Greenpeace-Magazin 04/20

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Greenpeace Member Nr. 04  / 20

Engagement

Klagewelle in Strassburg S. 9

Klimawandel im Bundeshaus

International

Hitzewelle in Russland S. 12

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Ein Geschenk für die Umwelt Fehlt Ihnen noch ein Weihnachtsgeschenk? Dann bereiten Sie jemandem mit einer Geschenkmitgliedschaft von Greenpeace eine Freude.

So gehts

Cover: Xaviera Altena ist freischaffende Illustratorin aus Rotterdam (NL). Sie interessiert sich für Musik der Neunzigerjahre, Kochen und soziale Fragen. Mit ihren Illustrationen möchte sie speziell Frauen ansprechen und einbeziehen. Sie ist überzeugt, dass man durch die Art und Weise, wie Geschichten erzählt und illustriert werden, die Welt verändern kann.

Editorial

Etwas mehr als ein Jahr ist es jetzt her, dass eine grüne Welle über das Bundeshaus schwappte, einiges an verstaubtem Altherren-Gedankengut aus dem National- und Ständerat hinausspülte und Platz für eine geballte Portion Frauenpower schuf. Die historische Klima- und Frauenwahl vom 20. Oktober 2019 machte seitdem vor allem eines: Hoffnung. Auf eine Schweiz mit es bitzeli weniger Klimaverleumdungs-Geplänkel und es bitzeli mehr Vulva-Empowerment. Auf höher gesteckte Klimaziele. Auf schneller umgesetzte Massnahmen. Und alles in allem auf ein bisschen mehr Feuer unterm Arsch, das das Bundeshaus nach dem Spülgang gehörig zum Dampfen bringt. Aber aus welchen Hoffnungen wurde in den letzten 14 Monaten tatsächlich Realität? Und wo hapert es noch? Diesen Fragen gehen wir in der aktuellen Ausgabe auf den Grund: Während sechs Monaten begleiteten wir zwei Nationalrätinnen bei ihrer Arbeit fürs Klima im Bundeshaus in Bern (S. 16). Wir erstellten mit­hilfe eines Profis gleich selbst ein Rezept, wie wir uns alle zukünftig mehr ein­bringen können (S. 30). Und wir baten die Wissenschaft und die Politik zu Tisch, um über ihre nicht immer ganz einfache Zusammenarbeit zu disku­tieren (S. 31). Einen spannenden Rückblick aufs Klima- und Frauenjahr 2020 wünscht Ihnen Ihre Redaktion.


Zwei Frauen mit Rat und Tat

Inhaltsverzeichnis

Reportage Mattea Meyer (l.) und Franziska Ryser setzen sich im Nationalrat für Umweltpolitik mit Zukunft ein.

S. 16

Das steckt dahinter

Debatte

Emanzipation in der Politik

Wie viel Einfluss der Forschung?

S. 29

S. 31

IMPRESSUM GREENPEACE MEMBER 4/ 2020 Herausgeberin/ Redaktionsadresse: Greenpeace Schweiz Badenerstrasse 171 Postfach 9320, 8036 Zürich Telefon 044 447 41 41 redaktion@greenpeace.ch www.greenpeace.ch Redaktionsteam: Danielle Müller (Leitung), Manù Hophan (Bildredaktion) Korrektorat/Faktencheck: Marco Morgenthaler, Danielle Lerch Süess Texte: Anja Conzett, Inna Hartwich, Marco Morgenthaler, Christian Schmidt Fotos: Joël Hunn, Anja Wille-Schori, Isabel Truniger Illustrationen: Andy Fischli, Jörn Kaspuhl Cover: Xaviera Altena Gestaltung: Raffinerie Bildbearbeitung: Marjeta Morinc Druck: Stämpfli AG, Bern

Papier, Umschlag und Inhalt: 100 % Recycling Druckauflage: d 79 000, f 13 000 Erscheinungsweise: viermal jährlich Das Magazin Greenpeace geht an alle Mitglieder (Jahresbeitrag ab Fr. 84.–). Es kann Meinungen enthalten, die nicht mit offiziellen Greenpeace-Positionen übereinstimmen. Stimmt Ihre Adresse noch? Planen Sie einen Umzug? Wir nehmen Änderungen gerne entgegen: schweiz@greenpeace.org oder 044 447 41 71 Spenden: Postkonto 80-6222-8 Online-Spenden: www.greenpeace.ch/spenden SMS-Spenden: Keyword GP und Betrag in Franken an 488 (Beispiel für Fr. 10.–: «GP 10» an 488)

Aktion

S. 4

Fortschritt

S. 6

Taten statt Worte

S. 7

Engagement

S. 9

Rückblick

S. 10

Zahlen & Fakten

S. 11

International

S. 12

Reportage

S. 16

Das steckt dahinter

S. 29

Rezept

S. 30

Debatte

S. 31

Aufgedeckt

S. 33

Mein grüner Wille

S. 33

Rätsel

S. 34

Schlusswort

S. 35


Aktion

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Bild: © Greenpeace / Joël Hunn

Das Leben nach der ersten Coronawelle beginnt auf der Teufels­brücke in der Schöllenenschlucht. Was haben die Menschen in der Schweiz während des Lockdowns am meisten vermisst? Diese und andere Fragen stellte Greenpeace und bekam Antworten von über 6000 Personen. Nicht so sehr Lädelen und Reisen, aber Umarmungen schon, kam als Aussage. Die Genfer Sängerin Licia Chery ver­tonte die Ant­worten und nahm einen Song auf, der an die Wände der Schlucht projiziert wurde.

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Fortschritt

Sieg für Mehrweg Zu Beginn der Corona-Pandemie sah man in den Gesichtern der Schweizer*innen vor allem die hellblaue ­Einwegmaske. Eine zusätzliche Belastung für die Umwelt, weshalb Greenpeace Schweiz den Bund dazu aufforderte, korrekt hergestellte und als sicher eingestufte Textilmasken als Standard zu empfehlen. Die Reaktion der Corona-Taskforce kam prompt, und auf der BAG-Website werden seither die OP-Einwegmasken nur noch Menschen mit Symp­ tomen einer Atemwegserkrankung ­speziell empfohlen. Ein erfreulicher Beschluss für die Umwelt.

Das taiwanische Unternehmen FCF ist einer der grössten Thunfischhändler der Welt. Und einer der umstrittensten: Immer wieder werden ihm unrühmliche Praktiken wie Haifischfang und Zwangsarbeit vorgeworfen. Belege dazu lieferte jüngst der «Choppy Waters»-Report von Greenpeace East Asia im März 2020. Der Bericht hat die internationale Investmentgruppe AFT Holdings dazu veranlasst, das Dienstleistungsmanagement für Thunfisch-Verarbeitungsanlagen von FCF einzustellen. Ein erster Schritt in Richtung nachhaltiger (Thun-)Fischfang.

Niederlage für ­Kohlesektor

Schauplatz: eine Bohrinsel in der Nordsee, nahe der niederländischen Insel Schiermonnikoog. Im Februar 2018 kletterten Freiwillige von Greenpeace Niederlande mit Aktivist*innen aus ganz Europa darauf, um gegen Ölbohrungen zu protestieren. Der niederländische Staat verklagte die Kletter*innen ­wegen Sicherheitsverletzung. Bereits 2019 wies ein Gericht die Klage zurück und sprach alle Aktivist*innen frei, doch die Niederlande gingen in Berufung. Im Juni 2020 kam die Erleichterung: Das Amtsgericht bestätigte den Freispruch der Beteiligten. Ein Urteil, das Demonstrierenden weltweit Mut macht.

Bild: © Greenpeace / Bas Jongerius

Sieg für ­ emonstrationsrecht D Bild: © Greenpeace / Alessandro Vona

Nach monatelangem Druck von Greenpeace Italien und vielen weiteren europäischen NGOs erklärte die italienische Grossbank UniCredit, sich endlich aus dem Kohlegeschäft zurückzuziehen. Die Bank finanziert etliche Kohleprojekte und -unternehmen und gilt daher als einer der grössten Umweltverschmutzer Italiens. Nun hat sie vor, dem Kohlesektor bis 2028 komplett den Rücken zuzukehren. Ein Ziel, das sich der Schweizer Finanzplatz zum Vorbild nehmen muss.

