im erläuternden Bericht wird «zum Beispiel» von 1,5 Prozent jährlich gesprochen. Im Verbund mit verschiedenen anderen Massnahmen, unter anderem der Förderung von energieeffizienten Geräten, soll es gelingen, den Stromverbrauch bis 2035 etwa auf dem Niveau des Jahres 2020 zu halten. Politisch und technisch wäre weit mehr möglich, wie Potenzialstudien etwa der Schweizerischen Agentur für Energieeffizienz (S.A.F.E.) und das dänische Beispiel zeigen. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

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behält die Europäische Union im internationalen Vergleich die Vorreiterrolle. Weltweit haben neben einigen europäischen Staaten nur einige US-amerikanische und australische Bundesstaaten ähnliche Bestimmungen eingeführt. Nicht berücksichtigt werden in den gesetzlichen Vorgaben zur Energieeffizienz die Rebound-Effekte. Wenn etwa das durch eine Wärmpumpe auf der Stromrechnung eingesparte Geld für eine Flugreise ausgegeben oder einfach mehr geheizt wird, verpufft der Effekt bis zur Wirkungslosigkeit. In einer Studie der Europäischen Union ist von Verlusten von 10 bis 30 Prozent der Einsparungen die Rede. Der Ökonom Tilman Santarius spricht in einer Untersuchung des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt und Energie auf lange Sicht gar von 50 Prozent. Daran werde sich nichts ändern, solange die Doktrin des ewigen Wirtschaftswachstums gültig bleibe. Aus historischer Sicht haben Effizienzsteigerungen, wie sie etwa die Einführung der Kohle für industrielle Prozesse brachten, nicht weniger, sondern mehr Energieverbrauch bewirkt. Dänemark, so Tarjei Haaland, begegnet dieser latenten Gefahr bislang, wie andere auch, vor allem mit unverbindlichen Appellen zum sparsameren Umgang mit Energie.

Wohlen AG, 20. September 2012: Solarmacher und Jugendsolar — bestehend aus Mitarbeitenden und Freiwilligen von Greenpeace Schweiz — steigen aufs Dach, um am Bau der grössten Fotovoltaikanlage der Deutschschweiz mitzuhelfen. Auf 25 000 m2 werden etwa 13 000 Solarpanels verlegt. Insgesamt bringt die Anlage eine Leistung von 2,8 MWp (Megawatt). Das reicht für 600 Haushalte.

Hier setzt die Stromeffizienz-Initiative an. Sie will die Stromeffizienz bis 2035 so weit steigern, dass das Niveau von 2011 nicht überschritten wird. Eine Stabilisierung auf dem Niveau des Jahres 2020 anzustreben, ist aus Sicht der Initianten fahrlässig, denn so wird ein möglicher deutlicher Anstieg des Stromverbrauchs zumindest in Kauf genommen. Stattdessen braucht es als Ziel eine im Gesetz verankerte Begrenzung in Bezug auf den Verbrauch von 2011 und wirksame Massnahmen, um dieses Ziel auch kurz- und mittelfristig sicher zu erreichen.

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Stromeffizienz-Initiative

Greenpeace, Verbände, Unternehmen und PolitikerInnen machen mit der Initiative Druck für eine sichere und effiziente Stromversorgung der Schweiz. Fragen und Antworten zur Initiative Was will die Initiative? Bund und Kantone sind aufgefordert, die effiziente Nutzung von Strom so stark zu fördern, dass der Schweizer Gesamtverbrauch auf dem Niveau des Jahres 2011 stabilisiert werden kann. Warum gibt die Initiative ein Ziel vor, aber keine konkreten Massnahmen? Die optimalen Instrumente und Massnahmen sollen flexibel durch Bund und Kantone festgelegt werden. Damit es nicht bei Absichtserklärungen bleibt, muss in der Verfassung ein verbindliches Ziel verankert sein. Warum unterstützt Greenpeace die Initiative? Allein mit Stromeffizienzmassnahmen können bis 2035 rund 80 Prozent des heute produzierten Atomstroms eingespart werden. Das ist möglich, weil in der Schweiz Strom in gewaltigem Ausmass ungenutzt verschwendet wird. Zudem ist Stromsparen der beste Umweltschutz, denn es ist umweltfreundlicher und günstiger als der Bau von neuen Kraftwerken. Wie sieht der Fahrplan aus? Jetzt werden die Weichen für den Atomausstieg und die Energiewende gestellt. Darum sollten die meisten Unterschriften bis Ende Januar 2013 zusammenkommen. Jetzt unterschreiben! Wie kann ich die Initiative unterstützen? Damit die Initiative schnell zustande kommt, ist sie auch auf Ihre Mithilfe angewiesen. Freiwillige UnterschriftensammlerInnen finden Unterschriftenbögen zum Ausdrucken auf der Greenpeace-Website oder können sich Sammelaktionen in der ganzen Schweiz anschliessen. Wir freuen uns über jede zusätzliche Unterschrift! Interessierte melden sich bitte bei Nathan Solothurnmann, 044 447 41 62, nathan.solothurnmann@greenpeace.org. Magazin Greenpeace www.greenpeace.ch/st romeffizienz Nr. 4 — 2012 52


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DAS KREUZ MIT DER WALLISER ENERGIE Ein Drittel des Stromverbrauchs im Kanton Wallis könnte mit Solarenergie produziert werden. Doch der Walliser Energieminister und der grösste Oberwalliser Stromverteiler setzen die Prioritäten anders, weil Wasserkraft mehr Wasserzins in die Kassen des Kantons und der Gemeinden spült. Von Kurt Marti Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

Auf der Sonnenterrasse hoch über dem Rhonetal, etwas unterhalb der Riederalp, liegt der Weiler Oberried in der Gemeinde Bitsch. Hier scheint die Sonne auch dann ungetrübt vom stahlblauen Himmel, wenn im Herbst und Winter das Mittelland wochenlang unter einer dicken Nebeldecke versinkt. Diesen Standortvorteil wollten Christian Fux und Paul Weber nutzen und investierten in eigene Solarstromanlagen. Doch sie machten die Rechnung ohne die Solarstrompolitik des Kantons, insbesondere ohne die des regionalen Elektrizitätswerks Energie Brig Aletsch Goms (EnBAG). Die jährliche Sonneneinstrahlung im Wallis liegt 16 Prozent über dem Mittel der anderen Kantone. In Zermatt ist die Solarstrahlung sogar 21 Prozent höher als im Schweizer Durchschnitt. Diese Werte stehen im krassen Gegensatz zur bisherigen Solarstromernte im Wallis. Die aktuell installierte Leistung der Fotovoltaikanlagen beträgt laut der Stiftung KEV (Kostendeckende Einspeisevergütung) 2,5 MW. Das ergibt pro Kopf der Walliser Bevölkerung mickrige 8 Watt. Zum Vergleich: Laut dem Solarstrom-Magazin «Photon» liegt dieser Wert im deutschen

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SOLARENERGIE

Bundesland Bayern bei 640 Watt, im gesamten Deutschland bei 300 Watt und in Italien bei 210 Watt. Der Wert für die ganze Schweiz liegt bei bescheidenen 26 Watt.