Bild: © Greenpeace / Mark Smith

Niederlage für T(h)unichtgut


Taten statt Worte

«Es gibt kein Zurück mehr»

Hier gehts zum Klimapavillon Markus Leupp, Mitgründer des Klimapavillons

Text: Eva-Maria Schleiffenbaum

Zwei Söhne, eine Tochter, Softwareingenieur, ein Haus in Bülach. «Das ganz normale Komfortleben habe ich geführt», sagt Markus Leupp. Bis seine Partnerin der Umwelt zuliebe vor acht Jahren auf Fleisch verzichtete. Da recherchierte Markus Leupp über Auswirkungen der Massentierhaltung aufs Klima. «Das war der erste Schritt. Seither gibt es kein Zurück mehr.» Heute arbeitet Markus Leupp neunzig Prozent, damit ihm genug Zeit für den Umweltschutz bleibt. Seit zwei Jahren reist er nur im Zug, selbst wenn alle anderen zum Geschäftstermin ­ fliegen. Oft kann er sein technisches Know-how als Aktivist einbringen: Er entwickelte die Web­ site des Klimapavillons, des neuen Treffpunkts der Zürcher Klima­

bewegung. Sechzehn Organisatio­ nen haben sich zusammengetan, seit Juli beleben sie den ehemaligen Kiosk am Werdmühleplatz mit Aktionen und Installationen. Eine der ersten Installationen stammt von Markus Leupp und einem Tüftler der Zürcher Greenpeace-Regionalgruppe, der beide angehören: Zwei Motoren setzen die Konstruktion in Bewegung und transportieren von der Bank «Carbon Suisse» Hunderternoten in einen Ölkonzern, neben dem eine Ölpumpe unablässig auf grünen Grund schlägt. Ein Sinnbild der Volksbeschwerde, für die sie Unterschriften sammelten, damit Banken aus dem Geschäft mit fossilen Energien aussteigen. Das Bankenviertel liegt direkt um die Ecke. «Es war schwierig, hier ein offenes Ohr zu finden. Alle sind extrem busy», sagt

­Markus Leupp. Notabene ist er das als Vater dreier Teenager auch. Seine Kinder aber sind einer der Gründe für sein Engagement, das ihn manchmal neben dem Job an die Grenzen bringt. «Ich kann mich nicht mehr zurücklehnen und denken: Sollen andere für mich die Welt retten», erklärt der 49-Jäh­rige. Manchmal dünkt ihn, der Menschheit sei egal, dass aus ­Egoismus alles den Bach runtergeht. «Jeder, der ein bisschen Zeit und Energie hat, sollte versuchen, dagegen anzukämpfen», ist er überzeugt. «Wie in der Klima­ bewegung, da sagen ganz viele Menschen: ‹Hey nei, so gehts nicht.› Das macht mir Mut.»

Illustrationen Seite 7/8: Jörn Kaspuhl schloss 2008 sein Studium an der Universität in Hamburg als Illustrator ab. Heute arbeitet er in Berlin.

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Taten statt Worte

«Ich ziehe den Hut vor meinen Kindern»

Mehr Infos zur Gruppe Petra Schmid, Initiatorin und Mitgründerin der Gruppe «Eltern fürs Klima»

Text: Urs Wittwer

«Ich war schon immer ein Mensch, der vor Ideen nur so sprudelt», ­erzählt Petra, etwas versteckt hinter einer Sonnenbrille. Die Nacht zuvor war eher kurz: Petra verbrachte sie in Bern, wo die Klimajugend den Bundesplatz besetzt hielt. «Als Kind wurde ich für meine Fantasie eher getadelt. Einen Baum auch mal blau zeichnen? Das geht doch nicht, Petra!» Heute aber weiss sie, dass genau dieses Vorstellungsvermögen und der Ideenreichtum ihr grösster Schatz sind, um bei «Eltern fürs Klima» viel zu bewegen. Petra ist Initiatorin, Mitgründerin und eine treibende Kraft der Gruppe, die zum Ziel hat, möglichst viele Erwachsene zu vernetzen und fürs Klima-Engagement zu begeistern.

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Die «Eltern fürs Klima» sind überzeugt, dass nur die Politik es richten kann: «Klar können Menschen ihr Verhalten ändern, nur geht das zu langsam, es bleibt uns schlicht keine Zeit mehr. Deshalb setzen wir auf die politischen ­Prozesse, die unser Handeln über Regeln und Gesetze in die richtige Richtung lenken sollen.» Und dafür braucht es viele überzeugte Menschen, aus allen Gesellschaftsschichten, von jeglicher ­politischen Couleur. Die Klimajugend ist das grosse Vorbild für Petra: «Ich ziehe den Hut vor meinen Kindern und den Klimajugendlichen. Was die auf die Beine stellen, wie toll die miteinander umgehen und mit welcher Lebensfreude, welchem Optimismus, das ist einmalig.» ­Petra ist stolz auf ihre zwei sehr ­engagierten Kinder im Teenager­

alter; sie waren es, die Petra den Mut gaben, ihre Idee anzupacken. «Gopf, das müssen wir doch auch hinkriegen», ging Petra durch den Kopf. Ihre Tochter zeigte ihr, wie man per Handy eine Idee an viele Menschen sendet. So wurde die Gruppe vor rund zwei Jahren ins Leben gerufen, und heute enga­ gieren sich bereits über 2000 Menschen darin. Das hilft Petra, den Mut trotz aller Ungewissheiten nicht zu verlieren. «Indem wir handeln, beweisen wir, dass wir ­etwas tun können. Das ist tausendmal besser, als zu resignieren», ist Petra überzeugt. Kein Wunder, hängt in ihrer Küche eine Postkarte mit dem Motto «Never give up!».


Engagement

«Politiker*innen machen ihren Job nicht» Sie könnten sich zurücklehnen und sich von der jahrelangen Büez erholen. Die KlimaSeniorinnen denken aber nicht daran: Unermüdlich kämpfen sie seit 2016 für mehr Klimagerechtigkeit. Aktuell liegt ihre Klage dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor.

Bild: © Greenpeace / Joël Hunn

Text: Eva-Maria Schleiffenbaum

Anne Mahrer ist seit 52 Jahren Aktivistin. Ihre Energie sprüht sogar durch den Bildschirm hindurch, vor dem sie coronabedingt die Klimaklage erläutert. «Wir brauchen mutigere Richter*innen», sagt Anne Mahrer. Das Bundesgericht hat die Beschwerde der KlimaSeniorinnen abgewiesen. Es bleibe noch genügend Zeit, um die Erderwärmung zu senken, lautete einer der Gründe. «Dabei ist es ein Notfall!», sagt die 72-Jährige. So ist den betagten Aktivistinnen nichts anderes übrig geblieben, als im Oktober den Euro­ päischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg aufzusuchen. Zusammen mit rund 1800 pensionierten Frauen kämpft Anne Mahrer für ein verschärftes Schweizer CO2-Gesetz. Es brauche entschiedenere Massnahmen – öffentliche Verkehrsmittel müssten als Standard gefördert oder Investitionen in fossile Energien gestoppt werden. Warum der juristische Weg? «Weil wir politisch schon alles Mögliche probiert haben», so Mahrer, die als Grünen-Nationalrätin amtierte. «Politiker*innen machen ihren Job nicht, um das Pariser Abkommen zu erreichen und so unsere Grundrechte auf Leben und Gesundheit zu wahren.» Die engagierten Frauen taten sich 2016 mit Unterstützung von Greenpeace zusammen, mit

Anne Mahrer als Co-Präsidentin. Die zunehmenden Hitzewellen treffen ihre Altersgruppe besonders hart. «Gleichzeitig haben wir Alten während Jahrzehnten viel kaputt gemacht. Mit unserem Lebensstil, dem vielen Fliegen und Öl. Wir müssen auch für die Jungen handeln», sagt die zweifache Mutter und Grossmutter eines 15-jährigen Mädchens. Anne Mahrer hat den «ehrlichen, spannenden» Austausch mit Jugendlichen schon früher, als Bibliothekarin einer Sekundarschule, geschätzt. Heute trifft sie an Vorträgen und Demonstrationen auf Klimajugendliche. Sie bekräftigen sich gegen­ seitig, manch einer hat sich für die Klage bedankt. Mut schöpfen sie beide, Junge und Alte, durch erfolgreiche Klimaklagen wie jene in der Niederlande. «Es ist ein langer Weg. Der Gerichtshof wird erst in drei, vier Jahren entscheiden», sagt Anne Mahrer. «Aber wenn wir gewinnen, dann gewinnt ganz Europa.»

Die Genferin Anne Mahrer ist Co-Präsidentin des Vereins KlimaSeniorinnen. Ihre Klimaklage soll ein strengeres CO2-Gesetz für die Schweiz erwirken, das mit der Erwärmung auf deutlich unter 2 °C einhergeht. Nach Ablehnung am Bundesgericht liegt die Beschwerde seit Oktober dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg vor.


Rückblick

Nichts , nichts nichts

theater und reichte am 15. Juli eine Aufsichtsbeschwerde bei den Behörden ein. Um dieser Nachdruck zu verleihen, unterzeichneten 23 768 Schweizer*innen eine parallel lancierte Volksbeschwerde. Am 23.  September überreichten Greenpeace-Freiwillige inklusive der drei Affenköpfe die gesammelten Unterschriften beim Bundesrat und Parlament in Bern – mit der Hoffnung, dass der Finanzplatz und die Aufsichtsbehörde ihrer Verantwortung endlich nachkommen und zukünftig hinsehen, zuhören und handeln.

Bild: © Greenpeace / Ex-Press / Severin Nowacki

Drei überdimensionale Affenköpfe zogen Ende September durch Bern. Geldnoten versperrten dem einen die Sicht, verstopften dem nächsten die Ohren und dem dritten den Mund. Denn ganz nach dem Motto «Nichts hören, nichts sehen und nichts sagen» unterstützt der Schweizer Finanzplatz eine Erd­ erwärmung von 4 bis 6 Grad Celsius. Dem sollten Behörden und Bundesrat mit ihrer Aufsichtspflicht entgegenwirken, statt auf freiwillige Selbstregulierung zu setzen. Greenpeace Schweiz hat genug von dem Affen­

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Ein Haufen G(r)üsel

Bild: © Greenpeace / Ex-Press / Flurin Bertschinger

Rund 20 Millionen Aufräumer*innen weltweit befreien die Natur am «World Cleanup Day» mit Handschuhen, Müllsäcken – und in diesem Jahr ­Gesichtsmasken – von Abfall. So traf sich am 19. September auch in Zürich ein 31-köpfiges Putzteam von Greenpeace Schweiz am Limmatufer zum Fötzeln. Nach nur einer Stunde hatten die fleissigen Helfer* ­innen bereits über 50 Kilo Abfall angehäuft, darunter viele Bierdosen, Plastikflaschen und Zigistummel. Igitt! Den Güsel lediglich zu sammeln, ist Green­ peace aber nicht genug. Die Organisation ordnet den Plastikabfall anschliessend den Marken zu, führt ­einen sogenannten «Brand Audit» durch. Die Ergebnisse fliessen in den internationalen Report ein, der so die grössten Kunststoff-Verschmutzer weltweit aufzeigt. 2019 hat es Coca-Cola an die Spitze geschafft. Auch am Limmatufer geht Platz 1 an den Getränkehersteller. Wenig überraschend: Coca-­Cola schweigt weiterhin beharrlich zur eigenen Abfallverschmutzung. Was für ein Grüsel.

Hier Plastik­ petition unterzeichnen

Fakten & Zahlen & Fakten & Zahlen & Fakten & Zahlen & Fakten & Zahlen & Fakten & Zahlen & Fakten & Zahlen & Fakten & Za

Rückblick

2 Grad Celsius Seit 1864 gibt es in der Schweiz Langzeitmessungen des hiesigen Klimas. Die zeigen, dass die Sonnenscheindauer seit 1980 um rund 20 Prozent gestiegen ist. Ausserdem hat die bodennahe Lufttemperatur in den letzten 150 Jahren um rund 2 Grad Celsius ­zugenommen.

Plus 30 Prozent Auch Starkniederschläge nehmen seit 1901 zu, und zwar um 30 Prozent. Der starke Regen hat seit damals ebenfalls in seiner Intensität um 12 Prozent zugelegt. Zudem regnet es im Winter seit Messbeginn um 20 bis 30 Prozent häufiger.

2 bis 4 Wochen Die Vegetationsperiode, also die Zeitspanne, in der klimatische Gegebenheiten das Pflanzenwachstum zu­ lassen, ist in der Schweiz um 2 bis 4 Wochen länger als noch 1961.

Minus 50 Prozent Die jährlichen Schneefalltage haben sich seit 1970 drastisch verringert: Ab 2000 Metern über Meer ist ihre Anzahl um 20 Prozent gesunken, unterhalb von 800 Metern über Meer sogar um 50 Prozent. Und auch die Alpengletscher verschwinden je länger, je mehr, ihr Volumen hat sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts um 60 Prozent verkleinert.

300 bis 400 Meter Die Nullgradgrenze, also die Höhe in der Atmosphäre, in der die Temperatur 0 Grad Celsius beträgt, klettert jährlich höher. Seit 1961 hat sie sich ganze 300 bis 400 Meter in die Höhe verschoben.

Quelle: National Centre for Climate Services (NCCS), www.nccs.admin.ch


GEGEN DIE

International

VERNUNFT Der Permafrost taut, die Temperaturen steigen so schnell wie nirgendwo, die Wälder brennen: Russland spürt die Auswirkungen des Klimawandels immer stärker. Das Thema aber ist den meisten im Land fern. Warum, ­erklärt Wassili Jablokow, Klimacampaigner bei Greenpeace Russland.

Norilsk, mit 175 000 Einwohnern die nördlichste Grossstadt der Welt, liegt in der zusammenhängenden Permafrostzone und ist die am stärksten verschmutzte Stadt in Russland.

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In ganz Sibirien tauen wegen der Klimaerhitzung die Permafrostböden tiefer als bisher auf. Viele Gebäude auf Stützen, die in den gefrorenen Boden gerammt sind, sacken deshalb ab.

wandel. Das Thema ist einfach nicht vorhanden. Da liegt es nahe, dass eine fatalistische Haltung, Ver­ leugnung, Verschwörungstheorien Wassili Jablokow, warum überhandnehmen können. Das sprechen die Menschen ­Thema Klimawandel ist erst im verWarum gestaltet sich die gangenen Jahr in die russische Gein Russland kaum über den Klimawandel? Aufklärung so schwierig? sellschaft eingedrungen. Plötzlich benutzen Influencer hin und wieder Wir lernen weder in der Schule noch den Begriff, Beamtinnen weisen Das menschliche Gehirn ist so be- an der Uni etwas über den Klima- ­darauf hin, auch unser Präsident schaffen, dass es Veränderungen wie die des Klimas nicht aufnehmen will. Denn sie geschehen über eine lange Zeit hinweg. Das Problem, das da ist und nicht einfach verschwinden wird, wenn wir nichts tun, ist fern. «Warum sollten wir uns denn jetzt Sorgen machen?» So denken viele, nicht nur in Russland. Ihnen fehlt schlicht die Information über die Veränderungen des Klimas. Und da fängt unsere Aufgabe an: aufklären, den Menschen Instrumente an die Hand geben, dass sie doch etwas ändern können. Dass sie ihr Haus mit Wärmedämmung Die ökologischen Probleme sind zum grössten Teil auf die Bergbau- und versehen, dass sie ihren FleischHüttenwerke von Nornickel zurückzuführen. Autorin: Inna Hartwich Fotografie: Dmitry Sharomov / Greenpeace

konsum reduzieren, dass sie ihre Flugreisen überdenken können. ­Unsere Gesellschaft ist noch nicht ­klimabewusst, viele winken ab, weil sie andere Sorgen haben.

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Die arktische Sonne im Smog von Norilsk. Die Nickelhütte in Norilsk gilt als grösster einzelner Luftverschmutzer der Erde.

Um die Bodenschätze wie Nickel-, Kupfer-, Kobalt- und Platinerze sowie hochwertige Steinkohle nutzbar zu machen, beschloss das Politbüro der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Jahr 1935, in Norilsk einen Industriestandort zu gründen.

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Wladimir Putin spricht über Klimaveränderungen. Zumindest spricht er dieses Wort aus und gesteht ein, dass Russland stark davon betroffen ist. Zuvor hat man das Thema vollkommen ignoriert, nahezu niemand schien es zu verstehen. Wir sind dem Diskurs im Westen weit hinterher. Immerhin: Mittlerweile gibt es hier einen Trend für Ökologie. Als nächsten Schritt wünschen wir uns einen Trend fürs Klima.

Und was macht die Regierung? Sie sagt natürlich, dass sie im Kampf gegen die Klimaveränderungen etwas unternimmt. Aber selbst die Worte sind noch nicht besonders überzeugend. Geschweige denn die Taten. Russland stellt sich auf den Standpunkt, dass der wirtschaftliche Aufschwung mit CO2 -Emissionen zusammenhängt. Unsere Regierung sieht den wichtigsten Wirtschaftszweig in der ­Gewinnung von Öl und Gas. In erneuerbare Energien wird kaum ­investiert. Während in Deutschland zum Beispiel 38 Prozent des ­Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien stammen – die Wasserkraft nicht mitgerechnet –, sind es in Russland gerade einmal 0,2 Prozent. Ein kolossaler Unterschied.