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Bellwald, 19. Juni 2012: Jugendsolar von Greenpeace installiert mit Freiwilligen der Organisation Solaragenten Sonnenpanels auf Lawinenverbauungen.

hatte. Cina machte keinen Hehl daraus, dass der Kanton Wallis die Priorität nicht bei der Förderung des Solarstroms setzt, sondern beim Ausbau der Wasserkraft: «Mit der Wasserkraft, insbesondere den Kleinwasserkraftwerken, Staatsrat Jean-Michel Cina wird können wir schneller eine höhere Leistung mangelnder Effort vorgeworfen erbringen als mit einer flächendeckenden AusIm Jahr 2008 erteilte der damalige Walliser rüstung der Dächer mit Fotovoltaikanlagen.» SP-Staatsrat Thomas Burgener dem IngeniIn seinen Vorträgen gibt Cina immer wieder das eurbüro easi (Energie, Architektur, Sanierungen, grosse Potenzial von Solarstrom zum Besten, Information) den Auftrag, einen «Massnahum die Verantwortung gleich darauf elegant auf menplan Solar Wallis» zu erarbeiten. Im Sommer die Gemeinden, die Privateigentümer und das 2010 lag der Plan vor – mit erstaunlichen ResulGewerbe abzuschieben. taten: Wenn auf einem Drittel der Dachflächen Die Walliser Solarstudie schlägt ein Paket im Wallis Fotovoltaikanlagen installiert werden, von Massnahmen vor, die der Kanton ergreifen resultiert daraus eine Solarstromproduktion von kann, um das Wallis zu einem Solarkanton zu rund 800 GWh. Das ist ein Drittel des Walliser machen: Erstens die Gründung einer «Taskforce Stromverbrauchs (ohne Industrie). Solarenergie Wallis» mit Vertretern des KanEin Jahr später – im Sommer 2011 – wollte tons, der Gemeinden und der Wirtschaftsfördedas Wissenschaftsmagazin «Einstein» des rung, zweitens eine Übergangsfinanzierung Schweizer Fernsehens wissen, was aus dem bis zur Auszahlung der KEV-Gelder und drittens Massnahmenplan geworden ist. Dazu befragte die gesetzliche Verankerung der Solarstrategie. die «Einstein»-Redaktion den CVP-Staatsrat Hinzu kommen weitere Empfehlungen für Jean-Michel Cina, der nach den Wahlen im Jahr Investitionsbeiträge, Steuererleichterung und 2009 das Energiedepartement übernommen zinsgünstige Darlehen. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

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Auf Anfrage erklärt Natalie Theler, Mitarbeiterin der kantonalen Dienststelle für Energie und Wasserkraft, dass zwei Jahre nach der Publikation der Studie noch keine Taskforce, keine wirksamen gesetzlichen Massnahmen und keine Übergangsfinanzierung zur KEV existierten. Der Kanton Wallis beschränkt sich auf punktuelle Massnahmen wie die Ausbildung von Fachleuten, Steuervergünstigungen, Empfehlungen für die Gemeinden, Tools zur Berechnung der Wirtschaftlichkeit von Solaranlagen und die Information der Solarfachleute. Laut Theler liegt es «auch an den Elektrizitätswerken und den beteiligten Aktionärsgemeinden, ihre Verantwortung wahrzunehmen». Und da sei «viel am Laufen». Deshalb stehe «die Aufstellung einer Taskforce zurzeit nicht im Vordergrund.» Ganz anders sieht das Heini Glauser vom Büro easi, der den Massnahmenplan im Auftrag des Kantons Wallis verfasst hat. Er ist enttäuscht über den mangelnden Effort von Staatsrat JeanMichel Cina und seinem Energiedepartement: «Von den Massnahmen, welche die Solarstudie vorschlägt, wurden fast keine umgesetzt. Der Kanton schiebt die Verantwortung auf die Gemeinden und die Elektrizitätswerke ab. Das führt beispielsweise zu skandalösen Ungleichheiten bei den Rückliefertarifen.» Um solche Ungleichheiten zu vermeiden, hätte der Kanton «eine Mindestentschädigung für Solarstrom von rund 25 Rp./kWh festsetzen und der kantonseigenen Walliser Elektrizitätsgesellschaft (WEG) Auflagen zur Förderung von Solarstrom machen müssen.» Zudem kann laut Glauser eine wirksame Solarförderung ohne Taskforce nicht umgesetzt werden, weil der kantonalen Dienststelle für Energie dazu das nötige Personal fehle. Laut KEV-Statistik (Stand 1. Juli 2012) profitieren im Wallis 129 Solaranlagen mit einer Gesamtproduktion von 2,5 GWh von den KEVFörderbeiträgen. Positive Entscheide erhielten 77 Solarproduzenten mit einer Gesamtproduktion von rund 2,2 GWh. Auf der Warteliste stehen 411 Fotovoltaikanlagen mit einer Gesamtproduktion von rund 15,2 GWh. Während der Kanton Wallis die finanzielle Förderung der Solaranlagen den Elektrizitätswerken und privaten Investoren überlässt, übernehmen andere Kantone die Übergangsfinanzierung bis zur Auszahlung der KEV-Beiträge. Der Kanton Waadt zum Beispiel springt mit 20 Millionen Franken in die Finanzierungslücke. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

EnBAG stösst Solarproduzenten vor den Kopf Letztes Jahr ging im EnBAG-Gebiet* eine Gruppe von Solaranlagen auf 18 privaten Dächern ans Netz. Die Solaranlagen erbringen zusammen eine Leistung von 860 kW und eine Stromproduktion von rund 1 GWh. Die Solarproduzenten wurden auf die KEV-Warteliste gesetzt und müssen nun bis drei Jahre auf die KEV-Vergütung warten, die ab 1. Oktober 2012 im Schnitt 31 Rp./kWh beträgt. Für die Übergangsphase hatten die Solarproduzenten mit einem Tarif von 15 Rp./kWh gerechnet. Überraschend teilte die EnBAG den Solarproduzenten in einem Brief vom 6. April 2012 mit, dass für die Anlagen mit einer Leistung von mehr als 3 kW der Rückliefertarif von 15 Rp./kWh auf 5,35 Rp./kWh (Sommer-Niedertarif) bis 11,4 Rp./kWh (Winter-Hochtarif) abgesenkt werde, und zwar rückwirkend auf den 1. April. * http://www.enbag.ch/stromverteilnetz.php

Statt den Solarstrom zu fördern, sind die Elektrizitätswerke aktiv bemüht, die letzten frei fliessenden Bäche in Druckstollen zu legen – finanziert mit den Öko-Beiträgen der KEV. Die KEV-Statistik liefert eindrückliche Zahlen: Die Gesamtsumme der realisierten, der bewilligten und der geplanten Kleinwasserkraftwerke beträgt 605 GWh (Stand 1. Juli 2012). Das ist doppelt so viel wie in Graubünden und im Vergleich der Kantone einsame Spitze. Die Priorisierung der Wasserkraft hat finanzielle Gründe: Die Gemeinden und der Kanton profitieren von den Wasserzinsen der Kleinwasserkraftwerke. Und weil in den Verwaltungsräten der Elektrizitätswerke im Normalfall der Gemeindepräsident sitzt, ist die Rechnung bald gemacht. Rückliefertarife der Elektrizitätswerke sind sehr unterschiedlich Die Walliser Elektrizitätsgesellschaft (WEG), die dem Kanton, den Gemeinden und den regionalen Stromverteilern gehört, befindet sich bezüglich der Solarstromförderung noch in der Phase der Analyse, heisst es im Jahresbericht 2011. Statt die Solaranlagen zu fördern, beteiligte

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Paul Weber: «Mein Vertrauen in die EnBAG ist auf dem Nullpunkt» Bei betroffenen Fotovoltaikproduzenten weckte die Abschreckungspolitik der EnBAG harsche Kritik. Für sie kam die Tarifreduktion der EnBAG wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Christian Fux, der in Oberried eine Solaranlage mit einer Jahresproduktion von rund 35 000 kWh gebaut hat, fühlt sich von der EnBAG «verarscht». «Mehrere Anlagenbesitzer haben mir mitgeteilt, dass sie mit Kenntnis dieser Fakten keinesfalls eine Anlage gebaut hätten.» Christian Fux übt nebst Kritik an der plötzlichen Tarifabsenkung wie auch an der «schwierigen Kommunikation» mit der EnBAG und «dass im Bereich Fotovoltaik so gut wie kein Fachwissen vorhanden ist». Auch Paul Weber, der in Oberried eine 7-kW-Anlage gebaut hat, fühlt sich verschaukelt. Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

VIELE PROJEKTE, WENIG STROM Budgetierte Stromproduktion pro Jahr der Solar- Wind-, Biomasse- und Klein-WasserkraftProjekte, die bis September 2012 ein Gesuch für die kostendeckende Einspeisevergütung (KEV) einreichten. Alles gemessen in Millionen kWh.