Russland hat das Pariser Klimaabkommen ratifiziert. Wie setzt es das um? Ich fürchte, dass die wenigsten im Apparat gelesen haben, was darin tatsächlich verzeichnet ist. Anstatt die Emissionen zu senken, plant Russland bis 2050 mit höheren Emissionen. Man nennt das natürlich nicht «Erhöhung». Man zieht einfach Vergleichszahlen von 1990 heran und sagt, seitdem seien die Emissionen bereits um 50 Prozent reduziert worden. Was keineswegs mit irgendwelchen Klimaabkommen zusammenhängt, sondern mit dem wirtschaftlichen Einbruch

Seit 2001 dürfen Ausländer*innen nur noch nach Norilsk, wenn eine Genehmigung der Stadtverwaltung und des Nickelwerks vorliegt.

nach dem Ende der Sowjetunion. Und da wir ja einen so hohen Beitrag bereits geleistet hätten, könnten wir nun höhere Emissionen vertreten. Das ist die Argumentation. Völlig widersprüchlich. Und völlig gegen die Vernunft. Für Russland ist der Kampf gegen den Klimawandel eines der letzten Themen auf der Agenda.

Dabei spürt das Land die Auswirkungen des Klimawandels sehr stark. Wie äussert sich das? Wir merken das vor allem in der Arktis. In Werchojansk, eigentlich dem kältesten bewohnten Ort der Erde, wurden in diesem Sommer 38 Grad gemessen. Der Permafrost taut sehr schnell auf. Das führt zu solchen Katastrophen wie in Norilsk, wo in diesem Sommer aus einem Tanklager über 20 000 Tonnen Diesel ausgetreten sind. Speziell in Norilsk aber weiss man, dass es Klimaveränderungen gibt. Man hätte nicht darauf hoffen dürfen, dass gerade an der Stelle, wo die Umweltkatastrophe passiert ist, der Permafrostboden nicht tauen würde. Man hätte frühzeitig in Infrastruktur investieren müssen, weil es die Eisschmelze gibt. Aber man lebt weiter nach der Devise: Unser Dach ist undicht, lasst uns nach einem passenden Becken suchen. Dabei müssten wir längst das Dach reparieren. Die

grundsätzlichen Probleme versteht die Regierung nicht.

Welche Auswirkungen hat der Unfall auf die Norilsker*innen? Da bin ich vielleicht ein wenig zynisch. Aber Norilsk ist seit Langem eine Umweltkatastrophen-Zone, die Stadt ist geradezu ein Synonym für Umweltkatastrophen. Es kommt ständig zu ökologischen Notfällen. Die Stadt lebt von den Interessen des Bergbauunternehmens Nornickel. Mensch, Tier und Natur leiden an den Verschmutzungen. Die neuerliche Katastrophe war aber eine Art Denkanstoss für all die anderen angesammelten Umweltschäden, die wegen maroder Infrastruktur chronisch sind im Land. Das deutlichste Zeichen dabei war die Strafe, die die Naturschutzaufsichts­ behörde gegen Nornickel verhängt hatte, die höchste bei solchen Vergehen überhaupt. Ein Präzedenzfall, der zeigt, dass das Problem angekommen ist.

Autorin: Inna Hartwich hat sich nach ihrem Studium nach Moskau aufgemacht, um aus Russland und den Ex-Sowjetrepubliken über Politik und Alltag der Menschen zu berichten. Nach Stationen in Peking und Berlin ist sie seit März 2018 zurück in Moskau und widmet sich wieder dem politischen und gesellschaftlichen Leben Russlands.

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Mattea Meyer im Wolfensberger Wald oberhalb von Winterthur.

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ZWEI FRAUEN Reportage

MIT RAT UND TAT Sie sind jung, sie sind weiblich, sie sitzen im Nationalrat – und sie setzen sich für eine Umweltpolitik mit Zukunft ein. Wie Franziska Ryser und Mattea Meyer in Bern die Schweizer Politik prägen. Text: Anja Conzett Fotografie: Joël Hunn


Aus den Zelten kriechen kurz vor Mittag verschlafen die letzten Bewohner, vor den Bio-Plumpsklos bildet sich eine Schlange, unter den Unterständen aus Holz und Planen versammeln sich ­Menschen zu Gitarrenmusik und Diskussionsrunden, Wegweiser führen zu Verpflegung, Care-Stationen, Infoständen. Nein, kein Festival und auch kein Pfadilager: Es ist eine Demonstration. Und sie findet nicht irgendwo auf einer Wiese statt, sondern im Herzen der Stadt Bern; auf dem Bundesplatz. Die Klimajugend protestiert – direkt vor dem Bundeshaus. Es ist einer dieser Momente, die Geschichte schreiben könnten. Und mittendrin sind zwei Frauen, die eigentlich zur Welt hinter den Mauern des altehrwürdigen Parlamentsgebäudes gehören. Und doch irgendwie auch zur Welt, die davor aus Protest biwakiert. Mattea Meyer, 33 Jahre alt und seit fünf Jahren Nationalrätin für die SP, und Franziska Ryser, 29 Jahre alt und seit einem Jahr Nationalrätin für die Grünen, stehen gemeinsam für einen historischen Wandel im Schweizer Parlament – herbeigeführt von den letzten Wahlen. Selten war das Bundeshaus jünger, nie war es weiblicher und kaum je umweltbewusster, als es heute ist. Wer sind die beiden Frauen, die diesen Wandel verkörpern? Und was können sich die Schweiz und die auf dem Bundesplatz protestierende Klimajugend von ihnen versprechen?

Keine Klima-, aber Umweltpolitikerinnen

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Es ist Mittwoch, eine Woche vor der Demonstration. Die Herbstsession ist in vollem Gange, und Mattea Meyer kann einen Sieg verbuchen: Selbstständige, die aufgrund der Corona-Pandemie kaum Einkommen haben, sollen auch weiterhin Anspruch auf Erwerbs­ersatz haben. Kaum ein Thema hat Meyer seit dem Lockdown so beschäftigt wie die Selbstständigen. Über Monate hat sie mit Betroffenen korrespondiert. Jetzt ist ihr gelungen, das Kernanliegen ­sowohl in der Kommission als auch im Nationalrat durchzusetzen – gegen den Widerstand des Bundesrats und anfänglich auch der bürgerlichen Parteien, die sich schliesslich vom öffentlichen Druck und den Argumenten überzeugen liessen. Es ist ein Coup. «Dieses eine Jahr mit dem neuen Parlament macht mehr Spass als die letzten vier Jahre zusammen», sagt Meyer lächelnd in einer ruhigen Minute, von denen sie an diesem Nachmittag nicht viele hat: Immer wieder tippt ihr jemand auf die Schulter, hat jemand noch eine Frage wegen der Feinarbeit des Textes. Meyer ist an diesem Morgen um sechs Uhr aus dem Haus gegangen – während der Session verbringt sie die Dienstagabende jeweils in Winterthur mit ihrer dreijährigen Tochter. Doch von ­Müdigkeit keine Spur. Souverän, geduldig, freundlich erklärt sie

Die grüne ­National­r ätin Franziska Ryser auf dem Weg ins Bundeshaus.


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Oben: Franziska Ryser an ihrem Arbeitsort, dem Rehabilita­ tion Engineering Lab der ETH Zürich. Unten: Franziska Ryser verlässt den Nationalratssaal. Das Wandbild des Genfers Charles Giron zeigt das Rütli.

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den fragenden Ratskolleginnen, wie, wo und was. Mattea Meyer ist längst ein Schwergewicht in der Schweizer Politik – respektiert auch von den Gegnern, die sie fürchten. Bald wird sie zusammen mit Cédric Wermuth das Präsidium der SP übernehmen.

Zurückhaltung ja, Unsicherheit nein Franziska Ryser ist vergleichsweise eine Newcomerin: seit einem Jahr für St. Gallen im Nationalrat und gleichzeitig eine der jüngsten Parlamentarierinnen. «Es braucht einen Moment, bis man sich an den Betrieb hier gewöhnt hat. Mir fehlt manchmal die Erfahrung, die andere haben», sagt Ryser und wirkt dabei nicht unsicher, sondern selbstbewusst im besten Sinn. Für Unsicherheit besteht auch kein Grund – auch wenn sie im Rat im Zweifel Zurückhaltung übt, hat sich Ryser bereits ­einen Namen gemacht: Im Sommer ist sie ins Vizepräsidium der Grünen gewählt worden und hat intensiv am neuen Strategie­papier der Grünen, dem «Green New Deal», mitgearbeitet, das sie der Partei auch gleich vorgestellt hat und für das sie die Basiskampa­ gne führt. Daneben bestreitet die Maschinenbauingenieurin ein Doktorat an der ETH – Spezialgebiet Bio-Medical Engineering – und sitzt im Verwaltungsrat des familieneigenen Optikergeschäfts. Auch ausserhalb der Parteiarbeit macht sich Ryser einen Namen: tritt an prominenten Podien auf wie unlängst in der Abstimmungs-«Arena» über die Kinderabzüge bei der direkten ­Bundessteuer. Im öffentlichen Auftritt ist sie wie im Gespräch: konzentriert, informiert, die blauen Augen weit offen und immer auf das Gegenüber gerichtet. Ryser und Meyer kämpfen im Rat nicht ­federführend, wenn es um konkrete Naturschutzmassnahmen wie das CO2-Gesetz geht, das der Klimajugend unter den Nägeln brennt. Ihre Schwerpunkte liegen bei Finanzpolitik, Wirtschaft, Steuern, sozialer Sicherheit. Keine klassischen Klimapolitikerinnen. Trotzdem machen die beiden, wie sie sagen, Umweltpolitik. Wenn auch erst auf den zweiten Blick.

Unterschiedlicher Auftritt, gleiches Ziel Meyer war vier Jahre in der Finanzkommission, ehe sie vor einem Jahr in die Kommission für Gesundheit und Soziales wechselte. Ökologisches Denken ist für sie untrennbar von sozialem Denken. «Wenn wir menschliche Bedürfnisse ignorieren, bringen auch die schönsten Klimagesetze nichts – ohne soziale Gerechtigkeit kann es auch keine Klimagerechtigkeit geben», sagt sie. Für Meyer ist es unabdingbar, den Finanzplatz Schweiz zur Verantwortung zu ziehen. Zum Beispiel, indem man Schweizer Banken verpflichtet, nur noch in umwelt- und sozialverträg­liche Projekte zu investieren. In genau diese Richtung konnte Franziska Ryser vor Kurzem einen Etappensieg erringen – sie setzte innerhalb der Wirt-

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Schutz vor Coronaviren: die beiden National­ rätinnen in der Wandel­ halle des Bundeshauses.

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schaftskommission zusammen mit einigen Mitstreiterinnen ein Postulat durch: Der Bundesrat wird beauftragt, aufzuzeigen, wie die Nationalbank im Finanzsektor eine proaktive Rolle bei der Durchsetzung von Klimamassnahmen wahrnehmen kann. Auch für Ryser ist Umweltbewusstsein eine Haltung, die man in alle Geschäfte tragen muss. Und: «Wirtschafts-, Finanzund Steuerpolitik sind zusammen mit Sozialpolitik die grössten Hebel, um etwas in der Gesellschaft zu verändern. Das gilt auch bei Klimathemen», sagt sie. Weiter: «Für die Klimakrise sind vor allem ein paar wenige mit vielen Mitteln verantwortlich. Diese muss man dementsprechend in die Pflicht nehmen.» So viel die beiden gemeinsam haben, es gibt auch Unterschiede. Weniger inhaltlich als im Auftritt.

Eine Frage des Systems

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Franziska Ryser steht inmitten der Klimajugend auf dem Bundesplatz. Sie ist im Gespräch mit einer jungen Frau aus St. Gallen, die beiden kennen sich von früher, sind ähnlich alt, haben ähnliche Werte. Aber die eine steht in Wanderschuhen, kurzen Hosen und mit Rucksack als Demonstrantin auf dem Platz, die andere in Hemd, Jackett und mit Aktentasche als Parlamentarierin. Es ist ein Aufeinandertreffen der Bewegung und der institutionellen ­Politik – eine Kreuzung zweier unterschiedlicher Wege mit dem gleichen Ziel. Franziska Ryser stieg mit 21 Jahren eher zufällig in die Politik ein – als Lückenfüllerkandidatin für das St. Galler Stadtparlament auf der Liste der Jungen Grünen. Durch das überraschend gute Resultat rutscht sie bald nach. «Als ich kandidiert habe, hatte ich eigentlich keine grossen Ambitionen, institutionelle Politik zu betreiben. Als ich dann nachgerutscht bin, habe ich aber gemerkt, dass es mir doch Spass macht», sagt sie. «Und ich glaube, es fällt mir leichter, mich auf den Apparat – die Sprache, den Umgang, die Methodik – einzulassen als anderen meiner Generation.» Die sechs Jahre im Parlament einer bürgerlichen Stadt haben sie geprägt, sagt sie. Zwar sei sie dezidiert links, im Auftritt aber weder radikal noch ideologisch. «Ich bin nicht der Typ, der hinsteht und die Faust macht.» Wenn jemand komplett anderer Meinung ist, reagiert sie weniger mit Empörung als mit aufrich­ tiger Verblüfftheit – als würde sie die Rechenaufgabe 2 + 2 vor sich haben und bemerken, dass ihr Tischnachbar auf 5 kommt. Oder auf minus 42. Wo immer möglich versuche sie ihr Gegenüber zu verstehen, sagt Ryser. Sie hat keine Berührungsängste mit Menschen, die eine andere Weltanschauung haben. So teilt sie sich in Bern eine WG mit einem jungen SVPler und einem Jungfreisinnigen. «Kompromisse zu finden, kann etwas sehr Befriedigendes sein», sagt sie.


Oben: Die beiden SP-National­ rätinnen Mattea Meyer und Jacqueline Badran im Gespräch auf der Terrasse der Wandelhalle im Bundeshaus. Unten: Mattea Meyer bei sich zu Hause in Winterthur.


Reportage

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Die Bewegte Mattea Meyer begann ihre politische Karriere, wie sie selbst sagt, in einer Partei mit Bewegungscharakter: bei den Jungsozialistinnen, unter denen ziviler Ungehorsam zum Repertoire gehört. Als Vizepräsidentin der Juso Schweiz und Co-Präsidentin der Juso Kanton Zürich macht sich die junge Winterthurerin Anfang 20 mit Aktionen wie einem Hausbesuch bei «Abzocker» Daniel Vasella, dem damaligen Verwaltungsratspräsidenten der Novartis, einen Namen. Ein andermal protestiert sie gegen das Ausgehverbot für die Jugendlichen einer Gemeinde, indem sie aus Protest spätabends Würste grilliert. Obwohl sie längst eine institutionelle Politikerin ist – Meyers Wurzeln sind bis heute spürbar. Noch immer macht sie keinen Hehl daraus, wie sehr die soziale Ungerechtigkeit dieser Welt sie empört, sie wütend macht. «Ich merke es bei mir selbst – wenn man nahe bei der Macht ist, ist die Verlockung gross, die Mächtigen nicht zu sehr vor den Kopf zu stossen. Aber wir werden nicht gewählt, um zu gefallen. Sondern um das Leben der Menschen zu verbessern. Dazu gehört, dass wir deutlich sagen: Das jetzige ­System beutet Mensch und Natur aus. Das soll nicht unsere ­Zukunft sein.» Ihre klare Haltung und unmissverständliche Sprache bringen ihr manchmal selbst in den eigenen Reihen Kritik ein. Aber auch viele Fans. Egal ob Meyer nach einer Podiumsdiskussion von Jungsozialistinnen umschwärmt oder im Rat von bürgerlichen Parlamentariern angeblafft wird – sie begegnet allen Menschen auf Augenhöhe. Jenen, die zu ihr hochsehen, wie jenen, die sie gerne belächeln würden.

Drinnen und draussen

Vertieft in ihre Arbeit: Mattea Meyer in der Wandelhalle des Bundeshauses.

Trotz der unterschiedlichen Charaktere und Werdegänge kommen Meyer und Ryser oft zu ähnlichen Schlüssen – auch wenn sie auf die Klimajugend auf dem Bundesplatz blicken: «Bewegungen sind ein wichtiger Motor in der Politik», sagt Meyer. «Ich verstehe auch die Vorwürfe der Klimajugend, dass es zu langsam geht. Aber damit wir wirklich etwas erreichen können, muss sich erst die Mehrheit im Parlament ändern – und auch wenn es besser ist als vor vier Jahren, wir sind immer noch keine Mehrheit.» «Vor allem bei der Klimapolitik zeigt sich, wie wenig möglich war, bevor die Bewegungen kamen», sagt Ryser. «Es ist auch der Job der Bewegung, die institutionelle Politik zu kritisieren. Es dauert alles wahnsinnig lange hier drinnen. Aber als ­Politikerin darf man nicht nur das Ziel sehen – man muss den Weg dorthin finden.» Wenn Mattea Meyer und Franziska Ryser einander in der Wandelhalle begegnen, nicken sie sich freundlich zu.

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Viel mehr hatten sie im Rat noch nicht miteinander zu tun. Und doch findet man sie an diesen zwei Tagen, an denen die Klima­ jugend auf dem Bundesplatz demonstriert, beide vor und im Bundeshaus: Auf dem Platz begeben sie sich als willkommene Gäste unter die Demonstrierenden – stellen sich Kritik, hören zu, bekunden Solidarität. Im Parlament kämpfen sie für die gleichen Anliegen, die jene draussen haben. Votum um Votum, Vorstoss um Vorstoss, Kompromiss um Kompromiss. Nicht zusammen, aber miteinander.