Mio kWh

3477

2767

1717

2000

1250

519

750

0

40

250

169

500

610

804

1000

938

1267

1500

1073 1175

1750

Solar

Wind

Wasser

Biomasse

Realisiert KEV-Zusage KEV-Warteliste

Lesebeispiel: Würden alle Windkraftwerke in der Schweiz gebaut, für die ein KEV-Gesuch vorliegt, könnte die Schweiz pro Jahr 3,477 Milliarden kWh Windstrom erzeugen. Die KEV-berechtigten Windkraftwerke, die bis Ende 2010 realisiert wurden, produzieren aber erst 40 Millionen kWh pro Jahr.

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SW I SS G R I D. DAT EN AUSWAHL UN D BER ECHN UN G. G UG G EN BÜHL, G RAF I K : G R EEN PEAC E.

2250

Total: 923

2170

2500

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SOLARENERGIE

sich die WEG mit 10 Prozent des Aktienkapitals am Pumpspeicherkraftwerk Nant de Drance, das 1,8 Milliarden Franken kostet. Die Rückliefertarife der Elektrizitätswerke im Wallis sind sehr unterschiedlich. Laut Nathalie Theler von der kantonalen Dienststelle für Energie bezahlen mehrere Stromverteiler im Unterwallis Tarife von 20 bis 30 Rp./kWh. Im Oberwallis hingegen zahlen die meisten Elektrizitätswerke nur 15 Rp./kWh. Und auch dieser niedrige Tarif wird laut Recherchen des Magazins Greenpeace im Oberwallis noch unterboten. Die Energie Brig Aletsch Goms (EnBAG) etwa überraschte die privaten Solarstromproduzenten im vergangenen April mit einer Tarifreduktion auf rund 8,5 Rp./kWh (siehe Kasten S. 55). Dabei hatten die Solarproduzenten für die Übergangsphase bis zur KEV-Vergütung mit einem Tarif von 15 Rp./kWh gerechnet. Laut Auskunft der Solarproduzenten wurde dieser Tarif mündlich mit der EnBAG vereinbart. Auf dieser Basis gewährten die Banken auch ihre Hypotheken. Als Begründung für die Tarifreduktion verwies die EnBAG auf die Empfehlungen des Bundesamtes für Energie (BFE) vom Februar 2010. Was die EnBAG jedoch als empfohlenen Höchstpreis ausgab, ist in der BFE-Empfehlung ein Mindestpreis. Das BFE hält in seinem Schreiben vom Februar 2010 ausdrücklich fest: «Höhere Vergütungen sind möglich.» Urs Wolfer, Bereichsleiter Fotovoltaik beim BFE, sagt lakonisch: «Wenn man nichts machen will, erklärt man das Minimum zum Maximum.»


In einem Brief an die EnBAG schreibt er: «Mein Vertrauen in die EnBAG ist auf dem Nullpunkt, und ich bin wohl nicht der Einzige. Wir alle in der Region haben darauf vertraut, dass die Aussage stimmt, es würden im Übergang zu den Beiträgen der KEV 15 Rp./kWh entrichtet.» Damit habe die EnBAG erreicht, dass «der Schwung bei den Privaten in der Region gebrochen ist». Er spüre seit einiger Zeit, «dass das politische Lobbying der Elektrizitätsindustrie dahin geht, dem Schweizer Volk zu beweisen, dass es nur eine Lösung gibt: die Atomenergie». Das Magazin Greenpeace hat den EnBAGDirektor Paul Fux mit der Kritik der Solarstromproduzenten konfrontiert. Er war zu keiner Stellungnahme bereit und hängte den Hörer kurzerhand auf. Die Nerven bei der EnBAG liegen offenbar blank. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem regionalen Stromverteiler wächst. Urs Wolfer: «Will die EnBAG überhaupt Solarstrom fördern?» Laut Urs Wolfer vom BFE ist die Absenkung der Rückliefertarife durch die EnBAG «rechtlich in Ordnung». Was die nachträgliche Absenkung der Tarife auf den 1. April 2012 betrifft, hängt dies laut Wolfer «davon ab, was im Tarifblatt der EnBAG steht. In der Regel steht dort, dass die Tarife jederzeit neuen Marktgegebenheiten angepasst werden können.» Neben der rechtlichen Seite gibt es jedoch auch einen moralischen Aspekt. Dazu hält Wolfer fest: «Die Solarproduzenten haben auf die mündliche Zusicherung von 15 Rp./kWh durch die EnBAG vertraut. Wenn nun die EnBAG diesen Tarif im Nachhinein plötzlich absenkt, ist das nicht die feine Art.» Laut Wolfer stellt sich deshalb die Frage: Will die EnBAG überhaupt Solarstrom fördern? Fakt ist: Der Kanton Wallis und die EnBAG legen ihre Priorität auf den Ausbau der Wasserkraft. Das neuste Projekt, das die EnBAG verfolgt, ist ein Wasserkraftwerk mitten im Unesco-Welterbe Jungfrau-Aletsch. Der Verwaltungsrat der EnBAG ist ein Biotop der CVP und der Präsidenten der beteiligten Gemeinden. Im letzten Sommer gab der ehemalige CVP-Ständerat Rolf Escher das Präsidium nach 15-jähriger Amtszeit an Renato Kronig weiter, einen Anwalt aus den Reihen der CVP, der auch im Verwaltungsrat der WEG Einsitz genommen hat. Im EnBAG-Verwaltungsrat sitzt auch die CVP-NatiMagazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

Produktionspreise von Solarstrom Die Solaranlagen können bei den Produktionskosten mit neuen Kleinwasserkraftwerken ohne weiteres mithalten. Laut Berechnungen der Firma Solventure AG in Wettingen liegen die Produktionskosten einer Solaranlage im Wallis zwischen 15 und 37 Rp./kWh, je nachdem, wie gross die Anlage und wie hoch der Kapitalzinssatz ist. Bei einem Zinssatz von 2 Prozent und einer Amortisationsdauer von 25 Jahren produziert bereits eine kleinere Anlage (Fläche 40 m2, Leistung 5 kW, Jahresproduktion 6000 kWh, Investition 22 000 Fr.) für 22 Rp./kWh. Für eine grössere Anlage (Fläche 160 m2, Leistung 20 kW, Jahresproduktion 26 400 kWh, Investition 70 000 Fr.) sinkt der Produktionspreis auf 16 Rp./kWh.

onalrätin und Briger Stadtpräsidentin Viola Amherd, der CVP-Gemeindepräsident Manfred Holzer aus Naters, der CVP-Gemeindepräsident Anton Karlen aus Bitsch und der CSP-Gemeindepräsident Herbert Schmidhalter aus Ried-Brig. Sie alle haben am 16. März 2012 unter dem VR-Präsidium von Rolf Escher die massive Absenkung der EnBAG-Rückliefertarife abgesegnet. So sieht also der von CVP-Bundesrätin Doris Leuthard und CVP-Präsident Christophe Darbellay gross ausgerufene Atomausstieg in den Stammlanden der CVP aus: CVP-Staatsrat Jean-Michel Cina setzt auf Kleinwasser- und Pumpspeicherkraftwerke. Gleichzeitig schiebt er die Solarstromförderung an die Gemeinden und die Stromverteiler ab, zum Beispiel an die EnBAG. Dort sitzen CVP-Nationalrätin Viola Amherd und die CVP-Gemeindepräsidenten der Region und schrecken initiative Solarstromproduzenten wie Christian Fux und Paul Weber mit Niedrigtarifen ab. Auf der Sonnenterrasse von Oberried ist die Energiewende noch nicht angekommen.