Anja Conzett ist Reporterin beim Magazin «Republik» und arbeitet als freie Autorin. Sie ist spezialisiert auf gesell­schaftspolitische Reportagen, Porträts und Hinter­grundrecherchen. 2016 erschien im Rotpunktverlag ihr Reportageband «Lohn­dumping. Eine Spurensuche auf dem Bau».

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Joël Hunn studierte Dokumentarfotografie in Den Haag (NL). Er arbeitet u. a. für die NZZ, das «Magazin» und immer wieder auch für Greenpeace. Sein letztes Projekt «Standards & Classes» ist eine visuelle Abhandlung des Zuchtprozesses von Gurken und wurde im «British Journal of Photography» publiziert. Ein Buch zum Projekt folgt.


Das steckt dahinter

699 Jahre

Frauenwahl 42 %

Drei Männer aus Uri, Schwyz und Unterwalden besiegeln 1291 auf der Rütliwiese die Gründung der Eidgenossenschaft. So will es die Legende. Nach dem Rütlischwur vergehen 699 Jahre, bis Frauen schweizweit die gleichen politischen Rechte haben wie Männer. Das Bundesgericht zwingt 1990 die letzte Bastion des Widerstandes – den Kanton Appenzell Innerrhoden –, das Frauenstimm- und -wahlrecht per sofort einzuführen. Schon vorher nehmen die stimmberechtigten Männer 1971 nach jahrzehntelangem Kampf das Stimm- und Wahlrecht für Frauen auf Bundesebene in einer Volksabstimmung an. Im Oktober des gleichen Jahres gewinnen die Frauen 10 der 200 Nationalratssitze und 1 der 44 Ständeratssitze. Bei deren ersten Wahlen beträgt der Anteil der Frauen im Parlament nicht einmal 5 Prozent.

Nach dem historischen Wahlsieg im Herbst 2019 machen Frauen in beiden Räten einen Sprung nach vorn. Im konservativ-männlich geprägten Ständerat erobern sie 26 Prozent der Sitze, im Nationalrat machen Frauen neu 42 Prozent aus. Die nationale Ebene lässt sich sehen, betrachtet man die Europäische Union: In deren Mitgliedsstaaten machen Parlamentarierinnen knapp 30 Prozent aus. Aber es gibt noch Luft nach oben: Beim Spitzenreiter Schweden liegt der weibliche Anteil bei über 47 Prozent.

1 Rück­zugsort

9 vs. 90

Seit 2019 gibt es ein Ruhe- und Stillzimmer in der Nähe der Ratssäle. Das dafür zuständige Bundesamt schreibt: «Auch Kinder von Parlamentarierinnen haben offenbar Hunger, müssen gestillt und gewickelt werden.» 2018 brachte die grüne Nationalrätin Irène Kälin ihren dreimonatigen Sohn in den Nationalratssaal, um abstimmen zu können. Kurz darauf erschien auch ihre Kollegin Lea Steinle mit Säugling im Basler Grossen Rat und kassierte dafür ­e inen Rauswurf. Das sorgte für so grossen Tumult, dass der Ratspräsident sie wenig später wieder reinliess, mitsamt dem kleinen Gast.

Seit 1848 sind erst 9 Frauen in den Bundesrat gewählt worden (und über 90 Männer). Die erste Bundesratskandidatin ist 1983 ­L ilian Uchtenhagen, die von der SP ­o ffiziell vorgeschlagen wird, aber ­g egen den SP-Spreng­k andidaten der bürger­lichen Männer keinen Stich ­hat. Auch über ­einen Mann – ihren eigenen – stolpert die erste Bundesrätin Elisabeth Kopp (FDP), die 1984 gewählt wird. Anfang 1989 tritt sie zurück, nachdem sie ihren Gatten, ­einen Wirtschaftsanwalt mit Sitz in zwielichtigen Verwaltungsräten, vor einer mög­ lichen Strafuntersuchung telefonisch gewarnt hat. Eine weibliche Überzahl gibt es im Bundesrat erstmals 2010. Heute bilden 3 Frauen und 4 Männer die Landesregierung.

1 : 1 Gleicher Lohn für gleiche Arbeit? In der Schweiz noch keine Selbstverständlichkeit, Frauen verdienen im Schnitt jeden ­­Monat knapp 1500 Franken weniger als Männer. Nicht so Parlamen­ta­ rie­rinnen: Unabhängig vom Geschlecht erhält jedes Ratsmitglied 26 000 Franken Jahreseinkommen, 33 000 Franken Spesenentschädigung und weitere 440 Franken pro Sitzungstag.

100 % Frauenpower Wählen Frauen anders als Männer? Laut einer Analyse von Radio Télé­ vision Suisse (RTS) haben Nationalrätinnen in der laufenden Legislatur­ periode 10 Prozent der Ergebnisse entschieden. Vor allem Frauen aus der Mitte und der FDP stimmen deutlich ökologischer ab als ihre Parteikollegen. Zum Beispiel bei einer parlamentarischen Initiative von Beat Jans (SP) zum Schutz der Gewässer vor Pestiziden Ende 2019. Und beim Postulat von Samira Marti (SP) zu geschlechterspezifischen Einkommensunterschieden im Juni 2020: Fast alle Frauen der Mitte-Fraktion und ein Gross­ teil der FDP-Frauen befürworteten die Forderung. Praktisch alle bürgerlichen Männer waren dagegen. Auch Volksabstimmungen an der Urne können Frauen entscheiden. Gemäss Vox-Analysen haben sie sich in den letzten 30 Jahren viel öfter durchgesetzt als Männer: «Unterschieden sich die Mehrheiten nach Geschlechtern, beeinflussten die Frauen elfmal das Resultat entscheidend, die Männer konnten sich nur dreimal durchsetzen. Vor allem bei genderspezifischen, gesellschafts- und sozialpolitischen Vorlagen stimmten die Frauen geschlossener ab und gaben so den Kurs vor», schreibt der Politikwissenschaftler Claude Longchamp. Beispiele dafür sind die Rassismus-Strafnorm von 1994 und die Verhinderung des Gripen-Kampfjets 2014.

Quellen: Eidg. Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG); Bundesamt für Statistik (BFS); Parlament.ch; RTS: «Les femmes font basculer un vote sur dix au Conseil national» (1.9.2020); Republik: «Frauen machen den Unterschied» (18.2.2019).

Text: Marco Morgenthaler Bild: Anja Wille-Schori


Rezept

Eine nationale Initiative lancieren – mit Tipps von Sophie Fürst Sophie Fürst ist Geschäfts­ leiterin des Vereins K ­ lima­schutz Schweiz, des T ­ räger­vereins der Gletscher-­Initiative. Gemeinsam mit vielen anderen enga­gierten Menschen hat sie die Initiative aufgebaut und am 27. November 2019 erfolg­ reich in Bern eingereicht.

Idee für Initiative definieren Eine möglichst konkrete Idee der Initiative oder bereits einen mög­ lichen ­Initiativtext mit Varianten zu Papier bringen, um zu starten. Tipp von Sophie Fürst: Gespräche mit Personen, Organisationen und Institutionen führen, um Varianten zu prüfen, aber auch, um interes­ sierte Unterstützer*innen zu finden.

Die Mitglieder des Initiativkomitees müssen auf Bun­ desebene stimmberechtigt sein. Nach der Gründung weihen sie die Bundeskanzlei in ihr Vorhaben ein. Tipp von Sophie Fürst: Bei der Zusammensetzung des ­Initiativkomitees auf Diversität achten, sei das politisch, sprachlich oder geschlechtlich. Möglichst Mitglieder aus verschiedenen Regionen der Schweiz an Bord holen, da­ mit das Komitee eine gewisse Breite abdeckt.

100 000 Unter­schriften in 18 Monaten sammeln

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Der positive Entscheid der Bundeskanzlei wird im «Bundesblatt» veröffentlicht und ist der Startschuss für die Sammelphase. Tipp von Sophie Fürst: Schon vor dem offiziellen Unterschriftensammeln kann man mit einer Vor­ kampagne Personen ins Boot holen, die einem für die Sammelphase zum Beispiel vier Unter­ schriften zusichern. Plattformen wie Wecollect steigern zudem die Reichweite.

Jetzt gehts ans Schreiben: Ein konkreter Initiativtext und ein einprägsamer Titel müssen her. Das Ergebnis legt das Initia­ tivkomitee der Bundeskanzlei vor, und diese übersetzt es in die übrigen Amts­ sprachen. Bei positiver Rückmeldung müssen zudem noch die offiziellen Un­ terschriftenbogen vorgelegt werden. Tipp von Sophie Fürst: Die Formulierung des Initiativtextes auf keinen Fall unter­ schätzen und genügend Zeit dafür ein­ planen. Der Text darf nicht mit anderen Gesetzen in Konflikt kommen und muss hieb- und stichfest sein.