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IMMER MEHR MENSC UMWELTKO

Die Europäische Umweltagentur (EUA) zeigt in ihrem neusten U umweltbedingten Faktoren sowie politischen Konflikten u

Menschlicher Wohlstands-Index Niedrig Mittel Hoch

DIE KARTE

Sehr hoch Keine Daten Bedeutende Konflikte seit 2000

Wirbelstürme, Stürme und Überschwemmungskatastrophen

Verschlechterung der Süsswasserressourcen

Rückgang der Nahrungsproduktion Anstieg des Meeresspiegels


CHEN FLÜCHTEN VOR ONFLIKTEN

Umweltbericht — SOER 2010 — Zusammenhänge auf zwischen und ihren Auswirkungen auf die Migration der Menschen.

Menschen werden in Zukunft länger leben, verbrauchen immer mehr Ressourcen, sind immer besser ausgebildet und migrieren häufiger in Länder, in denen sie sich bessere Lebensbedingungen erhoffen. Regionen mit hohem Wohlstand wie zum Beispiel Europa oder die USA können ihre umweltrelevanten Entwicklungen also nicht isoliert betrachten. Sie sind gekoppelt an die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen der gesammten Welt. Verursacht eine umweltbedingte Veränderung lokale oder regionale Konflikte, kann dies zu Migrationen innerhalb eines Landes und immer häufiger zwischen Ländern und Kontinenten führen. Weitere ökologische Aspekte und ihre globalen Auswirkungen finden Sie unter: www.eea.europa.eu

QUE LL EN: WB GU, 20 0 7, CLIMATE CHANGE AS A SECURITY RISK; U ND P , HUMAN DEVELOPMENT REP ORT 2010; UN EP, 2 0 0 9, CLIMATE IN PERIL; I SS , 2 010, ARMED C ONFLICT DATABASE.

Wir leben in einer vernetzten Welt und in komplexen Ökosystemen.


NIXE MIT TIEFGANG Das Model Hannah Mermaid hat eine einzigartige Leidenschaft. Mit einem selber hergestellten Meerfrauenanzug taucht sie in Ozeane und macht auf bedrohte UnterwasserÖkosysteme aufmerksam, denen sie sich in Gesellschaft von Haien und Walen zugehörig fühlt.

PORTRAIT

Von Hannes Grassegger

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© TE D GRA MBEAU / B ULL S / BA RCROF T MEDIA

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Es war im Meer vor Tonga im Südpazifik. Als der Wal, der genau vor ihr aufgestiegen war, zu singen begann, spürte sie die Vibrationen bis in die Knochen, so als hätte man sie vor eine riesige Bassbox gestellt. Im Wasser, sagt das Unterwasser-Model Hannah Mermaid, ist alles viel enger verbunden, visuell und physisch. Ganz viele Organismen, auch ganz winzige. Wenn du eintauchst, spürst du die anderen und bist nicht mehr allein. Der Wal war von unten gekommen und plötzlich aufgetaucht vor der zierlichen Frau mit der bunten Flosse, die ihre Beine zu einem Meerjungfrauenschwanz zusammenfügt. Wale sind so gross wie ein Bus. Meerjungfrauen sind so gross wie ein Mensch. Hannah Mermaid, geborene Fraser, sah das riesige Maul – und sich schon darin verschwinden, als der Wal verlangsamte. «Er betrachtete mich. Ich spürte das.» Dann begann er zu singen, in Sub-Bass. Plötzlich antwortete ein schriller Pfeifton und die Meerjungfrau sah ein Walbaby heranschwimmen. Und dann weitere Tiere, die sich behutsam näherten und dabei kommunizierten. Wahrscheinlich diskutierten die Wale darüber, was genau sie da eigentlich vor sich hatten. Als Fraser, die nie mit Taucherbrille und Atemgerät, sondern nur mit ihrer Meerjungfrauenflosse taucht und geschlagene zwei Minuten unter Wasser bleiben kann, die Luft ausging, tauchte sie auf, zog sich zitternd in das Begleitboot und musste heulen vor Glück. Es gibt Videos, in denen Hannah Mermaid Riesenschildkröten streichelt oder sich an Delfinnasen durchs Meer ziehen lässt, aber diesmal hatte sie das Gefühl, eine andere Welt habe sie aufgenommen und zu ihr gesprochen. Viele Kinder träumen davon, Astronaut zu werden, um andere Welten zu besuchen. Vielleicht gäbe es ohne Kindheitsträume die bemannte Raumfahrt nicht und auch keinen sozialistischen Futurismus oder BMW-Sportwagen. Ganz sicher gäbe es ohne Kindheitsträume keine Meerjungfrauen. Mit drei malte die kleine Hannah ihre erste Frau mit Fischschwanz. In den Folgejahren brachte man ihr bei, dass es leider keine Meerjungfrauen gibt. Mit neun Jahren sah das kleine blonde Mädchen den Blockbuster «Splash», in dem Daryl Hannah eine Meerjungfrau spielt. Für die Neunjährige war der Film der Beweis, dass man eben doch eine Meerjungfrau werden

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PORTRAIT

kann. Im Pool ihrer Eltern in Los Angeles begann sie mit einem Kinder-MeerjungfrauenBadeanzug die vom Bauch ausgehende, wellenförmig bis zur Schwanzflosse reichende Meerjungfrauen-Schwimmtechnik zu üben. Unentwegt, monatelang, bis sich der Anzug aufzulösen begann. Dann zogen die Frasers nach Australien, in eine Kommune nördlich von Melbourne – ohne Pool und Stunden vom Meer entfernt. Aus der Traum. Als Hannah Anfang zwanzig war, hatte sie ihren Kindheitstraum schon so lange im Erinnerungsfach mit der Aufschrift «unmöglich» verstaut, dass er fast schon vergessen war. Hannah hatte ein Studium abgebrochen und war ihren Surferfreunden in den australischen Küstenort Byron Bay gefolgt, wo sie sich mit Modeljobs über Wasser hielt und sonst recht planlos herumtrieb. Eine typische Nachwirkung grosser Kindheitsträume ist, dass man sich konstant fühlt, als sei man soeben aufgewacht und wisse, da war etwas. Etwas Wichtiges, das das Jetzt überwiegt, etwas, an das man sich allerdings dummerweise nicht mehr erinnern kann.

nur mit ihrer Flosse, fühlt sie sich, als ob sich eine uralte Verbindung einstelle. «Im Wasser spüre ich, dass ich selber nur eine Zelle eines grösseren, lebenden Organismus bin.» Diesen Organismus will sie schützen. Zusammen mit ihrem Ex-Mann Dave Rastovich, einem Profisurfer, paddelte sie 2007 in die blutgetränkte Bucht von Taiji, um japanische Fischer von der alljährlichen Delfinschlachterei abzuhalten. Auch mit den radikalen Tierrechtlern von Sea Shepherd ging Hannah Fraser auf Tour. Derzeit kämpft sie gegen die australische Abschussfreigabe für Haie. Um zu zeigen, dass Haie eigentlich ungefährlich sind, liess sie sich in einem der gefährlichsten Haifischgebiete der Welt vor Guadeloupe aussetzen und schwamm dort vor laufender Kamera mit metergrossen Riffhaien. «Mit meinem Anzug musste ich für ihn wohl wie eine Mahlzeit wirken», sagt sie lachend. Passiert ist ihr nichts. «Haie an Land sind gefährlicher als die im Wasser», glaubt die Meerjungfrau.