Hier mehr über die ­Lancierung der Gletscher-­ Initiative erfahren Bild: © Isabel Truniger

Initiativkomitee mit 7 bis 27 Personen gründen

Initiativtext in einer Amtssprache einreichen


Debatte

Kann? Darf? Muss?

Die Wissenschaft definiert die Klimaziele, doch ohne Politik lassen sich die Ziele nicht durchsetzen. Kann, darf oder muss die Forschung mehr Einfluss auf die Politik erhalten? Autor: Christian Schmidt

Valentine Python ist Klimatologin und Umweltwissen­ schaftlerin. 2019 wurde sie als Vertreterin der Grünen ­Partei in den Nationalrat gewählt.

Reto Knutti ist Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich und einer der Leitautoren des vierten und fünften Berichts des Weltklimarats «Intergovernmental Panel on Climate Change».

Die Schweiz hat ein neues CO2-Gesetz; es ist besser als keines, aber nicht gut ­genug. Sind Sie als Wissenschaftler enttäuscht vom Parlament?

Etwas enttäuscht, doch nicht erstaunt. Das Gesetz entspricht der politischen ­Realität, das heisst, es ist das Ergebnis langer Verhandlungen.

Was die Wissenschaft bezüglich Klimaschutz herausfindet, nimmt die Politik nicht wirklich ernst. Ihr Kommentar als Parlamentarierin?

Wirtschaftliche Interessen haben Priorität. Valentine Python

Aber sind Sie manchmal frustriert?

Ab und zu. Ich habe zwei kleine Kinder. Was glauben Sie: Kann, soll oder muss die Wissenschaft mehr Einfluss auf die Politik haben?

Die bürgerliche Mehrheit in den beiden Kammern verhindert eine Politik, die dem klimatischen Notstand angemessen wäre. Wirtschaftliche Interessen haben immer noch oberste Priorität. Es scheint, als ­akzeptierten die meisten dieser Parla­ mentsmitglieder nur bedingt, dass die Be­ lastungsgrenzen des Planeten erreicht sind – als liesse sich ihre Meinung mit einer wissenschaftlichen Tatsache vergleichen. Also sollte die Wissenschaft mehr Einfluss auf die Politik erhalten?

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Wissenschaftliche Fakten und politische Handlungen sind zwei verschiedene ­Dinge. Forschen ist knallhartes Zahlen­ beigen. Unser Auftrag ist es, Fakten zu ­erarbeiten, diese zu erklären und in den Kontext zu stellen. Alles andere hat keinen Platz. Mit anderen Worten: Es ist nicht die Aufgabe der Wissenschaft, politische Pro­ zesse auszulösen, zivilen Ungehorsam zu provozieren oder darüber zu befinden, welche Massnahmen realisiert werden müssen. Die Wissenschaft kann und darf das Parlament nicht überholen. Aber die Wissenschaft darf sehr wohl politisch sein. Und sie muss sagen können: «Halt, so funktioniert es nicht.»

Die Wissenschaft darf das ­Parlament nicht überholen. Reto Knutti

Und in welcher Form sehen Sie diesen Einfluss?

Als Wissenschaftler tragen Sie mehr Verantwortung als ein Konzertveranstalter.

Im Moment sicher nicht.

Ja – und entscheidend. Die politischen Verantwortungsträger nehmen die Be­ richte des «Intergovernmental Panel on Climate Change» weiterhin gar nicht oder nur sehr zögerlich zur Kenntnis. Obwohl diese Berichte genau auf sie zugeschnit­ ten sind.

Sicher. Unser Umgang mit dem Planeten bedroht mittel- und langfristig das Überle­ ben der Menschheit. Um diesen Prozess aufzuhalten, brauchen wir die Wissen­ schaft.

Ich bin klar der Meinung, dass die Wissen­ schaft mehr in die politischen Prozesse eingebunden werden muss. Dafür mache ich mich immer wieder stark. Bei Corona durften alle ihre Forderungen in Bern ein­ bringen und darlegen, was ihrer Meinung nach zu tun sei, die Coiffeursalons, Res­ taurantbesitzerinnen und Konzertveran­ stalter. Also hat die Wissenschaft das glei­ che Recht.

Planen Sie, selbst in die Politik zu gehen?

Eine grosse Aufgabe.

Anders gefragt: Sind Sie der Meinung, dass die Wissenschaft mehr Einfluss auf die Politik erhalten muss?

Also würden Sie es begrüssen, wenn der Bundesrat fürs Klima wie bei Corona eine Taskforce ins Leben riefe?

Wenn wir Forschenden etwas herausfin­ den, was die ganze Gesellschaft bedroht, dann ist es unsere Pflicht, darauf hinzu­ weisen. Dass die Wissenschaft nur Zahlen liefert und sich dann zurückzieht, ist ­weder realistisch noch sinnvoll. Wenn ich sage, wir müssen den CO2 -Ausstoss auf netto null bringen, dann ist das zwar eine rein naturwissenschaftlich begründete Folge­ rung, basierend auf den Daten und dem Pariser Abkommen, doch gleichzeitig ist die Aussage hochpolitisch.

Natürlich. Das wünsche ich mir sehr. Dass zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Reaktion immer noch ein Graben besteht, war für mich treibende Kraft, in die Politik zu gehen. Ich will diesen Graben verringern.

Unser Umgang mit dem Planeten bedroht das Überleben der Menschheit. Valentine Python

Wir brauchen eine Wissenschaft, die ihre Ergebnisse auf mehreren Ebenen ein­ bringt – im Parlament, in der Bundes­ verwaltung und auf Direktionsebene der jeweiligen Departemente. Damit das funk­ tioniert, gilt es aber, zwei Dinge zu verin­ nerlichen: Zum einen müssen wir endlich ein systemisches Denken entwickeln. Bei der Diskussion um die synthetischen Pes­ tizide geht es beispielsweise nicht nur um die Giftigkeit der Stoffe, wir müssen die gesamte Umwelt und auch die Gesundheit der Bevölkerung einbeziehen. Zum andern ist entscheidend, dass die Forschung un­ abhängig und ethisch korrekt ist. Arbeiten, die von der Industrie finanziert werden, sind problematisch, ja, sie können den Zu­ stand des Planeten noch verschlechtern. Sie sind seit einem Jahr in Bern. Ihre Erfahrung in einem Satz?

Es fällt mir sehr schwer, mein Bewusstsein für die klimatische und ökologische Dring­ lichkeit in Einklang mit der Politik der klei­ nen Schritte zu bringen.

Illustrationen: Jörn Kaspuhl, www.kaspuhl.com

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Autor: Christian Schmidt, Journalist, Texter für Non-Profit-Organisationen und Buchautor. Freischaffend aus Überzeugung. Diverse Auszeichnungen, u. a. Zürcher Journalisten­ preis.


NATÜRLICH

Bild: © Saskja Rosset

AUS DER SCHWEIZ

122 Fälle von Umweltverschmutzung und Menschenrechtsverletzungen in 34 Ländern: Das ist die Bilanz des Schweizer Baustoff­ produzenten Lafarge­Holcim. Dessen Missachtung von Gesetzen und Standards schädigt auf der ganzen Welt Menschen, Tiere und Natur, wie Recherchen von Greenpeace aufdecken. Vertiefte Feldforschungen in Kamerun und Indien zeigen die erschütternden Umstände im Detail: Das Werk einer Tochtergesellschaft von LafargeHolcim entsorgt im Norden Kameruns Staub­ abfälle neben einem Wochenmarkt, Anwohner*innen beklagen sich darüber. Im Labor weist der Staub sehr hohe pH-Werte und hochgiftiges, krebserregendes Chrom (VI) auf. Im Norden Indiens verfügt eine Lafarge­ Holcim-Tochter offenbar nicht einmal über Bau- und Betriebsbewilligungen für ihre Flugaschen-Trocknungsanlage – die täglich massive Schadstoffe in die Umwelt befördert. Durch die Ablehnung der Konzernverantwortungsinitiative gehören solche Skandale künftig leider ­weiterhin zur Tagesordnung.

rüner Wille – Mein grüner Wille – Mein grüner Wille – Mein grüner Wille – Mein grüner Wille – Mein grüner Wille – Mein grüner

Aufgedeckt

«Der grüne Wille muss zu Lebzeiten durchgesetzt ­werden»

Moritz Leuenberger ist Politiker, Jurist und Mitglied des «Club d’Inspiration» von Greenpeace Schweiz.

«Selbst wenn ich mein ganzes Ver­mögen für eine nachhaltige Welt einsetzen könnte, hätte ich kein gutes Gewissen. Wäre es nicht widersprüchlich, in ein Leben eingebunden zu sein, das mitverantwortlich für Ressourcenverschwendung und Klimaerwärmung ist, und dann andere zu verpflichten, mit dem vermachten Nachlass diese Schäden wieder aufzuräumen? Der grüne Wille muss zu Lebzeiten durchgesetzt werden, nicht erst im Testament. Doch: Nicht einmal das konsequente Leben eines Einzelnen rettet die Welt. Es gehört der politische Einsatz für eine Nachhaltigkeit dazu. Und wenn die Nachkommen diese Fackel weitertragen, wird mein grüner Wille nachhaltig sein.» Für eine ökologische Zukunft können Sie sich ein Leben lang einsetzen. Und darüber hinaus, indem Sie Greenpeace Schweiz in Ihrem Testament berücksichtigen. Bestellung des kostenlosen Testament-Ratgebers: 044 447 41 79, claudia.steiger@greenpeace.org, greenpeace.ch/legate Den ausführlichen Text finden Sie unter greenpeace.ch/wille-leuenberger


Rätsel

1

Das Rätsel rund um das Greenpeace-Magazin

Nahe welcher niederländischen Insel kletterten Greenpeace-Freiwillige auf eine Bohrinsel?

Was bildet den neuen Treffpunkt der Zürcher Klimabewegung? B J Q

3

6

Was müssen die Mitglieder eines Initiativkomitees sein? G Männlich I Stimmberechtigt P Pensioniert

Ein Bootshaus Ein Zelt Ein Pavillon

Welche Tiere zogen am 23. September durch Bern?

7

U Affen C Dinos M Hippos

4

Wie viele Bundesrätinnen gab es in der Schweiz bis heute? L 9 F 90 R 19

K Schattebout E Schiermonnikoog S Schaakbord

2

5

Um wie viel Prozent hat sich das Volumen der Alpengletscher seit Mitte des 19. Jahrhunderts verkleinert? N T V

Welchem Gericht liegt aktuell die Klage der Schweizer KlimaSeniorinnen vor? Z Dem Amerikanischen Gerichtshof für Klimarechte O Dem Asiatischen Gerichtshof für Umweltrechte A Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

8

30 % 60 % 80 %

Wie heisst der Schweizer Konzern, dem weltweit 122 Fälle von Umweltverschmutzung und Menschenrechtsverletzung nachgewiesen wurden? W Nestlé D Glencore Y LafargeHolcim

Lösungswort: Wir verlosen fünf Greenpeace-T-Shirts. Die Shirts sind hochwertig verarbeitet und aus 100  % Biobaumwolle – konsequent biologisch, vom Stoff bis zu den Nähten. Für ein angenehmes Tragegefühl und lange Haltbarkeit.

Bild: © Greenpeace

Senden Sie das Lösungswort inklusive Ihrer Adresse und der gewünschten Grösse (S/M/L) bis zum 15. Februar 2021 per E-Mail an redaktion@greenpeace.ch oder per Post an Greenpeace Schweiz, Redaktion Magazin, Stichwort Ökorätsel, Postfach, 8036 Zürich. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Über die Verlosung wird keine Korrespondenz geführt.

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Das Lösungswort des Rätsels aus dem Magazin 03/20 lautet: Tierwohl


Schlusswort

Die Disruption als Chance für die Klimapolitik

Bild: © Iris Menn

Und plötzlich ist es möglich: Politiker*innen hören wissen­ schaftlichen Empfehlungen zu und geben ihnen Gewicht in ­ihrer Entscheidungsfindung – mehr sogar, sie folgen den Ratschlägen der Wissenschaftler*innen. Der disruptive ­Moment der Corona-Krise, die akute und nahe Gefahr, durch­ bricht bestehende Muster des üblichen politischen Handelns, das wir im Klimaschutz seit Jahrzehnten (schmerzvoll) erle­ ben. Wissenschaftliche Empfehlungen werden missachtet, wirtschaftliche Interessen sitzen am längeren Hebel, und der Klimaschutz und damit das Gemeinwohl stehen hinten an. Fünf Jahre nach dem Klima-Abkommen von Paris hätte in Glasgow bei der Klimakonferenz in diesem Jahr eine Bestandsaufnahme gemacht und die vereinbarten Emissions­ ziele nachgebessert werden sollen. Die Verschiebung von Glasgow ist ein Rückschlag, denn die Klimaerwärmung macht während der Corona-Krise keine Pause. Auch wenn die globalen Treibhausemissionen momentan stark zurückgehen. Abwarten ist keine Option. Unsere Ambitionen im Klimaschutz dürfen wir nicht schmälern. Vielmehr sollten wir die Krise und den Bruch des Musters im üblichen politischen Handeln als Chance nutzen. Sie liegt auf dem Silbertablett vor uns. Ganz konkret ist die Politik gefordert, beim Ankurbeln der Wirtschaft die Massnahmen in Einklang mit einem konsequenten Klimaschutz zu bringen. Und wie wäre es, eine Auseinandersetzung mit Empfehlungen eines Wissen­ schaftsrates verbindlich in der zukünftigen Klimapolitik zu verankern? Muster zu durchbrechen, auszuscheren, braucht Kraft und Mut. Beides wird uns allen, auch jeder Politikerin und jedem Politiker, geschenkt. Öffnen wir unseren Blick auf die mögliche Veränderung und eine Zukunft, in der wir unsere Lebensgrundlagen bewahrt haben.

Iris Menn Geschäftsleiterin Greenpeace Schweiz 35


800062228>

800062228>

Familie

PLZ/Ort

Strasse/Nr.

Die Annahmestelle L’office de dépôt L’ufficio d’accettazione

202

Einbezahlt von / Versé par / Versato da

Konto / Compte / Conto

▼ ▼

80-6222-8 Konto / Compte / Conto

Greenpeace Schweiz Badenerstrasse 171 8036 Zürich

80-6222-8

Vorname

Herr

Frau

Name

Einbezahlt von / Versé par / Versato da

Frau und Herr

04.2019

CHF CHF 100.− CHF 70.−

Einzahlung für / Versement pour / Versamento per

CHF CHF

… ein belegtes Brot mit Ei – braucht es 2021 echt nicht mehr so oft. Dank Corona kann keine*r mehr behaupten, der Zusammenhang zwischen Pande­mien, Zoonosen und Massentierhaltung sei unklar. Ergo: Keine Aus­reden mehr, 2021 greifen wir öfter zum Gemüsebrötli.

Greenpeace Schweiz Badenerstrasse 171 8036 Zürich

Ein belegtes Brot mit Schinken …

Zahlungszweck (bitte bei Online-Überweisungen angeben): Mag204

… I want to ride my biiiiike. Corona ist da, und plötzlich holen alle ihre verstaubten Drahtesel aus dem Keller. Jetzt 2021 nur nicht wieder dorthin zurückstellen, sondern sich schön weiter die Seele aus dem Leib strampeln. Bringt stramme Wädli und gesunde Umwelt in einem.

CHF 50.–

I want to ride my bycicle …

Ja, ich spende:

… live together in perfect harmony. Die Tiere haben sich, während wir zu Hause sassen und abwarteten, ihren Lebensraum zurückgeholt. Und das sollen sie auch. Für 2021 müssen wir uns deshalb vornehmen, wieder etwas mehr in Harmonie mit den Tieren zu leben, die schon vor uns da waren.

Versement Virement

Ebony and ivory …

Einzahlung Giro

… muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Aber für Hochgefühle hat auch das wiedereröffnete Stamm­café gesorgt. Das neu entdeckte Spazieren. Der Gump in den Bergsee. Wieso im Sommer 2021 nicht auch nach Adelboden fahren, statt nach Alicante zu fliegen?

Einzahlung für / Versement pour / Versamento per

Über den Wolken …

Empfangsschein / Récépissé / Ricevuta

Sofern am 31. Dezember um Mitternacht die Smart­­phones nicht plötzlich den 32. Dezember anzeigen (mal ehrlich, wen würd’s wundern?), lassen wir 2020 bald hinter uns. Trotz alledem hat uns das Corona-Jahr einiges gelehrt, was man auch 2021 beibehalten sollte:

Versamento Girata

441.02

Und jetzt?

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AZB CH-8036 Zürich PP/Journal Post CH AG

Harald Naegelis Strichfiguren prägen das Stadtbild von Zürich, er ist als Sprayer weltbekannt. Und auch mit seinen 81 Jahren scheint sich der Künstler noch auf nächtliche Graffiti-Ausflüge zu begeben: Während des Corona-Lockdowns im Frühling erschienen in ganz Zürich neue Sensemännlein, die eindeutig aus der Dose von Naegeli stammen dürften. Im Juli 2020 erhielt er vom Zürcher Stadtrat den Kunstpreis für sein Lebenswerk.

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