Drei Monate braucht es zur Herstellung einer Schwanzflosse Eines Tages im Jahr 2002 erhielt Hannah in Byron Bay einen Modelauftrag für Unterwasseraufnahmen. Es wurde der Tag ihres Lebens. Noch nie hatte sie sich so wohl gefühlt bei einem Auftrag. Als wäre das Wasser ihr Zuhause. Dieses Gefühl wollte sie wieder erleben und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Sie sah sich mit Schwimmflosse. Als Meerjungfrau. Sie erinnerte sich an ihren Kindheitstraum. Zuhause nähte sie aus einem Bumerang, einem Kleiderbügel und einem Neoprenanzug ihren ersten eigenen Meerjungfrauenschwanz, bemalte ihn und stickte Schuppen auf die Flosse. Fraser begann nach Unterwassermodel-Aufträgen zu suchen, tauchte dort mit ihrer Schwanzflosse auf. Es ist wahr, sie sieht im Wasser hervorragend aus. Bald hagelte es Aufträge. Ihre Anzüge sind Einzelstücke. Sie brauchen drei Monate in der Herstellung und immer noch bestickt sie sie selber. Nur besteht die Schwanzflosse mittlerweile aus einer Monofinne, gebettet in Silikon, darüber das Neopren. Ein Experiment mit Latex schlug fehl. Beinahe wäre sie ertrunken. Mittlerweile lebt Hannah von Werbeaufträgen. Doch wenn sie schwimmt und abtaucht, Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

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Buchtipp

Jute war gestern: Neue ÖkoAktivisten sind cool, ihre Methoden und Ziele ungewöhnlich. Emily Hunter, MTV-Moderatorin und Tochter des GreenpeaceGründers Robert Hunter, stellt in ihrem Buch Kämpfer für eine ökologisch sichere Zukunft vor: Walschützer, professionelle Meerjungfrauen, Blogger, Fahrradaktivisten, Ökoarchitekten, Dokumentarfilmer, eine Indianerprinzessin und viele mehr. Sie zeigt, dass in jedem Mensch ein Öko-Krieger steckt, der Talente und Fantasie dazu nutzen kann, die Erde zu retten.


© CLÉM EN T TAR D I F / G R EEN PEAC E

KAMPAGNEN-NEWS

Volle Netze: Senegals Fischer feiern

Jack Wolfskin verspricht giftfreie Kleider

Im Herbst besuchte die Rainbow Warrior im Rahmen der Indian Ocean Tour 2012 verschiedene Länder an der afrikanischen Küste. Im Austausch mit lokalen Gemeinschaften und den Fischereibehörden will Greenpeace auf die Plünderung der Ozeane durch die industrielle Fischerei aufmerksam machen. Für lebendige Meere und für die Lebensgrundlagen der Küstenbewohner braucht es dringend Massnahmen. Dass diese schnell wirken können, zeigt das Beispiel Senegal: Im Mai annullierte der neu gewählte Präsident Macky Sall die Lizenzen für 29 ausländische Fangboote. Greenpeace hatte dieser Forderung der lokalen Bevölkerung zuvor mit der Karawane «My Voice, My Future» Nachdruck verliehen und traf bei einem erneuten Besuch nur zwei Monate nach dem Entscheid auf feiernde Küstendörfer. Seit dem Rauswurf der Plünderer sind die Netze der traditionellen Kleinfischer so gut gefüllt wie schon lange nicht mehr.

Der deutsche Hersteller von Outdoor-Kleidung Jack Wolfskin hat die gemeinsame Roadmap der Bekleidungsindustrie für die Entgiftung der Produktion unterschrieben. Das Bekenntnis ist allerdings erst lauwarm. Greenpeace kritisiert, dass bisher kaum Schritte eingeleitet wurden — im Unterschied zu anderen Marken wie H&M, die bereits ab Ende 2012 auf besonders giftige Chemikalien verzichten will. Greenpeace lädt Jack Wolfskin deshalb zu Gesprächen ein, um offene Fragen zu klären. Damit auch die Wanderweste sauber wird.

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KAMPAGNEN-NEWS

Bericht «Toxic Truth»: Prozess gegen Trafigura gefordert Greenpeace und Amnesty International haben eine über 200-seitige Studie veröffentlicht, die zeigt, wie es zur Chemiekatastrophe in Abidjan an der Elfenbeinküste kam und weshalb die Verursacher noch nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Der Frachter Probo Koala hatte im August 2006 hochgiftige Abfälle abgeladen, die in der Nähe von Siedlungen verscharrt wurden. Über 100 000 Menschen mussten danach medizinisch behandelt werden. Der Bericht, für den drei Jahre recherchiert wurde, zeigt die Entstehung und den Weg der toxischen Fracht. Weil die Entsorgung in Europa zu teuer gewesen wäre, wurde der Müll illegal in eines der ärmsten Länder Afrikas exportiert, wo die Umweltgesetze nicht durchgesetzt werden. Das Verbrechen wurde in etlichen Ländern angeklagt, doch die Verantwortlichen des Konzerns Trafigura sind bisher straffrei geblieben. Der Bericht fordert, dass in Grossbritannien eine neue Strafuntersuchung eröffnet wird. In der Schweiz, wo Trafigura seinen Hauptsitz hat, gab es bisher keine Anklage, weil keine griffigen Gesetze existieren. Der Fall «Probo Koala» von Trafigura ist eines von vielen Beispielen der «Recht ohne Grenzen»-Kampagne. Konzerne mit Sitz in der Schweiz sollen auch hierzulande vor Gericht gestellt werden können, wenn sie in anderen Ländern Verbrechen gegen Umwelt und Menschenrechte begehen. www.rechtohnegrenzen.ch/de/fallbeispiele/ trafigura

Shell macht Pause, das Eis schmilzt weiter Der Erdölkonzern Shell meldete Mitte September, er lege die Erdölbohrungen in der Arktis für ein Jahr auf Eis. Pannen und rechtliche Probleme haben die Kosten für das Experiment gegen 5 Milliarden Dollar explodieren lassen. Der Chef des französischen Energiekonzerns Total, Christophe de Margerie, sagte in der «Financial Times», im Polarmeer sollte nicht nach Öl gebohrt werden, weil die Risiken einer Katastrophe zu hoch seien. Greenpeace fordert mit der «Save the Arctic»Kampagne ein Verbot von Ölbohrungen in der Arktis. Bereits über zwei Millionen Menschen weltweit haben die Petition unterschrieben. AkMagazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

tivistInnen blockierten Explorationsschiffe und tauchten als Eisbären verkleidet vor Tankstellen und Büros von Shell auf. Der Druck trug dazu bei, dass die Gerichte nicht so leicht grünes Licht für Bohrungen geben. Shell versucht es nun mit absurden Klagen gegen Greenpeace: In Holland will der Konzern jeden Protest im Umkreis von 500 Metern um seine Gebäude verbieten lassen und fordert Strafzahlungen von einer Million Euro. Das Eis der Arktis ist auf den tiefsten je gemessenen Stand geschmolzen. Die Fläche der Eisdecke hat in den vergangenen 30 Jahren um über die Hälfte abgenommen. In wenigen Jahrzehnten könnte die Arktis über den Sommer ganz abschmelzen. Wenn das Eis die Sonne nicht mehr reflektiert, erwärmt sich die Erde zusätzlich und die Profitgier treibt die Konzerne dazu, im freigelegten Meeresboden nach Öl und Gas zu bohren, was den Klimawandel weiter vorantreibt. www.savethearctic.org

Grünschwätzer roden weiter Immer mehr Rohstoffproduzenten versuchen sich einen grünen Mantel umzuhängen und geben viel Geld für die Imagepflege aus. Nur: Was zählt, sind Taten, nicht Worte. Herakles Farms mit Sitz in den USA behauptet, ökologisch nachhaltige Entwicklungsprojekte in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung durchzuführen. In Kamerun plant die Firma eine Palmölplantage auf 73 000 Hektar (grösser als der Kanton Glarus) mitten im Kongobecken, angrenzend an fünf geschützte Waldgebiete. Die Monokultur würde Tausende von Kleinbauern von ihrem Land vertreiben und die ökologisch angepasste Mischproduktion durch eine grüne Wüste ersetzen. Die Einheimischen leisten Widerstand. Asia Pulp and Paper (APP), weltweit einer der grössten Produzenten von Zellstoff und Papier, behauptet, die Waldrodungen im indonesischen Urwald zu stoppen — auf einem Gebiet, wo die meisten Wälder schon abgeholzt worden sind! Anderswo macht APP Regenwald zu Zellstoff für Klopapier. Greenpeace hat einen Bericht über die Pläne von Herakles Farms in Kamerun mitveröffentlicht und deckt in Indonesien mit der «Tigers Eye» Tour auf, wie APP weiter rodet. Um die Realität hinter den Nachhaltigkeitsberichten der Grünschwätzer zu entlarven, braucht es Augen vor Ort. Ein gerodeter Wald sagt mehr als tausend Worte.

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Gibt es einen Zusammenhang zwischen Stromverbrauch und Lebensqualität? Aber sicher! In und um die Greenpeace-Informationsbox «mobil-e» erfahren Sie, wie sich die Schweiz zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien versorgen kann. Dazu können Sie in der interaktiven Fotobox die Stromzukunft selber mitgestalten. «mobil-e» steht auf Messen, Festivals, Dorfplätzen usw. Kommen Sie vorbei!

© G R EEN PEACE

Tourneeplan: http://mobile.greenpeace.ch

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Japan steigt aus, Mühleberg lottert weiter Nach Deutschland, Belgien und der Schweiz hat im September auch die Regierung Japans angekündigt, aus der Atomenergie auszusteigen. Dies soll möglichst bis 2030 und spätestens bis 2040 geschehen. Der Entscheid kommt zu einem Zeitpunkt, an dem erst 2 von 50 Reaktoren wieder in Betrieb genommen worden sind, was riesige Demonstrationen ausgelöst hat. Die Regierung gibt nun dem Druck der Bevölkerung ein Stück weit nach und versetzt den Hoffnungen der Atom industrie auf eine Renaissance einen heftigen Dämpfer. Das hat auch Folgen für Europa: Die Wiederaufbereitungsanlage im englischen Sellafield dürfte unrentabel werden, weil Japan einer der wichtigsten Kunden ist. Auch aus Frankreich, wo 70 Prozent der Energie aus Atomkraftwerken stammen, sind neue Töne zu hören. Staatspräsident François Hollande erklärte, dass die zwei Reaktoren des AKW Fessenheim im Elsass bis 2016 endgültig abgeschaltet würden. Fessenheim ist das älteste AKW Frankreichs und äusserst pannenanfällig. Es liegt nur Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

50 Kilometer nördlich von Basel in einem Erdbebengebiet. Hollandes Ankündigung ist ein Fortschritt, aber solange der Lotter-Meiler noch läuft, besteht weiter Gefahr. Was das heisst, zeigt eine Studie des Öko-Instituts Darmstadt, die unter anderem von Greenpeace in Auftrag gegeben wurde. Was passiert, wenn «Fukushima» in Mühleberg passiert? Ausgehend von den Daten der Katastrophe in Japan, die auf das Schweizer Mittelland übertragen wurden, zeigt die Studie: 185 000 Menschen müssten dauerhaft umgesiedelt werden, der Bielersee und ein Viertel der Fläche der Schweiz wären langfristig kontaminiert. Die radioaktive Wolke würde sich so schnell ausbreiten, dass es unrealistisch scheint, die Bevölkerung rechtzeitig zu evakuieren und mit Jodtabletten zu versorgen. Die Notfallpläne des Katastrophenschutzes halten dem FukushimaSzenario nicht stand. Die wichtigsten Resultate der Studie gibt es als Kurzfilm auf Youtube und auf www.aefu.ch zu sehen: «Was passiert, wenn Fukushima in Mühleberg geschieht?»

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Kinder als Versuchskaninchen für Gentech-Reis in China

© BAS TI AN OLD HO USE

KAMPAGNEN-NEWS

Schon seit 20 Jahren wird am sogenannten Golden Rice geforscht. Die gentechnisch veränderte Sorte soll mit erhöhtem Vitamin-A-Gehalt die Ernährung der Armen verbessern. Auch Geld von der ETH, der Schweizer Entwicklungshilfe und Syngenta ist in die teure Forschung geflossen, die bis jetzt nicht viel Erfolg zeigt. Greenpeace kritisiert das Projekt schon seit Jahren und hat verschiedene Berichte vorgelegt, die zeigen: Gegen VitaminA-Mangel braucht es keine Gentechnik, sondern eine ausgewogene Ernährung. Beim Golden Rice geht es darum, unter dem Vorwand eines guten

Zwecks den Widerstand gegen Gentech-Lebensmittel zu brechen. Jetzt hat Greenpeace bekannt gemacht, dass Forscher mit der US-amerikanischen Landwirtschaftsbehörde in China Versuche mit dem Reis an 24 Kindern durchgeführt haben. Dabei hatte das chinesische Ministerium 2008 erklärt, der Versuch sei gestoppt worden. Dass der Versuch in China durchgeführt wurde, ist brisant. Greenpeace hat dort mit einer langjährigen Kampagne illegal eingeführte Gentechsorten aufgespürt und einen Aufschrei ausgelöst, der bis in Pekings Führung wirkte: Dort ist zurzeit ein Gesetz in Bearbeitung, das Anbau, Import und Export von gentechnisch verändertem Getreide in China verbieten soll.

Bieler Künstler unterstützt Arktis-Kampagne Rund um den Globus unternimmt Greenpeace alles, um die Arktis zum Schutzgebiet erklären zu lassen. Das Polareis schmilzt wegen des Treibhauseffekts, und die Erdölmultis wittern eine Chance, in diesem fragilen Ökosystem neue, riskante Bohrungen zu machen. Was Bohrtürme über der Tiefsee anrichten können, hat uns 2010 die Katastrophe «Deepwater Horizon» vor Augen geführt. Dieses Unglück im Golf von Mexiko war die Inspiration für das Kunstwerk «Birdie» des Bieler Ereigniskünstlers Bastian Oldhouse Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

(www.bastian-oldhouse.ch). Um Greenpeace und ihre Arktis-Kampagne (www.savethearctic.org) zu unterstützen, liess er am Freitag, 10. August, anlässlich der Vernissage zu seiner Ausstellung in Safern (BE) dieses eindrückliche, grossformatige Gemälde versteigern. Eine Teilnehmerin der Vernissage erstand das Kunstwerk und überwies Greenpeace — auch im Namen ihres Partners — 3000 Franken. Vielen Dank.

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pielen online mits n! & gewinne

Wir Solarmacher – mehr alS ein Spiel

Bring mehr Sonne in die SteckdoSe www.solarmacher.ch

Spielend einfach: Solarmacher stellen AKW ab Greenpeace will das Potenzial der Solarenergie auf den Dächern der Schweiz aufzeigen. Die Botschaft geht an die Politik, rechtzeitig zur Debatte über das neue Energiegesetz Denn bislang wird das Potenzial Solarenergie darin kleingeredet. Dafür braucht es viele HelferInnen — oder eben: Solarmacher. Wie viel Strom kann man mit Solarzellen auf dem eigenen Dach produzieren? Und auf dem des Nachbarn? Und auf der Turnhalle? Mit einer neuen Website lässt sich das online ausrechnen. Das von den «Dachjägern» gesammelte Solarenergie-Potenzial wird zusammengerechnet und zeigt, dass eine zukunftsfähige Energieversorgung möglich ist. Damit das Interesse voll erwacht, gibt es spannende Aufgaben zu lösen und auch etwas zu gewinnen. Seit dem Start von «Wir Solarmacher» am 11. September haben Tausende SolarmacherInnen rund 165 000 Solardächer markiert! Das enspricht der gesamten Energieproduktion des AKW Mühleberg und Beznau I, sowie rund 25 Prozent von Beznau II. Spiel jetzt online mit, werde SolarmacherIn und hilf mit bei der Energiewende. solarmacher.ch Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

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Starke Siegerbilder im

IN KÜRZE

Die Sieger beim ersten Greenpeace Photo Award stehen fest: Flurina Rothenberger gewinnt den Publikumspreis für ihre Arbeit über die Verschmutzung des Wassers, Überschwemmungen und die Folgen des Klimawandels in einer Banlieue von Dakar in Senegal. Rothenberger arbeitet schon länger in Dakar und hat mit dem einheimischen Rapper und Musiker Goormak einen authentischen Blick auf die Probleme der Millionenstadt geworfen. Dabei kommen die Betroffenen zu Wort, ohne in Klischees gedrängt zu werden. Der Jurypreis geht an Jules Spinatsch. In seinem Projekt «Asynchron 0–IV» beschäftigt er sich mit der Atomtechnologie in der Schweiz – von Atombombenfantasien und Versuchsreaktoren über die Anti-Atom-Bewegung bis zum noch unbekannten Endlager. Spinatsch setzt Fotos aus Überwachungskameras zu riesigen Panoramen zusammen und schafft es, gespenstische Stimmungen einzufangen, die der Betrachter auch deshalb noch nie gesehen hat, weil die gezeigten Orte für Normalsterbliche oft unzugängliche Sperrzonen sind. Die Arbeiten erscheinen in der Kulturzeitschrift «Du» im Frühsommer 2013. http://photo-award.ch

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

Gentech

Keine Schweizer Zulassung vor 2017 Der Nationalrat will das Moratorium für den Anbau von getechnisch veränderten Pflanzen bis Ende 2017 verlängern. Der Entscheid war deutlich: Fast zwei Drittel der ParlamentarierInnen meinten, die Zeit sei noch nicht reif für Gentech auf Schweizer Äckern. Stattdessen solle weiter geforscht werden. Die Schweizerische Arbeitsgruppe Gentechnologie (SAG), die das Moratorium 2005 mit einer Volksabstimmung angestossen hatte, freut sich über den Entscheid. Allerdings sollten die Forschungsgelder besser in eine ökologische Landwirtschaft anstatt in weitere Gentechversuche investiert werden. In Kalifornien stimmte die Bevölkerung über die Right to know-Initiative ab, die verlangte, dass Gentechhaltige (GVO) Lebensmittel deklariert werden müssen. Weil in den USA fast alle Produkte (ausser Bio) GVO enthalten und Kalifornien einer der wichtigsten Märkte ist, hatte die Initiative das Potential, die ganze Lebensmittelproduktion auf den Kopf zu stellen. Der Wunsch der KonsumentInnen nach gesunden Lebensmitteln würde plötzlich stärker ins Gewicht fallen als das Gewinnstreben der Konzerne. Die Initiative wurde zwar mit 53% Nein-Stimmen abgelehnt, die Befürworter feierten trotzdem: Das Resultat ist ein Achtungserfolg, vor allem wenn man in Betracht zieht, dass das Kampagnenbudget für die Deklarierung nur 9 Millionen betrug, gegenüber 46 Millionen Dollar der Gegenseite. Alleine Monsanto hatte 8 Millionen, die

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«Schweizer» Konzerne Syngenta und Nestlé je über eine Million beigetragen.

Ölförderung

Bohrungen im Kongo gefährden Berggorillas Die britische Ölfirma Soco International hat eine Konzession für die Ölförderung im Virunga National Park erworben. Virunga liegt in der Demokratischen Republik Kongo, ist der älteste Nationalpark Afrikas, ein Unesco-Welterbe und besonders bekannt als Heimat der Berggorillas sowie einer Vielzahl weiterer bedrohter Arten. Die britische Regierung hat Soco bereits mitgeteilt, dass die Ölsuche gegen internationale Konventionen verstösst. «Save Virunga», eine Koalition von Umweltorganisationen, macht Druck, damit die Konzession zurückgezogen wird und Virunga geschützt bleibt. http://savevirunga.com

©K E YS TON E / F 1O N LI N E / BE RN D ROH RS CH NEI D ER

Greenpeace Photo Award 2012


«We like»!

Public Eye Awards 2013

«Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln»

Kritische Kontrapunkte zum WEF

Mit Essen spielt man nicht. Die JungsozialistInnen haben Anfang Oktober eine Volksinitiative lanciert, die Spekulation mit Nahrungsmitteln verbieten will. Mitunterstützt wird die Initiative unter anderem von Solidar Suisse (ehem. Schweizerisches Arbeiterhilfswerk). Unternehmen, Banken und Pensionskassen sollen nicht mehr in Finanzvehikel investieren dürfen, die dazu dienen, auf Veränderungen der Börsenpreise von Weizen, Mais, Soja etc. zu wetten. So will die Initiative einen Beitrag leisten, die Nahrungsmittelpreise in den Entwicklungsländern zu stabilisieren. Weil ein Grossteil des internationalen Handels mit Rohstoffen in der Schweiz abgewickelt wird, hat die Initiative weltweit Signalwirkung. Unterschriftenbogen gibt es auf: www.solidar.ch

Bedingungsloses Grundeinkommen: Halbzeit

Die Volksinitiative «Für ein bedingungsloses Grundeinkommen» ist bei Halbzeit der Sammelfrist gut unterwegs. Wer offen ist für inspirierende «Was wäre, wenn»-Diskussionen, sollte die Gelegenheit nicht verpassen, bei Freunden und Bekannten noch ein paar Unterschriften zu sammeln. 2500 Franken pro Monat für alle – bedingungslos! Wer würde da noch arbeiten? Ginge alles vor die Hunde? Könnten wir endlich nur noch tun, wozu wir Lust haben? «Freiheit ist kein Zustand, sondern eine Tätigkeit», proklamiert das Initiativkomitee und nagt damit an der Idee, die ökonomischen Zwänge seien unantastbar – was auch dem Umweltschutz neue Perspektiven eröffnen könnte. http://www.bedingungslos.ch

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Seit 2009 vergibt Greenpeace Schweiz mit der Erklärung von Bern die wohl bekanntesten internationalen Schmähpreise, den Public Eye Jury Award und den Public Eye People’s Award. Diese Preise bewirken ein zunehmendes Sensorium für Menschenrechtsund Umweltvergehen von (multinationalen) Konzernen und sind kritische Kontrapunkte zum WEF in Davos. Dank ihnen werden ausbeuterische Arbeitsbedingungen, Umweltsünden, bewusste Fehlinformationen oder das Nichteinhalten von Unternehmensverantwortung einer breiten Öffentlichkeit bekannt und die Opfer erhalten eine Stimme. Zum ersten Mal sind dieses Jahr gleich drei gobal tätige Finanzinstitute nominiert. Das zeigt, dass Finanzanleihen problematisch sind, wenn sie wahllos jedes Geschäft finanzieren.


Youtube-Tipp

Buchtipp

VERFÜHRUNG ZUM GUTEN LEBEN

Beklemmender Einblick in die Wegwerfgesellschaft

P.M.s «Manetti lesen oder Vom guten Leben» und «Kartoffeln und Computer» sind beide im August 2012 in der Edition Nautilus erschienen.

T ED GRA MBE AU / B UL LS / BA RCRO FT MEDI A

IN KÜRZE

Kaffeebecher, Handys, Handtaschen, DVDs, Spielzeug – was machen wir mit all dem Zeug? Viel wichtiger: Wo kommt es her, wo geht es hin? Unser Globus ist überschwemmt mit Konsumgütern, die durch Ausbeutung von Ressourcen und Menschen hergestellt werden und meist sechs Monate später auf der Müllkippe landen. Annie Leonards Versuch, die ökologischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen unserer Überflussgesellschaft darzulegen, hat Erfolg. Über zehn Millionen Menschen – darunter 100 000 Deutsche sowie je 20 000 Schweizer und Österreicher – haben ihren zwanzigminütigen Film «The Story of Stuff» auf Youtoube schon gesehen. Wir zeigen ihn auch auf unserer Website: www. greenpeace.ch/magazin

«Manetti lesen» – ein merkwürdiges Buch lässt seine LeserInnen verschwinden. Bestens integrierte Leute aus Zürichs linksalternativem Kuchen tauchen ab und hinterlassen Leerstellen in Schulen, Verlagen und Physiopraxen. P.M. macht sich auf die Suche, spürt ihren Geschichten, Sehnsüchten und Bekanntschaften nach. Er sinniert über die verpassten Chancen der letzten vierzig Jahre, über Ereignisse und Personen, die wir irgendwie kennen. Auch die Ökobewegung und Greenpeace kommen vor. Mit der Zeit wird klar: Die Verschwundenen werden von etwas angezogen, von einem Ort oder einer Idee, einem Versuch – jedenfalls von etwas Besserem als der Vorstellung einer alternativlosen Welt auf Selbstzerstörungskurs. «Manetti lesen» ist ein Buch, das zum guten Leben verführen will. Wer P.M.s pragmatisch-utopische Entwürfe noch nicht kennt, sollte sie schleunigst kennen lernen. Der Geheimtipp der 80er Bewegung ist im Mainstream angekommen, ohne seinen subversiven Witz verloren zu haben. Quasi als Programm hinter «Manetti lesen» gibt es das kompakte Büchlein «Kartoffeln und Computer – Märkte durch Gemeinschaften ersetzen».

Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

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Internationales Jahr der Genossenschaften Das UNO-Jahr der Genossenschaften ist zu Ende. Es gab internationale Konferenzen sowie zahlreiche regionale Veranstaltungen, welche die nicht mehr neue, aber wieder aktuelle Genossenschaftsform thematisierten. In der Schweiz war der Verband der Wohnbaugenossenschaften (SVW) besonders aktiv. Seit der Gründung 1919, haben sich über tausend Genossenschaften mit insgesamt rund 140 000 Wohnungen zusammengeschlossen. An einigen dieser Wohnungsfassaden sind in den letzten Monaten Transparente mit Slogans wie «Spekulationsfrei» und «Zahlbar wohnen!» aufgetaucht. Im September fand in Luzern der erste nationale Genossenschaftskongress statt, bei dem drei Preise für innovative genossenschaftliche Bauprojekte vergeben wurden. Mit KraftWerk1 und Zurlinden in Zürich sowie FAB-A in Biel gewannen Projekte, die sozial und ökologisch neue Massstäbe setzen. Am KraftWerk lobt die Jury die gemeinschaftliche, generationenübergreifende Wohnform. Zurlinden zeigt, dass auch 17-stöckige Wohnsilos aus den 70er Jahren 2000-Watt-tauglich gemacht werden können und sich eine Solarfassade installieren lässt, ohne dass die Mietkosten explodieren. FAB-A soll die erste autofreie Siedlung in Biel werden und hat dafür ein eigenes Mobilitätskonzept entwickelt. Das sind positive Impulse – es bleibt zu hoffen, dass der Schwung und das erstarkte Selbstvertrauen der Genossenschaften weiter wirken. www.internationalesjahrder genossenschaften.ch Magazin Greenpeace Nr. 4 — 2012

Transportvelo

Grüner Ersatz für Kurier-Autos

© A M AC GA R B E

Rückblick

Die Zeiten, in denen Transportvelos Idealisten und KopenhagenTouristen vorbehalten waren, sind vorbei. Das Institut für Verkehrsforschung am deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt führt seit Juli in acht Deutschen Städten einen Versuch durch, bei dem Kurierunternehmen mit Elektrolasträdern ausgestattet werden. Während zweier Jahre wird das Potenzial untersucht, mit dem moderne Elektrovelos den städtischen Transportverkehr grüner machen könnten. Sie lassen sich mit 100 Kilogramm beladen, bleiben im Stau nicht hängen und könnten bis zu 85 Prozent der Autokurierfahrten überflüssig machen. Finanziert wird das Projekt vom Bundesumweltministerium. www.ich-ersetze-ein-auto.de

zum Festen kommt, hat die Tour noch nicht ganz verstanden. Es gibt ein Thema, diesmal «Rohstoffdrehscheibe Schweiz»: Erdöl, Kohle, Gold, Soja, Kaffee – kaum ein Rohstoff, mit dem in der Schweiz nicht von einer diskreten Adresse aus spekuliert wird – und zwar im grossen Stil. Verschiedene Veranstaltungen, Workshops und Filmvorführungen werfen Licht auf die dunklen Geschäfte der Trader von Zug und Genf – und laden ein, selber aktiv zu werden. http://www.tourdelorraine.ch

Umweltschutz-Ethik

Leicht fassbare Philosophie

Wer bei Anthropozentrismus, Pathozentrismus, Biozentrismus, Holismus und Tiefenökologie nur Bahnhof versteht, aber gerne mehr wissen möchte, kann sich jetzt in einem verständlich geschriebenen Dossier schlaumachen über die Ethik des Umweltschutzes. Der Verein philosophie.ch will die «Liebe zur Weisheit» aus dem Elfenbeinturm befreien und der öffentlichen Debatte zugänglich machen. Dass Philosophie einen praktischen Nutzen hat, wenn es darum geht, komplizierte Entscheidungen zu fällen, zeigt das DosTour de Lorraine sier am Beispiel der geplanten Erhöhung der Grimsel-Staumauer. Was ist stärker zu gewichten, der Nutzen für den Menschen oder der Schaden an der Natur? Je nachdem ...? Am 19. Januar findet in Bern wieder http://www.philosophie.ch/341 die «Tour de Lorraine» statt, wie immer pünktlich zum World Economic Forum. Ein Dutzend Beizen und Kulturlokale laden ein zu einem prallen Musik- und Tanzprogramm. Mit den Einnahmen wird politisches und ökologisches Engagement unterstützt. Wer nur

Spannende Action zum Thema Rohstoff

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Zu gewinnen: 5x zwei Eintrittskarten für die Messe Natur.

RÄTSEL

Die 8. NATUR ist die grösste Schweizer Messe für nachhaltige Entwicklung und zukunftsfähige Lebensstile. Die Messe findet vom 28. Februar bis 3. März 2013, in der Messe Basel statt . Senden Sie das Lösungswort bis 31. Januar 2013 per E-Mail an redaktion@greenpeace.ch oder per Post an Greenpeace Schweiz, Redaktion Magazin, Stichwort Ökorätsel, Postfach, 8031 Zürich. Das Datum des Poststempels resp. des E-Mails ist massgebend. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Über die Verlosung wird keine Korrespondenz geführt.

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© J OERG MO DROW / GREEN PEAC E

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